Die "angry young men" der britischen Nachkriegszeit. Inwiefern beeinflussten John Braine, Alan Sillitoe und John Osborne die Filme des Free Cinema sowie der New Wave?


Dossier / Travail, 2015

15 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Entstehung, Finanzierung und Merkmale des Free Cinema und der New Wave

3. Angry Young Men in der britischen Gesellschaft
3.1 Angry - Der Grund für den Zorn
3.2 Young - Die Rolle des Jugendlichen
3.3 Men - Die Stellung der Männlichkeit

4. Fazit

5. Bibliographie

6. Filmographie

1. Einleitung

„As film-makers we believe that No film can be too personal The image speaks. Sound amplifies and comments. Size is irrelevant. Perfection is not an aim.

An attitude means a style. A style means an attitude.

Implicit in our attitude is a belief of freedom, in the importance of people, and in the significance of the everyday”1

lautete das Manifest des Free Cinema, einer Bewegung des britischen Films, die erstmals im Februar 1956 in Erscheinung trat. Ursprünglich waren darunter sechs Filmprogramme zu verstehen, die in den Jahren von 1956 bis 1959 im National Film Theatre in London uraufgeführt wurden. Dabei handelte es sich um eine Reihe von Kurzfilmen mit stark dokumentarischem Duktus, deren Urheber unter anderem die Filmemacher John Fletcher, Gavin Lambert, Walter Lassally, Lorenza Mazzetti, John Schlesinger, Lindsay Anderson, Karel Reisz und Tony Richardson waren.2

Insbesondere die letzten drei dieser Regisseure gelten auch für die britische New Wave (1959- 1963) als Schlüsselfiguren, in die das Free Cinema gegen Ende der 1950er Jahre mündete. In beiden Bewegungen waren sie es, die für einen sozialkritischen und offen politischen Film eintraten, der sich mit dem alltäglichen Leben und den Problemen der bis dahin im britischen Film drastisch unterrepräsentierten Arbeiterklasse beschäftigen sollte.3

Als grundlegende Inspiration erwies sich in diesen Zusammenhängen die Verbindung zu den Vertretern der zeitgenössischen Literatur und des Theaters, den angry young men, unter anderem John Braine, Alan Sillitoe oder John Osborne, die sich ebenfalls mit den Klassenkonflikten der britischen Nachkriegsgesellschaft befassten. So basieren alle Filme des Free Cinema und der New Wave auf Werken dieser Schriftsteller und Theaterregisseure. Ins Auge fällt dabei, dass die behandelten Konflikte, wie z.B. außereheliche Sexualität, ungewollte Schwangerschaften, Abtreibung und Homosexualität bis auf wenige Ausnahmen anhand von jungen Arbeitern dargestellt werden, die sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden suchen. Sowohl bei den Protagonisten der Werke des Free Cinema als auch bei denen der New Wave handelt es sich auffallend oft um zornige junge Männer - um angry young men. 4

Sie sollen der Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein, dessen Ziel es ist, die sozialhistorischen Hintergründe des Free Cinema, der New Wave und ihrer jeweiligen Helden zu beleuchten.5 Daher soll nach einer einleitenden Beschreibung der Entstehung der beiden filmhistorischen Epochen im Allgemeinen, ihrer Finanzierung und ihrer Merkmale, der Begriff der angry young men in seinen drei Bestandteilen untersucht werden. Genauer gesagt: Es sollen sowohl die Gründe für den omnipräsenten Zorn als auch die neue Stellung der Jugendlichen und der Männlichkeit in der britischen Nachkriegsgesellschaft dargelegt werden. Gleichzeitig gilt es die erarbeiteten Erkenntnisse in den relevantesten Filmen der jeweiligen Epochen wiederzufinden, darunter LOOK BACK IN ANGER (1959)6, SATURDAY NIGHT AND SUNDAY MORNING (1960)7 und A TASTE OF HONEY (1961)8. Zuletzt soll eine Zusammenfassung der beschriebenen Arbeit gebildet sowie eine Antwort auf die Frage angeboten werden: Warum die angry young men ?

2. Entstehung, Finanzierung und Merkmale des Free Cinema und der New Wave

Wie aus der Einleitung zu entnehmen ist, entstand die für die Kinematographie Großbritanniens äußerst prägende Bewegung des Free Cinema durch die gemeinsame Vorführung einiger dokumentarisch wirkender Kurzfilme, bei denen es sich nicht selten um Erstlingswerke der teilnehmenden Regisseure handelte,9 wie z.B. bei Reisz‘ und Richardsons MOMMA DON’T ALLOW (1956)10. Begründer der Idee eines Zusammenschlusses war der Oxford-Absolvent Lindsay Anderson.11 So sagte er zu der Entstehung des Free Cinema:

Free Cinema ist aus praktischen Gründen kreiert worden: die Filme existierten vor der Gruppe. Im Jahre 1956 (…) machten Karel Reisz und Tony Richardson einen kleinen Film für das British Film Institute: „Momma Don’t Allow“, und ich war mit den Schnittarbeiten für einen Film von Lorenza Mazzetti „Together“ beschäftigt, der absolut kein Dokumentarfilm gewesen ist. (…) Wir fragten uns: „Was wollen wir machen, wenn wir diese Filme fertiggestellt haben?“, weil wir niemanden kannten, der diese Filme sehen wollte, es gab absolut keinen Weg, sie zu zeigen. Ich glaube, ich hatte die Idee: „Lass uns doch eine Bewegung daraus machen“, weil Journalisten nie über einen unabhängigen Film schreiben, der in 16mm gedreht und 20 Minuten lang ist und von zwei Taubstummen in East End handelt.

(„Together“) Aber falls man die Filme zusammen zeigen, ein Manifest verfassen, sich selbst Free Cinema nennen und eine Menge aggressiver Statements abgeben würde - dann würde man natürlich den Artikel für sie schreiben, und sie wären sehr glücklich, diesen abzuschreiben.“12

Des Weiteren gründete Anderson 1947 gemeinsam mit Gavin Lambert und Penelope Houston in Oxford die Filmzeitschrift Sequence. 13 Sie bildete nicht nur die Grundlage für die im Free Cinema vertretene Ästhetik und Mentalität, sondern prägte auch die sich anschließende britische New Wave, als deren Beginn Jack Claytons Film ROOM AT THE TOP (1959)14 gilt.15

In den Artikeln besagter Zeitschrift wandten die Filmkritiker sich explizit gegen das gesellschaftskonforme Unterhaltungskino16. Um sich dem davon ausgehenden kommerziellen Druck entziehen zu können, gründeten John Osborne und Tony Richardson 1959 mit der Unterstützung des amerikanischen Filmproduzenten Harry Saltzman die Firma Woodfall Films, die unter anderem Richardsons Verfilmung von Osbornes Theaterstück, Look Back in Anger,17 mitfinanzierte. Weitere finanzielle Unterstützung erhielten die Werke durch die ebenfalls unabhängigen Produktionsfirmen Bryanston Films und Allied Film Makers sowie durch den Experimental Fund des British Film Institute und die Firma Ford. Verliehen wurde der Großteil der Filme anschließend über British Lion Films.18 Aufgrund dieser Unabhängigkeit von ökonomischen Zwängen, erhielt die frühere der beiden Bewegungen ihren Namen (engl.: free = gratis). Aber auch die sich anschließende New Wave profitierte maßgeblich von eben jenen Errungenschaften, sodass nicht lange nach den besagten Kurzfilmen auch abendfüllende Spielfilme entstehen konnten.19

Des Weiteren bezogen die Vertreter des Free Cinema explizit gegen die als zu objektiv und soziologisch empfundene britische Dokumentarfilmbewegung der 1930er Jahre Stellung.20 Gewiss beschäftigten sich sowohl die Regisseure des Free Cinema und der New Wave als auch die der Dokumentarfilmbewegung mit gemeinsamen Sujets, die sie im Unterschichtmilieu der britischen Nachkriegsgesellschaft fanden.21 Ferner lässt sich die realistisch anmutende Ästhetik der sogenannten Kitchen-Sink-Dramas des Free Cinema bzw. der New Wave auf das „dokumentarische Ideal“22 der vorausgegangenen Bewegung zurückführen.23 So sollte der Eindruck von Authentizität etwa durch das Drehen an Originalschauplätzen in den Industriegebieten des englischen Nordens und mit einfacher technischer Ausrüstung wie tragbaren Kameras gefördert werden.24 Demselben Zweck diente der Einsatz von Laienschauspielern, deren Alltagssprache ein rüder Akzent kennzeichnete und sie somit eindeutig der Unterschicht zuordnete.25

Allerdings bevorzugten jene oppositionellen Regisseure der 1950er und 1960er Jahre bei ihren Arbeiten eine Art „poetry of everyday life“26, d.h. eine poetische Interpretation des wirklichen, rauen Arbeiterdaseins.27 Beispielsweise wurde zusätzlich in schwarz-weiß gedreht, um die freudlose Stimmung der Arbeiterstädte noch zu verstärken.28

[...]


1 Siehe Elizabeth Sussex, Lindsay Anderson, London 1969, S.31.

2 Unterstützt wurden die britischen Filme von Werken ausländischer Regisseure wie Francois Truffaut (LES MISTONS [dt. DIE UNVERSCHÄMTEN]; F 1957), Claude Chabrol (LE BEAU SERGE [dt. DIE ENTTÄUSCHTEN]; F 1958) und Roman Polanski (DWAJ LUDZIE Z SZAFA [dt. ZWEI MÄNNER UND EIN SCHRANK]; PL 1958).

3 Vgl. Jörg Helbig, Free Cinema und New Wave: Die angry young men des britischen Kinos. In: ders. (Hrsg.), Geschichte des britischen Films, Stuttgart 1999, S. 204.

4 Vgl. B. F. Taylor, The British New Wave: A certain tendency?, Manchester 2006, S.3.

5 Selbstverständlich bestehen durchaus Unterschiede zwischen Free Cinema und New Wave. Beispielsweise beschäftigte sich die britische New Wave der 1960er Jahre noch expliziter mit Sexualität, was ebenfalls mit gesellschaftlichen Entwicklungen zu begründen ist. Gleichwohl werde ich in dieser Arbeit die beschriebene Thematik epochenübergreifend behandeln, da die Stellung der angry young men in den beiden Bewegungen eine sehr ähnliche ist.

6 LOOK BACK IN ANGER [dt. BLICK ZURÜCK IM ZORN]; R: Tony Richardson, GB 1959.

7 SATURDAY NIGHT AND SUNDAY MORNING [dt. SAMSTAGNACHT UND SONNTAGMORGEN]; R: Karel Reisz, GB 1960.

8 A TASTE OF HONEY [dt. BITTERER HONIG]; R: Tony Richardson, GB 1961.

9 Vgl. Jörg Helbig, Free Cinema und New Wave: Die angry young men des britischen Kinos, S.203-204.

10 MOMMA DON’T ALLOW; R: Karel Reisz, Tony Richardson, GB 1956.

11 Vgl. Jörg Helbig, Free Cinema und New Wave: Die angry young men des britischen Kinos, S.203-204.

12 Lindsay Anderson, zitiert nach: Filmstelle VSETH, Free Cinema. In: Das Unheimliche im Film, Zürich 1980 , S.164.

13 Später publizierten sie allerdings vornehmlich in der Zeitschrift des British Film Institute (BFI) Sight and Sound. In dieser erschien 1956 ebenfalls der für das Free Cinema wegweisende Essay Andersons Stand Up! Stand Up!, in dem er ein sozialengagiertes Kino propagierte.

14 ROOM AT THE TOP [dt. DER WEG NACH OBEN]; R: Jack Clayton, GB 1959.

15 Vgl. Jörg Helbig, Free Cinema und New Wave: Die angry young men des britischen Kinos, S.204-205; Inspiration entnahmen beide Strömungen außerdem dem italienischen Neo-Realismus und der Symbolik Ingmar Bergmans (nachzulesen in: Erik Helding, Lindsay Anderson and the Development of British Art Cinema. In: Robert Murphy, The British Cinema Book, London 2001, S.39).

16 Gemeint sind Filme von Regisseuren wie Laurence Olivier, David Lean und Anthony Asquith, die auf die schlechte Stimmung im Land (vgl. S.6-8, 3.1 Angry - Der Grund f ü r den Zorn, in dieser Arbeit) mit realitätsfernen Spielfilmen reagierten (nachzulesen in: Jörg Helbig, Free Cinema und New Wave: Die angry young men des britischen Kinos, S.203).

17 Das von John Osborne geschriebene Theaterstück Look Back in Anger wurde bereits am 8. Mai 1956 am Royal Court Theatre in London uraufgeführt.

18 Vgl. Duncan Petrie, Gro ß britannien: Die Suche nach Identit ä t. In: Geoffrey Nowell-Smith (Hrsg.), Geschichte des internationalen Films, Stuttgart 2006, S.556-557.

19 Vgl. Filmstelle VSETH, Free Cinema, S.165.

20 So sagte Lindsay Anderson über den Kopf der Dokumentarfilmbewegung John Grierson: „Grierson war ein vollkommenere Theoretiker, ein Soziologe, und das Gefühl für die Menschen in den Filmen, die er beeinflusst hat, ist immer kalt gewesen. Sie zeigten die Menschen immer als Typen.“ (Lindsay Anderson, zitiert nach: Filmstelle VSETH, S.165-166); den einzigen Filmemacher der britischen Dokumentarfilme der 1930er Jahre, den die Vertreter des Free Cinema als Künstler akzeptierten, war Humphrey Jennings. In seinen Arbeiten nutzte er zwar realistisches Material als Ausgangspunkt, montierte es jedoch emotionaler als John Griersons Stil es vorgab (nachzulesen in: Filmstelle VSETH, Free Cinema, S.166).

21 Vgl. Jörg Helbig, Free Cinema und New Wave: Die angry young men des britischen Kinos, S. 205-206.

22 John Grierson, zitiert nach: Geoff Brown, Paradise Found and Lost: The Course of British Realism. In: Robert Murphy (Hrsg.), The British Cinema Book, London 2001, S.28.

23 Ebd., S.32-33.

24 So sind in dem 1961 entstandenen A TASTE OF HONEY Aufnahmen aus dem nordwestlichen Salford zu sehen, während es sich bei dem 2 Jahre zuvor gedrehten LOOK BACK IN ANGER noch vorwiegend um Studioaufnahmen handelt (nachzulesen in: Peter Hutchings, Beyond the New Wave: Realism in British Cinema, 1959-6. In: Robert Murphy, The British Cinema Book, London 2001, S.307).

25 Vgl. Jörg Helbig, Free Cinema und New Wave: Die angry young men des britischen Kinos, S. 205-206.

26 Siehe John Caughie, Television Drama. Realism, Modernism, and British Culture, Oxford 2000, S.66.

27 Da die Regisseure des Free Cinema respektive der New Wave selbst der Mittelschicht entstammten und über eine hervorragende Bildung verfügten, ist ihr Porträt der Arbeiterschicht oftmals etwas romantisiert (nachzulesen in: Jörg Helbig, Free Cinema und New Wave: Die angry young men des britischen Kinos, S.205).

28 Besonders die Schwarzweiß-Fotographie des Kameramanns Walter Lassallys verlieh den Filmen einen besonderen visuellen Stil (nachzulesen in: Bert Hogenkamp, Film, Television and the Left in Britain. 1950 to 1970, London 2000, S.54); im Zuge dieser künstlerischen Umsetzung erfolgte zudem eine Stärkung der Rolle des Regisseurs. Das Verständnis des Regisseurs als Künstler des Films kann auf die im Zusammenhang mit der französischen Novelle Vague entstandene auteur -Theorie zurückgeführt werden, die durch die Filmzeitschrift Movie auch in die englische Filmkritik gelangte (nachzulesen in: Jörg Helbig, Free Cinema und New Wave: Die angry young men des britischen Kinos, S.203); vgl. Andrew Higson, Space, Place, Spectacle: Landscape and Townscape in the „ Kitchen Sink “ Film. In: ders. (Hrsg.), Dissolving Views. Key Writings on British Cinema, S.140-144.

Fin de l'extrait de 15 pages

Résumé des informations

Titre
Die "angry young men" der britischen Nachkriegszeit. Inwiefern beeinflussten John Braine, Alan Sillitoe und John Osborne die Filme des Free Cinema sowie der New Wave?
Université
Free University of Berlin  (Institut für Theaterwissenschaft)
Cours
Filmgeschichte
Note
1,0
Auteur
Année
2015
Pages
15
N° de catalogue
V316839
ISBN (ebook)
9783668158030
ISBN (Livre)
9783668158047
Taille d'un fichier
1057 KB
Langue
allemand
Mots clés
nachkriegszeit, inwiefern, john, braine, alan, sillitoe, osborne, filme, free, cinema, wave
Citation du texte
Sally Seifert (Auteur), 2015, Die "angry young men" der britischen Nachkriegszeit. Inwiefern beeinflussten John Braine, Alan Sillitoe und John Osborne die Filme des Free Cinema sowie der New Wave?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/316839

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