Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Lenz’ Ideal einer Dichterexistenz als ungebundenes Künstlergenie
2. 1. Die Entstehung des ‚freien Schriftstellers‘ im 18. Jahrhundert
2. 2. Lenz’ Versuch einer freien Schriftstellerexistenz
2. 3. Biografisches ‚Scheitern‘?
3. Zwischen Traum und Wirklichkeit. Lenz’ Freiheitsideal in Theorie und Praxis .
3. 1. Denk- und Handlungsfreiheit als Voraussetzung für Lenz’ Poetologie
3. 1. 1. Über die Natur unsers Geistes
3. 1. 2. Über Götz von Berlichingen
3. 1. 3. Anmerkungen übers Theater
3. 1. 4. Rezension des neuen Menoza
3. 2. Die Determination der Figuren in Lenz’ dramatischen Arbeiten
3. 2. 1. Läuffer in Der Hofmeister oder die Vorteile der Privaterziehung
3. 2. 2. Die Emanzipation der Figur ‚Lenz‘ im Pandämonium Germanikum .
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
5. 1. Primärliteratur
5. 2. Sekundärliteratur
1. Einleitung
ÄDas allerhöchste Leiden ist Geringschätzung.“1 Diese Aussage machte Jakob Michael Reinhold Lenz in seiner theoretischen Schrift Über die Natur unsers Geistes im Jahr 1771. Zwar bezieht Lenz die Aussage auf die Leiden Jesu Christi, doch genauso gut kann man sie auch auf sein eigenes Leben beziehen. In seiner intensivsten Schaffensphase zwischen 1771 und 1776 erhielt er weder von seiner Familie, noch auf dem Literaturmarkt von den wichtigsten Kritikern, dem Publikum oder vielen anderen Schriftstellern Anerkennung. In den Anmerkungen übers Theater äußert sich Lenz zu der Existenz als Schriftsteller: ÄWenn wir das Schicksal des Genies betrachten (ich rede von Schriftstellern), so ist es unter aller Erdensöhne ihrem das bängste, das traurigste“ (WuBr, II, 657). Während die meisten seiner ‚Schriftstellerkollegen‘ öffentliche Positionen innehatten und somit zumindest ihre finanziellen Notlage mindern konnten, weigerte sich Lenz entschieden eine solche Stelle anzunehmen.2 Eine öffentliche Stelle wäre seiner Schaffensfreiheit im Weg gestanden und war auch nicht mit seiner selbstgegebenen Rolle als Geniedichter zu vereinbaren.3 Die Bewahrung seiner Autonomie war für ihn die einzige denkbare Möglichkeit als Dichter zu wirken.4
In dieser Arbeit soll nun Lenz’ Freiheitsideal, das sich sowohl in seinem Leben als auch in seinem Werk manifestiert, genau betrachtet werden. Anhand der Analyse wichtiger theoretischer Schriften werden die wichtigsten Begriffe seines Ideals geklärt und ihre Umsetzung in den dramatischen Schriften untersucht. Im Hinblick auf Lenz’ biografisches Wirken soll gezeigt werden, dass sein Freiheitsideal in seinem Streben nach einer Existenz als freier Schriftsteller zum Ausdruck kommt. Dabei soll auch die Ursache für die freiheitseinschränkenden Abhängigkeitsverhältnisse, in denen sich sowohl Lenz (z. B. gegenüber Goethe) als auch seine Figuren befinden, geklärt werden.
Im Folgenden werden nun kurz die einzelnen Abschnitte dieser Arbeit mit ihren zugrunde liegenden Fragen, Thesen und Vorhaben vorgestellt. In Kapitel 2 wird Lenz’ biografisches Freiheitsideal, also seine Versuche einer Existenz als ungebundenes Künstlergenie, im Mittelpunkt stehen. Die stetigen Versuche Lenz’ sich aus Abhängigkeitsverhältnissen zu befreien und seine Weigerungen eine öffentliche Stelle anzunehmen werden an dieser Stelle ausführlich betrachtet. Dabei soll insbesondere auch nach den Hintergründen seines kontroversen Verhältnisses zu Goethe und seiner schwierigen Position auf dem deutschen Literaturmarkt gefragt werden. Das unter Zeitgenossen und lange Zeit auch in der Literaturwissenschaft gängige Urteil über Lenz als einen Gescheiterten kann so besser verstanden werden.5 Bevor in Kapitel 2 explizit dem Streben Lenz’ nach einer freien Schriftstellerexistenz und die Hintergründe seines biografischen ‚Scheiterns‘ betrachtet werden, soll die mediengeschichtliche Entwicklung des ‚Schriftstellers‘ im 18. Jahrhundert in Deutschland kurz skizziert werden. Anhand der ausführlichen und prägnanten Analysen von Siegfried J. Schmidt6, Hans Jürgen Haferkorn7 und Helmuth Kiesel/Paul Münch8 werden dabei die wichtigsten Veränderungen im literarischen Feld aufgezeigt. Eine besondere Aufmerksamkeit soll dabei der Frage, welchen Stellenwert die aufkommende Genieästhetik für die Emanzipation des Schriftstellers hatte, geschenkt werden. Auf Vollständigkeit muss aus Rücksicht auf den Umfang dieser Arbeit an dieser Stelle allerdings verzichtet werden.
Im dritten Kapitel soll einerseits Lenz’ Freiheitsideal in seinen theoretischen Schriften und andererseits die auffallende Determination der Figuren in seinen dramatischen Schriften untersucht werden. Lenz’ biografisches Streben nach Autonomie, nach Unabhängigkeit und einer freien Schriftstellerexistenz findet in den meisten seiner theoretischen Arbeiten sein gedankliches Fundament. Dagegen erscheinen die Figuren in seinen dramatischen Arbeiten stets als durch die Begebenheiten determinierte und handlungsunfähige Charaktere.9 Die Widersprüchlichkeit zwischen Theorie und Praxis soll anhand der ausgewählten Texte untersucht werden. Die Untersuchung beschränkt sich dabei auf vier theoretische Arbeiten seiner intensivsten Schaffensphase zwischen 1771 und 1776 (Über die Natur unsers Geistes (1771-1773), Über Götz von Berlichingen (1773-1775), Anmerkungen übers Theater (177410 ) und Rezension des Neuen Menoza (1775)). Die Antonyme ‚Freiheit‘ und ‚Abhängigkeit‘, die eine stetige Aufmerksamkeit in diesen Texten erhalten, sollen ebenso wie der Geniebegriff definiert werden. Gleichzeitig wird in diesen Arbeiten auch Lenz’ poetologisches Ideal deutlich und greifbar. Es soll gezeigt werden, dass das Schauspiel für Lenz die Möglichkeit bietet die realen Abhängigkeitsverhältnisse aufzudecken und das Publikum so zu einer selbstständigen Emanzipation leiten kann. Auch im Hinblick auf Lenz’ Sicht auf den Literaturmarkt seiner Zeit bieten diese Texte entscheidende Aussagen, die sich in Lenz’ biografischem Freiheitsdrang widerspiegeln. Aus der Vielzahl der determinierten Figuren in Lenz’ dramatischem Werk soll beispielhaft an Läuffer aus Der Hofmeister - oder die Vorteile der Privaterziehung die Handlungsunfähigkeit der Figuren gezeigt werden. Dabei soll gezeigt werden, dass die soziale Abhängigkeit, in der sich Läuffer befindet, kausal für sein negatives (und in diesem Sinn auch unfreies) Handeln ist. Das letzte Unterkapitel wird sich dann mit der Figur ‚Lenz‘ in der Literatursatire Pandämonium Germanikum11 befassen. Anhand einer vergleichenden Untersuchung der beiden existierenden Handschriften (H1+H2) soll die Determiniertheit der Figur ‚Lenz‘ in H1 und ihr emanzipiertes Pendant in H2 aufgezeigt werden.
Nachdem Jakob Michael Reinhold Lenz bis in das letzte Drittel des vergangenen Jahrhunderts lediglich eine minimale Randposition in der deutschen Literaturgeschichte zugesprochen wurde - und das zumeist auch nur wegen des Kunstgesprächs in Büchners Woyzeck oder Brechts Bearbeitung des Hofmeisterstoffes - hat sich die Einschätzung der Literaturwissenschaft bezüglich Lenz’ Leben und Werk in den vergangenen 30 Jahren erheblich geändert.12 In Folge seines 200. Todestages 1991 erschienen mehrere Sammelbände13 und seit 1991 (Ausnahme 2004-2007) auch jährlich das Lenz-Jahrbuch. Trotzdem fehlt bis heute eine kritische Werkausgabe, obwohl einzelne Texte mittlerweile auch in kritischen Editionen erschienen sind. Zu welchen Problemen die Textunsicherheit führen kann, zeigt sich wohl am stärksten in der Rezeptionsgeschichte des Pandämonium Germanikums.14 Zu Teilaspekten des Themas dieser Arbeit liegen seit Mitte der 1990er Jahre mehrere Abhandlungen vor, die sich hauptsächlich mit der Selbstdarstellung Lenz’ im Literaturmarkt anhand von Analysen des Pandämoniums befassen.15 Weitere Schwerpunkte der Lenz-Forschung sind insbesondere im Bereich der Lenzschen Komödien- und Tragödienpoetik zu finden.16 Daneben gibt es eine Vielzahl an verschieden Fragestellungen und Ansatzpunkten, die die Forschung in den letzten Jahren aufgeworfen hat. Inge Stephan und Hans-Gerd Winter resümieren im Vorwort ihres zweiten Sammelbands zu der sich rasant entwickelnden Lenz-Forschung:
Mit z. T. unterschiedlichen Begründungen ist in Lenz‘ Texten eine Modernität erkannt worden, die ihn aus seinem Umfeld heraushebt, wenngleich die historische Intertextualität und die Einbindung in zeitgenössische Diskurse ein wichtiger Forschungsgegenstand bleiben.17
2. Lenz’ Ideal einer Dichterexistenz als ungebundenes Künstlergenie
2. 1. Die Entstehung des ‚freien Schriftstellers‘ im 18. Jahrhundert
Das ständische Dichtertum, von Haferkorn auf den Zeitraum zwischen 1720 und 1760 datiert18, lässt sich als Zwischenstadium in der Entwicklung vom Hofpoeten zum freien Schriftsteller verstehen. Der ständische Dichter war zumeist aus der bürgerlichen Schicht und arbeitete in öffentlichen Ämtern. Mit der Literatur befasste er sich in seinen Mußestunden, also Äals Ergänzung zu den Amtsgeschäften.“19 Das Leben der ständischen Dichter war komplett auf die Ämterkarriere ausgerichtet. Haferkorn stellt diesbezüglich fest, dass Äihr Sozialprestige auch von dort her bestimmt und gesichert“ wurde.20 Der ständische Dichter Äbevorzugte kürzere literarische Formen, wie Fabel, Satire, Lehrgedicht, Brief, Abhandlung u. ä.“21 und sollte unter dem horazischen Leitmotiv Äprodesse et delectare“ arbeiten.22 Zu den später von den Sturm-und-Drang-Dichtern heftig kritisierten ständischen Dichtern zählten u. a. Gottsched, Gellert oder Weiße.23
Der freie Schriftsteller entwickelte sich ab den Fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts, seine Entwicklung und Emanzipation ist untrennbar mit dem Geniegedanken bzw. den Geniebegriffen24 verbunden. Haferkorn spricht infolgedessen sogar von einer ÄZäsur“ die mit der ‚Gründung‘ des Geniegedankens einhergeht und den freien Schriftsteller generierte.25 Kiesel und Münch fassen die verschiedenen Genieauffassungen prägnant zusammen:
[…] im allgemeinen gehörten die Vorstellungen dazu, daß im Genie die menschliche Natur gesteigert sei, daß rationale und irrationale Kräfte in ihm eine glückliche Verbindung eingegangen seien, daß Geist, Sinnlichkeit und Herz auf harmonische Weise zusammenwirkten, daß eine produktive Phantasie außerordentliche Einsichten und Leistungen ermögliche, daß die wahren ästhetischen und poetischen Gesetze von ihm intuitiv erfaßt und verwirklicht würden.26
Von der bisherigen Forderung an die Literatur, sie solle nützlich und/oder erfreuend sein, wendete sich der neue Autorentyp entschieden ab:
Das Genie fühlte sich nicht verpflichtet, den Regelkanon fortzusetzen und zu vervollkommnen, sondern setzte sich über die Regeln der Poetiken hinweg: Originalität war als Ziel künstlerischer Arbeit und als Beurteilungskriterium an die Stelle von Richtigkeit getreten, der Geschmack allein wurde als kritische Instanz anerkannt, das Regelbuch des Kunstrichters abgelehnt.27
Neben diesem sowohl ästhetischen als auch sozialen Freiheitsdrang der Schriftsteller begünstigten auch neue Möglichkeiten im gesellschaftlichen und insbesondere im literarischen Umfeld diese Emanzipation: ÄDie Verbreitung des lesefähigen Publikums, die Zunahme von Zeitungen, Zeitschriften und Wochenschriften und die Erhöhung der Buchproduktion“28 lassen sich an dieser Stelle nennen. Diese Veränderungen Äschufen […] den Freiraum für ein neues Selbstverständnis von Autoren, die als weitgehend autonome Künstler […] auftraten und als solche nach Anerkennung strebten.“29 Für Schmidt war die Emanzipation des Schriftstellers in keiner Weise mit Autonomie verbunden: Die Dependenz vom bürgerlichen Publikum, das nun für die wirtschaftliche Situation der Autoren verantwortlich wurde, ersetzte lediglich die Abhängigkeit vom (politischen) Amt mit einer neuen Abhängigkeit.30 Das Streben nach sozialer Freiheit und Unabhängigkeit brachte den jungen Intellektuellen keinen finanziellen Erfolg: Viele Autoren suchten adlige Gönnerschaft oder flüchteten zurück in politische Ämter.31 An dieser Form der Regression hatte die Distanzierung zwischen dem Genie und dem bürgerlichen Publikum einen nicht unerheblichen Anteil. ÄDie Gesellschaft hält ‚die Literaten‘ weitgehend für überflüssig […] die Schriftsteller ihrerseits halten ‚das Publikum‘ für Philister und verachten es als den ‚großen Haufen‘.“32 Auf den innerschriftstellerischen Streit und die damit verbundene Unterscheidung zwischen den Termini ‚Dichter‘ und ‚Schriftsteller‘ braucht an dieser Stelle nicht näher eingegangen zu werden. Es genügt hier die Feststellung, dass die Gruppe, die sich als ‚Dichter‘ bezeichnete, die Distanzierung sowohl von der bürgerlichen Schicht als auch von allen anderen sozialen Schichten und Gruppen, vorantrieb.33
2. 2. Lenz’ Versuch einer freien Schriftstellerexistenz
Lenz, Lenz von der Vocation ins Philanthropin sag ich kein Wort, aber warum nimmst du die zu Weimar nicht an? Warum? Gib Acht wo die Ursache herkommt und wo sie hinführt. (WuBr, III, 449 ; Röderer an Lenz, Mai 1776)
Jakob Michael Reinhold Lenz lehnte 1776 trotz eminenter wirtschaftlicher Schieflage eine Stelle am Dessauer Philanthropin ab.34 Das Angebot aus Dessau (WuBr, III, 422) kollidierte mit Lenz’ Ankunft in Weimar am 02. April 1776, darin aber den Grund für seine Absage an das Philanthropin zu sehen, wäre zu einfach. Anfang des Jahres 1776 hatte sich Lenz für den Umzug von Straßburg nach Weimar entschieden und verknüpfte mit dem Fürstenhaus Herzog Karl Augusts u. a. die Hoffnung auf die langersehnte literarische Anerkennung.35 Im jungen Herzog sah Lenz - fälschlicherweise, wie sich herausstellen sollte - einen geeigneten Herrscher um für seine Reformschrift Über die Soldatenehen (1773-1776) Gehör zu finden. Goethe hätte der Vermittler sein können.36 Doch wie so oft wollte Goethe nicht, er riet Lenz sogar dazu die Schrift zu Äverbrennen.“37 Dass das Verhältnis zwischen Goethe und Lenz bereits vor der häufig genannten ÄEseley“ Ende 1776 brüchig war, ist in der Forschung hinreichend untersucht.38 Zu stark hatten sich die Autoren sowohl menschlich als auch künstlerrisch auseinander bewegt. Goethe wollte Lenz nicht in seiner Nähe am Weimarer Hof sehen; das Unterfangen von Lenz war somit von Beginn an nahezu unmöglich. Die ‚Ausweisung‘ aus Weimar bedeutete für Lenz auch endgültig das Scheitern auf dem literarischen Markt, seine Schriften und Arbeiten konnten sich nicht vom Bann aus Weimar emanzipieren. Kai Kaufmann hat in seiner Arbeit zu den Literatursatiren im Sturm und Drang unlängst festgestellt, dass Goethe u. a. durch das Verhindern und Verbieten von Veröffentlichungen Lenz’ Ägewollt oder ungewollt alles getan [hat], um Lenz als Konkurrenten auf dem literarischen Markt auszuschalten.“39
Gute fünf Jahre vor der ‚Eseley‘ war Jakob Michael Lenz als Reisebegleiter respektive als Diener mit den adligen Baronen von Kleist nach Straßburg gekommen. Sein Studium in Königsberg hatte er gegen den Willen seines autoritären Vaters abgebrochen um sein dichterisches Schaffen zum Lebensmittelpunkt zu machen. Der Preis dafür war hoch: Zum einen musste er für diesen Schritt in ein neues Abhängigkeitsverhältnis treten (gegenüber den Baronen Kleist) und zum anderen untergrub er mit seinem Verhalten die väterliche Autorität.40 Doch es zeugt auch davon, wie gefestigt der Wille war, Dichter zu werden: Er ließ sich nicht von seinem Vater hindern; mit Hoffnung und Überzeugung auf zukünftige Freiheit trat er in den Dienst der Barone und konnte sich drei Jahre später immerhin von diesen lösen.41
Sigrid Damm konstatiert im Nachwort ihrer Werkausgabe: ÄJakob Lenz ist der einzige [aus dem Kreis der Sturm-und-Drang-Autoren, F. K.], der kompromißlos an der Utopie einer freien Schriftstellerexistenz festhält.“42 Immer wieder verweigerte Lenz die Annahme von Stellen43, noch weniger bemühte er sich selbst um eine Anstellung in einem öffentlichen Amt. Die Existenz als freier Schriftsteller war für Lenz, der keine finanzielle Zuwendung durch seine Eltern erhielt, enorm anstrengend. Während der zeitaufwendigen Arbeit für die Barone Kleist schrieb Lenz in seiner frühen Straßburger Zeit u. a. seine Dramen Der Hofmeister und Der neue Menoza, hielt Vorträge in der Straßburger Société de philosophie et de belles-lettres, welche er nebenbei noch organisierte, und knüpfte in dieser Zeit auch noch wichtige Kontakte zu Verlegern und anderen Schriftstellern.44 Man kann gut sehen, wie ernst es Lenz war, Schriftsteller zu werden.45 Eine Anstellung, die seine Situation ohne Zweifel verbessert hätte, kam für Lenz trotzdem nicht infrage, sie hätte im Widerspruch zu seinem Autonomieideal gestanden. Selbst Honorarforderungen, die er aus Ähöchste[r] Not“ (WuBr, III, 348) stellen musste, waren kaum mit seiner selbstgegebenen Rolle als Dichtergenie vereinbar:46
Fragen Sie Herrn Seiler, ob er mir sechs, sieben Dukaten dafür geben möchte, ich bin nie gewohnt gewesen, meine Sachen zu verkaufen, die höchste Not zwingt mich dazu. (WuBr, III, 348, Lenz an Gotter, Oktober 1775)
[...]
1 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Werke und Briefe in drei Bänden, hrsg. von Sigrid Damm, Bd. II, Frankfurt / Leipzig 2005, S. 624. Nachfolgend im Fließtext zitiert mit der Abkürzung WuBr, Band, Seite.
2 Damm, Sigrid: Ein Essay, in: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Werke und Briefe in drei Bänden, hrsg. von Sigrid Damm, Frankfurt / Leipzig 2005, Bd. 3, S. 687-768, hier S. 695.
3 Vgl. Wagner, Hans-Ulrich: Genie und Geld. Aspekte eines leidvollen Diskurses im Leben und Werk von J.M.R. Lenz, in: Stephan, Inge / Winter, Hans-Gerd [Hrsg.]: ÄDie Wunde Lenz“: J.M.R. Lenz. Leben, Werk und Rezeption, Bern u.a. 2003, S. 241-256, hier S. 244f.
4 Damm - Essay (wie in Anm. 2), S. 698.
5 Vgl. u. a. Stephan, Inge / Winter, Hans-Gerd: Vorwort, in: Dies. [Hrsg.]: ÄUnaufhörlich Lenz gelesen…“. Studien zu Leben und Werk von J. M. R. Lenz, Stuttgart / Weimar 1994, S. IX-XXIX, hier S. X-XII.
6 Schmidt, Siegfried J.: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1989.
7 Haferkorn, Hans Jürgen: Zur Entstehung der bürgerlich-literarischen Intelligenz und des Schriftstellers in Deutschland zwischen 1750 und 1800, in: Lutz, Bernd [Hrsg.]: Deutsches Bürgertum und literarische Intelligenz 1750-1800 (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften, Bd. 3), Stuttgart 1974, S. 113-276.
8 Kiesel, Helmuth / Münch, Paul: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert: Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Markts in Deutschland, München 1977.
9 Vgl. Winter, Hans-Gerd: ÄSo verwegen - so tollkühn […], weil auch ich es gewagt zu dichten.“ Jakob Michael Reinhold Lenz‘ Traum vom Dichtergenie, in: ZGerm, Neue Folge 18,1 (2008), S. 55-71, hier S. 68. Vgl. auch: Profitlich, Ulrich: Zur Deutung von J. M. R. Lenz‘ Komödientheorie, in: DVjs 72,3 (1998), S. 411-432, hier S. 431f.
10 Gerhard Sauder hat in einem Aufsatz festgestellt, dass die Anmerkungen wohl aus Ämehreren Vorträgen“ aus dem Jahr 1771 entstanden sind. Siehe hierzu Sauder, Gerhard: Lenz` eigenwillige ÄAnmerkungen übers Theater“, in: EtGerm 52 (1997), S. 49-64, hier S. 51. Trotzdem wähle ich hier das Erscheinungsjahr der Erstausgabe 1774, da die Druckfassung vermutlich einige Veränderungen zu den ursprünglichen Vorträgen aufweisen wird. Vgl. auch die Anmerkungen von Sigrid Damm in ihrer Werkausgabe: WuBr, II, 907f.
11 Ich wähle hier den Titel, den Luserke und Weiß in ihrer synoptischen Ausgabe beider Handschriften gewählt haben. Während eine Vielzahl an Ausgaben und Interpreten den Titel mit ÄPandämonium Germanicum“ angeben (u. a. die Werkausgabe von Sigrid Damm), haben Luserke und Weiß im Nachwort ihrer Ausgabe zweifelsfrei belegen können, dass in beiden existierenden Handschriften der Titel mit ‚k‘ geschrieben wurde. Auch wird folgend das Pandämonium Germanikum aus folgender Ausgabe zitiert: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Pandämonium Germanikum. Eine Skizze, synoptische Ausgabe beider Handschriften. Mit einem Nachwort herausgegeben von Matthias Luserke und Christoph Weiß, St. Ingbert 1993. Die Gründe für die Wahl dieser Ausgabe werden im Nachwort von Luserke und Weiß schlüssig benannt. Die Zitation erfolgt aus Gründen der Übersichtlichkeit entgegen der bisherigen Vorgehensweise lediglich mit der Sigel PG und der Seitenzahl im Fließtext. Vgl. dafür insbesondere PG, S. 66-68.
12 Vgl. u. a. Stephan, Inge / Winter, Hans-Gerd: Einleitung, in: Dies. [Hrsg.]: ÄDie Wunde Lenz“. J. M. R. Lenz: Leben, Werk und Rezeption (Publikation zur Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge Bd. 7), Bern u.a. 2003, S. 9-15.
13 Wurst Karin [Hrsg.]: J. R. M. Lenz als Alternative? Positionsanalysen zum 200. Todestag, Köln / Weimar / Wien 1992. Stephan, Inge / Winter, Hans-Gerd [Hrsg.]: ÄUnaufhörlich Lenz gelesen…“. Studien zu Leben und Werk von J. M. R. Lenz, Stuttgart / Weimar 1994. Luserke, Matthias [Hrsg.]: Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung (Olms-Studien, Bd. 42), Hildesheim / Zürich / New York 1995. Hill, David [Hrsg.]: Jakob Michael Reinhold Lenz: Studien zum Gesamtwerk, Opladen 1994. Stephan, Inge / Winter, Hans-Gerd [Hrsg.]: ÄDie Wunde Lenz“. J. M. R. Lenz: Leben, Werk und Rezeption (Publikation zur Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge Bd. 7), Bern u.a. 2003.
14 In Bezug auf das Pandämonium Germanikum sorgte die schlechte Editionsgeschichte des Lenzschen Werks für eine doppelte negative Erfahrung: Zum einen Editionsfehler, zum anderen die offene Datierungsfrage. Durch die synoptische Ausgabe von Luserke und Weiß sind die Editionsfehler endgültig behoben worden. Die Editionsgeschichte des Pandämonium Germanikum bezeichnete Luserke im Nachwort als Äein besonders trauriges Kapitel in der noch zu schreibenden Druckgeschichte der Lenz-Texte“ (PG, S. 66). Vgl. auch Stephan, Inge / Winter, Hand-Gerd: Vorwort, in: Stephan / Winter - Unaufhörlich Lenz gelesen (wie in Anm. 5), S. IX-XXIX, hier S. XIX.
15 Am stärksten: Wefelmeyer, Fritz: Der scheitende Künstler auf der Höhe mit ÄBruder Goethe“ und Zuschauer. Selbstdarstellung im Pandämonium Germanicum, in: Hill - Lenz (wie in Anm. 13), S. 140- 160. Wagner, Hans-Ulrich: Genie und Geld. Aspekte eines leidvollen Diskurses im Leben und Werk von J. M. R. Lenz, in: Stephan / Winter - Die Wunde Lenz (wie in Anm. 12), S. 241-256. Joch, Markus: Wer verliert, gewinnt. J. M. R. Lenz‘ Werkphase 1774-1776 und ihre paradoxe Ökonomie, in: ZGerm, Neue Folge 17,3 (2007), S. 533-546. Winter - Traum vom Dichtergenie (wie in Anm. 9). SchmittMaass, Christoph: ÄUnberühmt will ich sterben.“ J. M. R. Lenz‘ Poetologie der Autorschaft , in: LenzJahrbuch 15 (2008), S. 121-142. Kaufmann, Kai: Polemische Angriffe im literarischen Feld. Literatursatiren der Stürmer und Dränger, in: Buschmeier, Matthias / Kaufmann, Kai [Hrsg.]: Sturm und Drang. Epoche - Autoren - Werke, Darmstadt 2013, S. 29-48.
16 U. a. Martini, Fritz: Die Einheit der Konzeption in Jacob Michael Reinhold Lenz ÄAnmerkungen übers Theater, in: Wacker, Manfred [Hrsg.]: Sturm und Drang. Darmstadt 1985, S. 250-278. Rector, Martin: Anschauendes Denken. Zur Form von Lenz‘ ÄAnmerkungen übers Theater“, in: Lenz-Jahrbuch 1 (1991), S. 92-105. Zelle, Carsten: Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Drei Bemerkungen dazu, was bei Lenz gespielt wird, in: Wurst - Lenz als Alternative (wie in Anm. 13), S. 138-157. Schmalhaus, Stefan: Literarische Anspielungen als Darstellungsprinzip. Studien zur Schreibmethodik von Jakob Michael Reinhold Lenz, Münster / Hamburg 1994. Profitlich - Komödientheorie (wie in Anm. 9). Maurach, Martin: Götter, Helden - und Lenz. J. M. R. Lenz’ Trauerspielentwurf im Pandämonium Germanicum und der Epenstreit, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 30,1 (2006), S. 67- 78.
17 Stephan, Inge / Winter, Hans-Gerd: Einleitung, in: Stephan / Winter - Die Wunde Lenz, S. 9-15, hier S. 9.
18 Vgl. Haferkorn - Entstehung des Schriftstellers (wie in Anm. 7), S. 215. Es darf hier nicht vergessen werden, dass der Begriff des ‚ständischen Dichters‘ eine Bezeichnung der modernen Literaturwissenschaft und nicht eine zeitgenössische Bezeichnung im 18. Jahrhundert darstellt.
19 Fertig, Ludwig: ÄAbends auf dem Helikon“: Dichter und ihre Berufe von Lessing bis Kafka, Darmstadt 1996, S. 7.
20 Haferkorn - Entstehung des Schriftstellers, S. 217.
21 Ebd.
22 Vollständig lautet das Zitat: Ä[A]ut prodesse volunt aut delectare poetae aut simul et iucunda et idonea dicere vitae“, zitiert nach Fertig - Dichter und ihre Berufe (wie in Anm. 19), S. 8. Vgl. zum Leitmotiv der ständischen Dichtung auch Haferkorn - Entstehung des Schriftstellers, S. 216-221 und Schmidt - Selbstorganisation (wie in Anm. 6), S. 305-306.
23 Vgl. Fertig - Dichter und ihre Berufe, S. 8-16.
24 Wie Kiesel und Münch schon richtig feststellten, gab es nicht einen einheitlichen, sondern sehr viele verschiedene Geniebegriffe die sich an bestimmten Punkten schneiden und ergänzen. Vgl. Kiesel / Münch - Gesellschaft und Literatur (wie in Anm. 8), S. 101.
25 Haferkorn - Entstehung des Schriftstellers S. 221.
26 Kiesel / Münch - Gesellschaft und Literatur, S. 101.
27 Ebd.
28 Schmidt - Selbstorganisation, S. 290.
29 Kaufmann - Literatursatiren (wie in Anm. 15), S. 31.
30 Vgl. ebd., S. 291. Vgl. auch Kiesel / Münch - Gesellschaft und Literatur, S. 87.
31 Exemplarisch zeigen das die Biografien Lessings, Wielands, Klingers und vieler anderer Dichter. Vgl. dazu Fertig - Dichter und ihre Berufe, Kapitel 2-4. Vgl. auch Kiesel / Münch - Gesellschaft und Literatur, S. 83-90. Gleichzeitig muss darauf hingewiesen werden, dass auch einige der Autoren den Rückgang in Gönnerschaft oder Ämter nicht als Scheitern oder Widerspruch sahen, vielmehr als wünschenswerter Schritt bzw. als Möglichkeit in einem politischen Amt ‚Aufklärung‘ voranzutreiben. Hierzu Kiesel / Münch - Gesellschaft und Literatur, S. 87-100, Haferkorn - Entstehung des Schriftstellers, S. 225-239.
32 Schmidt - Selbstorganisation, S. 308.
33 Vgl. ebd., S. 309. In Bezug auf Lenz’ Streben nach einer freien Schriftstellerexistenz wird keine Unterscheidung zwischen den Termini Dichter und Schriftsteller bzw. Autor gemacht.
34 Vgl. Damm - Essay, S. 694. Vgl. auch Wagner - Genie und Geld, insbesondere S. 244ff.
35 Vgl. Damm - Essay, S. 734f.
36 Vgl. ebd., S. 739.
37 Anmerkung von Sigrid Damm in: WuBr, II, 946.
38 So u. a. Damm - Essay, S. 737ff. Siehe auch: Luserke, Matthias: Lenz-Studien. Literaturgeschichte - Werke - Themen, St. Ingbert 2001, S. 229-260, insbesondere S. 259. Siehe auch Kaufmann - Literatursatiren, S. 43ff.
39 Kaufmann - Literatursatiren, S. 44.
40 Vgl. Damm - Essay, S. 713. Vgl. auch Joch - paradoxe Ökonomie (wie in Anm. 15), S. 545.
41 Vgl. Damm - Essay, S. 712.
42 Ebd., S. 695.
43 Zum Beispiel das Angebot von Herrn Pastor Müthel als Hofmeister dessen Sohn zu unterrichten. Das Angebot, welches er wohl über seinen Vater vermittelt bekam, lehnte Lenz trotz seiner Äganzen Hochachtung“ für den Pastor ab (Lenz an seinen Vater, Dezember 1772, WuBr, III, 296f.).
44 Vgl. Damm - Essay, S. 712.
45 Vgl. ebd.
46 Vgl. Wagner - Genie und Geld (wie in Anm. 15), S. 247.