Leseprobe
INHALTSVERZEICHNIS
1 Einleitung
2 Philosophische Theorien der Sozialen Kognition
2.1 Das Konzept der Sensitivität
2.2 Identifikation sozialer Rollen
2.3 Die TIT-FOR-TAT-Strategie
3 Das wissenschaftliche Fundament Sozialer Kognition
3.1 Evolutionäre Erkenntnistheorie
3.2 Dual-Prozesse
3.3 Spiegelneuronen
4 Konsequenzen für eine Theorie der Sozialen Kognition
4.1 Soziale Rollen und "frames"
4.2 Die TIT-FOR-TAT-Strategie
4.3 Das Konzept der Sensitivität
5 Schlussbetrachtungen
1 Einleitung
Philosophische Theorien der "Sozialen Kognition" beschäftigen sich mit den Prozessen der Selbst-Fremd-Differenzierung, ohne die eine adäquate Wahrnehmung der Zustände unserer Mitmenschen sowie ein daran anschließender Selbst-Fremd-Austausch nicht möglich wäre. Damit gemeint ist die Fähigkeit, "uns in andere hineinzuversetzen und uns vorzustellen, wie es anderen Menschen geht, was sie denken oder fühlen. Dabei handelt es sich in wesentlichen Anteilen um eine schnell ablaufende, präreflexive, intuitive Leistung. Dieser Selbst-Fremd- Austausch findet also immer dann statt, wenn wir mit anderen Personen in Interaktion treten; diese Interaktionen können sprachlich vermittelt sein, aber auch über Gestik und Mimik."1
Dass ein solches Verstehen überhaupt gelingen kann, ist an sich ein kleines Wunder, haben wir doch keinen direkten Zugang zum phänomenalen Bewusstsein unseres Gegenübers. Dazu gesellt sich der Umstand, dass sich viele Prozesse, die unserem Urteilen und Handeln zu Grunde liegen, unserem bewussten Erleben entziehen.2 Es stellt sich also die Frage, wie ein solches Verstehen zwischen zwei Subjekten, ohne sprachliche Vermittlung, gelingen kann.
Basiert unser Verstehen sozialer Kontexte und Situationen auf dem fundamentalen Prinzip der Projektion eigener mentaler Zustände? Oder fußt unser Urteil in sozial-relevanten Situationen auf Theorien, über die wir verfügen und die wir auf ganz konkrete Situationen anwenden? Bedarf es überhaupt solch komplexer Analysen, um menschliches Verhalten deuten oder um Prognosen über das Verhalten anderer machen zu können? Solche Fragen werden in der Phi- losophie unter dem Stichwort des "Fremdpsychischen" bzw. "Fremdverstehens" verhandelt.3
In der vorliegenden Arbeit werde ich zunächst drei Konzeptionen der Sozialen Kognition in den Blick nehmen, die allesamt auf den Rekurs alltagspsychologischer Konzepte verzichten. Im Anschluss daran sollen zwei Themenfelder der Neuro- und der Kognitionswissenschaften diskutiert werden, welche im Rahmen der "Evolutionären Erkenntnistheorie" dabei helfen können, die Prozesse der Sozialen Wahrnehmung besser zu verstehen, und, darauf aufbauend, eine philosophische Theorie der Sozialen Kognition (natur-) wissenschaftlich zu fundieren.
2 Philosophische Theorien der Sozialen Kognition
Dem Common Sense zu Folge basiert unser Soziales Verstehen auf rationalen Überlegungen. Hiernach soll uns die Deutung des Verhaltens (d.h. Erklärungsversuche über das Verhalten) unserer Mitmenschen einerseits ein Verständnis gegenwärtiger und vergangener Verhaltens- weisen ermöglichen; andererseits wiederum sollen Vorausberechnungen und strategische Überlegungen Prognosen über das zukünftige Verhalten unserer Mitmenschen erlauben. Es gibt jedoch Konzepte, die bei der Erklärung dessen, wie soziales Verstehen zustande kommt, auf solche rationalen Erwägungen des Common Sense und der Alltagspsychologie verzichten.
2.1 Das Konzept der Sensitivität
Dem Konzept der direkten Sensitivität zufolge ereignet sich Soziales Verstehen durch direkte Übertragung emotionaler Zustände, ohne diese Zustände bewusst zu simulieren bzw. ohne explizite Urteile über sie zu fällen. Diese Sensitivität hinsichtlich der emotionalen Zustände anderer mündet bei den auf solche Weise wahrnehmenden Subjekten in direkte Handlungen. Die emotional wahrgenommenen Zustände sind ganz elementar und bilden das Fundament und gleichsam das Rohmaterial für die Generalisierungen der Alltagspsychologie.4
Das Interessante hierbei ist die Annahme, dass wir im Alltag sehr häufig auf der Basis direkter Wahrnehmung emotionaler und affektiver Zustände handeln, ohne uns dieser Zustände und folglich des Grundes unserer Handlungen und (Re-)Aktionen bewusst zu sein. Wahrnehmen und Verhalten sind hiernach selbstregulativ; die direkte Perzeption emotionaler Zustände speist unser Verhalten unmittelbar und zieht eine Handlungsperformanz nach sich. Dieses unbewusst von Statten gehende Reagieren (der Übergang in eine Handlung) auf einen direkt perzipierten emotionalen Zustand ist der eigentliche Sinn und das Ziel unserer Sensitivität.5
Ein ähnliches Konzept, welches ebenfalls die Intuition bemüht, hat der Verhaltenspsychologe Gerd Gigerenzer vorgebracht. Er beschreibt Intuitionen jedoch, anders als im Konzept der direkten Sensitivität, als ein Ergebnis unbewusster mentaler Prozesse, die sich einfacher Faustregeln, so genannter Heuristiken, bedienen, welche auf die Umweltbedingungen sowie auf individuelle Erfahrungen zurückzuführen sind. Auch dieser Konzeption zufolge ist das Resultat eines Wahrnehmungsprozesses die Kodetermination menschlichen Verhaltens.6
2.2 Identifikation sozialer Rollen
Dieses Konzept bezieht sich auf solche soziale Situationen, die im Rahmen routinemäßiger, alltäglicher Handlungen verstanden werden können. Solche Rollen und Handlungsabläufe sind gesellschaftlich normiert und weitgehend standardisiert, sodass wir zu ihrem Verständnis auf die Zuschreibung psychologischer Zustände im Sinne der Alltagspsychologie gänzlich verzichten können; auch Prognosen über das zu erwartende Verhalten der beteiligten Perso- nen sind hier nicht erforderlich. Vielmehr ergeben sich die zu erwartenden Verhaltensweisen aus den sozial standardisierten Rollen der beteiligten Personen. So erkennen wir etwa einen Kellner, der auf uns zukommt, sofort an seinem Auftreten und an seiner äußeren Ausstattung. Ich weiß sofort, was der Kellner von mir möchte, und der Kellner weiß dies, auf Grund der Identifikation meiner Rolle als Gast, ebenso, ohne, dass er sich psychologisch in mich oder ich mich in ihn hineinversetzen müsste. Ebenso verhält es sich, wenn wir etwa Fleisch in einer Metzgerei kaufen. Zum Verständnis der zu erwartenden Handlungsabläufe bedarf es lediglich der Identifikation des sozialen "frame", d.i. der soziale Rahmen, innerhalb dessen sich die jeweilige soziale Interaktion ereignet. Solche Rahmen dienen uns als Gerüst, als eine Matrix, die es nun noch individuell zu füllen gilt. Ohne solche sozialen Schemata wären wir im Alltag sehr gefordert, wenn nicht überfordert, und die soziale Interaktion funktioniert hier ganz und gar einzig auf Grund der Identifikation der sozialen Situation und der sozialen Rollen.7
José Luis Bermudez betont: "There is no need to make any folk psychological attributions. [...] The point is not that the routine is cognitively transparent - that it is easy to work out what the other participants are thinking. Rather, it is that we don't need to have any thoughts about what is going on in their minds at all. The social interaction takes care of itself [...].8 Sobald die sozialen Rollen erst einmal identifiziert sind, vollzieht sich die soziale Interaktion quasi ganz ohne unser Zutun, ohne, dass wir oder ein anderer Beteiligter die Situation irgendwie einzuschätzen hätte.9 Zu Grunde liegen hier erfahrungsbasierte Strukturen, die wir im Laufe unseres Lebens auf Grund unserer sozialen Interaktionen verinnerlicht haben. Marvin Minsky, ein Pioneer auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz, beschreibt die sozialen "frames" sinngemäß wie folgt: Bei "frames" handelt es sich um Datenstrukturen zur Repräsentation stereotyper Situationen. In sozialen Situationen wählen wir aus unserem Repertoire einen Rahmen bzw. eine Matrix, die auf die entsprechende Situation am besten passt. Minsky spricht daher auch von einem "remembered framework to be adapted to fit reality by changing details as necessary".10
2.3 Die TIT-FOR-TAT-Strategie
Es gibt jedoch auch solche soziale Situationen, in denen wir weder durch direkte Sensitivität, noch durch die Identifikation sozialer Rollen weiter kommen, und solche Situationen scheinen eine Vorhersage des Verhaltens anderer zu erfordern. Eine spezielle soziale Konstellation haben Soziologen in einem Gedankenexperiment entworfen, dem sog. "Gefangenendilemma": Zwei Gefangene werden getrennt befragt, und, da die Beweislage für eine Verurteilung wegen des schwerwiegenderen Vergehens nicht ausreicht, vor die Wahl gestellt, über das Vergehen entweder zu schweigen oder ihren Komplizen wegen des schwerwiegenderen Vergehens zu belasten. Falls beide sich gegenseitig verraten, dann werden beide für jeweils fünf Jahre ins Gefängnis gehen. Wenn beide hingegen schweigen, dann werden beide wegen des geringeren Vergehens angeklagt und zu je zwei Jahren Gefängnis verurteilt werden. Sollte jedoch einer der beiden seinen Komplizen belasten, ohne selbst von diesem belastet zu werden, dann kommt er ohne Bestrafung davon, während der andere für zehn Jahre ins Gefängnis muss. Jedem Gefangenen sind alle möglichen Konsequenzen bewusst. Da jeder der beiden "player" (ein Ausdruck der Spieltheorie) rational handelt, werden sie sich für die dominante Strategie11 entscheiden und den jeweils anderen verraten (defektieren), was in der Konsequenz dazu führt, dass beide zu jeweils fünf Jahren Gefängnis verurteilt werden. Obwohl sie, rational betrachtet, die für sich günstigste Entscheidung treffen, sind beide im Ergebnis schlechter dran als wenn sie geschwiegen und damit die niedrigere Strafe von nur zwei Jahren erhalten hätten. Statt ohne eine Strafe davonzukommen, gehen beide für je fünf Jahre ins Gefängnis.12
Die Situation sieht scheinbar günstiger aus, wenn sich das "Spiel" wiederholt. Doch ist die Zahl der "Runden" oder die Rationalität des anderen "Spielers" unbekannt, dann stehen wir vor einem Problem, und die günstigere Option entzieht sich einer verlässlichen Prognose. Ehe man sich also für die individuell bessere (dominante) Strategie entscheidet und "defektiert", sollte man alle möglichen Konsequenzen hinsichtlich des Verhaltens der übrigen "Spieler" in Betracht ziehen und gründlich abwägen, ob hier mein Handeln nicht letzten Endes auf mich selbst zurückfällt. Dies aber scheint in der Realität kaum möglich.13
Hier bringt uns die TIT-FOR-TAT-[wie-du-mir-so-ich-dir]-Strategie weiter: stets in der ersten Runde kooperieren und nachfolgend immer genau das tun, was der Gegenspieler zuvor getan hat. So ist es auch hier möglich, ohne Erwägungen der Alltagspsychologie auszukommen.14
3 Das wissenschaftliche Fundament Sozialer Kognition
3.1 Evolutionäre Erkenntnistheorie
Die Vorstellung, dass unser menschliches Erkenntnisvermögen das Resultat eines evolutiven Prozesses sei, wurde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts disziplinübergreifend erwogen.15 Die Verbindung der unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mit dem Anliegen der Wahrnehmungsphilosophie führte dann zu einem völlig neuen Fachgebiet, welches alle (nicht alleine menschlichen) Fähigkeiten von Lebewesen auf der Grundlage der Evolutions- theorie und der natürlichen Auslese analysiert.16 Grundsätzlich ist das Ziel der Evolutionären Erkenntnistheorie die Beantwortung ungelöster Fragen der Philosophie. Dabei greift sie auf relevante Erkenntnisse der "Neurophysiologie, zelluläre Neurobiologie, Neurochemie, Neuro- logie, Psychiatrie und Psychologie einschließlich der experimentellen Psychologie" zurück.17
Zu diesem interdisziplinären Forschungsprojekt zählt daher auch die Neurophilosophie, die sich vorrangig mit dem menschlichen Gehirn, einschließlich aller Implikationen, beschäftigt, die mit diesem Organ zusammenhängen. Insofern bietet sich ihr ein breites wissenschaftliches Spektrum.18 "Neben dem Gehirn werden in der Neurophilosophie anthropologische Themen, wie Bewusstsein, Wahrnehmung, Verhalten, [...] und Handlung bearbeitet. Außer den anthro- pologisch orientierten Fragestellungen greift die Neurophilosophie aber auch andere Themen, [] erkenntnistheoretische Probleme, neuropsychologische Funktionen [...] auf."19
Es bedarf dieser interdisziplinären Zusammenarbeit, wenn sich eine philosophische Theorie der Wahrnehmung von bloßer Spekulation abheben soll.20 Thomas Bonk stellt, analog zum Prinzip der natürlichen Auslese, die Frage, weshalb so viele Theorien den wissenschaftlichen Diskurs nicht überlebt haben.21 "Wenn es genügte, sich die Welt irgendwie vorzustellen, zu denken, zu konstruieren, dann wären solche Weltmodelle alle gleich viel wert; keines wäre wahrer oder richtiger, und deshalb hätte keines gegenüber einem anderen einen Vorteil."22 "Kognitive Systeme und Weltmodelle können die reale Welt treffen oder sie verfehlen. Im Allgemeinen überleben sie desto leichter, je richtiger sie die reale Welt abbilden."23
[...]
1 Vogeley [online] 2014, 122.
2 Vgl. Vogeley [online] 2014, 122 ff.
3 Vgl. Vogeley [online] 2014, 123.
4 Vgl. Bermudez 2005, 198 f.
5 Vgl. Bermudez 2005, 199.
6 Vgl. Bonk 2013, 119, 205 ff.
7 Vgl. Bermudez 2005, 198, 203.
8 Bermudez 2005, 203.
9 Vgl. Bermudez 2005, 203 f.
10 Vgl. Bermudez 2005, 204 f.
11 Die dominante Strategie ist immer diejenige, die für das einzelne Individuum vorteilhafter ist als alle anderen möglichen Strategien, ungeachtet dessen, für welche Strategie die anderen Beteiligten sich entscheiden mögen.
12 Vgl. Bermudez 2005, 199 f.
13 Vgl. Bermudez 2005, 201.
14 Vgl. Bermudez 2005, 202 f.
15 Vgl. Bonk 2013, 46.
16 Vgl. Bonk 2013, 47.
17 Vgl. Storch u.a. 2007, 501.
18 Vgl. Northoff [online] 2014.
19 Ebd.
20 Vgl. Bonk 2013, 45.
21 Vgl. Bonk 2013, 48.
22 Ebd.
23 Ebd.