Informationsmaschine Leviathan. Ein medientheoretischer Versuch über die Implementierbarkeit von Hobbes‘ Staatsentwurf


Bachelorarbeit, 2012

46 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Leviathan als Informationsmaschine
2.1 Kleiner Rechner
2.1.1 Vernunft als Operation mit Begriffen:computo ergo sum
2.1.2 Begehren und Verzifferung: symbolische Maschinen
2.1.3 Kontextabhängigkeit der natürlichen Gesetze und der Vernunft
2.1.4 Fundament des kleinen Rechners
2.2 Großer Rechner
2.2.1 Ordnung und Überleben versus Chaos und Tod
2.2.2 Totalität als Möglichkeitsbedingung
2.2.3auctoritas, non veritas– totale Information durch Gesetz/Wahrheit
2.2.4 Schaltplan des Leviathan
2.2.5 Übertragung im Leviathan

3. Probleme dieses Entwurfs
3.1 Idealisierung des störungsfreien Kanals
3.2 Blackboxing undarcanum imperii
3.3 Überra(u)schung als Wunder

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

6. Erklärungen

7. Danksagung

„Aber wie die Menschen zur Erlangung von Frieden und Selbsterhaltung einen künstlichen Menschen geschaffen haben, genannt Staat, so haben sie auch künstliche Ketten geschaffen, die man bürgerliche Gesetze nennt. Das eine Ende haben sie selbst durch gegenseitige Verträge an die Lippen des Menschen oder der Versammlung, denen sie die souveräne Gewalt übertrugen, geheftet, das andere an ihre eigenen Ohren.“[1]

„Der Verstand des gemeinen Volkes [gleicht], wenn er nicht durch die Abhängigkeit vom Mächtigen befleckt oder mit den Ansichten ihrer Doktoren vollgekritzelt ist, einem reinen Papier […] dazu geeignet, alles aufzunehmen, was ihm von der öffentlichen Gewalt aufgedruckt wird.“[2]

1. Einleitung

Übertragen und Speichern, Befehlsketten und ein reines, unendliches Papierband: an zentralen Stellen seines Leviathan greift Thomas Hobbes auf Metaphern zurück, die, mittlerweile technisch implementiert, für die gegenwärtige Medientheorie ebenso zentral geworden sind. Was zumindest für den ‚großen Menschen‘ nur implizit ausgeführt und damit zur Blackbox[3] wird, ist das dritte Element der Kittlerschen Trias,[4] das Prozedieren. Für den ‚kleinen Menschen‘ indes wird, wenn er richtig „informiert“[5] ist, das Berechnen seiner subjektiven Lust/Unlust-Bilanz und damit sein Handeln zum Algorithmus.[6] Unter diesen Voraussetzungen, die, wie wir sehen werden, wesentlich Texte sind, wird Regieren zum Schreiben: Souverän ist, wer über die „Kommandozeile“[7] verfügt.[8] Woauctoritas veritasersetzt, und Syntax Semantik, muss gefragt werden: Lässt sich souveräne Dezision störungsfrei speichern, übertragen und prozedieren?

Beim Versuch politisches Denken aus medientheoretischer und das heißt nachrichtentechnischer Perspektive zu betrachten, ergibt sich zwangsläufig die Frage nach dem Apriori. Friedrich Kittler definierte Kultur als „abhängige Variable“ „der Medien und Informationsmaschinen“,[9] indem er Heideggers Gedanken zur Technik[10] und deren Wirkungen auf das ‚Denken‘ radikal zuspitzte. Technik ist in dieser Sicht mehr als nur ein neutrales Mittel zu welchem Zweck auch immer, sondern bildet ihre eigenen ‚Sinnstrukturen‘ aus, die nicht nur leicht auf die Einschätzung der Zweck-Mittel-Relation zurückwirken, sondern diese letztendlich konstituieren. Bezogen auf Hobbes’ politische Theorie wäre das technische Apriori die Erfindung der Typographie und nicht, wie bisher angedeutet, die symbolische Maschine. Zwar entstand zu dessen Lebzeiten, nämlich 1623 in Tübingen, der erste Plan für eine Rechenmaschine,[11] jedoch wird Hobbes davon kaum Kenntnis gehabt haben. Außerdem wurden erst 1833 in Babbages Calculating Engines die (künstliche) Intelligenz und ‚Subjektivität‘ konstituierende Eigenschaft, nämlich die Fähigkeit „auf verschiedene Umstände verschieden zu reagieren“[12], technisch implementiert.

Zurück zum Buchdruck:[13] Vom Zerfall der vermeintlichen Sinnzusammenhänge des Textes in seine Atome, die Buchstaben, können durchaus Parallelen zu Hobbes’ resolutiv-kompositorischen Methode, die zunächst im Naturzustand jegliche Strukturen zerfallen lässt und im atomisierten, nackten Individuum[14] ihren Anfang nimmt, gezogen werden. Der Akt des Setzens eines Textes führt dessen Positivität vor Augen, was unter Umständen Hobbes’ Weg vom Naturrecht zum Rechtspositivismus[15] bereitet haben könnte. Außerdem bewirkte der Buchdruck eine Veränderung des Epistems, die sich radikal vereinfacht folgendermaßen zusammenfassen lässt: alte Monopole des Wissens wurden mit der rasant wachsenden Anzahl an Publikationen hinterfragt und gesprengt und ein demokratischerer und pluralistischerer Kampf um Lehrmeinungen fand statt, der sich zunächst in der Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaften und ihrer Methoden ausdrückte. Diese wiederum kann als Möglichkeitsbedingung für Hobbes’ Werk angesehen werden.[16] Weiterhin förderte die Linearität der sich nun immer schneller vermehrenden und verbreitenden Texte lineares, d.h. kausal-finales Denken, weshalb Thomas Hobbes, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, Teil und Produkt der Gutenberggalaxis ist.[17]

Im Folgenden sollen jedoch weder Hobbes’ technisches Apriori noch sein ideengeschichtlicher und biographischer Kontext im Mittelpunkt stehen, sondern allein die Frage, ob sein formaler Staatsentwurf in der politischen Wirklichkeit funktionieren kann. Hobbes selbst möchte seinen Leviathan nicht in eine Reihe mit Platons Politea und Morus´ Utopia stellen, da er ihn im Gegensatz zu diesen für eine tatsächliche, ja sogar die einzige Option für die dauerhafte stabile Organisation des Gemeinwesen hält.[18] Obwohl auf dem Kontinent die Tendenz deutlich eher in Richtung des Leviathan ging als auf der Insel,[19] stellte Max Weber fest, dass das „stahlharte Gehäuse“ der Hörigkeit bisher nur Idealtyp war[20] und auch seit Webers Schrift hat kein Staat diesen Status je erreicht. Dieser Umstand soll jedoch nicht als empirisch erwiesene Unmöglichkeit akzeptiert werden,[21] sondern im Gegenteil den Ansporn bieten, das technische Funktionieren des Leviathan in Analogie zur symbolischen Maschine nachzuzeichnen und anschließend zu hinterfragen. Dabei wird sich zeigen, dass Begriffe wie Politik und das Politische, dasarcanum imperiioder das Wunder ihre technischen Äquivalente haben und so veranschaulicht werden können.

Diese Analogien konnte Hobbes selbst nicht ziehen: „intelligente Maschinen“[22] entstanden, wie erwähnt, historisch später. Trotzdem lassen sich Probleme von Hobbes’ formalem Staatsentwurf – so lautet zumindest die These - wenn die atomisierten Untertanen und vor allem der gesamte Staat als symbolische Maschinen betrachtet werden, nüchterner analysieren als mit den üblichen, polemischen und normativen Vorwürfen der pessimistischen Anthropologie oder des Totalitarismus.[23]

Die Entwicklung der technischen Medien hat uns die Begriffe, Metaphern und Methoden gegeben, die Hobbessche Theorie in ihrer Technizität zu lesen und einige ihrer blinden Flecken und Probleme zu beleuchten. Hobbes schreibt nicht von Papiermaschinen, Algorithmen, Rauschquellen, Blackboxing, Hard- und Software, In- und Output und doch werden diese Begriffe im Folgenden zentral für unsere Interpretation werden. Wird eine solche Lesart dem Leviathan gerecht? Hobbes selbst hat, wie wir sehen werden, oftmals auf die radikale Kontextabhängigkeit von Wörtern und Zeichen verwiesen und gezeigt, dass Gerechtigkeit nur bestehen kann, wenn sie mit dem Gesetz übereinstimmt. Die potentielle Ambiguität der Gesetze wiederum sorgt für die Notwendigkeit einer letztgültigen souveränen Dezision über die „schwankende Bedeutung“ der Wörter und Zeichen.[24] Solange kein Souverän über diese absolute „Definitionskompetenz“ verfügt[25] und sich selbst als Fixpunkt setzt, nehmen wir an der „endlosen Auslegung“[26], dem „Spiel aufeinander verweisender Signifikanten“ im Sinne Derridas teil.[27] Wie bereits Hobbes erkannte, entsteht ‚Sinn‘ beim Empfänger, „weil ein Zeichen nicht dem Zeichengeber, sondern demjenigen gilt, an den es gerichtet ist, das heißt den Betrachter.“[28] In diesem Sinne wollen wir den Staatsentwurf des Thomas Hobbes mit einem medientheoretischen Blick betrachten und herausfinden, ob uns das dabei hilft, die Grundfragen der politischen Philosophie, die im Leviathan angerissen werden, besser zu verstehen.

2. Der Leviathan als Informationsmaschine

“Information is information, not matter or energy.”[29]

Norbert Wiener betont in seinem Vortrag von 1943 die systematische Eigenständigkeit der Entität Information. Zwar ist diese an materielle Träger gekoppelt,[30] und das ‚Lesen‘ und ‚Schreiben‘ verbraucht Energie,[31] doch lassen sich gewisse Effekte, beispielsweise Auslöse- oder Verstärkereffekte nicht rein physikalisch erklären.[32] Wiener sieht daher die Notwendigkeit einer neuen Disziplin oder vielleicht auch Methode, die sich mit „control and communication in the animal and the machine“[33] auseinandersetzt. Kybernetik oder, übersetzt, Steuermannskunst rückt die Bedeutung von Information für das Funktionieren komplexer Prozesse in den Fokus. Obwohl an den Parallelen zwischen dem Steuern eines Schiffes und dem Regieren eines Staates kaum ein politischer Theoretiker vorbeikam,[34] kann hier der Unterschied zwischen einer traditionellen mechanischen Maschine und einer Informationsmaschine veranschaulicht werden. Während der Steuermann durch das Drehen am Ruder über Hebelwirkung mechanisch den Kurs ändert, lenkt der Souverän, wie wir sehen werden, allein durch das Informieren seiner Untertanen:[35] „Denn das Wort ‚regieren‘ passt nur für den, der seine Untertanen durch sein Wort […] lenkt.“[36] Im ersten Teil der Arbeit wird zunächst Hobbes’ Untertan als symbolische Maschine eingeführt und das idealtypische, d.h. störungsfreie Funktionieren des Leviathan erklärt. Der „schwere[n] und bedrohliche[n] Materialität“[37] der Informationsträger, die zunächst ausgeblendet bleibt, wenden wir uns im zweiten Teil der Arbeit zu. Anhand dieser Überlegungen wird sich zeigen, dass der totale Staat technisch unmöglich ist und Utopie bleibt.

Oft genug wurde der Leviathan als Mechanismus beschrieben[38] und diese Lesart scheint auf den ersten Blick plausibel: ähnlich einem Körper in der Mechanik ist der Untertan äußeren Kräften ausgesetzt, die seine weiteren „Bewegungen“ und damit sein Handeln bestimmen.[39] Doch wird hierbei, wie wir sehen werden, die entscheidende und vorgeordnete Bedeutung der Informiertheit, also das, was Hobbes „Meinung“[40] nennt, unterschlagen. Die Mechanik der Macht[41] bleibt Metapher und entfaltet ihre Wirkung nur, wenn sie im richtigen „Kontext“,[42] im richtigen „Signal-Rausch-Abstand“,[43] angewandt wird: Thomas Hobbes entwirft eine „Informationsmaschine.“[44] Als mechanische Bewegung verbleibt allein die Bewegung des Papierbandes. Informiertheit öffnet und definiert den Möglichkeitsraum für Handlung, „denn die Gedanken sind gleichsam Kundschafter und Spione der Wünsche, die das Gelände erkunden und den Weg zu den gewünschten Dingen finden sollen.“[45]

2.1 Kleiner Rechner

Sowohl der Leviathan als auch die symbolische Maschine wurden als „machina machinarum“[46] bezeichnet, jedoch aus unterschiedlichen Gründen. Schmitt erkennt im künstlichen und mechanischen Staat „ein prototypisches Werk einer neuen technisches Zeit“ und den „entscheidenden Schritt“ für „alles weitere, z.B. die Entwicklung vom Uhrwerk zur Dampfmaschine, zum Elektromotor, zum chemischen oder biologischen Prozess“[47]. Die ‚Erfindung‘ des Staates ist das „erste Produkt“ technischen Denkens, wird zum Modell für die technische Entwicklung und begründet zugleich deren Metaphysik.[48] Das letzte und universale Produkt dieses technischen Denkens ist wiederum die symbolische Maschine, die aufgrund der Tatsache, dass alle möglichen Maschinen mit ihren Charakteristika beschreibbar sind,[49] zurmachina machinarumwird. Es stehen sich also die letzte und die erste Maschine gegenüber, die beide in gewisser Weise alle anderen Maschinen beinhalten und begründen.

Auch der Mensch oder das Subjekt wird, wie wir sehen werden, zwischen erster und letzter Maschine in seine Einzelteile zerrieben, um anschließend künstlich und damit als Maschine[50] wieder zusammengesetzt zu werden. Carl Schmitt erklärt unter Rückbezug auf Descartes die entscheidende Bedeutung der Denkfigur des Staates alsmachina machinarumfür die „Austreibung des Geistes“[51] oder der Seele aus dem Menschen:

„Durch die Mechanisierung seines ‚großen Menschen‘ hat Hobbes nämlich für die anthropologische Deutung des Menschen über Descartes hinaus einen folgenreichen weiteren Schritt getan. Die erste metaphysische Entscheidung fiel allerdings schon bei Descartes, in dem Augenblick, in dem der menschliche Körper als Maschine und der aus Leib und Seele bestehende Mensch als ein Intellekt auf einer Maschine gedacht wurde. Die Übertragung dieser Vorstellung auf den Staat lag nahe. Sie wurde durch Hobbes vollzogen. Aber sie führte, wie gezeigt, dazu, dass sich nun auch die Seele des großen Menschen in ein Maschinenteil verwandelte. Nachdem auf solche Weise der große Mensch mit Leib und Seele zur Maschine geworden war, wurde seine Rückübertragung möglich und konnte auch der kleine Mensch, das Individuum, zumhomme-machinewerden. Erst die Mechanisierung der Staatsvorstellung hat die Mechanisierung des anthropologischen Bildes vom Menschen vollendet.“[52]

Diese von Schmitt beschriebene mechanische Seele wird nun im Mittelpunkt unserer Untersuchung stehen, da sie - obwohl sie laut Schmitt ideengeschichtliche Folge des Staatsentwurfes ist - zugleich dessen Voraussetzung und „Werkstoff“[53] ist. Ebenso wie Hobbes gehen wir also resolutiv-kompositorisch vor und betrachten zunächst das kleinste Atom, den isolierten Maschinen-Menschen, um ihn dann in den großen Menschen oder eben die große Informationsmaschine Leviathan zu integrieren oder zu verschalten.

2.1.1 Vernunft als Operation mit Begriffen:computo ergo sum

„Man weiß wohl, dass sie nicht denkt, diese Maschine. Wir sind´s, die sie gebaut haben, und sie denkt, was man ihr gesagt hat, dass sie denken soll. Aber wenn die Maschine nicht denkt, dann ist klar ist es klar, dass wir selbst auch nicht denken, in dem Moment, in dem wir eine Operation ausführen. Wir folgen exakt denselben Mechanismen wie die Maschinen.“[54]

Ähnlich wie in Lacans obiger Beschreibung operieren Hobbes’ Individuen allein im Symbolischen. Kontingentes, ereignishaftes Entstehen der Sprache ist der Vernunft vorgeordnet,[55] sodass kein metaphysischer Raum der Ideen und Wahrheiten verbleibt, aus dem Erkenntnis geschöpft werden könnte.[56] Schelsky liest Hobbes als „Linguisten“ und erkennt, dass „Vernunft nicht allein Prinzip der Wahrheit sein kann, sondern die Sprache das eigentliche, alle Wahrheit konstituierende Moment ist.“[57] Die menschliche Sprache ist im Gegensatz zur tierischen künstlich und baut auf arbiträren Signifikanten auf. Deswegen wird sie zum Gegenstand von Operationen oder Rechnungen:[58] „Denken [und damit auch Vernunft, Hobbes verwendet die Begriffe synonym.[59] M.P.] heißt nichts anderes als sich eine Gesamtsumme durch Addition von Teilen oder einen Rest durch Subtraktion einer Summe von einer anderen Vorzustellen.“[60] Das Ergebnis dieser Rechnung ist der Wille, „die Neigung, die beim Überlegen am Schluss überwiegt“[61] und damit nicht frei,[62] sondern im Gegenteil determiniert. Genau wie in der symbolischen Maschine wirft der Algorithmus des ‚Denkens‘ nur ein Ergebnis aus: „Denken kommt letztlich zu einem Abschluss, indem man entweder das Ziel erreicht oder von ihm ablässt.“[63] Es gibt also, wenn das Band anhält, nur zwei mögliche Zustände: Ja oder Nein, in Bezug auf die gerechnete Handlungsoption.

Vernunft ist „weder angeboren […], noch durch bloße Erfahrung erworben“[64], sondern hängt vom Umgang mit Sprache und den „schwankenden Bedeutungen“[65] oder Werten der Begriffe und Symbole ab. Da Vernunft so ausschließlich durch den Prozess des Rechnens definiert wird, werden „wahr und falsch“ „Attribute der Sprache“[66] und unentscheidbar (außer bei formalen Fehlern beim Rechnen,[67] demwie): Nichtwas, sondern allein die Tatsache,dassgerechnet wird - der Prozess – ist entscheidend: „Vernunft ist das Fortschreiten.“[68] So ergibt sich Hobbes’ Menschenbild: „Mensch und vernünftig sind von gleichem Umfang, da sie sich gegenseitig einschließen.“[69] Computo ergo sum.[70]

2.1.2 Begehren und Verzifferung: symbolische Maschinen

Der Begriff des ‚sum‘ oder ‚sein‘ wiederum verliert bei Hobbes alle metaphysischen und normativen Dimensionen und wird auf das bloße physische Überleben reduziert.[71] Es gibt kein gutes oder schlechtes Leben,[72] Überleben und damit Weiterrechnen wird zum Selbstzweck, denn Stillstand ist nichteudaimonía, sondern der Tod.[73] Wieder ist der Prozess entscheidend: „Glückseligkeit ist ein ständiges Fortschreiten des Verlangens von einem Gegenstand zu einem anderen, wobei jedoch das Erlangen des einen Gegenstandes nur der Weg ist, der zum nächsten Gegenstand führt.“[74] In der Theorie bedeutet das infiniten Regress, in der Realität ist das Papierband irgendwann zu Ende. Die „Überführungsfunktionen der Bandbewegung“[75] erlauben keinen Stillstand und können somit als implementiertes Begehren[76] nach Macht bezeichnet werden. Sobald sich dieses Begehren auf einen konkreten Art und Weise der Machtakkumulation richtet, wird es verziffert[77] und damit operabel. Einem begehrten Gegenstand wird ein Lustwert zugeordnet, woraufhin mögliche Handlungsoptionen auf ihren Unlustwert abgefragt werden. Die beste Lust/Unlust-Bilanz bestimmt den Willen und damit die Handlung.[78] Sobald der Gegenstand erreicht wurde oder nicht erreicht werden konnte, richtet sich das Begehren auf einen anderen Gegenstand und ein neuer Lust/Unlust-Algorithmus läuft ab.

Der Gegenstand und das Ziel dieser Rechnungen/Handlungen, Macht, bleibt wie das Begehren diffus und nicht greifbar,[79] ist zugleich Mittel und Zweck[80] und immer „von der Einschätzung eines anderen abhängig.“[81] Erst in einen Kontext eingeordnet bekommt die Macht eines Menschen Sinn und einen Wert.[82] „Aus der Verzifferung […] entsteht mit Notwendigkeit der Ort des Anderen: kombinatorische Matrix von Strategien. Niemand begehrt oder kämpft (was dasselbe ist), wenn nicht andere begehren oder kämpfen würden.“[83] Dasbellum omnium in omnes[84] entsteht erst durch Spiegelung im Anderen, die eine Vergleichbarkeit, eine Rechnung ermöglicht. Deswegen genügt die Möglichkeit, sich einen „egoistischen Nutzenmaximierer“[85] vorzustellen und durchzurechnen, um alle Menschen handeln zu lassen, „als ob“[86] der Andere ein solcher wäre.[87] Damit sind Hobbes’ Untertanen keine bloßen Geschosse oder Bienen,[88] sondern Cruise Missiles, da sie „die Subjektivität des Anderen miteinberechnen.“[89]

2.1.3 Kontextabhängigkeit der natürlichen Gesetze und der Vernunft

Wie ergeben sich dann das „Alphabet der zugelassenen Zeichen“ und die jeweiligen „Überführungsfunktionen“[90] dieser Rechnungen? Was sind die Algorithmen? Hobbes unterscheidet zwischen natürlichen und positiven Gesetzen, doch schon die Definition der natürlichen Gesetze zeigt die Problematik dieser Einteilung: „Einlex naturalisist eine von der Vernunft ermittelte Vorschrift oder allgemeine Regel.“[91]

Wie wir gesehen haben, ist jedoch die Sprache der Vernunft vorgeordnet, sodass eine grundsätzliche, metaphysische Allgemeinheit der Regel aufgrund des Spiels der Signifikanten nicht gegeben sein kann. Wenn Hobbes also seiner Methode „Nosce te ipsum“[92] nachgeht und in sich selbst die natürlichen Gesetze abliest (und damit zugleich selbst schreibt!), begibt er sich in den kontingenten Bereich der Symbole und Begriffe und findet so keinen sicheren Grund[93] außer eben souveräne Dezision.[94] Die Metaphysik natürlicher, reiner „Inschriften des menschlichen Herzens“[95] wird so ausgehebelt.

[...]


[1] Hobbes 2011: 204

[2] Ebd.: 318

[3] Vgl. Latour 2000: 373

[4] Vgl. Kittler 1993a

[5] Hobbes 2011: 359

[6] Vgl. Hobbes 2011: 63,64

[7] Kittler 2002: 101

[8] Vgl. Schmitt 1993: 13

[9] Kittler 1993a: 77

[10] Vgl. Heidegger 1954; Vgl. auch Kittler 1986:292

[11] Vgl. Dotzler 1996: 11

[12] Dotzler zitiert Turings Kriterium für K.I.: Dotzler 1996: 45

[13] Allgemein hierzu: Giesecke 1999

[14] Latour 1995: 149, 163

[15] Schmitt hat gezeigt, dass Hobbes Rechtspositivist ist. Vgl. Schmitt 2003: 69ff.

[16] Vgl. Pfaffenzeller 2012: 34ff

[17] Vgl. Pfaffenzeller 2012: 36; Vgl. ebenfalls McLuhan 1995

[18] Hobbes 2011: 348

[19] Vgl. Schmitt 2003: 119ff.

[20] Weber 2006: 176, entgegen der Interpretation, dass Weber hier das 3.Reich prophezeite, sei bemerkt, dass ein solches Gehäuse einem Staat im Staate mit vor allem charismatischer (nicht rationaler) Herrschaft widerspricht. Hobbes vergleicht den Leviathan ebenfalls mit einem stabilen Haus, konstruiert nach den „Vernunftprinzipien“ der Geometrie. Dass Hörigkeit, Gehorsam aus Furcht die „Natur des Baumaterials“ ist, erlaubt diese mehr oder weniger synonyme Verwendung. Hobbes 2011: 317

[21] Vgl. Hobbes 2011: 317

[22] Dotzler 1996: 45

[23] Vgl. Münkler 2001: 81ff. u. 141ff.

[24] Hobbes 2011: 265

[25] Münkler 2001: 73

[26] Hobbes 2011: 265

[27] Derrida 1983: 17

[28] Hobbes 2011: 341, Vgl. auch Shannon 1999

[29] Wiener 1948: 155

[30] Vgl. Kittler 1993e: 161ff., Vgl. Giesecke 1991: 38ff.

[31] Vgl. Wiener 1948: 154ff.

[32] Vgl. Völz 2011b

[33] Wiener 1948

[34] Z.B.: Platon, Aristoteles, Paulus, Engels. Vgl. Meichsner 1983: 19ff.

[35] Um den Einwand, dass körperliche Bestrafung durchaus eine sehr physische Art und Weise des Regierens ist, zu entkräften, sei darauf verwiesen, dass Hobbes Strafen ebenfalls als eine Art der Information betrachtet. „Strafen“ haben den „Zweck, den menschlichen Willen zum Gehorsam anzuhalten.“ (Hobbes 2011: 293)

[36] Hobbes 2011: 336

[37] Foucault 1999b: 54

[38] Z.B.: Schmitt 1993: 52ff.; Waas 2011: 440ff.

[39] Vgl. Hobbes 2011: 54

[40] Hobbes 2011: 173

[41] Vgl. Foucault 1999a: 182ff.

[42] Vgl. Derrida 1999

[43] Vgl. Kittler 1993e

[44] Kittler 1993a: 73

[45] Hobbes 2011: 75

[46] Schmitt 1993: 53; Kittler 1993d: 194

[47] Schmitt 1993: 53ff.

[48] Schmitt 1993: 59; Vgl. ebenfalls Heidegger 1954. Max Bense bezeichnet diese Metaphysik als „Metatechnik“, vgl. Bense 1999

[49] Dotzler 1996: 47

[50] Vgl. Schmitt 1993: 61ff.

[51] Vgl. Kittler 1980; Kittler 1993c: 209

[52] Schmitt 1993: 59ff.

[53] Hobbes 2011: 18

[54] Lacan 1999: 415

[55] Vgl. Hobbes 2011: 35ff.

[56] Vgl. Schelsky 1937: 180; Vgl. auch: „Das menschliche Wesen [ist] nicht der Herr dieser primordialen und ursprünglichen Sprache. Es ist in sie geworfen worden, in sie eingebunden, es hängt in ihrem Räderwerk. Den Ursprung, wir kennen ihn nicht.“ (Lacan 1999: 419)

[57] Schelsky 1937: 182

[58] Vgl. Hobbes: 35ff., Vgl. Schelsky 1937: 184

[59] Vgl. Hobbes 2011: 46

[60] Hobbes 2011: 45

[61] Hobbes 2011: 64

[62] Vgl. Hobbes 2011: 48

[63] Hobbes 2011: 66

[64] Hobbes 2011: 51

[65] Hobbes 2011: 44, 265

[66] Hobbes 2011: 40

[67] Hobbes 2011: 46ff., siehe auch: Lacan 1999: 417

[68] Hobbes 2011: 52, Vgl. auch Schelsky 1937: 183

[69] Hobbes 2011: 38

[70] Dass hier das für Descartes so entscheidendedubitoausgelassen wird, hat gute Gründe. Im Laufe der Arbeit werden wir sehen, dass Hobbes im Konzept derfides, des inneren Gewissens, eine Zweifelinstanz zulässt, die sein System sprengen und laut Carl Schmitt zum „Todeskeim“ für den Leviathan wird (Schmitt 2003: 86). Zu den grundsätzlichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Descartes und Hobbes: Tönnies 1971: 99ff.

[71] Giorgio Agamben setzt sich mit dem Begriff des bloßen Lebens, zōḗ, im Gegensatz zum „qualifizierten Leben,“ bíos, detailliert auseinander. Vgl. Agamben 2002: 11ff.,132

[72] Hobbes grenzt sich scharf von der Teleologie des Lebens bei Aristoteles und den Scholastikern ab. Vgl. Aristoteles; Gigon 2006

[73] Hobbes 2011: 97, Vgl. auch Schelsky 1937: 187

[74] Hobbes 2011: 97

[75] Dotzler 1996: 47

[76] Vgl. Lacan 1999: 416ff.

[77] Vgl. Kittler 1993a: 76

[78] Der Vergleich zu Shannons labyrinthlösender Maschine liegt nahe. Die zwei Lösungsstrategien Trial and Error oder eben erlernte bzw. eingeschriebene Verhaltensmuster ausführen lassen sich auf Hobbes’ Untertanen übertragen. Nicht umsonst zieht der Interviewer eine Parallele zu Orwells Roman 1984 (s. Orwell 1964) und gibt dem Sachverhalt eine politische Dimension. Shannon 2000: 297

[79] Vgl. Schelsky 1937: 183. „Macht […] kann nicht selbst erklärt oder begriffen werden, sondern nur in ihren Auswirkungen und Handhabungen beschrieben werden.“

[80] Vgl. Hobbes 2011: 86ff.

[81] Hobbes 2011: 88

[82] Vgl. Hobbes 2011:88

[83] Kittler 1993a: 76

[84] Der Begriff des Krieges eines jeden gegen jeden wird dem des Naturzustandes vorgezogen, es geht nicht um Natürlichkeit und Ursprünglichkeit, sondern um das grausame Potential der entfesselten symbolischen Maschinen. Siehe Fußnote 87

[85] Münkler 2001: 81

[86] Münkler 2001: 80. Luhmann hat diese gezeigt, wie sich aus doppelter Kontingenz eine gewissen Stabilität und Wahrscheinlichkeit entwickeln kann. Vgl. Luhmann 1986: 148ff.

[87] Somit ist der Naturzustand bei Hobbes ein Zustand, der erst nach der Entstehung der Sprache stattfinden kann, denn er ist an subjektives Nutzenmaximieren gekoppelt, das auf Rechnungen beruht, die wiederum ohne Sprache nicht funktionieren. Die Entstehung der Sprache setzt jedoch Gemeinschaft voraus, sodass derpactum unionis civilisbereits geschlossen sein muss. Da Hobbes, im Gegensatz zu Locke und Rousseau,pactum unionis civilisundpactum subjectionis uno actuabgewickelt sehen will, müsste demnach bereits mit der Sprache Souveränität entstehen und der Naturzustand wäre in keinesfalls historischer Urzustand, sondern fiktiv und „idealtypisch konstruiert“ (Vgl. Münkler 2001: 94ff.). Somit wird Mensch per definitionem gleichbedeutend mit Untertan.

[88] Wie Dotzler nahelegt: Dotzler 1996: 171

[89] Kittler 1993a: 79ff., Die enorme Komplexität, die bei der Berücksichtigung von Gegenhandeln und gegenseitigem Belauern für die eigenen Handlungsräume entsteht, hält Hobbes trotzdem für subjektiv kalkulierbar. Es gibt eine subjektiv beste Handlungsweise, zumeist in der Prävention durch die Unterwerfung möglicher Konkurrenten (vgl. Hobbes 2011: 121).

[90] Dotzler 1996: 47, oder mit Kittler und Lacan: „Signifikantenbatterie und Schaltwerk“, vgl. Kittler 1993a: 79

[91] Hobbes 2011: 126

[92] Hobbes 2011: 18

[93] Vgl. Schelsky 1937: 190

[94] Dazu in den folgenden Kapiteln

[95] Hobbes 2011: 19

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Informationsmaschine Leviathan. Ein medientheoretischer Versuch über die Implementierbarkeit von Hobbes‘ Staatsentwurf
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft)
Veranstaltung
Media Studies
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
46
Katalognummer
V280751
ISBN (eBook)
9783656767855
ISBN (Buch)
9783656767886
Dateigröße
795 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
informationsmaschine, leviathan, probleme, staatsentwurfes
Arbeit zitieren
Martin Pfaffenzeller (Autor:in), 2012, Informationsmaschine Leviathan. Ein medientheoretischer Versuch über die Implementierbarkeit von Hobbes‘ Staatsentwurf, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/280751

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