Leseprobe
Einleitung
Arthur Schnitzlers Werk Leutnant Gusti, welches das erste Mal im Jahr 1900 in der Weihnachtsbeilage der Wiener Neuen Freien Presse erschien, war in vielerlei Hinsicht bedeutsam. Als erstes deutschsprachiges Werk, in welchem das literarische Stilmittel des ,Inneren Monologs‘ konsequent durchgezogen wird[1], stellt es nicht nur in Bezug auf die deutschsprachige Literaturgeschichte ein Novum dar. Wenngleich Schnitzler die Technik des ,Inneren Monologs‘ mit diesem Werk nicht erfand[2], so fügte er durch seine konsequente Beibehaltung desselbigen sein Werk nichtsdestotrotz nahtlos in den literarischen und gesellschaftlichen Zeitgeist des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts in Wien, welches, gespeist von dekadenter Endzeitstimmung (Fin de Siècle) und dem Vollzug wissenschaftlicher, sozialer und kultureller Veränderungen (ein bahnbrechendes Novum stellte beispielsweise Freuds Psychoanalyse dar), allmählich das Augenmerk weg von einer naturalistischen Betrachtungsweise hin zur impressionistischen Innensicht verlagerte.
Aber auch auf sozialpolitischer Ebene schlug Schnitzlers Werk beträchtliche Wellen, insbesondere in Militärkreisen, in denen seine Novelle angeblich die Standesehre und das Ansehen der österreichisch-ungarischen k.u.k.-Armee in Verruf gebracht und heftige Reaktionen ausgelöst hatte.
Die Armee steh[e] hoch über diesen vierundzwanzig Spalten Schimpf und Spott. [...] In [ihr] [gebe] es solche Offiziere [wie Leutnant Gustl] nicht, weil man sie eben nicht dulde[t]. Der Schlag hat Ihren „Bäckermeister“ getroffen, Herr Doktor, und nicht - die Armee [.][3]
holt beispielsweise Gustav Davis als beißende Antwort auf Schnitzlers Werk in der Reichswehr aus. Nachdem Schnitzler mehreren Aufforderungen, vor dem „Ehrenrätlichen Ausschuß der Landwehroffiziere und Kadetten in Wien“ zu erscheinen, nicht nachkam, und noch dazu die dem militärischen Ehrenkodex zugrunde liegenden „Verpflichtung“, Herrn Gustav Davis für seinen polemischen Artikel zum Duell aufzufordern[4], ignorierte, wurde er wegen „Verletzung der Standesehre“ seines „Offizierscharakters für verlustig“[5] erklärt.
Es wird somit deutlich, dass Schnitzler mit seinem Werk einen literarischgesellschaftskritischen Nagel in eine sozialpolitische Wunde geschlagen hat, indem er in seinen Werken, und insbesondere in Leutnant Gusti, das Konzept der Ehre und des militärischen Duellzwangs zur Ehrverteidigung einer kritischen Untersuchung unterzieht. Die folgende Arbeit soll sich daher mit der Konzeption der Ehre bzw., damit verbunden, des militärischen Ehrenkodex in Schnitzlers gesellschaftskritischen Jahrhundertwenden-Werk Leutnant Gusti befassen.
Hauptteil
„Einer bekommt irgendwie eine Ohrfeige; - niemand erfährts. Der sie ihm gegeben, stirbt und er ist beruhigt, kommt darauf, dass er nicht an verletzter Ehre - sondern an der Angst litt, es könnte bekannt werden[6] "
Diese prägnante Beschreibung, basierend auf einem realen Vorfall[7], reduziert im Groben Schnitzlers Monolognovelle Leutnant[8] Gustl auf den Nukleus der Geschichte und offenbart zudem die Grundthematik, auf der Schnitzlers Jahrhundertwendennovelle basiert - die Ehrauffassung eines der k.u.k.-Armee angehörigen Reserveoffiziers im österreichungarischen Kaiserreich zur Jahrhundertwende.[9] Um Leutnant Gustls Ehrkonzeption verstehen und erfassen zu können, ist allerdings zunächst eine genauere Charakterisierung bzw. Betrachtung seiner selbst, sowie der gesellschaftlichen Verhältnisse der damaligen Zeit, vonnöten.
Sogleich zu Beginn der Handlung wird dem Rezipienten Gustls Bildungsstand offengelegt: Der Leutnant wohnt einem formalen und kulturell etwas „ernste[rem] Konzert"[10] bei, in dem er sich allerdings völlig fehl am Platz vorkommt und sich unwohl fühlt[11], was er mit ständigen Blicken auf seine Uhr und rhetorischen Fragen nach der Dauer des Programms untermauert („Wie lang wird denn das noch dauern? [...] Jetzt wird’s doch bald aus sein? [...]“, vgl. S.7, Z.1 & S.9, Z.24). Indem er das Oratorium nicht von einer Messe unterscheiden kann („[...] Ja, richtig: Oratorium! Ich hab‘ gemeint: Messe [...]“, vgl. S.7, Z.9) und sich in ständiger Furcht, seine gefühlte Deplatziertheit könnte unter den anderen Konzertbesuchern offensichtlich werden, zu den anderen Besuchern umdreht, offenbart er nicht nur seine mangelnde kulturelle Bildung, sondern legt zudem auch eine Charaktereigenschaft offen, die eine essentielle Rolle bei der Frage nach Gustls Ehrverständnis spielt: sein notorischer Drang nach der Aufmerksamkeit, Anerkennung und Bestätigung seiner Mitmenschen. Passend dazu vermerkt Dethlefsen:
[...] die Räume und Verhaltensweisen der Bildungsbürger [tragen] zur Verunsicherung des Kleinbürgers Gustl [bei]. Die Atmosphäre eines Oratoriums sei dem am Ehrenkodex Orientierten nicht zuträglich. Gustl werde ,ohne die Aufmerksamkeit der anderen nervös oder unsicher/ weil er darauf angewiesen sei, sein Selbstbildnis mit dem Bild, das andere von ihm haben, zu identifizieren [...].[12]
Ähnlich hält Laermann fest, dass „[...] Respektiert zu werden [für Gustl] die Möglichkeit [bedeutet], seine Identität auf dem Umweg über andere zu gewinnen.“[13] Obwohl er sich im Oratorium unwohl fühlt, bleibt er daher dennoch für die gesamte Dauer anwesend (wenn auch die meiste Zeit nur physisch) und „[gibt] sich genießend [...], um der Etikette zu entsprechen“[14] („Bravo! bravo! ... Ja, applaudieren wir mit.“, S.7, Z.27). Es tritt also bereits zu Beginn der Erzählung eine gewisse Fassadenhaftigkeit in Gustls Person zu Tage - Seegers spricht in diesem Zusammenhang von seiner „außengeleiteten Zwanghaftigkeit seiner Handlungen“[15] - auf die im späteren Verlauf dieser Arbeit noch stärker eingegangen werden soll.
Gustls Unwohlsein in Anwesenheit des Bildungsbürgertums und seine pathologisch anmutenden Minderwertigkeitskomplexe fallen auf verständlicheren Grund und Boden wenn man seine bescheidene Vergangenheit näher beleuchtet. Sein gescheiterter Bildungsversuch (Er ist „[...] aus dem Gymnasium hinausg’schmissen [...]“ und „[...] deswegen in die Kadettenschul‘ gesteckt worden [...]“, (S. 12, Z.26f.)) versagte ihm nicht nur ein Ökonomiestudium, an welches er später noch immer denkt (vgl. S.28, Z.21), sondern hat auch den Zugang zu Österreichs Militärakademien verwehrt, weswegen Gustl schließlich mit einer der Kadettenschulen Vorlieb nehmen musste, die einen geringeren Sozialstatus gegenüber den Militärakademien aufwiesen und all jene aufnahmen, bei denen es zu einer
Akademieausbildung nicht ausreichte.[16] Das Stigma der Zweitrangigkeit, das diese Kadettenschulen meist umgab, hatte laut Dethlefsen einen nicht zu vernachlässigenden prägenden Einfluss auf Gustls soziale und seelische Entwicklungen bzw. auf seine persönliche Identitätsausbildung.[17] Der Eintritt in ein von militärischen Hierarchien und Regeln definiertes Ordnungsgefüge, einhergehend mit der damit verbundenen sozialen Aufwertung, wurde für ihn somit zum „sinn- und identitätsstiftenden Element“[18], wie Seegers formuliert, über welches er gesellschaftliche Akzeptanz erlangen konnte und welches „von einer individuellen Identitätsfindung befreit[e].“[19] Die Institution ,Militär‘ wird zur überlebenswichtigen Ersatzidentität für Gustl.[20]
Die damit einhergehende besondere Stellung in der Gesellschaft wird wiederum nach außen durch einen fest definierten und eingehaltenen Verhaltens- und Regelapparat gewährleistet, den ein streng gelebter Ehrenkodex konstituiert.[21] Das Konzept einer besonderen Standesehre in Militärkreisen hat seine Wurzeln ebenso wie die damit eng verbundene Praxis des Duellierens in der „[...] Übernahme ursprünglich feudaler Formen und Handlungsnormen durch das Bürgertum.“[22] Mit Hilfe dieser Übernahme nach strengen aristokratischen Leitbildern vollzog sich vor allem eine gesellschaftliche Abgrenzung zu den niederen Schichten des Bürgertums, sodass zu jener Zeit der Ehrbegriff und die an ihn gekoppelte Satisfaktionsfähigkeit eines Individuums als ein „hochsensibler Seismograph ständischer Gliederung [bzw.] als ein getreuer Spiegel gesellschaftlicher Hierarchien“[23] fungierte. Es ist dabei bezeichnend, dass den Offizierskorps und Teilen des sich das Militär zum Vorbild nehmenden Bürgertums der Satisfaktionsfähigkeit eine größere Bedeutung zukam als beispielsweise Bildung, Besitz oder Abstammung[24].
Dass und wie sehr sich Leutnant Gustl vor diesem Hintergrund zunächst perfekt in die Rolle eines typischen zeitgenössischen k.u.k-Offiziers einfügt, der als Repräsentant der militärischen Konventionen den militärischen Ehrenkodex verinnerlicht hat wie kein anderer, ist durch das Werk hindurch unverkennbar; sein gesamtes Verhalten ist typisch das eines „aktualisierten Offiziers“: „Der aktualisierte Offizier ist der total veräußerlichte Mensch.
Wahrheit, Wirklichkeit und Moral [...] sind beim Offizier ersetzt durch den Ehrenkodex.“[25] Folgt man den zahlreichen und eher selten schmeichelhaften Beschreibungen, die Gustls Person in anderen wissenschaftlichen Publikationen erfahren hat, etwa von Manfred Jäger als ein durchschnittlicher und nicht außergewöhnlicher Charakter[26], oder seiner ihm von Klaus Laermann attestierten beschränkten kognitiven Fähigkeiten[27], so kann man doch, gerade auch im Hinblick auf seine defizitäre und eher ernüchternde Vergangenheit, seine wesentlichsten Charakterzüge, wie seinen Mangel an Individualität sowie Reflexions- bzw.
Einschätzungsvermögen, seine persönliche Unsicherheit, oder seine konstant anhaltende Aggressivität nachvollziehen. Insbesondere letztere, die ja auch maßgeblich an der Entstehung des Konflikts mit Bäckermeister Habetswallner verantwortlich ist, ist laut Seegers Produkt seines „defizitären Gefühls“[28], welches „zu einer direkten Entfesselung von Aggression“[29] führe.
Eben diese, gepaart mit seinem mangelnden Urteilsvermögen, ist es auch, die ihn zu seiner Herausforderung des Doktors bewegen. Seine im Nachhinein versuchten gedanklichen lückenhaften Rekonstruktionen des Vorfalls („Wie hat’s denn nur angefangen?“ [...] „Wenn ich mich nur erinnern könnt‘, was ich d’rauf geantwortet hab‘?“ (vgl. S.12, Z.18)) und sein nicht mal mehr vorhandener „rechte[r] Zorn“ (vgl. S.11, Z.15) über den Vorfall lassen die eigentliche Motivation des bevorstehenden Duells mit dem Doktor fragwürdig erscheinen, unterstreichen allerdings seine Aggression, die er aus einem von ihm so interpretierten persönlichen Angriffs von Seiten des Doktors zieht. Durch sein Verhalten wird nämlich klar erkennbar, dass er die verallgemeinernde und wahrscheinlich gar nicht persönlich gemeinte Äußerung des Doktors[30], „Herr Leutnant, Sie werden mir doch zugeben, daß nicht alle Ihre Kameraden zum Militär gegangen sind, ausschließlich um das Vaterland zu verteidigen!“ (S.12, Z.14ff.), als einen persönlichen Affront ausgelegt hat, der ihn gleich auf zweifacher Weise „an den Wurzeln seiner Identität“[31] getroffen haben muss, denn einerseits fühlt er sich damit schmerzlich an seine eigene Vergangenheit und seinen Rauswurf aus dem Gymnasium erinnert, andererseits sieht er damit einen Angriff „auf die Ehre des Militärs [...] [und damit] also auch auf seinen eigenen sozialen Status“[32], den es nun zu sühnen gilt. Die oben bereits schon erwähnte partielle Amnesie über die genauen Umstände des Vorfalls und sein schon längst geschwundener Zorn darüber unterstreichen seine unreflektierte Hingabe zur militärischen Institution und des von ihr gelebten und vermittelten Ehrenkodex, sowie seine bereits genannte charakterliche Individualitätslosig- und Fassadenhaftigkeit. In Gero von Wilperts Abhandlung über Gustls Ehre könnte man in diesem von Gustl an den Tag gelegten Heteronomie-Verhalten sogar ein gewisses Ohnmachtsgefühl herauslesen, da er schreibt, dass sich Gustl
[...] umso fester an diese Konventionen [klammert], als die sozialen Umwälzungen, vor allem das Aufkommen eines selbstbewußten Bürgertums, diesen Status und damit seine eigene Rolle in Frage zu stellen drohen. Entsprechend werden alle Gruppen, die seinen sozialen Status bedrohen oder anzweifeln [...] zu Feindbildern erklärt, denen Gustl mit allen Mitteln seines Standes, insbesondere einer aus uneingestandenen Minderwertigkeitskomplexen genährten Aggression, entgegentritt.[33]
Die zur eigentlichen existenziellen Krise seiner selbst führende Situation ereignet sich unterdessen direkt im Anschluss an das Oratorium, wo es zum persönlichen Affront zwischen Gustl und dem Bäckermeister Habetswallner kommt (vgl. S. 14ff.): Nach Ende des Oratoriums liegt Gustl viel daran, den Ort, an dem er sich gelangweilt und unwohl gefühlt hat, so schnell es geht zu verlassen und reagiert bereits wieder leicht aggressiv auf die anderen, das Konzert verlassenden Besucher, die ihn scheinbar nicht schnell genug gehen lassen: „[...] Wie lang‘ wird der da noch brauchen, um sein Glas in’s Futteral zu stecken?[...]“ (S.13, Z.33), raunzt er sich noch im Konzertsaal gedanklich zu; „[...] warum drängt denn der Idiot hinter mir? Das wird‘ ich ihm abgewöhnen [...]“ (S.14, Z.8f.) und auch der Garderobier ist vor Gustls mentaler Polemik nicht sicher: „[...] So! Ob der Blödist meine Nummer nehmen möcht‘? [...]“, (S.14, Z.29). Auch hier zeigt sich erneut Gustls angenommene „Ersatzidentität“ in Form seiner verinnerlichten militärischen Konventionen, wenn er versucht, den Bäckermeister Habetswallner unsanft zur Seite zu stoßen, um sich somit schneller einen Weg nach außen zu bahnen, denn wie Jaermann und Dethlefsen anmerken, sei für einen an die hierarchische Struktur des Militärs Gewöhnten die ,egalitäre Abfolge des [numerischen] Reihenprinzips‘[34] nicht akzeptabel.[35]
Die nun den Wendepunkt der Handlung einleitende, nach Goethe formulierte unerhörte Begebenheit bildet der sich auf Gustls Drängeln hin nachfolgend ereignende kurze Dialog zwischen dem Bäckermeister und dem Leutnant. Als Gustl sich an dem etwas korpulenteren Bäckermeister vorbeidrängeln will und der ihn daraufhin zur „Geduld“ und „Ruhe“ ermahnt und zudem noch auf einer erziehungspädagogischen Ebene in die Schranken weist („Stoßen Sie nicht!“, S.15, Z.11), wirft ihm Gustl in Folge ein knappes militärisches, aber plebejisches „Sie, halten Sie das Maul!“ (S.15, Z.12) entgegen, womit der Schaden vollzogen ist, was auch er sofort danach für sich erkennt, als er sich gedanklich eingesteht „Das hätt‘ ich nicht sagen sollen, ich war zu grob ... Na, jetzt ist’s schon g’scheh’n!“ (S.15, Z.13). Ebenfalls „schon g’scheh’n“ ist es kurz darauf um Gustls Ehr‘ und Ansehen, jedenfalls nach seinem Empfinden, denn der Bäckermeister dreht sich zu Gustl um, hält den Griff von dessen Säbel fest, sodass Gustl ihn nicht ziehen kann und gebietet dem entsetzten Gustl „jetzt ganz stad“ (S.15, Z.22) zu sein, da er sonst dessen Säbel aus der Scheide ziehen, ihn zerbrechen und daraufhin an sein Regimentskommando schicken werde. Abschließend wird Gustl noch mit einer ihn zurechtweisenden Bemerkung „Sie dummer Bub“ (S.15, Z.34) „menschlich auf seinen Platz verwiesen“[36], nicht aber ohne ihm vorher noch zu versichern, dass er sich nicht sorgen brauche, denn „[...] ‘s hat niemand was gehört ... es ist schon alles gut [...]“ (S.16, Z.9.), was Habetswallner schließlich mit einem „Habe die Ehre, Herr Leutnant, hat mich sehr gefreut [...]“ (S.16, Z.11f.) bekräftigt, um nach außen hin den Anschein einer etwaigen Konfrontation zu zerstreuen. Bäckermeister Habetswallner handelt also bewusst nicht auf eine Art und Weise, die dem, wie er weiß, von dem äußerlichen Urteil anderer abhängigen Gustl in irgendeiner Weise schädlich oder von Nachteil wäre - genaugenommen trägt er sogar dazu bei, Gustls äußere Ehre[37] weiterhin aufrechtzuerhalten. Vor diesem Hintergrund erscheinen vorschnell geäußerte Verurteilungen des Bäckermeisters, etwa das ihm von Josef Kunz attestierte „unbekümmert brutale[m] Auftrumpfen“[38] Fehl am Platz.
Gustl selbst ist so eine rationale, kritische, gar selbstreflexive Betrachtung des Geschehenen allerdings nicht möglich - ihn hat der Bäckermeister in ein paar Sekunden gleich auf mehreren Ebenen Schach-Matt gesetzt und ihn damit regelrecht in eine existentielle Krise gestürzt. Für ihn war der Griff nach seinem Säbel der metaphorische Griff nach seiner
Ehre und die Denunziation „Sie dummer Bub“ erfüllt für ihn den Tatbestand der Ehrbeleidigung, die gemäß des Ehrenkodex gerächt werden muss.[39] An diesem Unterfangen hindern ihn jedoch gleich mehrere Umstände: gemäß den strengen Richtlinien des Ehrenkodex hätte er den Bäckermeister einerseits umgehend mit gezogener Waffe zum Widerruf zwingen müssen (gemäß seiner Waffenehre besaß er „[...] die Ehre, bei persönlichen Streitigkeiten sich der Waffen bedienen zu können [,..]“[40] ), was ihm allerdings durch die physische Überlegenheit des Bäckers nicht möglich war („[...] Ich hab’s ja nicht können ... er hat ja den Griff nicht auslassen, und er ist zehnmal stärker als ich [...]“, S.16, Z.21). Verwehrt bleiben ihm unterdessen auch zivilrechtliche Schritte, in deren Verlauf ja die genaue Form der Ehrverletzung öffentlich bekannt geworden wäre, an deren Geheimhaltung ihm ja so viel liegt und zudem auch sein die Situation auslösendes und für einen Offizier unwürdiges Verhalten in Form seiner rüden Bemerkung gegenüber Habetswallner zu Tage gefördert worden wäre.[41] Auch ein dritter Weg, nämlich den Bäckermeister durch das Austragen eines Duells zur Rechenschaft zu ziehen, muss wegen des Statusunterschieds zwischen beiden und der damit verbundenen Satisfaktionsunfähigkeit des Bäckermeisters scheitern.
Als satisfaktionsfähig gemäß des Ehrenkodex galt nach Gustav Ristow
derjenige [...], welchem ein Offizierskorps nach Prüfung und Erwägung seines Rufes in Beziehung auf Charakter, privates und geselliges Leben, Wahl des Umgangs, Sitten, Takt und Bildung die Würdigkeit zum (aktiven oder nichtaktiven) Offizier zuerkennen würde, falls es über diese Frage zu entscheiden hätte.[42]
[...]
[1] vgl. Craig Morris, Der vollständige innere Monolog: eine erzählerlose Erzählung? Eine Untersuchung am Beispiel von Leutnant Gustl und Fräulein Else, S.1. In: Modern Austrian Literature, Volume 31, Issue 2. 1998.
[2] Schnitzler hatte kurz vor der Niederschrift von Leutnant Gustl Dujardins Les lauriers sont coupés gelesen.
[3] zitiert nach Clive Roberts: The Code of Honor in fin-de-siècle Austria: Arthur Schnitzler’s Rejection of the ‘Duellzwang’”. S. 36f. In: Modern Austrian Literature, Volume 25, Issue %. 1992.
[4] vgl. Michael Braun, Arthur Schnitzler. Leutnant Gustl, S. 103f.
[5] Marina Dahmen, Arthur Schnitzler. Leutnant Gustl. Textausgabe mit Materialien, erarbeitet von Marina Dahmen, S. 136.
[6] Schnitzlers Notiz, vermutlich aus dem Jahr 1896, zitiert nach: Ursula Renner, Leutnant Gustl (1900). In: Schnitzler-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. 2014, S. 186-190., hier S. 186.
[7] vgl. Nikola Roßbach, Sicherheit ist nirgends. Arthur Schnitzlers Monologerzählungen Leutnant Gustl (1900) und Fräulein Else (1924) In: Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne. 2008, S. 19-46., hier S. 22.
[8] Im Folgenden wird für diese Arbeit die übliche Schreibweise verwendet, wenngleich Erstdruck und erste Buchausgabe unter dem Titel Lieutenant Gustl erschienen.
[9] Noch ein halbes Jahr vor der offiziellen Veröffentlichung trug eine skizzierte Vorfassung des Werks den Titel Ehre. (vgl. Roßbach, Sicherheit ist nirgends[...], Seite 22)
[10] vgl. Arthur Schnitzler, Lieutenant Gustl. Philipp Reclam jun. GmbH & Co. Stuttgart 2009, S. 7. (Nachfolgende Referenzen auf diese Quelle werden im Text selbst in Klammern angegeben, um den Lesefluss nicht zu behindern.)
[11] vgl. Klaus Laermann, Arthur Schnitzler. Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siècle, S. 113.
[12] Dirk Dethlefsen, Überlebenswille. Zu Schnitzlers Monolognovelle in ihrem literarischen Umkreis. Seminar 17 (1981), S. 50-72., hier S. 58.
[13] Klaus Laermann, Arthur Schnitzler. Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siècle, S. 115.
[14] Andre Seegers, Der k.u.k. Soldat im Werk Arthur Schnitzlers, S. 21.
[15] Ebd., S. 21.
[16] vgl. Dethlefsen, Überlebenswille. Zu Schnitzlers Monolognovelle in ihrem literarischen Umkreis, S. 52.
[17] vgl. ebd.
[18] Andre Seegers, Der k.u.k. Soldat im Werk Arthur Schnitzlers, S. 21.
[19] Ebd., S. 11. (Mehr zur individualitätsfeindlichen Wirkung der Militärerziehung bei Minder, Robert: Kadettenhaus, Gruppendynamik und Stilwandel von Wildenbruch bis Rilke und Musik. In: Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich. Fünf Essays. Frankfurt a. M. 1962)
[20] Erikson, zitiert nach Seegers, Der k.u.k. Soldat im Werk Arthur Schnitzlers, S. 34.
[21] vgl. Seegers, Der k.u.k. Soldat im Werk Arthur Schnitzlers, S.11.
[22] Ebd., S.11.
[23] Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, S. 76 & vgl. S. 87.
[24] Vgl. Seegers, Der k.u.k. Soldat im Werk Arthur Schnitzlers, S. 12.
[25] Jürgen Scheuzger, Das Spiel mit Typen und Typenkonstellationen, S. 57.
[26] Vgl. Manfred Jäger, Schnitzler’s Leutnant Gustl. In: Wirkendes Wort 15/5 (1965), S. 308-316., hier S. 308.
[27] Vgl. Laermann, Arthur Schnitzler. Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siècle, S. 116.
[28] „Allerdissen spricht in diesem Zusammenhang von einem ,latenten Minderwertigkeitsgefühl‘ Gustls. (Vgl. Allerdissen S. 27)“, zitiert nach Seegers, Der k.u.k. Soldat im Werk Arthur Schnitzlers, S. 22, Fußnote 66.
[29] Ebd., S. 22.
[30] Vgl. Brenda Keiser, Deadly Dishonor. The Duel and the Honor Code in the Works of Arthur Schnitzler, S. 105.
[31] Hartmut Scheible, Arthur Schnitzler, S. 83.
[32] Gero Von Wilpert, Leutnant Gustl und seine Ehre. In: Die Ehre als literarisches Motiv. Hg. v. August Obermayer. Dunedin 1986, S. 120-139., hier S. 123.
[33] Gero Von Wilpert, Leutnant Gustl und seine Ehre. In: Die Ehre als literarisches Motiv, S. 123.
[34] Klaus Laermann, Arthur Schnitzler. Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siècle, S. 114.
[35] Vgl. Dethlefsen, Überlebenswille. Zu Schnitzlers Monolognovelle in ihrem literarischen Umkreis, S. 58.
[36] Gero Von Wilpert, Leutnant Gustl und seine Ehre. In: Die Ehre als literarisches Motiv, S. 125.
[37] Hubert Mader definiert äußere Ehre als „jenes Ausmaß an Ehre, das dem einzelnen aufgrund seines Verhaltens der Umwelt gegenüber von seinen Mitmenschen zugesprochen wurde“ in: Duellwesen und altösterreichisches Offiziersethos. Osnabrück 1983. S.3.
[38] Josef Kunz, Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert, S. 57.
[39] Vgl. von Wilpert, Leutnant Gustl und seine Ehre. In: Die Ehre als literarisches Motiv, S. 126.
[40] Gustav Ristow, Ehrenkodex, S. 1.
[41] Vgl. Laermann, Arthur Schnitzler. Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siècle, S. 131.
[42] Gustav Ristow, Ehrenkodex, S. 48.