Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Literaturwissenschaftlicher Teil
2.1 Autobiographisches Schreiben bei Herta Müller
2.2 Interpretation des Kapitels 4 und 5
2.2.1 Kapitel 4
2.2.2. Kapitel 5
3. Didaktischer Teil
3.1 Lehrskizze für Kapitel 4
3.2 Phasenmodell
3.2.1 Bedingungsanalyse
3.2.2 Einführung
3.2.3 Präsentation
3.2.4 Semantisierung
3.2.5 Üben
4. Resümee
Anlagen
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Für ihre Werke erhielt die rumänische und zugleich deutschsprachige Autorin Herta Müller zahlreiche Preise und nicht zuletzt den Nobelpreis für Literatur 2009, den sie als Instrumentarium und gar als Sprachohr versteht. Ihre Werke sind in komplexe literaturwissenschaftliche Diskurse im Hinblick auf nicht nur gegenwartsbezogene, (multi)-kulturelle, sondern auch in soziale und politische Themen einordbar.
Ihr 1889 entstandenes Werk „Reisende auf einem Bein“ thematisiert diverse ineinandergreifende Motive der Heimatlosigkeit, des Fremdseins sowie einer Traumatisierung der Protagonisten Irene, die ihre Heimat Rumänien verlässt und ein neues Leben, eine neue Heimat in Westberlin beginnen möchte, doch dieser Versuch mit nicht zu unterschätzenden Problemen verhaftet ist.
In der vorliegenden Hausarbeit wird der Frage nachgegangen, wie zum einen autobiografisches Schreiben in Herta Müllers „Reisende auf einem Bein“ - exemplarisch anhand Kapitel vier und fünf- realisiert wird und zum anderen wie man die Textbasis unter einer didaktischen Reduzierung im Unterricht einsetzen kann. Da die didaktische Ausarbeitung eine 45-Minütige Unterrichtsstunde fokussiert fungiert Kapitel 4 und seine theoretische und didaktische Auseinandersetzung auch exemplarisch.
Die Gliederung der Hausarbeit im Hinblick auf die theoretische und didaktische Auseinandersetzung mit de Fragestellung sieht wie folgt aus: In Kapitel 2 werden das autobiografische Schreiben bei Herta Müller (2.1) und die Kapitel vier und fünf (2.2) einer literaturwissenschaftlichen Analyse unterzogen. Im nächsten Kapitel wird zunächst eine Lehrskizze tabellarisch aufgeführt (3.1), dessen Phasenmodell (3.2) im Weiteren mittels Beispielen paraphrasiert wird. Im letzten Abschnitt werden die Fragestellungen aus dem ersten Kapitel wieder aufgegriffen und resümiert (4).
2. Literaturwissenschaftlicher Teil
2.1 Autobiographisches Schreiben bei Herta Müller
Nicht umsonst fällt bei den Diskursen um Herta Müller das Stichwort des autobiografischen[1] Schreibens. Das autofiktionale Schreiben ist in den Werken der deutsch-rumänischen Autorin Herta Müller stets allgegenwertig. Zwischen dem fiktional Geschriebenen seitens Müller und ihrem real Erlebten sind zahlreiche Parallelen vorzufinden, sodass ihre Werke Reales und Fiktionales verknüpfen.[2] „Den Mittelpunkt dieser Erlebnisse [stellt] nach wie vor die Erfahrung der Diktatur von Nikolae Caeusescu in Rumnänien“[3] Nicht selten bekam Herta Müller den Vorwurf, dass sie stets über die gleiche Thematik berichte bzw. literarisch schreibe.[4] Doch die literarische Auseinandersetzung genau mit diesem Thema bedeute für Herta Müller eine Form des Überlebens und eine Form des literarischen Widerstandes. Innerhalb eines Interviews mit Michael Lentz verbalisiert sie ihre kontextuelle Situation folgendermaßen:
„Das war instinktiv, die blanke Notwendigkeit, diesem Scheißleben etwas entgegenzusetzen, mit mir selbst etwas Eigenes zu machen, das mir der Staat nicht wegnehmen kann, weil es fiktional ist. Wo er nicht rankommt, wenn er mich schikaniert. Etwas, das in seinen Zwängen nicht absäuft, weil er mit seinem Apparat nicht nur nicht dorthin reicht, sondern gar nicht weiß, dass es existiert. Weil es nicht als anfaßbarer Gegenstand existiert. Das war damals eine, meine Privatheit, eine Selbstvergewisserung, dass nicht ich verrückt bin, nicht meine Freunde, sondern dieses System.“[5]
Darüberhinaus besteht der Gedanke, dass Herta Müllers Werke aufgrund ihrer autobiografischen Affinität als Dokumente und als Zugenisse gelesen werden können, da sie sich als „Zeugin“ mit dieser Diktatur literarisch auseinandersetzt. Müller jedoch lehnt diesen Gedanken wie folgt ab:
Bücher über schlimme Zeiten werden oft als Zeugnisse gelesen. Auch in meinen Büchern geht es notgedrungen um schlimme Zeiten, um das amputierte Leben in der Diktatur, […]. Für viele sind meine Bücher somit Zeugnisse. Ich aber empfinde mich im Schreiben nicht als Zeugin. Ich habe das Schreiben gelernt vom Schweigen und Verschweigen. Damit begann es.[6]
Auch wenn Herta Müller diesen kausalen Zusammenhang ablehnt, spiegeln ihre Werke nichtsdestotrotz wahre Gegebenheiten wider.
Im weiteren Verlauf soll ein Versuch unternommen werden, um die Parallelen zwischen Herta Müller und der Protagonistin Irene in ihrem Werk „Reisende auf einem Bein“ zu veranschaulichen. Diese sollen für das autobiografische Schreiben Müllers als Beispiel fungieren. Biografien und Interviews wurden zum Vergleich für den bevorstehenden Vergleich herangezogen.
Müller wurde im August 1953 im deutschsprachigen Nitchidorf geboren und ist eine deutsch-rumänische Schriftstellerin, die 1987 mit ihrem damaligen Ehemann Richard Wagner aufgrund der politischen Lage in Rumänien nach Westdeutschland ausreiste.
Die Schikane des Ceausescu-Regimes und des Securitate-Geheimdienstes in Rumänien fungierten in einer fatalen Doppeldeutung, „ihr Schreiben und ihre Existenz als Schriftstellerin gleichzeitig zu initiieren und zu verunmöglichen“[7]. In all ihren Werken thematisiert sie das totalitäre Leben unter einer fatalen rumänische Diktatur. Exemplarisch in ihrem Werk „Reisende auf einem Bein“ ziehen sich Gefühle der Heimatlosigkeit und die innere Zerrissenheit als Leitmotive durch das ganze Werk. Sie selbst beschreibt den Leitinhalt ihre Werke innerhalb eines Gesprächs über den Erhalt den Nobelpreis wie folgt:
„Ich sehe darin eine Belohnung. Viele glauben, wer den Nobelpreis bekomme, gewinne einen besonderen Status. Als Schriftsteller aber kann man keinen Status haben. Es freut mich, dass die Behandlung meines Themas belohnt wird, bei dem es immer um Diktatur geht, um das planmäßige Zerstören des Einzelnen, der in der totalitären Gesellschaft überhaupt nichts zählt. Es freut mich für die Freunde, die Opfer des Terrors wurden, und das sind nicht wenige.“[8]
Herta Müllers Werke sind gänzlich autobiografisch zu verorten, welche sie auch innerhalb eines Interviews zur Sprache bringt: „Ich muss mich im Schreiben dort aufhalten, wo ich innerlich am meisten verletzt bin, sonst müsste ich doch gar nicht schreiben.“[9] Das bedeutet, dass sie mittels ihrer Texte ihre eigene Unterdrückung durch das totalitäre Regime verarbeitet. Ihre Werke dienen als Mechanismus für ihre eigene Psyche.
Das autobiografische Schreiben findet man auch im 1989 entstandenen Werk „Reisende auf einem Bein“ wider. Irene, die um die dreißigjährige Protagonistin reist mittel einer Genehmigung der Behörde aus der „alten Heimat“, die von dem Militär regiert wird, nach Westberlin, zu Franz, mit dem sie ein One-Night-Stand hatte. Sie verfügt über die Utopie, dass das neue Land eine neue bekannte Heimat sein wird, doch dieser Wunsch erlischt bald zügig, als sie merkt, dass das vertraute Land, doch nicht vertraut, sondern ein anderes, fremdes Land ist.
Bei der Einreise wird Irene vom Bundesnachrichtendienst gefragt, ob sie mit dem „dortigen Geheimdienst“ zu tun hatte. Diese Parallele finden wir auch bei Herta Müller wider, die in einem Interview mit der Die Zeit darüber spricht. Sie wird im Gespräch daran erinnert, dass „[a]ls Sie Rumänien endlich verlassen durften, wurden Sie vom Bundesnachrichtendienst als Mitarbeiterin des rumänischen Geheimdienstes, der Securitate, betrachtet.“[10] Herta Müller kommentiert dies wie folgt:
„Die Securitate war verhasst, und wenn man jemandem schaden wollte, hat man ihn als ihren Mitarbeiter denunziert. Das hat die Securitate mit mir gemacht, weil ich keine Spitzeldienste leisten wollte, und der BND hat es geglaubt. Er muss die Fehlinformation vom Büro der Landsmannschaft bezogen haben, die saßen ja im selben Haus, im Übergangslager Langwasser, meiner ersten Station nach der Ausreise. Ich kriegte, schon bevor ich nach Deutschland kam, Briefe von sogenannten Landsleuten, ich sei unerwünscht“.[11]
Die ausgeführten Beispiele sind exemplarisch zu verstehen, welche die Parallelen zwischen den Protagonisten in den Werken Müllers und ihr selbst aufzeigen sollen.
2.2 Interpretation des Kapitels 4 und 5
Im Folgenden sollen die Kapitel vier und fünf zusammengefasst werden und in den kontextuellen Zusammenhang eingeordnet und interpretiert werden.
2.2.1 Kapitel 4
Im viertel Kapitel ist Irene bereits im neuen Land, in Westdeutschland, angekommen und durchläuft mehrere Stationen, in denen sie kontinuierlich ihre Erfahrungen, Eindrücke, Gefühle per se beschreibt und diese synchron mit dem „anderen Land“ vergleicht.
Zunächst spielt die Szene im Bundesnachrichtendienst ab, wo Irene vom Beamten über ihre Situation im „anderen Land“ befragt wird. Ihr wird die Frage gestellt, ob „Sie vor Ihrer Übersiedlung jemals mit dem dortigen Geheimdienst zu tun“[12] hatte. Sie beantwortet auf die Frage wie folgt: „Nicht ich mit ihm, er mit mir. Das ist ein Unterschied“. Durch Irenes Antwort werden ihre vorige Situation und ihre Konflikte im alten Land indirekt widergespiegelt. Zeitgleich mustert Irene die Kleidung und die Haltung des Beamten und alte negative Gefühle und Erinnerungen mit Blick auf die Diktatur „im anderen Land“ werden erweckt:
„Der Beamte trug einen dunklen Anzug, wie Irene sie kannte aus dem anderen Land. Die Farbe zwischen braun und grau […] Auch die Haltung des Kopfes, das Gesicht halb im Profil, ein wenig nach unten gewandt, kannte Irene.“[13]
Später beschreibt Irene ihre Situation, ihr Empfinden im „in der Flottenstraße“ liegenden Asylantenheim. Nachdem sie die Umgebung, die Kaserne und die Flottenstraße beschreibt, geht sie auf die „billige[n] Schuhe aus den Kisten der Supermärkte“ ein. Männer und Frauen wühlen in den Kisten nach Schuhen. Jedoch finden sie das andere Paar nicht und das Paar bleibt unvollkommen. Auch Irene fühlt sich unvollkommen. Das Gefühl als fehle ihr ein Teil, der Teil, den sie im anderen Land, in ihrer Heimat, gelassen hat. Irene führt das Wort der Entfernung ein, welches in den Augen der Asylanten sichtbar sei. Die Entfernung sei allgegenwertig- sowohl beim Telefonieren oder beim Durchqueren des Postwegs.[14]
Nach ihrem Aufenthalt und gar Observierung eines küssenden Liebespaares in der U-Bahn, befindet sich Irene auf der Straße, denkt an Franz und schreibt ihm eine Postkarte, in dem sie ihm mitteilt, dass sie ihn oftmals angerufen hat, sie entweder zu früh oder gar zu spät angekommen ist und sie ihn sehen möchte:
„Franz ich hab dich angerufen. Einen Tag am Morgen, einen Tag am Mittag, einen Tag am Abend. […] Wenn ich an dich denke, verändert sich dein Gesicht. Ich will dich sehen.“[15]
2.2.2. Kapitel 5
Im fünften Kapitel zieht Irene von der Übergangswohnung, dem Asylantenheim, in eine andere Wohnung. Mit einem Koffer fährt sie mit der U-Bahn, während dessen sie die Mitmenschen mustert, in die neue Wohnung. Dieser Koffer ist immer noch geschlossen und als Symbol des ständigen Reisens zu verstehen. Dort angekommen, führt Irene ein Gespräch mit dem Hauswart über den „Diktator im anderen Land“ über de[n] man nichts Gutes hört“[16], sie bekommt die Schlüssel und betritt die neue Wohnung. Angekommen bleibt der Koffer wieder geschlossen in einer Ecke stehen: „Der Koffer stand lange geschlossen im Flur, als wäre Irene nur halb am Leben. Sie konnte nicht denken, nicht gehen. Ob sie sprechen konnte, sie versuchte es […]“[17] Die Wohnung ist leer, unpersönlich und kahl. Diese Situation löst bei Irene wieder ein Gefühl der Fremdheit und der Entfremdung aus. Irene ist zwar physisch aber nicht psychisch in Westberlin, in dem neuen Land angekommen. Sie fühlt sich stets fremd.
Ihre Bezugsperson, Franz, meldet sich schließlich per Telefon bei Irene. Franz sagt am Telefon, dass er Irene besuchen möchte, aber noch nicht weiß wann. Schließlich bemerkt Irene, dass die Stimme von Franz im neuen Land, in Westdeutschland, anders klingt: „Weißt du, sagte Irene, daß du eine andere Stimme hast als in dem anderen Land. Sie ist anders, auch, wenn du sie nicht verstellst.“[18]
Nachts hat Irene Probleme zu schlafen und mustert die Wohnung, die Wand und weitere Bestandteile. Schließlich denk sie an Franz, ihr wird warm und sie fällt in den Schlaf: „Irene dachte an Franz. Irene spürte die Wärme des Rückens, die Wärme des Betts, die Wärme der Kleider und die Wärme der Haut. Jede Wärme anders.“[19]
[...]
[1] Im Folgenden wird autofiktionales Schreiben wird als Synonym verwendet.
[2] Mrotzek, Sebastian: Zum autofiktionalen Schreiben in Herta Müllers Migrantenroman „Reisende auf einem Bein (1989), in: Edward Bialek und Monika Woltig (Hgg.): Erzählen zwischen geschichtlicher Spurensuche und Zeitgenossenschaft. Aufsätze zur neueren deutschen Literatur. Stuttgart 2014, S. 135f.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Herta Müller: Lebensangst und Worthunger. Im Gespräch mit Michael Lentz. Leipziger Poetikvorlesung 2009. Berlin 2010, S. 18.
[6] Herta Müller: Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich. Kann Literatur Zeugnis ablegen? In: Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur, Heft 155. Juli 2002, S. 6.
[7] Vgl. http://www.zeit.de/kultur/literatur/2010-05/herta-mueller-ausstellung (zuletzt aufgerufen am 10.04.16).
[8] Ebd.
[9] Vgl. http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/herta-mueller/ (zuletzt aufgeurfen am 10.04.16).
[10] Vgl. Zeit.
[11] Ebd.
[12] Herta Müller: Reisende auf einem Bein, S. 26.
[13] Müller, Herta, S. 27.
[14] Vgl. Ebd. S. 28.
[15] Ebd. S. 32.
[16] Ebd. S. 38.
[17] Ebd. S. 39.
[18] Ebd., S. 39.
[19] Ebd., S. 42.