Walter Kempowskis "Abgesang'45" und "Barbarossa'41". Zur Funktion seiner Collagetechnik

Eine qualitative Analyse im Statistikprogramm R


Bachelorarbeit, 2017

36 Seiten, Note: 6.0


Leseprobe


Inhalts vefz eichnis

Einleitung

1. Biografie
1.1 Kriegs jahre
1.2 Jahre nach dem Krieg — Bautzen
1.3 Literarisches Schaffen — Die Form der Collage

2. Das Echolot-Projekt
2.1 Die Entstehung: Das Archiv
2.2 Montage oder Collage?
2.3 Gesamtprojekt
2.3.1 «Barbarossa‘41»
2.3.2 <Abgesang‘45»
2.4 Rezension und Kritik

3. Vorgehensweise und Methode
3.1 Kategorien
3.1.1 Textunabhängige Kategorien
3.1.2 Textabhängige Kategorien
3.2 Elemente
3.3 Methode

4. Datenerhebung und Ergebnisse
4.1 «Barbarossa‘41»
4.1.1 Hypothesentests
4.2 «Abgesang‘45»
4.2.1 Hypothesentests

5. Interpretation
5.1 «Barbaros sa‘41»
5.2 «Abgesang‘45»

Fazit

Bibliographie

Einleitung

In Zeiten wieder aufkommenden Rechtspopulismus in westlichen Ländern stellt sich die Frage, inwiefern die Taten des Zweiten Weltkrieges noch heute in den Köpfen der Menschen verankert sind. Kann eine Generation von Menschen, die selbst nie einen Krieg erlebt hat, überhaupt nachvollziehen, was «Krieg» bedeutet? Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich nicht mit dieser philosophischen Frage und auch nicht mit dem bis heute nachwirkenden politischen Einfluss des Dritten Reiches. Und dennoch ist der Zweite Weltkrieg das Hauptthema. Es wurde literarisch von Walter Kempowski in seinem aus zehn Einzelbänden bestehenden Projekt «Das Echolot» verarbeitet. Ein Mammutprojekt. Das «kollektive Gedächtnis», das verschiedenste Quellen aus dem Zweiten Weltkrieg sammelt, zusammenstellt und schliesslich an einzelnen Tagen arrangiert, ist erlebte Geschichte. Die gesammelten Quellen wurden in der Form der Collage an ausgewählten Tagen aus dem zweiten Weltkrieg zusammengestellt und zeichnen so ein diverses Bild unterschiedlichster Stimmen. Ob Thomas Mann als anerkannter Literat, Heinrich Himmler als bekennender Nationalsozialist, oder eine unbekannte polnische Feldarbeiterin: Sie alle kommen in Kempowskis monumentalem Werk zu Wort und fügen sich in ein grosses Ganzes ein, dessen historische Bedeutung unbestritten ist.

Dass Walter Kempowski nicht nur Herausgeber, sondern auch Arrangeur und damit Komponist ist, wird in zahlreichen Quellen von ihm selbst bestätigt. Obwohl jeweils nur das Vorwort von Kempowski stammt, tragen die unkommentierten Quellen zweifelsohne seine Handschrift — oder sein System. Es wird deshalb nicht untersucht, ob Kempowski in den Aufbau eingreift, sondern wie. Es wird demnach folgende zentrale Fragestellung behandelt: Findet sich in der Anordnung der Quellen in «Barbarossa’41» und «Abgesang‘45» eine statistische Regelmässigkeit und falls ja, welche? Welche Funktion hat diese Montage und welche Wirkung erzielt der Autor damit?

Das erklärte Ziel dieser Arbeit ist es, das herrschende Desiderat in der Forschung zu schliessen. Von der spärlich vorhandenen Forschung zum &Äo/o/-Projekt befassen sich alle mit der Anordnung und es werden zahlreiche Vermutungen zur «Effekthascherei» und dem Spiel mit Emotionen aufgestellt. Bewiesen wurden diese jedoch nie. Anhand eigener Untersuchungen der Primärliteratur werden deshalb bisherige Erkennmisse zum Εώο/oŕ in der Sekundärliteratur kritisch hinterfragt und eigene Vermutungen aufgestellt.

Im Hinblick auf die zentrale Fragestellung erarbeite ich zwei weitere Ziele, erstens die Beantwortung der Frage, was Kempowski mit der Technik der Collage macht, zweitens, warum es - in Anbetracht der Tragweite und historischen Klasse des Werkes erstaunlich - so wenig Forschungsliteratur dazu gibt.

Im ersten Teil wird ausführlich auf die Biografie und das Lebenswerk Kempowskis eingegangen. Darauf folgt eine Beschreibung des Gesamtprojekts Εώο/oŕ und die Begründung der Beschränkung auf nur zwei der Werke sowie eine umfangreiche Bearbeitung der vorhandenen Sekundärliteratur. Im zweiten Teil der Arbeit wird die methodische Vorgehensweise und Kategorisierung der Elemente erläutert. Anhand von Hypothesen werden die codierten Quellen danach für beide Werke einzeln ausgewertet. Dies geschieht im Statistikprogramm «RStudio». Die Strukturierung anhand unterschiedlicher Hypothesen ermöglicht eine klare Trennung von untersuchten und nicht untersuchten Sachverhalten. Eine vollumfängliche Analyse aller möglichen Faktoren wäre einerseits nicht zielführend und andererseits zu umfangreich für den kleinen Datensatz der vorliegenden Arbeit. Die Hypothesenauswertung ermöglicht deshalb klare Aussagen zu den von mir als relevant eingestuften Kategorien. Dieser empirische Teil wird möglichst kurz gehalten und auf die zentralen Erkenntnisse beschränkt. Die ausführliche Interpretation und die Analyse der Hypothesenauswertung folgt im umfangreichen dritten und letzten Teil der Arbeit. Von zentraler Bedeutung sind hierbei die semantischen Kategorien, welche aufgrund ihrer hohen Varianz kaum empirischen signifikant erfasst werden können. Aus diesem Teil ziehe ich die Antwort für meine zentrale Fragestellung, die schliesslich im abschliessenden Fazit beantwortet wird.

1. Biografie

Der biografische Teil dieser Arbeit soll kein Lückenfüller sein, sondern enthält Elemente, die für das Verständnis des Gesamtprojektes Echolot von zentraler Bedeutung sind. Die umfangreiche Aufarbeitung der Vergangenheit Kempowskis ist grundlegend für das literarische Schaffen des Autors. Am Ende dieses ersten Teils werden die wichtigsten Punkte, welche einen massgeblichen Einfluss auf Kempowskis Arbeit hatten, nochmals zusammengefasst um die Bedeutung davon hervorzuheben.

Walter Kempowski ist wie zahlreiche andere deutsche Schriftsteller - Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser, Günter Grass, Uwe Johnson, u.v.m. — Teil der sogenannten «Flakhelfer-Generation».1 Diese zwischen 1926 und 1930 geborenen Kinder wuchsen im Dritten Reich auf und erlebten die prägenden Kinder- und Jugendjahre nur in einer Atmosphäre des Krieges. Diese Generation besetzte Jahre später die Führungspositionen im Osten und Westen und prägte damit das Bild der deutschen Gesellschaft.

Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 in Rostock geboren. Die Familie Kempowski war Teil des gehobenen Wirtschaftsbürgertums, was sich in der Kindheit und Jugend der drei Kinder wiederspiegelte. Bildung und Kultur hatten einen hohen Stellenwert und der Besitz der Familie führte zu verhältnismässig gutem Wohlstand. Beide Elternteile waren nicht Anhänger des Nationalsozialismus. Doch die Familie wurde bereits früh auseinandergerissen. Der Vater, Karl Georg Kempowski, wurde im März 1940 zur Wehrmacht einberufen und sah seine Kinder das letzte Mal im Oktober 1944 auf seinem letzten Urlaub. Sein Tod 1945 durch eine Fliegerbombe war keine einschneidende Veränderung mehr. Kempowski als Teil der «vaterlosen Generation» musste bereits früh ohne väterliche Identifikationsfigur und natürliche Autorität aufwachsen. (DH: 29) Die Beziehung zum Vater verarbeitete Walter Kempowski erst Jahre später in seinem ersten Bestseller «Tadelloser & Wolff».

1.1 Kriegsjahre

Die Zeit zwischen 1942 und 1948 beschreibt Kempowskis selbst als «die dunkelste Zeit». (DH: 46) Im Frühling 1942 wurde Rostock von englischen Bombern angegriffen und die Altstadt grösstenteils zerstört. Dieses einschneidende Erlebnis schockierte Kempowski zutiefst.

Der Krieg prägte ihn und so auch der Nationalsozialismus. Seit 1939 gehörte er der Hitlerjugend an, konnte ihr jedoch nie viel abgewinnen. Im Gegenteil: Nach dem einschneidenden Erlebnis des zerbombten Rostocks reagierte Kempowski mit Verweigerung, Rückzug und jugendlichem Rebell. Er begann, die Schule regelmässig zu schwänzen, blieb der Hitlerjugend vermehrt fern und wollte, wie andere Kinder aus der Schicht des gehobenen Wirtschaftsbürgertums, seine Individualität leben. Er verschrieb sich der Jazzmusik, der «Gegenkultur zur offiziellen Jugenderziehung der Nazizeit.» (DH: 49) Er gründete den «Internationalen Swing Klub» und fand Gleichgesinnte in seiner Neigung zum Anders-Sein. Hier zeigt sich bereits früh die Ablehnung festgefahrener Normen und Gesellschaftsbilder und sein Hang zum Aussenseitertum. Dies wird sich auch später in seiner literarischen Arbeit und vor allem in den Rezensionen seiner Kritiker wiederspiegeln.

Der Widerstand gegen die Hitlerjugend lebte Kempowski auch passiv. Seine langen Haare, damals ein «Symbol der Opposition zur Hitler-Jugend» (DH: 56), wurden ihm abgeschnitten und als Strafe wurde er der sogenannten «Pflichtgefolgschaft» zugeteilt. Diese Strafeinheit setzte Kempowski stark zu. Erst Mitte Februar 1945 endete der Dienst und die Schikane in der Pflichtgefolgschaft und Kempowski wurde zur Kuriereinheit einberufen. Er war damit kein Teil der kämpfenden Truppen. Dennoch erlebte Kempowski die schrecklichen Angriffe aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges hautnah. Ende März wurden sie gemustert. Kempowski und ein Freund weigerten sich, zur SS zu gehen.[1] Aufgrund ihres wohlsituierten Standes wurde dies akzeptiert. Mit 15 Jahren endete also für Walter Kempowski das Dritte Reich, nicht aber die Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges.

1.2 Jahre nach dem Krieg — Bautzen

Der 1. Mai 1945 ist für die Rostocker Bevölkerung einschneidend. Die Rote Armee nimmt die Stadt ein und zahlreiche Gewalttaten überschatten die ohnehin schon gebeutelte Stadt. Die Befreiung von den Nazis war keine Befreiung der Deutschen und auch nicht als eine Wiedererlangung der Freiheit zu sehen. Als im Oktober 1945 die Schulen wiedereröffnet wurden, war es mit dem Schwänzen von Walter Kempowski zwar vorbei: Dennoch merkte er, dass sich nichts an dem System geändert hatte. Noch immer waren Ideologisierung und Indoktrination im Schulunterricht Alltag, wenn auch nun auf die Sowjetunion ausgerichtet. Kempowski begann sich abermals dem System zu widersetzen.

«Als der Französischunterricht zugunsten von Russisch abgesetzt wurde, initiierte er eine Resolution, die von drei weiteren Klassenkameraden unterschrieben wurde. Vorerst wurde diese ,antisowjetische' Haltung nur mit einer Strengen Ermahnung geahndet.» (DH: 62)

Politisch gesehen Hess sich Kempowski weder als Nazi noch als Kommunist verschreien. Er woHte nicht das eine extreme System durch das andere tauschen, sich aber dennoch seiner Verantwortung und der Diskussion mit der Vergangenheit steHen. Er trat ein Jahr nach Kriegsende der Liberal-Demokratischen Partei bei. Für seine weitere Arbeit prägend[2] war das ablehnende Verhalten der Aüiierten Befreier gegenüber der gesamten deutschen Bevölkerung. Die Schuldgefühle, Teil des Nazisystems gewesen zu sein, wenn auch nur passiv, waren treibende Kraft dahinter, die grosse koHektive Entschuldungsarbeit zu leisten.

Anfang März 1948 reiste Kempowski, der inzwischen in Hamburg (westdeutschland) lebte, legal für einen Besuch nach Rostock (Ostdeutschland) und wurde am Tag nach seiner Ankunft von den Russen verhaftet. Man hatte ihn und seinen Bruder Robert denunziert und er wurde wegen Spionage, antisowjetischer Hetze, iHegalem Grenzübertritt und Gruppenbildung zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. «Bautzen war ein Segen für mich» (DH: 72), sagte er Jahre später über die achtjährige Haftstrafe. Die Einzelhaft, die nach der Verhaftung folgte und die er im Gefängnis des sowjetischen Geheimdienstes (MWD) absass, bildeten den Tiefpunkt seines bisherigen Daseins. Nach tagelanger Erniedrigung und Folter kam das verhängnisvolle «Ja» über seine Lippen. Er bestätigtem, dass seine Mutter von seinen «Plänen» gewusst habe und aktive Mitwisserin sei. Diese Lüge um sich selbst zu schützen und die damit verbundene Schuld belasteten Kempowski danach nicht nur während der Zeit in Bautzen, sondern sein Leben lang. Die Schuld war nicht nur kollektiv ein treibendes Motiv Kempowskis, sondern betraf ihn auch auf sehr persönliche Weise. An diesem tiefsten Punkt in seinem Dasein formte sich die Grundlage für sein späteres literarisches Schaffen.

Dennoch beschrieb er danach das Zuchthaus als «meine Universität» (DH: 74). Für den aus wohlhabenden Verhältnissen stammenden Kempowski war es das erste Mal, dass er mit Menschen aus allen Schichten zusammentraf. Diese Diversität faszinierte ihn und Hess die ersten Gedanken an das zu bändigende Stimmengewirr reifen. Er suchte das Gespräch und war gebannt von den zahlreichen ungehörten Einzelschicksalen. «Ich begann mit dem Einsammeln der Schicksale schon in Bautzen, das Belauschen der Gespräche, das Geraune [...]» (DH: 75).

1.3 Literarisches Schaffen — Die Form der Collage

Bereits im Alter von zehn Jahren äusserte Kempowski einen Berufswunsch. Er hatte bereits damals ein Faible dafür, Listen, Karten und Register für ausgeliehene Bücher der BibHothek zu ersteHen. später erinnerte er sich zurück, wie er mit seinem Vater vor dem Universitätsgebäude stand: «Er fragte mich, was ich denn mal werden woHe, und ich antwortete: Archiv!» (DH: 38) Diese kindliche Aussage soHte später teilweise Wahrheit werden. Er verzeichnete stets Notizen auf Karteikarten und obwohl dies während des Krieges und seiner Haft in Bautzen in den Hintergrund rückte, begann sein Zwang zum Notieren danach nur noch aufzublühen. Nach seiner vorzeitigen Entlassung aus der Haft im März 1956 hielt er erste Aufzeichnungen der Haftzeit fest und führte täglich Tagebuch. Hierbei wurden seine Recherchen für eine ausführHche FamiHenchronik festgehalten, die ihren Anfang 1971 mit dem Buch und späteren BestseHer «TadeHöser & Wolff» nahm.

Die Arbeitstechnik an der Deutschen Chronik wurde als sogenannte Zettelarbeit bekannt. Die eigenwilHge Methode war für Kempowski Fluch und Segen zugleich. Es war eine Art Zwang für ihn, immer Zettel bei sich zu haben und grundsätzHch alles zu notieren. «Gerade das, was man nicht aufschreiben wiH, weil man glaubt, das ist ja läppisch, gerade das ist wichtig!»4 In der Deutschen Chronik verarbeitete Kempowski die Schuld und das Leben seiner eigenen Familie als Spiegelbild des Bürgertums und dessen Perspektivlosigkeit zur Zeit des Krieges und danach. Der Niedergang des deutschen Bürgertums arbeitete er exemplarisch in seiner eigenen FamiHengeschichte ein. Die neunbändige Buchreihe begleitete das Schaffen Kempowskis von 1971 mit «Tadelloser & Wolff» bis 1984 mit «Herzlich willkommen». Richtigen Aufschwung erhielt Kempowski mit der Verfilmung seines ersten Bestsellers «TadeHöser & Wolff».

Doch der Ruhm wiederspiegelte sich nicht in den Kritiken. Im Gegenteil, Kempowski fühlte sich bis zum Schluss von der Literaturgemeinschaft ausgeschlossen. «Mobbing [liegt] in der Luft»[3] notierte er in seinem Tagebuch. Kempowski, der bereits zur Zeit der Hitlerjugend ein Aussenseiter war, blieb dies auch. Seine Kritiker stellten ihn als «kauzigen Aussenseiter» dar, der «detailbesessen» sei und von einer «manischen Sammelwut» getrieben werde.[4] Die bereits erwähnte Sammelwut drängte ihn noch mehr in die Ecke eines Sonderlings. «Ich ärgere mich darüber, dass mich die Leute einen Sammler nennen. Wer trinkt, ist doch noch lange kein Trinker!»[5] Die links und klassenkämpferisch orientierte Garde der Germanisten in den siebziger Jahren sah in Kempowski einen bürgerlichen Sonderling, der nicht in ihren Literaturkreis passte. Der Vorwurf, er verharmlose die Vergangenheit, schwang stets in den Kritiken zu seiner Deutschen Chronik mit. Dies verletzte Kempowski bis in seine späten Schaffungsjahre, erklärte er jedoch seine Arbeit damit, «unsere [das deutsche Volk] Schuld aufzuzeigen.»[6] Kempowski änderte dennoch nie seinen Stil zugunsten besserer Kritiken. Im Gegenteil. Er perfektionierte seine Form der Distanziertheit, in der er selbst als Beobachter fungierte. Die Collage, die seit Alfred Döblin und Karl Kraus einen festen Platz in der deutschen Literatur genoss und um 1970 zur Form des neuen Realismus gehörte, wurde zu seinem Medium.

Eine Kombination unterschiedlichster Elemente aus der Biografie Kempowskis führte schliesslich zu seinem Lebenswerk Echolot. Dass Kempowski im Dritten Reich aufwuchs und durch seinen wohlsituierten Stand nur passiv am Kriegsgeschehen teilnahm, legte den Grundstein für seine spätere Aufarbeitung der kollektiven Schuld. Sein Drang zum Anders-Sein, der auch von seiner Kindheit ohne Vater und Autoritätsperson geprägt war, spiegelte sich bis zu seinen letzten Jahren in den Kritiken wieder, die Kempowski nie die gebührende Ehre zuteil kommen Hessen. Seine widerborstige und auflehnende Art ermögHchte ihm keinen Zugang zum gehobenen Kreis der Literaten. Trotz seines Charakters schmerzte ihn dies. Die Schuldgefühle, die ihn in Bautzen beinahe erdrückten, Hessen ihn aufhorchen und lauschen. Die Stimmen, die er wahrnahm konnte er mit seiner danach ausgefeilten Zettelarbeit nicht nur wahrnehmen, sondern festhalten. Die Biografie Kempowskis zeigt anschauHch, dass das Projekt Echolot nicht nur ein Hterarisches Monument ist, sondern das Lebenswerk eines Mannes, der sein Leben lang die Frage der Schuld und den Stempel des Aussenseiters nicht loswurde und genau dies in seinem Werk verarbeitete: VöHige Absenz des Autors und absolute kollektive Bewältigung.

2. Das Echolot-¥to]çkt

Eines Nachts in Bautzen hörte der wegen illegalem Grenzübertritt und Spionage verurteile Kempowski ein eigenartiges Gesumme. Es waren die Gefangenen, die sich auf dem Hof des Zuchthauses miteinander leise murmelnd unterhielten. Kempowski erinnerte sich später daran, «dass sich die tausend oder mehr Häftlinge ununterbrochen etwas zu erzählen hatten, jahrelang, acht Jahre lang, die ich dort verbrachte.» (VH: 90) Dass diese Stimmen und Erzählungen alle im Nichts verschwinden würden, wenn man ihnen nicht zuhörte, legte den Grundstein für sein weiteres Schaffen.

2.1 Die Entstehung: Das Archiv

Das Interesse für autobiographisches Kleinstmaterial war mit der Arbeit an den Zeitzeugnissen von Verwandten und Bekannten für die «Deutsche Chronik» geweckt worden. Mit dem Abschluss reifte in Kempowski der Gedanke an ein Archiv. Er begann ab 1980 auf Flohmärkten Quellenmaterial zu sammeln und schaltete Anzeigen in Zeitungen: «Ich suche Biographien jeder Art, auch Tagebücher, Fotos und Fotoalben. Walter Kempowski, 2730 Nartum, Haus Kreienhoop.» (DH: 173) Das «Archiv für unpublizierte Autobiographien» wurde zum kollektiven, aber noch nicht geordneten Gedächtnis der Deutschen.[7] Die Idee des «kollektiven Tagebuchs» entwickelte Kempowski erst 1987. Das «Statt eines Vorworts»[8] des Echolots nimmt Bezug auf das Erlebnis Kempowskis in Bautzen, wo er als einziger «ein eigenartiges Summen», «ein babylonischer Chorus»[9] wahrnimmt. Vor dem eigentlichen Sammeln musste also zuerst das Bewusstsein für die Wahrnehmung ebendieser ungehörten Stimmen erfolgen. Der immense Umfang des Archivs und die Verfeinerung der Technik der Collage führten zum konkreten Vorhaben des fir/to/oZ-Projekts.

«Kempowskis Idee war es, in einer monumentalen Collage die Zeugnisse selbst zum sprechen zu bringen, die Stimmen zu einem gewaltigen Chor zu versammeln, den der Autor — gleichsam als Dirigent — arrangierte. [...] Bei den Urhebern dieser Dokumente handelte es sich nahezu ausschliesslich um Unbekannte, um Stimmen, die wohl für alle Zeit ungehört geblieben wären, hätte sich nicht Kempowski ihrer angenommen.» Bittel 2005, s. 138.

Der Erhalt von Zeitzeugnissen und damit die Konservierung von Geschichte(n) war die treibende Kraft hinter Kempowskis Tun. Das Archiv gewann nach der Veröffentlichung der ersten vier Bände des Echolot 1993 an Popularität und umso mehr Einsendungen erreichten Kempowski. Trotz des immensen Ausmasses des Archivs wurde jede Einsendung gelesen und abgelegt. Simone Neteier, Kempowskis einzige Mitarbeiterin, betont, dass dies viel Zeit kostete, jedoch auch viel Fingerspitzengefühl verlangte: «Jeder Einsender hatte uns etwas für ihn äußerst Wertvolles anvertraut: seine Erinnerungen, die Briefe der Liebsten, etc.».12 Jedem dieser Zeitzeugnisse sollte deshalb die nötige Wertschätzung entgegengebracht werden. Das «Walter Kempowski Archiv» ist auch heute noch an der Akademie der Künste in Berlin einsehbar. Das kollektive Tagebuch musste jedoch massiv gekürzt werden, da ein Buch dieses Ausmasses nicht zu realisieren gewesen wäre. So wurde bereits in der Entstehungsphase entschieden, nur bestimmte Phasen des Zweiten Weltkrieges abzudecken und das Geschehen damit wie in einem Zeitraffer abzubilden. (VSP: 147)

2.2 Montage oder Collage?

Durch die Beschränkung auf einzelne Tage wurde bereits im Archiv eine Vorauswahl für das spätere Werk getroffen. Diese Anordnung nach Tagen ermöglicht eine gewisse Gleichzeitigkeit und Unmittelbarkeit der einzelnen Zeitzeugnisse, die nun gebündelt nacheinander folgen. Wie ein grosses Tagebuch vieler Stimmen.

Das Ziel der Vollständigkeit war ein Ding der Unmöglichkeit und musste neu definiert werden. So wurde gemäss Simone Neteier versucht, einzelne Themenkreise mit möglichst vielen Stimmen abzudecken. Mit jeder zusätzlichen Quelle zu einem solchen Bereich wurde die Unvollständigkeit wiederum verdeutlicht. Fehlenden Stimmen zu einem bestimmten Themengebiet mussten dann in spezifischer Recherche aufgespürt werden. (VSP: 145) Diese Stimmen stammten einerseits von unbekannten Privatpersonen, die ihre Zeitzeugnisse selbst einsandten, andererseits wurde zusätzlich auf Standardliteratur zurückgegriffen um auch Prominente zu Wort kommen zu lassen. Diese bereits publizierten Quellen stammten von Persönlichkeiten aus Politik, Militär und Kunst, deren Einflechtung in das Tagebuch eine Verdichtung und eine weitere Betrachtungsebene ermöglichte.

Die Anordnung der Collage, die den Kern der vorliegenden Arbeit darstellt, war keine blosse Aneinanderreihung. Kempowski «ordnete das Material dialogisch oder verstärkte Eindrücke durch Häufung, liess Themen abwechseln, wiederkehren [...] Eine Komposition entstand, deren ästhetische Wirkung in der Summe und der Anordnung ihrer Teñe lag: Form als höchster Inhalt.» (DH: 200)

Bereits vor der konkreten Echolot-lácc experimentierte Kempowski mit der Anordnung von Fotos und notierte: «Gerade das Nebeneinander von Fotos, die zeitlich oder inhaltlich nichts miteinander zu tun haben, ist sehr aufregend.» (C: 7) Die Annahme, dass die Zeitzeugnisse jedoch unverfälscht wiedergegeben wurden, täuscht.

Kempowski selbst betitelt seine Form im Echolot als «Collage».[10] Er bezeichnet die Tätigkeit als Montage, das Ergebnis als Collage. (C: 59) In der Sekundärliteratur wird jedoch eingehend darüber diskutiert, worin der Unterschied zwischen Montage und Collage liege, da Kempowski in die Reihenfolge eingriff und die Elemente nicht nur sammelte, sondern arrangierte. Einerseits dekontextualisierte Kempowski das Material und bediente sich der Methode der Transposition. Dabei wurden Texte, die grundsätzlich zeitunabhängig waren, in das Manuskript eingearbeitet, obwohl das genaue Datum nicht bekannt war.[11] Andererseits kürzt Kempowski schriftliche Quellen zum Teil massiv, grösstenteils - entgegen seinem Willen - mittels Auslassungszeichen, teilweise jedoch auch ohne offensichtlichen Vermerk.[12] Dadurch verlieren die Quellen an Authentizität. Als Grund vermutet die Forschung dahinter einheitlich die Erzeugung eines stärkeren Kontrasts.[13] Diese Aussage unterstütze ich, denn durch die Kürzung kann die Aussage auf das Wesentliche konzentriert und klarer einer anderen gegenübergestellt werden. Es ist verständlich, dass ein Chor nur leben kann, wenn Stimmen gleichsam zum Zuge kommen und der Leser sich nicht in Ausführlichkeiten verliert. Entgegen des Vermerks der Auslassungen, wird die Transposition nicht markiert. Helmut Lethen kritisiert Kempowski dafür und nennt die Montage eine «Austauschbörse».[14]

Kempowski legte somit den Fokus nicht auf die authentische Wiedergabe, sondern auf die Inszenierung des Materials. Er nennt dies «die Schattierung» und «die Gegenüberstellung» (C: 189), was nur mit grösserem Eingriff des Autors zu erreichen ist.

Hiermit kann ich meine erste Zielsetzung bereits beantworten: Was macht Kempowski? Er ist nicht nur Archivar, er ist ganz klar Autor. Obwohl er sich als Stimme vollkommen aus dem Werk heraushält, bearbeitet er die Quellen so, dass sie durch Dekontextualisierung in Form der Transposition, durch Kürzung und Selektion an Wirkung gewinnen, aber dafür an Authentizität verlieren. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass sich der Leser dessen ohne eigene Recherche nicht bewusst ist. Für die Analyse der einzelnen Tage gilt es also zu beobachten, inwieweit dieser Eingriff Kempowskis analytisch nachgewiesen werden kann.

2.3 Gesamtprojekt

«Es war in München wo er [walter Kempowski] sich im Oktober 1988 [...] aufhielt, als er unverhofft den Titel fand und mit Bleistift auf den Rand einer Zeitung schrieb: ‘Echolot’.»

[...]


[1] Wörtlich: «Nein, wir wollen nicht zur SS.» (DH: 60).

[2] «Deutsche Chronik», «Wer hat Hitler gesehen?», «Echolot».

[3] Kempowski: Hamit 2006, s. 122.

[4] Scheffel 1971, s. 1. Görtz 1981, s. 2.

[5] Kempowski: Sirius 1990, s. 348.

[6] Henschel 2009, s. 92.

[7] Kempowski: Culpa 2005, s. 7. Zitate nach dieser Ausgabe künftig im Text unter der Sigle c und mit Seitenzahl.

[8] Echolot: «Januar und Februar 1941» 1993, Bd. 1, s. 7.

[9] Ebd.

[10] «Montage die Tätigkeit, Collage als Ergebnis.» (C: 59). In der vorliegenden Arbeit wird die Terminologie aus Kempowskis «Culpa» übernommen. Die Problematik der oftmals synonymen Verwendung bei Kempowski wird in Damiano 2005 (Kap. 2: s. 45-84) ausführlich thematisiert.

[11] «[...] die Verschiebung von Texten auf ein zeitlich nahes Datum» (C: 196).

[12] Vgl. Bittel 2005, s. 148.

[13] Vgl. dazu Lethen 2010, s. 326.

[14] Lethen 2010, s. 323.

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Walter Kempowskis "Abgesang'45" und "Barbarossa'41". Zur Funktion seiner Collagetechnik
Untertitel
Eine qualitative Analyse im Statistikprogramm R
Hochschule
Universität Zürich  (Deutsches Seminar)
Note
6.0
Autor
Jahr
2017
Seiten
36
Katalognummer
V412583
ISBN (eBook)
9783668638327
ISBN (Buch)
9783668638334
Dateigröße
633 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Walter Kempowski, Kempowski, Echolot, Abgesang, Barbarossa, Kriegsliteratur, Collage, Collagetechnik, Semantik, Datenanalyse, Statistik, Statistikprogramm R, R
Arbeit zitieren
Gioia Porlezza (Autor:in), 2017, Walter Kempowskis "Abgesang'45" und "Barbarossa'41". Zur Funktion seiner Collagetechnik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/412583

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