Coworkation. Vollkommene Entgrenzung?

Flexibilisierung und Begrenzungsstrategien


Bachelorarbeit, 2017

118 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Fragestellung und Zielsetzung
1.2. Aufbau der Arbeit

2. Theoretischer Ausgangspunkt
2.1. Die Entgrenzung von Arbeit und Leben
2.2. Die sechs Sozialdimensionen
2.2.1. Die Dimension der Zeit
2.2.2. Die Dimension des Raumes
2.2.3. Die Dimension der Hilfsmittel und der Technik
2.2.4. Die Dimension des Arbeitsinhalts und der Qualifikation
2.2.5. Die Dimension der Sozialorganisation
2.2.6. Die Dimension des Sinns und der Motivation
2.3. Die erneute Begrenzung als Folge der Entgrenzung von Arbeit

3. Charakteristika des Untersuchungsfeldes
3.1. Coworking – eine erste Betrachtung
3.2. Einführung in das Konzept des Coworking Spaces
3.3. Die Zielgruppe von Coworking Spaces
3.4. Coworkation – Coworking in paradise

4. Das methodische Vorgehen
4.1. Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring
4.2. Beschreibung der Interviewführung
4.3. Der Leitfadenaufbau
4.4.Die Datenauswertung

5. Zentrale empirische Befunde
5.1. Entgrenzung und Begrenzung in der Dimension der Zeit
5.2. Entgrenzung und Begrenzung in der Dimension des Raumes
5.3. Entgrenzung und Begrenzung in der Dimension der Hilfsmittel und Technik
5.4.Entgrenzung und Begrenzung in der Dimension des Arbeitsinhaltes und der Qualifikation
5.5. Entgrenzung und Begrenzung in der Dimension der Sozialorganisation
5.6. Entgrenzung und Begrenzung in der Dimension des Sinns und der Motivation

6. Schlussbetrachtung

Abstract

Literaturverzeichnis

Anhang

Eigenständigkeitserklärung

1. Einleitung

Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit sind die Schlagworte der Marketingslogans von Coworkation-Unternehmen, die die Menschen dazu aufrufen sollen, ihren Arbeitsort selbst zu wählen. Es sei der perfekte Zeitpunkt dafür (Coworkation 2017). Das Arbeiten unter Palmen lockt immer mehr Menschen an und zeigt eine andere Möglichkeit, seinen Urlaub zu gestalten. Was früher noch undenklich war, hat seinen Auslöser in der veränderten Arbeitswelt. Diese Transformation ist hauptsächlich durch die Digitalisierung, die Globalisierung, wie auch durch einen allgemeinen demographischen und institutionellen Wandel bedingt (Eichhorst und Buhlmann 2015). Auch wenn die Tragweite des Strukturwandels der Arbeit nach wie vor noch unterschiedlich bewertet wird, lässt sich sagen, dass bei der ehemals bewussten Trennung zwischen Arbeit und Privatleben die Grenzen immer mehr verwischen – in der Sozialwissenschaft spricht man von einer Entgrenzung (Voß 1998).

Die ständige Verfügbarkeit wird vielerorts vorausgesetzt und eine Abgrenzung von Freizeit und Arbeit, ganz im Sinne einer ausgeglichenen Work-Life-Balance, ist kaum mehr möglich. Die veränderten Lebensformen führen zu neuen Arbeitsformen (Schürmann 2013). Es entwickeln sich neben dem Normalarbeitsverhältnis stetig neue, atypische Beschäftigungen und kooperative Arbeitsformen (ebd.). Eine neue Form der Arbeitsorganisation ist Coworking – das gemeinsame Arbeiten. Vor allem FreiberuflerInnen und Selbstständige aus der Kultur- und Kreativwirtschaft wie z.B. BloggerInnen, DesignerInnen oder GrafikerInnen teilen sich eine Bürofläche – ein sogenannten Coworking Space – um gemeinsam arbeiten und voneinander lernen zu können (Merkel 2012). Dass die Entgrenzung noch stärker ausgeprägt sein kann, zeigt die Coworkation, eine Verbindung aus Coworking und Urlaub. Hier arbeiten Freelancer und Selbstständige nicht in einem Coworking Space in der Nähe ihres Wohnortes, sondern nutzen diesen an ihrem Urlaubsort. Die Gründe, sich für eine Coworkation zu entscheiden, sind bei den Befragten dieser Arbeit sehr unterschiedlich. Jedoch lässt sich in den meisten Fällen erkennen, dass die Entgrenzung ein ambivalenter Prozess ist, der nach neuen Grenzen verlangt – einer aktiven Begrenzung der Entgrenzung.

1.1. Fragestellung und Zielsetzung

Diese Arbeit beschäftigt sich aus ethnografischer Sicht mit dem Konzept Coworkation. Zunächst soll untersucht werden, in welcher Ausprägung die Entgrenzung von Arbeit und Leben in dem von Günter Voß (1998) beschriebenen sechs Sozialdimensionen stattfindet. Die innovative Leistung dieser Arbeit liegt darin, das Konzept von Voß zu erweitern und die möglichen Entgrenzungstendenzen in den Coworkation zu erforschen. Des Weiteren liegt der Fokus dieser Arbeit darauf herauszufinden, wie die TeilnehmerInnen mit der in der Coworkation herrschenden Flexibilisierung umgehen und welche Begrenzungsstrategien als Reaktion entwickelt werden. Die vorliegende Bachelorarbeit versucht nicht, zu repräsentativen Ergebnissen zu kommen, dafür ist das untersuchte Material und der Umfang der Arbeit zu gering. Demzufolge ist das Ziel der Arbeit nicht, eine allgemeingültige quantitative Aussage über Coworkation zu treffen, sondern die Auswirkung der sich wandelnden Arbeitswelt an einer Auswahl an NutzerInnen von Coworkation darzustellen und auf deren Begrenzungsstrategien aufmerksam machen.

1.2. Aufbau der Arbeit

Um das Phänomen Coworking und das daraus resultierende Konzept Coworkation angemessen erklären zu können, wird zunächst auf die Entwicklung der zeitgenössischen Arbeitswelt eingegangen. Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei auf die Entgrenzung der Arbeit und des Lebens gesetzt. Durch diesen ersten Schritt wird Coworking bzw. Coworkation in einen gesamtgesellschaftlichen Rahmen eingeordnet und in einen Kontext gebracht. In den darauffolgenden Kapiteln werden die entscheidenden Charakteristika des Untersuchungsfeldes – Coworking, Coworking Space, die Zielgruppe und das Konzept Coworkation – vorgestellt und erläutert. Im anschließenden anwendungsorientierten Teil wird in Leitfadeninterviews mit Hilfe der Inhaltsanalyse den Entgrenzungstendenzen und Begrenzungsstrategien von NutzerInnen in Coworkation Spaces nachgegangen. Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit nach den Zusammenhängen zwischen Entgrenzung und Begrenzung in der Coworkation legte es nahe, sich auf die qualitative Methode der empirischen Sozialforschung zu beziehen. Relevanz erhält diese Arbeit dadurch, dass der Urlaub lange als eine unantastbare Zeit für Erholung galt und durch Coworkation dieses Konzept grundsätzlich überholt wurde.

2. Theoretischer Ausgangspunkt

In den nachfolgenden Kapiteln werden grundlegende und für die Fragestellung relevante Theorien dargestellt, um im Speziellen die Thematik der Entgrenzung zu verdeutlichen. Zunächst wird näher auf den historischen Wandel der Arbeit, der zu neuen Arbeitsstrukturierungen geführt hat, eingegangen. An diese Ausgangslage schließen sich Ausführungen über die Ebenen der Entgrenzung nach dem Modell der sechs Sozialdimensionen von Voß (1998) an. Das letzte Unterkapitel setzt sich mit den Folgen der Entgrenzung und deren dualer Wirkung auseinander, die letztendlich eine erneute Re-Strukturierung von Grenzen zur Folge hat. Die von der Arbeitskraft erforderliche Individualisierung und Flexibilisierung stellt eine Anpassung bzw. Handlungsreaktion auf die veränderten Rahmenbedingungen durch die Entgrenzung dar. Diese Herleitung bildet den Rahmen für die Subjektivierung von Arbeit und bildet eine Grundlage für das Verständnis des anwendungsorientierten Teils der Arbeit.

2.1. Die Entgrenzung von Arbeit und Leben

Seit einigen Jahren vollzieht sich ein starker Wandel in der Arbeitswelt, dessen Entwicklung im Wesentlichen als eine Flexibilisierung umschrieben werden kann (Sennett 1998). Diese Flexibilisierung betrifft sowohl die Arbeitszeit, als auch den Arbeitsort und andere organisatorischen Bedingungen gesellschaftlicher Arbeit. Laut Voß (1998) ist das Ziel dieses Wandels, „[…] etablierte Strukturen aufzubrechen und mehr oder weniger dauerhaft zu dynamisieren und zu verflüssigen“ (S.474). Während des Fordismus´ war die Gesellschaft noch von einer arbeits- und sozialpolitisch regulierten Arbeitsteilung zwischen den Sphären Arbeit und Leben geprägt (Jürgens und Voß 2007). Während die Menschen in der Arbeitssphäre ihren Berufen nachgingen um durch die bezahlte Erwerbstätigkeit die Existenz von sich und ihrer Familie zu sichern, wurde sich in der Sphäre des Lebens von den entstandenen Strapazen erholt und Arbeitskräfte reproduziert (ebd.). Es gab somit eine feste räumliche, wie auch zeitliche Trennung zwischen den beiden Sphären. Die gängigen, vereinfachten Attribute des Fordismus waren „[…] ein unbefristeter, fester, sicherer Arbeitsplatz, seltene Arbeitsplatzwechsel, eine klare räumliche und zeitliche Trennung von Arbeit und Freizeit sowie ein traditionelles Familienmodell mit einem männlichen Alleinverdiener“ (Koschel 2014, 13). Seit Ende der 1980 Jahren kommt es zu einer Abkehr von den fordistisch-tayloristischen Prinzipien, die eine gezielte Trennung befürworteten. Die allmähliche Auflösung oder zumindest das Bröckeln der ehemals für stabil gehaltenen Grenzziehung konnte an mehreren Stellen der Gesellschaft beobachtet werden: in der beruflichen Arbeitsteilung, in den sozialrechtlichen Regulierungen, in den Geschlechtsidentitäten etc. (Badura u. a. 2012). Die Grenzen zwischen Arbeitswelt und Lebenswelt begannen zu verschwimmen und beiden Sphären fingen an stark ineinander über zu gehen – es kommt zur Entgrenzung von Arbeit und Leben.

Seit Ende der 1990er Jahre fällt der Begriff der Entgrenzung in den Diskussionen der Arbeits- und Industriesoziologie gehäuft (Frey, Hüning, und Nickel 2008). Laut Voß kann die Entgrenzung allgemein „[…] als sozialer Prozeß definiert werden, in dem unter bestimmten historischen Bedingungen entstandene soziale Strukturen der regulierenden Begrenzung von sozialen Vorgängen ganz oder partiell erodiert bzw. bewußt aufgelöst werden“ (Voß 1998, 447) .

Durch die Öffnung des Marktes über nationalstaatliche Grenzen hinweg, veränderten sich die Strukturen der Arbeitsverhältnisse. Die sozialen Formierungen, die bisher kooperatives Handeln in der Arbeitswelt ermöglichten, erschienen nun als veraltet und hinderlich, um neue gesamtwirtschaftliche Möglichkeiten frei zu entfalten. Vergleichbar ist die Entgrenzung mit dem Prozess der Individualisierung, welche entlang von drei Dimensionen verläuft: „Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen, Verlust von traditionalen Sicherheiten und neue Formen der sozialen Einbindung“ (Pelizäus-Hoffmeister 2001a, 3). Die neuen Arbeitsverhältnisse zeichnen sich durch mehr Flexibilität, Freiheit und Eigenverantwortung aus, implizieren aber auch einige Herausforderungen. Als Arbeitskraftunternehmer muss der Mensch nun damit umgehen, dass ein wesentlich umfassenderer betrieblicher Zugriff auf sein Potenzial und dessen Nutzung für ökonomische Zwecke erfolgt (Voß 1998). Als Konsequenz gerät die strukturelle Beziehung von Erwerbsarbeitssphäre und Privatleben in Bewegung – das bisher gewohnte Verhältnis von „Leben“ und „Arbeit“ wird entgrenzt (ebd.). Häufig ist die Ursache für das Verwischen der Grenzen von Arbeit und Leben in den verschiedenen Dimensionen eine Veränderung in der Arbeitswelt wie zum Beispiel Rationalisierungs- und Flexibilisierungsmaßnahmen (Huchler 2013). Auch können kulturell bedingte gesellschaftliche Entwicklungen für diesen Impuls verantwortlich sein. Durch Veränderungen in der Sphäre des Lebens, wie zum Beispiel durch neue Familienmodelle, kommt es zur Verwischung der Grenzen zwischen Arbeit und Leben. Als Schlussfolgerung daraus kann man von einer doppelten Entgrenzung sprechen, da „die Veränderungsprozesse nicht nur im Erwerbsbereich, sondern auch in der Familie stattfinden“ (Schier, Jurczyk, und Szymenderski 2011, 403).

2.2. Die sechs Sozialdimensionen

Laut dem Artikel von Voß „Die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft. Eine subjektorientierte Interpretation des Wandels von Arbeit“ (1998) lassen sich die Phänomene der Entgrenzung in sechs Sozialdimensionen beobachten. Die sonst als Sonderdimension von Entgrenzung gehandelte „Entgrenzung von Arbeit und Leben“ verfügt über enge konzeptionelle Parallelen zum Gesamtkonzept der Entgrenzung. Sie impliziert zum einen eine Erweiterung des Blicks auf die Entgrenzung der Arbeit und zum anderen „eine Fokussierung im allgemeinen gesellschaftlichen Entgrenzungsprozess auf den Zusammenhang zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben“ (Huchler 2013, 83). Die Bereiche Arbeit und Leben sind untrennbar miteinander verbunden und als Folge dessen lassen sich Wechselwirkungen beobachten. Die nachfolgenden Ausführungen beruhen auf dem Modell von Voß und führen die Dimensionen aus, in denen es zu einer Entgrenzung von Leben und Arbeit kommen kann. Somit ermöglichen diese die für die Forschungsfrage relevanten Entgrenzungserscheinungen in der Coworkation zu erkennen. Für die qualitative Inhaltsanalyse ist eine ausführliche Darstellung der einzelnen Dimensionen grundlegend, da das auf die Leitfadeninterviews angewandte Kategoriensystem auf diesen beruht.

2.2.1. Die Dimension der Zeit

In der Dimension der Zeit kommt es aufgrund der Entgrenzung zu starken Veränderungen. Dabei beschreibt Voß zwei Faktoren die eine große Rolle spielen: Zum einem ist eine zeitliche Flexibilität der Arbeit zur Normalität geworden, wodurch eine Vielzahl von unterschiedlichen Arbeitszeitformen (Gleitzeit, Teilzeit, befristete und unbefristete Verträge usw.) entstanden sind. Zum anderen lässt sich eine temporale Entgrenzung im Allgemeinen beobachten, da sich die Arbeitszeit in ständiger Aushandlung befindet. Auch der Grad der zeitlichen Verdichtung und Beschleunigung von Tätigkeiten ist betroffen. Somit entsteht Arbeit ohne feste Arbeitszeiten, eine freie Selbstgestaltung des Arbeitszeitraums, wie auch Wochenendarbeit. Es kommt zu einer stetigen Verwischung und Überlappung zwischen der beiden Sphären, da die Arbeitszeit die Lebenssphäre stark beeinflusst.

2.2.2. Die Dimension des Raumes

Innerhalb der Dimension des Raums beschreibt Voß den Raum als Ort, an dem die Arbeit ausgeübt wird. Wo früher noch eine starke Abgrenzung zwischen Arbeitsort und Wohnort bestand, da sich die Arbeit generell an einem vorgegebenen festen, meist innerbetrieblichen Ort befand, löst sich die Bindung der Arbeit an feste Orte auf. Gründe nennt Voß dafür verschiedene: „[…] sei es um (Raum-) Kosten zu sparen, um Arbeitskraft flexibel und näher an den Ort von Leistungen und Leistungsabnehmern heranzuführen oder um die Motivation von Beschäftigten zu stärken“ (Voß 1998, 475). Die Arbeitskraft kann direkt bei den Kunden arbeiten oder sich für eine andere Alternative wie einen Coworking Space oder ein Homeoffice entscheiden. Beim letzteren wird die bisher an einem betrieblichen Ort verrichtete Arbeit in private Räumlichkeiten verschoben. Vor Allem durch die Digitalisierung ist der Zugriff auf Firmendaten von überall möglich und führt zu einer Pluralität des Ortes. Durch das lösen der Bindung an einen festen Arbeitsplatz verwischen die lokalen Begrenzungen zur Nicht-Arbeit, privaten Räumlichkeiten werden als Arbeitsort integriert.

2.2.3. Die Dimension der Hilfsmittel und der Technik

Auch im Bereich der Nutzung von Arbeitsmitteln zeigt sich eine ausgeprägte Flexibilität. Aufgrund der Technologisierung verändern sich die genutzten Geräte am Arbeitsplatz schnell, wie auch deren konkrete Nutzung. EDV- und Kommunikationssysteme werden entstandardisiert, wodurch die Arbeitskraft mit einer Gestaltungsanforderung konfrontiert wird. Geräte, die nur noch eine Funktion haben oder immer auf dieselbe Weise verwendet werden, verschwinden zunehmend oder werden ersetzt mit einer Technologie, die flexibel genutzt werden kann. Des Weiteren wird die Entgrenzung in dieser Sozialdimension gefördert durch den Einsatz von Geräten während der Arbeit und im Privatleben wie zum Beispiel das Mobiltelefon oder der Laptop. So führt die raum-zeitliche Entgrenzung dazu, dass der private Laptop auch als Arbeitslaptop, das vom Unternehmen gestellte Diensthandy auch als privates Handy genutzt wird usw. Die Nutzung verläuft zunehmend fließend zwischen Privat und Arbeit.

2.2.4. Die Dimension des Arbeitsinhalts und der Qualifikation

Innerhalb der Dimension des Arbeitsinhaltes und der Qualifikation verweist Voß (1998) darauf, dass die Arbeitskräfte heute fachlich zunehmend flexibel sein müssen. Wo früher noch eine feste Tätigkeit bei der Arbeit zugeschrieben wurde und es kaum Arbeitswechsel gab, muss die Arbeitskraft im Gegensatz zu früher sowohl im betrieblichen Einsatz als auch auf dem Arbeitsmarkt im Allgemeinen Bereitschaft für Mobilität und den Erwerb von fachübergreifende Qualifikationen zeigen. Die bereits erworbenen Qualifikationen sind einer kontinuierlichen Entwertung ausgesetzt, wodurch die Arbeitskraft gezwungen ist, sich an Veränderungen permanent anzupassen und sich weiterzubilden. Um Sicherheit am Arbeitsmarkt zu erlangen, ist nicht mehr eine berufliche Standardisierung von spezifischen fachlichen Fähigkeiten erforderlich, sondern maximale fachliche Dynamik und eine gute allgemeine Meta-Fähigkeit. Durch den Umstand, dass die Arbeitskraft ständig versucht sich weiterzubilden und an sich selbst zu arbeiten, bedeutet dies für sie auch stetige Arbeit. Es wird Aktivitäten mit einem unklaren inhaltlichen Status nachgegangen, wodurch die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben immer stärker verschwimmen. Der private Kontakt zu KollegInnen, geschäftliche Essen und Sozialevents, Bildungsaktivitäten und die Vor- und Nachbereitung von Tätigkeiten nehmen immer mehr Zeit und einen wachsenden Raum in Anspruch.

2.2.5. Die Dimension der Sozialorganisation

Dass es auch zur Entgrenzung in der Dimension der Sozialorganisation kommt, führt Voß auf die veränderten Arbeitsstrukturen zurück. Beispiele dafür sind Gruppenarbeit, Projektarbeit, Heimarbeit oder Teamarbeit. Meistens organisieren sich die Teammitglieder untereinander selbst und verteilen Aufgaben ohne Einfluss eines/einer außenstehenden ArbeitgeberIn. Die Auslöser dafür sind unter anderem Strategien einer betrieblichen Dezentralisierung und eine Ausdünnung der Hierarchien. Bei Projektarbeiten kommt es zu häufigen Kollegen- wie auch Vorgesetztenwechseln, bei einem Homeoffice erfolgt die Zusammenarbeit meist in der virtuellen Welt und persönlicher Kontakt verliert an Wert. Durch die neuen Arbeitsformen, wie auch der dabei eingesetzte Führungsstil, wie zum Beispiel Führung durch Begeisterung, kann es zu einer massiven Überschneidung zwischen privaten Normen und dienstlichen Sozialregeln kommen. Auch wenn Personen aus dem privaten Bereich mit in die Arbeit involviert werden, wenn zum Beispiel der/die LebenspartnerIn bei bestimmten Berufsfragen konsultiert oder bei praktischer Hilfe auf FreundInnen und Verwandte zurückgegriffen wird, entsteht eine Unschärfe bei der genauen sozialen Zuordnung von Personen. Eine klare Unterscheidung zwischen privaten und beruflichen Verhalten ist nicht mehr möglich und es entstehen Mischformen sozialen Kontakts.

2.2.6. Die Dimension des Sinns und der Motivation

Wie auch bei allen anderen Sozialdimensionen verschwimmen bei entgrenzter Arbeitsstruktur im Bereich Sinn und Motivation die Grenzen. Die Unternehmen gehen bei flexibilisierten Arbeitsformen nicht mehr davon aus, dass die Motivationen und Werte aller Arbeitskräfte gleich sind. Dies spiegelt sich in ihrer Personalpolitik wieder, indem sie auf breit gestreute Wünsche näher eingehen. Eine differentielle Unternehmenskultur besteht nicht mehr auf eine feste Zielsetzungen der Arbeitskräfte, sondern empfiehlt laut Voß eine „strategische Zurückhaltung, um die Fähigkeiten zur Eigenmotivierung und selbständigen Sinnsetzung der Arbeitskräfte zu nutzen“ (Voß 1998, 475). Die Personal- und Unternehmenspolitik möchte durch kooperative Führungsphilosophien bei der Arbeitskraft eine sinnhafte Identifikation mit der Firma erreichen, da diese bei entgrenzten Arbeitsstrukturen eine wesentlich stärkere Rolle spielt als Einkommens- und Karrieremotive. Durch die emotionale Bindung mit der Unternehmenskultur, wie auch soziale und politische Ziele, ist keine eindeutige Zuordnung zu Privatleben und Beruf mehr möglich. Das Verschwimmen der Grenzen, das zum Teil durch Unternehmen explizit gefördert wird, führt zu einer Transformation von Berufssphäre zu einer Lebenssphäre und das ehemalige Privatleben rückt zugunsten der Erwerbstätigkeit in den Hintergrund.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass es in den von Voß beschriebenen sechs Sozialdimensionen zu einer Entgrenzung von Arbeits- und Lebensverhältnissen kommt. Diese Veränderungen sind ein Indiz für eine erstaunliche, historische Entwicklung von einer klaren Abgrenzung der Arbeits- und Lebenssphäre zu einer tendenziellen Abweichung der Grenzen. Galt zu Zeiten des Fordismus die zeitliche, räumliche, sachliche, mediale, soziale und sinnhafte Trennung von Arbeit und Leben noch als irreversibles Strukturmerkmal des industriellen Arbeits- und Sozialverhältnisses, scheinen sich heute Abweichungen und Neuformierungen dieser ehemaligen, als unabänderlichen gedachten gesellschaftlichen Muster anzudeuten. Manche mögen diese Abweichungen an vorindustrielle Arbeits- und Lebensverhältnisse erinnern, Voß sieht darin aber „ganz offensichtlich Vorboten zukünftiger Arbeits- und Existenzformen“ (Voß 1998, 480). Allerdings muss berücksichtigt werden, dass diese Abweichungen nicht bei allen Arbeitsstrukturen zutreffen. Ausnahmen und gegenläufige Tendenzen bestimmen nach wie vor „[…] in ländlichen Regionen, aber auch im traditionalen städtischen Arbeiter- und Kleinbürgermilieu den Alltag vieler Menschen“ (Voß 1998, 482).

2.3. Die erneute Begrenzung als Folge der Entgrenzung von Arbeit

Das Verwischen der Grenzen zwischen Arbeit und Leben hat auf die einzelnen Sozialdimensionen unterschiedliche Konsequenzen. Die Entgrenzung der Arbeitsverhältnisse stellt an die Betroffenen bezüglich des unmittelbaren Arbeitshandelns und somit auch der Lebensgestaltung vielfältige Anforderungen. Nach der Strukturationstheorie des britischen Soziologen Anthony Giddens haben soziale Verhältnisse bzw. gesellschaftliche Regulierungen handlungstheoretisch betrachtet eine systematische „duale“ Funktion (Giddens 1984). Das bedeutet, dass sie einerseits als soziale Strukturen das Handeln und somit auch die Entfaltungsmöglichkeiten einer Person begrenzen und kanalisieren. Andererseits ermöglichen genau diese Regulierungen auch aufgrund der Kanalisierung das Handeln und Kooperieren, da der potentielle Handlungskosmos eines jeden auf eine bewältigende Menge begrenzt wird. Kommt es nun zu einer Entgrenzung der Arbeitsverhältnisse und bisherige Grenzen werden verdünnt bzw. aufgelöst, entsteht ein Giddens´sches Dualitätsproblem: Zwar führt die Entgrenzung der Arbeitsverhältnisse zur Abnahme von bisher als behindernd empfundenen Beschränkungen, allerdings geht dadurch auch bisher hilfreiche Orientierungen verloren (Voß 1998). Altbewährtes wird in Frage gestellt und das ständig Neuüberdenken von bisheriger Gewissheit wird zu einer Leitidee wie auch zu einer alltäglichen Herausforderung. Dabei sind alle Sozialdimensionen betroffen. In der Dimension der Zeit zum Beispiel müssen sich nun die hochflexibel arbeitenden Berufsgruppen angesichts der fehlenden vorgegebenen Zeitstruktur der Herausforderung stellen, eine Stabilität der Lebensführung zu schaffen und gleichzeitig eine Flexibilität für die wechselnden Anforderungen zu behalten:

„Entscheidungen müssen getroffen werden. Um so weniger äußere stabilisierende Rahmenbedingungen der Lebensführung vorhanden sind, um so mehr müssen die Menschen die Stabilität aktiv selbst herstellen. Unter diesen Bedingungen wird die Organisation des Alltags zu einer Leistung eigener Art“ (Jurczyk 1993, 255) .

Das Verdünnen betrieblicher und lebensweltlicher Grenzen ermöglicht somit eine stärkere Selbstorganisation und Eigenstrukturierung, macht diese aber auch zu einer Notwendigkeit (Koschel 2014). Von den Arbeitskräften wird ein hohes Maß an Flexibilität und Individualisierung gefordert. Aus dieser Konsequenz muss Arbeit stärker aktiv formiert werden und die betroffenen Subjekte werden selbst als Subjekte gefordert. Laut Voß und Gottschall steht die Entgrenzung in enger Verbindung mit der Subjektivierung der Arbeit:

„Entgrenzung von Arbeit setzt Subjektivität in und für Arbeit frei – in all der damit verbundenen Ambivalenz und mit all den daraus entstehenden (sozial höchst unterschiedlich verteilten) neuen Anforderungen, Belastungen, Chancen und Gefahren“ (Gottschall und Voß 2005, 19) .

Um mit den Konsequenzen der Entgrenzung umgehen und die eigene Arbeitskraft effizient nutzen zu können, muss der/die entgrenzte ArbeitsnehmerIn selbst geeignete Strukturen für sich schaffen – er muss sozusagen als selbst kontrollierender und ökonomisierender „Arbeitskraftunternehmer“ handeln (Pongratz und Voß 2003). Als dieser schafft er erneute gezielte Be-Grenzungen der erweiterten, entgrenzten Optionen.

3. Charakteristika des Untersuchungsfeldes

In den nachfolgenden Kapiteln wird näher auf die Charakteristika des Untersuchungsfeldes eingegangen. Zunächst kommt es zu einer Darstellung des Phänomens Coworking, um dann anschließend vertiefend in den Aufbau eines Coworking Spaces und dessen Zielgruppe näher einzugehen. Das letzte Unterkapitel beschäftigt sich mit dem Untersuchungsfeld Coworkation. Innerhalb dieser Charakteristika werden im anwendungsorientierten Teil Entgrenzungserscheinungen und Begrenzungsstrategien erforscht.

3.1. Coworking – eine erste Betrachtung

Die in den letzten Jahrzehnten entstandene Entgrenzung der Arbeit und zunehmende Flexibilisierung führte zu neuen Lebensformen, die wiederum neue Arbeitsformen verlangten – eine davon ist Coworking. Auch wenn das Ausmaß der Entgrenzung noch nicht deutlich ersichtlich ist, so kann doch festgestellt werden, dass die Merkmale entgrenzter Arbeit auf die Arbeitssituation der Menschen, die Coworking nutzen, größtenteils zutreffen. Dem Wortlaut nach bedeutet Coworking „zusammen arbeiten“ und ist vor allem durch Flexibilität gekennzeichnet.

[...]

Ende der Leseprobe aus 118 Seiten

Details

Titel
Coworkation. Vollkommene Entgrenzung?
Untertitel
Flexibilisierung und Begrenzungsstrategien
Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Note
1,7
Autor
Jahr
2017
Seiten
118
Katalognummer
V427376
ISBN (eBook)
9783668714014
ISBN (Buch)
9783668714021
Dateigröße
1062 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
coworkation, vollkommene, entgrenzung, flexibilisierung, begrenzungsstrategien
Arbeit zitieren
Kristin Jost (Autor:in), 2017, Coworkation. Vollkommene Entgrenzung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/427376

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Im eBook lesen
Titel: Coworkation. Vollkommene Entgrenzung?



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden