Zu E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann". Erzähltheoretische Darstellung der Clara


Hausarbeit, 2018

16 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Figur der Clara

3 Erzählstruktur

4 Erzählstimme
4.1 Zeitpunkt des Erzählens
4.2 Ort des Erzählens
4.3 Clara aus der Perspektive Nathanaels
4.4 Claras Selbstdarstellung
4.5 Stellung des Erzählers

5 Modus
5.1 Distanz
5.2 Fokalisierung

6 Raum

7 Zeit
7.1 Ordnung
7.2 Dauer
7.3 Frequenz

8 Bedeutung Claras im Gesamtgeschehen

9 Ausblick

10 Literaturverzeichnis
10.1 Primärliteratur
10.2 Sekundärliteratur

1 Einleitung

Die Aufklärung hatte die Erhellung des Menschen durch dessen Vernunft zum großen Ziele erklärt, doch nach den Schrecken der Französischen Revolution wendeten sich viele Maler, Philosophen und Schriftsteller ab von Logik und Vernunft und stattdessen dem Inneren des Menschen zu. Der tiefe Blick in die menschliche Seele förderte viel Schauderhaftes zu tage, viel Unerklärliches und Unbewältigtes. Ein literarisches Beispiel für dieses Phänomen ist die Erzählung Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann. Sie erschien 1817 als erster Band des zweiteiligen Zyklus Nachtstücke und wurde von Hoffmann nach eigenen Angaben in der Nacht des 16.11.1815 niedergeschrieben.[1] Der Sandmann entstand in einer Zeit, die später Epoche der Schwarzen Romantik genannt wurde. Der Sandmann lässt sich nicht eindeutig einer literarischen Gattung zuordnen, er wird u. a. als Künstlernovelle, Schicksalsnovelle oder auch als Schauermärchen deklariert.[2] Hoffmann selbst hat die Erzählung nie explizit als Novelle bezeichnet.[3] Ursula Orlowsky sieht als Adressaten „die bürgerliche Familie um 1815, die sich im Text vollständig re-präsentiert findet“.[4] Schon zur Zeit seiner Entstehung wirkte Der Sandmann ambivalent[5] und ist bis heute Gegenstand zahlreicher hermeneutischer und erzähltheoretischer Diskussionen geblieben. Ziel der folgenden Arbeit ist es nicht, die „Vieldeutigkeit“[6] der Erzählung zu erfassen, sondern erzähltheoretische Eigenheiten des Sandmanns aufzuzeigen. Dabei wird insbesondere die erzähltheoretische Darstellung der Figur der Clara herausgearbeitet und sie unter den Aspekten Erzählstruktur, Erzählstimme, Modus, Raum und Zeit genauer betrachtet. Um das Bild abzurunden, wird schließlich kurz auf die Bedeutung Claras im Gesamtgeschehen eingegangen.

2 Die Figur der Clara

Clara als Verlobte der Hauptfigur Nathanael (vgl. S.19, Z.35 ff.), nimmt in der Erzählung eine zentrale Position ein. An Nathanaels Seite erfährt und erlebt sie die Geschehnisse, seine Gemütswandlungen und letztlich seinen Tod. Wie typisch für Hoffmann, gibt bereits die Wahl des Namens Clara – nomen est omen![7] – eine Vordeutung auf ihre Rolle in der Erzählung.[8]

3 Erzählstruktur

Der Sandmann wird durch zwei Erzählebenen strukturiert: Einerseits durch drei Briefe und andererseits durch jene Einschübe eines Erzählers, die in einer Rückschau weitere Informationen zu den Ereignissen liefern, kommentieren und reflektieren. Es gibt einerseits die Ich-Erzählungen Nathanaels und Claras und andererseits die des Erzählers, der seine Erzählung zwei Mal mit direkter Leseransprache unterbricht. Ebenso umfangreich ist die, überwiegend in der zweiten Hälfte der Erzählung vorkommende, Er-Erzählsituation. „3/8 der gesamten Novelle nehmen die Briefe ein, 4/8 die Erzählung nach der Leseransprache“[9], so Ursula Orlowsky. Eine weitere Besonderheit sind mehrere Rahmungen innerhalb der Erzählung. Der Sandmann ist ein Beispiel für mehrfach „eingeschachtelte Narration“[10]. Die Rahmenerzählung beinhaltet u.a. die Briefe als Binnenerzählung. Der erste Brief Nathanaels enthält eine weitere Binnenerzählung – Rückblick auf die Kindheit (vgl. S.4, Z.13 ff.) – und muss somit in dieser Relation selbst als Rahmenerzählung gesehen werden. Innerhalb der Rahmenerzählung des Erzählers gibt es weitere Binnenerzählungen, z.B. den Rückblick auf Claras und Nathanaels Kennenlernen (vgl. S.19, Z.30 ff.). Der Sandmann beginnt ohne zusätzliche Einleitung mit einem Brief Nathanaels an Lothar, in dem diejenigen Personen vorgestellt werden, die in der Erzählung von Bedeutung sind. Dieser Brief enthält Elemente der Exposition, ebenso wie der später folgende Erzählerexkurs (S.17 ff.). Unmittelbar wird der Leser durch einen Medias-In-Res-Einstieg in die Erzählhandlung versetzt. Durch den prompten Anfang erlebt der Leser zeitgleich mit dem Protagonisten dessen Gefühlswallungen und erhält sofort Einblick in die Beziehung Nathanaels zu Clara.

4 Erzählstimme

Die Figur der Clara wird polyperspektivisch beleuchtet. Der Leser lernt sie aus drei Blickwinkeln kennen: Aus der Ich-Erzählung Nathanaels im ersten Brief, aus ihrer eigenen Äußerung und Selbstdarstellung in Ich-Form im zweiten Brief und zuletzt aus Sicht des Erzählers, der sich über Clara direkt und narrativ äußert, wenn er sie in der Handlung darstellt.

4.1 Zeitpunkt des Erzählens

Der Leser wird in eine Handlung versetzt, die ihm als gegenwärtig erscheinen muss. Gemeinsam mit Nathanael erlebt er dessen Ängste, gemeinsam mit Clara erfährt er davon. Erst durch den späteren Erzählereinschub wird deutlich, dass die Ereignisse nicht gegenwärtig stattfinden, sondern rückblickend geschildert werden.

4.2 Ort des Erzählens

Die Erzählung findet zunächst auf intradiegetischer und in der Folge auf extradiegetischer Ebene statt. Im ersten Brief wird Nathanael zum sekundären Erzähler, wenn er rückblickend über seine Kindheitserinnerungen spricht. So steht eine intradiegetische Binnenerzählung im ersten Brief der extradiegetischen Erzählung gegenüber. Wenn der Erzähler selbst zu Wort kommt, wechselt der Ort des Erzählens auf die extradiegetische Ebene. Die Besonderheit dieser Erzählung Hoffmanns liegt in der Tatsache, dass der Erzähler sich nicht auf diese extradiegetische Ebene beschränkt, sondern aus seiner Erzählung heraustritt und den Leser in der Ich-Form anspricht. Dabei wird er selbst zur Figur einer weiteren Nebenhandlung, nämlich der der Entstehung und Herausgabe der Erzählung. Die Verknüpfung beider Ebenen erfolgt konsekutiv, die Handlung wird vom Erzähler zwei Mal unterbrochen.

4.3 Clara aus der Perspektive Nathanaels

Im ersten Brief wird die figurale Perspektive Nathanaels präsentiert und der Leser erhält aus dessen Sicht Informationen über Clara. Bereits im zweiten Satz wird Clara erwähnt und emotional beschrieben. Als erste Figur, die dem Leser nach Nathanael begegnet, erhält sie einen besonderen Stellenwert im Geschehen. Das wird dem Leser während des ersten Briefes eindringlich vor Augen geführt: Im Kontrast zur unheilverkündenden, düsteren Stimmung des gesamten Briefes wirken die Passagen, die Clara betreffen, heiter und freundlich. Für Nathanael ist Clara eine „freundliche Gestalt“ (S.3, Z.9), die ihn „mit ihren hellen Augen so anmutig“ (S.3, Z.10) anzulächeln pflegte. Aber nicht nur Claras Aussehen wird dem Leser beschrieben, er lernt auch – aus Nathanaels Sicht – ihren Charakter kennen, denn Nathanael vermutet, dass seine Ängste und Befürchtungen von Clara für „rechte Kindereien“ (S.4, Z.8) gehalten werden. Aus seiner Sicht erscheint Clara bodenständig und rational, lebenszugewandt und praktisch veranlagt. Neben Nathanaels „dunkle[n] Ahnungen“ (S.3, Z.15) und der daraus schon zu Beginn entstehenden bedrohlichen Atmosphäre, trifft der Leser mit Clara zugleich auf einen hellen Orientierungspunkt. So entsteht eine „Verbundenheit, die den Beginn der Identifizierung des Lesers mit Clara markiert“.[11] Die figurale Perspektive Nathanaels auf Clara ist nicht starr. Sie unterliegt Veränderungen und Schwankungen. Bereits im nächsten Brief äußert er Missfallen und Kritik an Claras Rationalität (vgl. S.17, Z.27 ff.). Claras Worte hinterlassen bei ihm eine „Verstimmung“ (S.17, Z.27 f.) und sein „süßes liebes Engelsbild“ (S.17, Z.26) ist erschüttert. Nathanael und Clara entfernen sich voneinander. Das zeigt die, vom Erzähler in der Er-Form geschilderte Szene, wenn Clara auf Nathanaels hoch emotionale, verstörende Dichtung ernst reagiert und ihn auffordert, das „tolle – unsinnige – wahnsinnige Märchen ins Feuer“ (S.25, Z.1 f.) zu werfen. In Nathanaels Augen erscheint Clara hier kalt und leblos (vgl. S.25, Z.2 ff.). Der Leser verfolgt diese Entwicklung und sieht mit Nathanaels Augen, wie eine andere Seite der „holde[n] Clara“ (S.25, Z.36) beleuchtet wird. Zugleich wirkt Clara als eine Art Brücke zum Leser, die verhindert, dass der Leser abgleitet in Nathanaels Wahnwelt. Doch Clara steht nicht gänzlich außerhalb von Nathanaels Wahn. „Es ist der Tod, der mit Claras Augen ihn freundlich anschaut“ (S.23, Z.37 ff.), dichtet Nathanael und erkennt, dass nichts so ist, wie es scheint. Spätestens hier stellt sich auch der Leser die Frage, ob Clara ausschließlich so freundlich und anmutig sei, wie sie bisher dargestellt wurde.

4.4 Clara Selbstdarstellung

Mit dem zweiten Brief wechselt die figurale Perspektive. Sofort wird dem Leser eine Gemeinsamkeit mit Clara bewusst: Beide, Leser und Clara, haben Nathanaels Brief an Lothar unerlaubt gelesen. Jetzt ist es Clara selbst, die sich dem Leser vorstellt und ihr Wesen und ihre Denkweise offenbart. Außer diesem Brief gibt es keine weiteren Passagen, in denen sich Clara direkt in der Ich-Form äußert. Sie tritt zunächst als mitfühlende, emotionale und sensible Verlobte auf, die der Brief Nathanaels „tief erschütterte“ (S.13, Z.3) und ihr eine schlaflose Nacht bereitete (vgl. S.13, Z.15 ff.). Doch schnell findet sie ihr seelisches Gleichgewicht wieder und gesteht, dass es ihr inzwischen wieder leicht fällt, „ganz heitern unbefangenen Sinnes“ (S.13, Z.21) zu sein. Hier decken sich Nathanaels anfängliche Sicht auf Clara und ihre Selbstdarstellung. Sofort empfindet der Leser Sympathie für Nathanaels Verlobte, die voller Empathie auf den versehentlich gelesenen Brief reagiert. Nicht allein durch die Ansprache „mein Inniggeliebter“ (S.13, Z.19) entsteht das Bild einer liebevollen Bindung. Als junge Frau mit gesundem Menschenverstand sieht sie „alles Entsetzliche und Schreckliche“ (S.13, Z.24) nur als Produkte seinen kranken Gemüts. Sie bietet damit sowohl Nathanael als auch dem Leser eine Orientierungshilfe und logische Erklärung. Marion Bönnighausen geht sogar so weit, „die psychologische Sichtweise Claras“[12] als „ein Mittel der aufklärerischen Vernunft“[13] zu bezeichnen. Auch Bönnighausen erkennt aber an, dass Claras „hohe[s] Maß an Einfühlungsvermögen […] das Bild ihrer ausschließlichen Vernünftigkeit [relativiert]“.[14] Sicher ist, dass Clara aus erzähltheoretischer Sicht einen Gegenpol zu Nathanael darstellt: Im Vergleich zum verstörenden Brief Nathanaels, bietet Claras Schreiben dem Leser eine klare Sicht auf das Geschehen und verstärkt so das Gefühl der Verbundenheit. Clara – „die Helle“[15] – antizipiert sogar Nathanaels missmutige Reaktion auf ihr psychologisches Erklärungsbemühen, indem sie schreibt „du wirst sagen: in dies kalte Gemüt dringt kein Strahl des Geheimnisvollen“ (S.14, Z.13 f.). Sie offenbart, dass sie weiß, wie Nathanael sie sieht und dass ihre Reaktion diesem Bild nicht entspricht.

4.5 Stellung des Erzählers

Bemerkenswert an der Erzählung Der Sandmann ist die Tatsache, dass es einen Erzähler gibt, der in direkten Kontakt mit dem Leser tritt, sich selbst vorstellt, das Geschehen kommentiert und erzählt. Erst nachdem der Leser die figuralen Perspektiven Nathanaels und Claras kennengelernt hat, schaltet sich retrospektiv auf Seite 17 der extradiegetische Erzähler selbst ein. Der folgende Erzählerexkurs ist in semantische Absätze gegliedert, die den Leser zunächst über die Entstehung der Erzählung, dann über den Hintergrund der Verlobten und zuletzt über Clara näher ins Bilde setzen. Durch den Wechsel von Briefform zu Erzählerexkurs entsteht eine deskriptive Pause. Diese Metalepse baut eine gewisse Spannung auf. Bei der ersten Unterbrechung erwartet der Leser sofort eine allwissende Instanz, die ihm Erklärungen liefert. Stattdessen wird er aus den Geschehnissen herausgerissen und auf eine andere Ebene versetzt – eine Art Metaebene, nämlich die der Entstehung der Erzählung. Das Leserbedürfnis nach Erklärungen zu den seltsamen Vorfällen in Nathanaels Leben wird nicht befriedigt, was sicher in der Intention des Erzählers liegt. So wird Spannung erzeugt und Neugier auf das weitere Geschehen geweckt. Der extradiegetisch-heterodiegetische Erzähler ist an der Handlung zwar selbst nicht beteiligt, versichert aber, ein Freund sowohl Lothars (S.19, Z.18) als auch des Protagonisten (S.17, Z.33) gewesen zu sein, und also das Geschehen aus erster Hand berichten zu können. So impliziert er die Echtheit der Briefe. Er gibt sich selbst als Herausgeber aus, den es „trieb […], von Nathanaels verhängnisvollem Leben“ (S.18, Z.36 f.) zu berichten. Er spiegelt Authentizität vor, die der Leser zunächst hinnehmen und glauben muss. Je näher der Leser den Erzähler kennenlernt, desto mehr Widersprüche ergeben sich allerdings. Der Erzähler erwähnt, dass Lothar ihm die Briefe „gütigst mitteilte“ (S.19, Z.19). Das suggeriert dokumentarische Sachlichkeit. Aber mitteilen heißt nicht aushändigen, und spätestens, wenn der Erzähler einräumt, in die Erzählung „immer mehr und mehr Farbe hineinzutragen“ (S.19, Z.20 f.), kommen Zweifel an einer unverfälschten Schilderung des Geschehens auf. Wenn der Erzähler die verschiedenen erwogenen Anfangsmöglichkeiten reflektiert, wird dem Leser deren Widersprüchlichkeit sofort bewusst. Der Erzähler führt an, u.a. einen Medias-In-Res-Einstieg (S.19, Z.9) verworfen zu haben, obwohl er mit den drei vorangestellten Briefen genau solch einen Einstieg gewählt hat. Die Tatsache, dass der Erzähler zudem sowohl einen märchenhaften Einstieg als auch einen objektiv berichtenden Einstieg in Erwägung gezogen hatte, verstärkt den Zweifel an der Authentizität der Erzählung. Das lässt den Leser kurz innehalten und die Erzählerintention der Handlungsverzögerung und des Spannungsaufbaus scheint durch. Die fehlende Anrede in den Briefen und die abgekürzte Abschiedsformel der drei Briefe sind ein weiteres Indiz für zumindest teilweise Fiktion (vgl. S.12, Z.20, S.16, Z.3, S.17, Z.31). Clara spricht in ihrem Brief davon, dass sie erst an der Stelle „Ach mein herzlieber Lothar!“ (S.12, Z.28 f.) gewahr wurde, dass der Brief Nathanaels an ihren Bruder gerichtet war. Der Leser sucht diese Textstelle vergebens. Erst jetzt erhält der Leser einige Hintergrundinformationen zu den Hauptfiguren. Der Erzähler gibt Einblick in das Kennenlernen Claras und Nathanaels, ihre „heftige Zuneigung“ (S.19, Z.36) zueinander und erwähnt ihre Verlobung (vgl. S.19, Z.30 ff.). Er setzt die vorangegangenen Briefe in einen Kontext. Direkt spricht der Erzähler davon, dem Leser „gleich anfangs“ (S.19, Z.30) dieses Wissen mitzuteilen und konterkariert so den gewählten Medias-In-Res-Einstieg, der den Leser ohne Vorwarnung mitten ins Geschehen versetzt hat. Der Erzähler retardiert die Fortsetzung der Geschichte weiter, da ihm „in dem Augenblick […] Claras Bild so lebendig […] vor Augen“ (S.20, Z.5 ff.) steht und er „nicht wegschauen kann“ (S.20, Z.7), wenn sie ihn „hold lächelnd anblickte“ (S.20, Z.8). Er erinnert sich an ihr Lächeln und will so authentisch wirken. Sie rückt in seinen Fokus und er widmet ihr mehr als eine Seite seiner Ausführungen (vgl. S.20 f.). Auffallend ist hier der Tempuswechsel ins Präsens, der dem Leser unerwartet in die Gegenwart versetzt. Zunächst bleibt das durchaus positive Bild Claras gewahrt, das durch Nathanaels und Claras eigenen Brief geschaffen wurde. Es folgt eine Beschreibung von Claras Äußerem. Merkwürdig ist, dass der Erzähler keinen persönlichen Eindruck schildert, sondern Clara durch Dritte beschreiben lässt. Architekten, Maler, Dichter und andere scheinen sich in ihr zu spiegeln. Dieser erste, direkt an den Leser gerichtete Erzählereinschub ist relativ lang, er umfasst annähernd vier Seiten und endet übergangslos und ohne Abschiedsfloskel, allein mit einem Absatz als optischem Marker. Dadurch entsteht ein fließender Übergang von der Ich- zur Er-Form, so dass der Leser den Erzähler noch nicht endgültig verabschiedet hat. Das nutzt der Erzähler für einen weiteren Exkurs ab Seite 38, der nur 1,5 Seiten umfasst und sich von der Er-Erzählung durch einführende und abschließende Gedankenstriche abhebt. Hier wird er erklärend und bietet Hintergrundinformationen an, so dass der Eindruck der Allwissenheit entsteht. Im Kontrast zum ersten Erzählerexkurs zögert diese Unterbrechung die Handlung nicht hinaus, sondern wirkt informativ. Die Erzählung endet mit einem erneuten Eingriff des Erzählers. Nach Gedankenstrich und Absatz gibt er – ohne direkte Leseranrede – einen Blick frei auf Claras Leben nach Nathanaels Tod. Dabei überspringt er die direkt auf den Selbstmord folgenden Jahre und zeigt dem Leser „das ruhige häusliche Glück“ (S.42, Z.23 f.) Claras. Es wird erneut Bezug auf Clara genommen und so die Bedeutung der Figur hervorgehoben. Sie erscheint eng verflochten mit Nathanaels Zustand. Sein Irrsinn kehrt zurück, wenn er Clara durch das Perspektiv erblickt. Das gemeinsame Vorkommen von Wahn und Clara erzeugt eine Art Einheit, die der zuvor geschaffenen Lesererwartung – Clara als einzig mögliche Retterin – entgegenwirkt. Zwischen dem plötzlichen Selbstmord Nathanaels und Claras künftiger häuslicher Idylle entsteht ein Kontrast. Das Bild der glücklichen Clara ist der letzte Eindruck, den der Leser erhält. Die Erzählung ist abgerundet: Hoffmann eröffnet und schließt die Erzählung mit der Präsentation der Clara-Figur als heitere, glückliche und lebensfrohe Person.

[...]


[1] Vgl. Nachwort zu: Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann. Reclam, Stuttgart, 2003, S. 61.

[2] Vgl. Orlowsky, Ursula: Literarische Subversion bei E.T.A. Hoffmann: Nouvelles vom „Sandmann“. In: Hohendahl, Peter Uwe (Hrsg.): Probleme der Dichtung. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Band 20. Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg, 1988, S. 31.

[3] Ebd., S. 41.

[4] Ebd., S. 203.

[5] Vgl. Bönnighausen, Marion: E.T.A. Hoffmann. Der Sandmann/Das Fräulein von Scuderi. In: Bogdal, Klaus-Michael, Kammler, Clemens (Hrsg.): Oldenbourg Interpretationen. Band 93. Oldenbourg Schulbuchverlag, München, 1999, S. 19.

[6] Ebd., S. 9.

[7] Vgl. Deterding, Klaus: E.T.A. Hoffmanns Leben und Werk: Überblick und Einführung. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg, 2010, S. 167.

[8] Vgl. Nachwort zu: Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann. Reclam, Stuttgart, 2003, S.65.

[9] Vgl. Orlowsky, Ursula, S. 90.

[10] Genette, Gérard, zitiert nach: Lahn, Silke, Meister, Jan Christoph: Einführung in die Erzähltextanalyse. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar, 2008, S. 82.

[11] Vgl. Bönnighausen, Marion, S.38.

[12] Vgl. Bönnighausen, Marion, S. 24.

[13] Ebd.

[14] Ebd., S.40.

[15] Vgl. Orlowsky, Ursula, S. 203.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Zu E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann". Erzähltheoretische Darstellung der Clara
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
16
Katalognummer
V427593
ISBN (eBook)
9783668721852
ISBN (Buch)
9783668721869
Dateigröße
540 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
E.T.A. Hoffmann, Sandmann, Clara, Erzähltheorie, Neuere Deutsche Literatur
Arbeit zitieren
Paula Steyer (Autor:in), 2018, Zu E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann". Erzähltheoretische Darstellung der Clara, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/427593

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