Leseprobe
Inhalt
1 Einleitung
2. Der Naturalismus – Ein Überblick
2.1 Themen des Naturalismus
2.2 Autoren – Vorbilder – Wirkung
2.3 Stilistische Mittel
3. Naturalismus und Sozialdemokratie
3.1 Gemeinsamkeiten
3.2 Der Grad der Parteilichkeit
4. Der Naturalismus im Visier der Sozialdemokraten
4.1 Kunst vs. Kampf
4.2 Die Naturalismusdebatte von Gotha
5. Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang
5.1 Inhaltlicher Überblick
5.2 Stilistische Mittel in Vor Sonnenaufgang
5.3 Resonanz und Reaktionen
6. Fazit
7. Schlusswort
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Diese Hausarbeit beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Naturalismus und Sozialdemokratie am Ende des 19. Jahrhunderts. Das Verhältnis zwischen Naturalisten und Sozialdemokraten war ein sehr ambivalentes. Auf der einen Seite wurden beide Gruppen voneinander inspiriert und hatten viele Gemeinsamkeiten, auf der anderen Seite jedoch konnten beide Lager nicht die Vorstellungen des anderen erfüllen. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen, nicht nur zwischen den Gruppen, sondern auch intern waren die Standpunkte höchst unterschiedlich. Diese verschiedenen Blickwinkel möchte ich im Folgenden erläutern. Zuerst jedoch werde ich einen Überblick über den Naturalismus als solchen geben. Womit beschäftigte sich die Literatur, wer waren die Autoren bzw. ihre Vorbilder? Warum wurde der Naturalismus als literarische „Revolution“ bezeichnet? Konkret geht es in diesem Kapitel um die inhaltlichen und stilistischen Merkmale, insbesondere des naturalistischen Dramas. Im nächsten, also dritten Kapitel, werde ich die Gemeinsamkeiten von Naturalismus und Sozialdemokratie darstellen und der Frage nachgehen, warum sich so ein besonderes Verhältnis zwischen Literaten und Politikern entwickeln konnte. Speziell geht es auch um den Grad der Parteilichkeit innerhalb der Naturalisten und die Beweggründe der Schriftsteller, sich mit Themen, wie z.B. Proletariat und Revolution zu beschäftigen. Im vierten Kapitel werde ich insbesondere den Standpunkt der Sozialdemokraten und die ersten Konflikte zwischen beiden Lagern erörtern. Es wird um die Literaturdebatte gehen, die 1891 ihren Anfang nahm und auf dem Parteitag von Gotha 1896 endete. Dabei werde ich die bedeutendsten Wortführer der Partei, wie Wilhelm Liebknecht oder Edgar Steiger, zu Wort kommen lassen. Im fünften Kapitel gehe ich konkret auf ein literarisches Beispiel ein: Vor Sonnenaufgang von Gerhart Hauptmann. Nach einem inhaltlichen Überblick und der Herausstellung stilistischer Merkmale des Dramas werde ich aufzeigen, woran sich besonders der Zorn der sozialdemokratischen Parteimitglieder und natürlich auch der konservativen Kritiker entzündete. Neben den typischen naturalistischen Neuerungen, die das Drama aufweist, spielt das Thema Sozialismus eine tragende Rolle. Deswegen erschien es mir besonders dafür geeignet, es hier im Rahmen dieser Hausarbeit zu behandeln. Im sechsten und letzten Kapitel werde ich das Ende der Literaturdebatte bzw. deren Ergebnisse beleuchten und verschiedene Thesen über die Gründe für das schwierige Verhältnis der Gruppen untereinander aufführen.
2. Der Naturalismus – Ein Überblick
„Die janze Richtung paßt uns nicht!“[1]
2.1 Themen des Naturalismus
Die Literatur des Naturalismus konstituierte sich um 1885 als „Revolution“ wider eine gut bezahlt und viel gelesene Dichtung der „Lüge“ und für eine „wahre“ und „moderne“ Kunst[2]. Das Auftreten von neuen Themen und der sie verwendenden Autoren wurde als Bruch in der deutschen Literaturgeschichte empfunden, als ein Aufstand der Jungen gegen die Alten, der einen Anbruch der „Moderne“ signalisierte.[3] Es herrschte vor allem „das Verlangen, tabula rasa zu machen, Disqualifikationen auszusprechen, gewohnte Produktions- und Rezeptionsprozesse als Rituale eines nur aufs „Schöne“ ausgerichteten Marktes zu entlarven.“[4] Wichtig ist vor allem die Politizität dieser neuen und modernen Dichtung, die sich nicht um Fragen des aktuellen Interesses drückt, sondern vor allem in Bezug auf die soziale Frage Diskussionsanstöße vermitteln und Diskussionsbeiträge liefern will.[5] Die junge Schriftstellergeneration wandte sich während der achtziger Jahre Themen zu , die bislang weitgehend Tabu gewesen waren: der Lage der Arbeiter, der Frauenemanzipation und der Problematik eines geistigen Widerstands bürgerlicher Künstler und Intellektueller gegen Auswüchse des Kapitals. Sie rechnete ab mit der Gründerzeit, kämpfte gegen kirchliche und staatliche Autorität, gesellschaftliche Konventionen in Familie und Ehe und begriff den Menschen als Produkt der Umstände, in denen er lebt.[6]
Das soziale Drama des Naturalismus war in der Regel in einem einzigen Stand angesiedelt, nämlich dem mittleren Bürgertum und Kleinbürgertum, oft sogar in ganz proletarischem Milieu wie z.B. in Hauptmanns „Weber“.[7] I m Mittelpunkt des Geschehens stand nun der in seiner Menschenwürde völlig entehrte Prolet, der im Rahmen seiner ökonomischen Gebundenheit dahinvegetiert. Der Dichter warf sein Interesse nun mit brutaler Direktheit auf die Armen und Entrechteten, die Säufer und Verbrecher. Asoziale Elemente, Strolche und Zuhälter wurden zu Mittelpunktfiguren.[8] „Milieuschädigung, Alkoholismus und Vererbung bildeten die Leitlinien des Lebenslaufes von Anti-Helden, von Getriebenen, von Menschen, denen die Verhältnisse zum Verhängnis wurden“.[9] Es fand also eine „Demaskierung“ der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse statt.[10] Egon Friedell sagt in diesem Zusammenhang:
Die naturalistischen Werke [...] verkündeten als erste einen neuen geistigen Gehalt; die umwälzenden technischen, sozialen, industriellen, politischen Phänomene, die zahlreichen umorientierenden Perspektiven, die die moderne Psychologie zutage gefördert hatte, traten hier zum erstenmal anschaulich zusammengeballt hervor“[11]
2.2 Autoren – Vorbilder – Wirkung
Die meisten Naturalisten (wie z.B. Gerhart Hauptmann, Johannes Schlaf, Arno Holz, Conrad Alberti) waren Altersgenossen und in den frühen sechziger Jahren geboren worden. Sie entstammten mittelständischen Familien und wuchsen in der Provinz auf; erst später zogen sie in die Großstädte und den Zentren des Naturalismus, München und Berlin. Geprägt wurden sie durch das Dreiklassenwahlrecht, eine Staatsmacht, die sich entschieden auf die Seite der Besitzenden schlug, und die Partei, die sich für die Rechte der Armen einsetzen wollte und kurzerhand durch das Sozialistengesetz von 1878 verboten wurde. In der Schule beschäftigte man sich ausschließlich mit dem bürgerlichen Literaturkanon und vor allem mit Goethe, so entwickelte sich später ein Bedürfnis nach fremden Vorbildern, die der veränderten Zeit Rechnung trugen und nach der fortschrittlichen Literatur des Auslandes. Viele der Schriftsteller zog es zeitweise in das proletarisch-kleinbürgerliche Milieu Berlins, wo sie konkretes Anschauungsmaterial vorfanden und Studien für ihre literarischen Werke betreiben konnten. Die Stoffe des Naturalismus lagen sozusagen auf der Straße: Alkoholismus, Prostitution, Bettler, Selbstmörder, Degeneration, Ehekonflikte, Kinderarbeit, Armenkrankheiten, Maschinensklaventum usw.[12]
Die künstlerischen Anregungen zu dieser literarischen Revolution holten sich die Naturalisten weniger aus den Schriften von Marx und Engels, als aus der französischen, skandinavischen und russischen Literatur. So übernahmen die Autoren von Zola die Schärfe der naturalistischen Milieuschilderung, von Ibsen die Gesellschaftskritik und von Tolstoi den Bekennermut. Während sich bei Ibsen die Konflikte noch in der bürgerlichen Welt abspielen, erweitert sich das Weltbild von Zola bis in das Milieu der Kneipen, Bordelle, Markthallen und Vorstadtstraßen. Zwar gab es schon im Realismus der fünfziger Jahre Schilderungen kleinbürgerlicher Beschränktheit oder ländlicher Armut, jedoch erschienen diese Beschreibungen in einem idyllischen bzw. sentimentalen Licht.[13]
Dass sich die Literaten durch ihre harte Kritik am Alten die sofortige Kritik der Alten und Am-Alten-festhalten-Wollenden auf sich zogen, liegt auf der Hand.[14] Für bürgerliche Kritiker bedeuteten die Namen Zola, Ibsen und Tolstoi vor allem eines: Perversion, Immoralität und Provokation. Die deutsche Literatur war zu dieser Zeit auf „Entspannung“ abgestimmt, „auf Amüsement und Wohlklang, auf Rekreation und Feierabend.“ Die Romane Zolas und Ibsens wirkten vor diesem Hintergrund als „rotes Tuch“, als unwillkommene Aufklärung und lästige Enthüllung[15], denn die Welt der oberen Zehntausend wurde ohne alles verklärenden Schutz mit dem Elend der unteren Masse konfrontiert.[16]
Die Jüngstdeutschen revoltierten außerdem gegen das Goethe- und Schiller-Bild der eigenen Vätergeneration und gegen die Vorstellung von beiden als den Galionsfiguren der im Traumreich geeinten Nation.[17] Teilweise wurde direkt von Goethe als dem „Spießbürger von Weimar“ gesprochen[18], oder man ließ Bemerkungen machen wie diese der Frau Krause in Hauptmanns Vor Sonnenaufgang: „Oaber da Schillerich, oaber a Gethemoan, asu´ne tumme Scheißkarle, die de nischt kinn´n als lieja“.[19]
2.3 Stilistische Mittel
In einer Epoche wie dem Naturalismus, in dem es vorrangig um die Konfrontation des Publikums mit dem eigenen Alltag ging, musste das Drama vorherrschen, da es Intentionen und Tendenzen bündeln und am eindringlichsten präsentieren konnte. Ganz im Gegensatz zum französischen Naturalismus wie z.B. den Romanen Zolas, hat in Deutschland kaum ein episches Werk nachhaltig überlebt.[20]
Man proklamierte eine dichterische Wiedergabe der Natur, die sich nur an das Prinzip der naturgesetzlichen Wahrheit hielt, ohne jegliche Metaphern und Dekoration zu verwenden wie es für landläufige „Poeten“ selbstverständlich war.[21] Charakteristisch für das naturalistische Drama war die exakte Reproduktion sprachlicher Äußerungen bzw. die „abgehackte“ Mimetik konsequent-naturalistischer Dramensprache[22]. Die mimetische Reproduktion der Alltagssprache war als ein Novum durch den Naturalismus eingeführt worden und stellte einen radikalen Bruch mit der herkömmlichen Dichtersprache dar. Neben dem Dialekt und Soziolekt wurden Jargon, Slangs und sogar Fäkalsprache angewandt. Es ging um das Brechen von Tabus in den Augen der Naturalismus-Gegner, die von einer „Sprache der Gosse“ bzw. einer „Bordelldiktion“ sprachen.[23] Es herrschte also eine rüde, ja ungepflegte Alltagssprache vor.[24]
Nach Arno Holz’ Kunstauffassung sollte Kunst so „natur-wahr“ wie nur irgend möglich sein, sie sollte sämtliche Vorgänge der Natur „wieder“ schaffen, also reproduzieren. Durch den sog. „Sekundenstil“ wurde jeder Vorgang minuziös genau festgeschrieben. Die „Wahrheit“ zu schreiben bestand darin, jede noch so winzige Veränderung der Szenerie und auch noch die kleinste Nuance menschlicher Kommunikation aufs Papier zu bringen.[25] Der Vorgang wird also „Sekunde für Sekunde“, jegliche Veränderungen registrierend, wiederzugeben versucht. Diese Methode wird zu einem zentralen formalen Moment des konsequenten Naturalismus[26].
Pünktchen, Gedankenstriche, Ausrufezeichen und eingeschobene Autorenanweisungen machen den Text für den Leser schwer verständlich und zwingen ihn, bzw. den Schauspieler zum Entziffern des auktorial Vorgegebenen, welches häufig noch durch Dialektverwendung erschwert wird.[27] Die einzelnen Gesprächspartner sind nicht mehr Sprachrohre ihres literarischen Schöpfers, sondern sie sollen sich so ausdrücken, wie sie sich gemäß ihrer Veranlagung auch in der Realität unterhalten würden.[28]
Die langen Regieanweisungen gehören ebenfalls zu den spektakulären stilistischen Neuerungen des Naturalismus und brachten dem naturalistischen Drama insgesamt den Ruf des Epischen oder Novellistischen ein.[29] Denn: „ein allwissender Autor tritt [...] als scharfer, alle kleinsten Veränderungen und jede physiognomische oder gestische Nuance penibel registrierender Beobachter auf, erscheint als zuverlässiger Berichterstatter eines Vorgangs von höchster Differenziertheit“. Ebenfalls zu erwähnen sind die ungewohnt ausführlichen Ortsangaben, welche der Phantasie des Bühnenbildners keinen Platz mehr lassen.[30]
Es waren also das „Französlertum, Amoralitätsvorwurf und die formale Kritik“, die bei dieser „Literaturrevolution“ zu einer Verwirrung auf ganzer Linie führten[31].
3. Naturalismus und Sozialdemokratie
„Aber der Dichter braucht kein Feldgeschrei“[32]
3.1 Gemeinsamkeiten
Während die zeitgenössischen Kritiker das, was im Naturalismus als sozial-engagierte Intention erkennbar war, als vaterlandsloses Gesellentum abtaten, wurde dies von ideologisch verwandten Lagern wie dem Sozialismus betont und begrüßt[33]. Als das Bürgertum seine liberalen und humanistischen Traditionen zunehmend aufgab, assoziierte es sich mit der Feudalklasse und verlor das Interesse an Literatur als emanzipatorische und gesellschaftsbildende Kraft. Aus diesem Grund gingen viele bürgerliche Schriftsteller auf Distanz zur Bourgeoisie und sahen nun die von den herrschenden Klassen massiv unterdrückte Arbeiterbewegung vorübergehend als die wahre Verfechterin bürgerlich-liberaler Freiheits- und Gleichheitsideen. Dies war mitunter ein Grund, weshalb die Arbeiterschaft in der frühnaturalistischen Bewegung als alternative Zielgruppe erschien.[34] Dass die Träger des sozialistischen Gedankenguts weitgehend Bürgerliche waren, ist bei der durch die ökonomische Zwangslage bedingten geistigen Unbildung des Proletariats nicht weiter verwunderlich.[35] Das offene Engagement für die Arbeiterklasse machte aus bürgerlichen Intellektuellen jedoch oft outcasts des Bürgertums.[36]
[...]
[1] So der Berliner Polizeipräsident von Richthofen. Zit. in: Oskar Blumenthal, Verbotene Stücke. In: Deutsche Revue 25, 1900 S. 97ff, zitiert nach Schulz, S. 93
[2] Vgl. Günther Mahal: Naturalismus. S. 10
[3] ebd., 89
[4] ebd., 41
[5] ebd., 119
[6] Dietger Pforte: Die deutsche Sozialdemokratie und die Naturalisten. S. 176
[7] Vgl. Mahal, 85
[8] Richard Hamann [u. a.]: Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, S. 29
[9] Vgl. Mahal, 127
[10] Vgl. Hamann, 245
[11] Egon Friedell in: Müller, Artur/Schlien, Hellmut (Hrsg .): Dramen des Naturalismus. Emsdetten 1962 zitiert nach Mahal, S. 19
[12] Vgl. Mahal, 29ff
[13] Vgl. Hamann, 21
[14] Vgl. Mahal, 19
[15] ebd., 59
[16] ebd., 165
[17] Gerhard Schulz: Naturalismus und Zensur, S. 104
[18] M. G. Conrad, Raubzeug. Novellen und Lebensbilder. Leipzig 1893, S.149 zitiert nach Schulz, S.102
[19] Gerhard Hauptmann: Vor Sonnenaufgang, S. 110
[20] Vgl. Mahal,14f.
[21] Vgl. Hamann, 244
[22] Vgl. Mahal,93
[23] ebd., 96
[24] Vgl. Hamann, 253
[25] Vgl. Mahal 154f.
[26] Onno Frels: Zum Verhältnis von Wirklichkeit und künstlerischer Form bei Arno Holz, S. 116
[27] Vgl. Mahal, 95
[28] Vgl. Hamann, 250
[29] Manfred Brauneck: Literatur und Öffentlichkeit im ausgehenden 19. Jahrhundert, S. 169
[30] Vgl. Mahal, 103
[31] ebd., 113
[32] Gerhard Hauptmann: Sämtliche Werke, Centar-Ausgabe zum hundertsten Geburtstag des Dichters am 15. November 1962. Hrsg. von Hans-Egon Hass, fortgeführt von Martin Machatzke und Wolfgang Bungies. Bis 1974 11 Bände. Frankfurt/M. 1962ff., Band XI, 835f., zitiert nach Mahal, S. 124
[33] Vgl. Mahal, 13
[34] Vgl. Frels, 130f.
[35] Vgl. Hamann, 209
[36] Vgl. Pforte, 192