Das Problem der Codierung des Erziehungssystems. Zwischen Beschreibung und Rezeption


Bachelorarbeit, 2017

45 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitang

2. Einführung
2.1 Code und Programm
2.2 Aspekte der Untersuchung

3. Luhmann und der Code des Erziehungssystem
3.1 Erste Phase: 1979: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem
3.2 Zweite Phase: 1986-1990
3.2.1 Codierung und Programmierung: Bildung und Selektion im Erziehungssystem (1986)
3.2.2 Weitere Behandlung in der zweiten Phase
3.2.3 Das Verhältnis von Struktur und Reflexionstheorie
3.3 Dritte Phase: 1991-1997
3.3.1 Inhalt
3.3.2 Das Verhältnis von Struktur und Reflexionstheorie
3.4 Vierte Phase: 2002: Das Erziehungssystem der Gesellschaft
3.4.1 Inhalt
3.4.2 Das Verhältnis von Struktur und Reflexionstheorie

4. Mögliche Begründungen der Beobachtungsentwicklung
4.1 Änderung des Beobachtungsgegenstand
4.2 Revidierung der Thesen

5. Interpretation der Entwicklung und Rezeption
5.1 Entwicklung der Beobachtung
5.2 Rezeptionen interpretiert
5.3 Explikation der Schwierigkeiten

6. Fazit

Literaturverzeichnis

Vorwort

Im Verlauf meiner Auseinandersetzung mit Niklas Luhmanns Beschreibung des Erziehungssystems kristallisierte sich ein Interesse für die Frage nach dem Systemcode heraus. Angeregt durch die Lektüre von Aufsätzen der aktuellen, nach-Luhmannschen, Debatte und seines Manuskripts ״Das Erziehungssystem der Gesellschaft“ festigte sich meine Position und eine inhaltliche Wunschvorstellung für meine Arbeit, die systematisch an den aktuellen Diskurs anknüpfen sollte: Mit Luhmann im Rücken eine Kritik am Konzept der pädagogischen Kommunikation nach Kade auszuformulieren.

Bei weiterer Lektüre in verschiedene Richtungen konnte ich jedoch nicht mehr ausblenden, dass die Auslegungen von Luhmanns Standpunkt selbst stark voneinander abwichen und in Folge dessen eine Vereinnahmung Luhmanns in alle Richtungen stattfand und auch argumentativ häufig genutzt wurde. So wurde ich unsicher, widersprachen die Anmerkungen von Rezipienten doch häufig denen im ״Erziehungssystem der Gesellschaft“. Und selbst Kade differenziert mitunter nicht zwischen seiner eigenen Konzeption und der von Luhmann, sondern geht davon aus, dass Luhmann sein Konzept 2002 eingebaut hat, und sieht beide als sich zu einer Konzeption ergänzend an (vgl. u.a. Kade 2007: 87 f.; 2004). Diese Feststellung irritierte mich so stark, dass es mir durch die vielen unterschiedlichen Auslegungen schwer fiel, eine systematische Fragestellung zu bearbeiten. Vielmehr erschien es mir für meine eigene Erkenntnis, aber auch aus bisherigem Mangel einer umfassenden Darstellung notwendig und interessanter, sich streng mit den Texten Luhmanns selbst zu befassen, um von diesen ausgehend das Problem der Codierung und nicht zuletzt das Problem der Rezeption derselben in den Blick zu bekommen. Damit hatte sich mein Interesse verändert: Es ging mir nicht mehr um die Fragen Gibt es einen Code? Wenn ja welchen, und was leistet dieser? Sondern: Was steht tatsächlich bei Luhmann? und: Wie kann es in Bezug auf die Beobachtungen Luhmanns zu solch unterschiedlichen Auslegungen kommen?

Wie an diesen Fragen ersichtlich, kann die entstandene Arbeit letztlich nur als Basis angesehen werden, von der aus eine hier nicht durchgeführte inhaltlich-kritische Auseinandersetzung mit Luhmann erst beginnen kann.

1. Einleitung

Niklas Luhmanns 2002 posthum erschienenes Manuskript ״Das Erziehungssystem der Gesellschaft“ wird nach wie vor von Erziehungswissenschaft und Soziologie intensiv diskutiert. Dieses Werk ist der Schlusspunkt einer Jahrzehnte andauernden Auseinandersetzung Luhmanns mit dem Erziehungssystem und der Erziehungswissenschaft, sowie das letzte Kapitel seiner Theorie der Gesellschaft. Das dort untersuchte Funktionssystem hat sich dabei aber als besonders widerspenstig bezüglich einer systemtheoretischen Beschreibung herausgestellt. Infolgedessen finden sich in Luhmanns Untersuchung über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg immer wieder Revidierungen früherer Thesen.

Die folgende Arbeit befasst sich mit der Entwicklung von Luhmanns Untersuchung eines wichtigen Teiles der systemtheoretischen Semantik: dem Code. Die zugrundeliegende Fragestellung ist dementsprechend in erster Linie eine historische, aber in zweiter Linie auch systematisch fruchtbar zu machen: Denn die Uneinigkeit über die Auslegungen von Luhmanns Bemerkungen zum Thema wirkt auf die systematischen Konzeptionen der Rezipienten mitunter zurück.

Wer heute das Erziehungssystem aus systemtheoretischer Perspektive, oder auch systemtheoretische Bemerkungen über das Erziehungssystem beobachtet, kommt um eine Auseinandersetzung mit den Theorien Luhmanns nicht herum. Dabei ist es unerheblich, ob eine Kritik formuliert werden soll oder seine Beschreibung weiter entwickelt wird. Luhmanns Grundlegungen bestimmen den Diskurs auch heute noch und sind die Basis der Debatte. Einerseits ist dies selbstverständlich, da es sich um die von Luhmann selbst entwickelte Spielart der Systemtheorie handelt. Andererseits ließe sich einwenden, dass man mit seiner abstrakten Theorie natürlich auch in Absehung seiner konkreten Untersuchungen das Erziehungssystem quasi unbeeinflusst beobachten könne. Es kann jedoch beobachtet werden, dass auch dort, wo Systemtheoretiker mitunter stark abweichende Konzeptionen - beispielsweise in Bezug auf den Code des Erziehungssystems - entwickelt haben, dies stets explizit vor dem Hintergrund von Luhmanns Beobachtungen geschieht und nie unabhängig von diesen1. Diese herrschende Praxis macht ein Verständnis von Luhmanns konkreten Beobachtungen damit unumgänglich, um den Diskurs verstehen zu können.

Neben dieser Feststellung zeigt sich, dass die Interpretationen von Luhmanns Beschreibungen stark voneinander abweichen. Nun müssen abweichende Rezeptionen nicht problematisch werden2: Bei systematischen Fragestellungen können revidierte Thesen nicht jedes Mal erneut dargestellt werden, wenn sie keinen argumentativen Mehrwert liefern. Jedoch gewinnt man bei einer Auseinandersetzung mit Luhmanns Rezipienten den Eindruck, dass sowohl die eigene Theoriebildung als auch die Interpretation vom ״Erziehungssystem der Gesellschaft stark beeinflusst sind von der (Nicht-)Berücksichtigung beziehungsweise der Interpretation der Entwicklungsgeschichte der Untersuchung.

Ausgehend von dieser Feststellung unternimmt die folgende Arbeit den Versuch, Luhmanns Bemerkungen zum Code des Erziehungssystems chronologisch darzustellen, um darauf aufbauend mögliche Ursachen für die Problematik der Rezeption, sowie, soweit notwendig, für das Problem an sich zu gewinnen.

Zu diesem Zweck wird zuerst ein Problemaufriss gemacht: Hier wird die Wichtigkeit der Frage anhand einer theoretischen Einführung des Codes erläutert, sowie ein Blick auf die Rezeptionen von Luhmanns Ausführungen zum Thema geworfen (Kap. 2).

Anschließend wird die Entwicklung von Luhmanns Thesen nahe an seinen Texten dargestellt und in vier Phasen eingeteilt. Die Darstellung wird dabei auch unter dem Blickpunkt der Differenz von externer und interner Systembeschreibung untersucht, da eine Vermischung der Ebenen, so die Vermutung, Mitursache für problematische Rezeptionen ist (Kap. 3).

Auf dieser Basis soll untersucht werden, ob die Entwicklung auf eine Änderung des Beobachtungsgegenstands zurückgeführt werden kann, oder in der Beschreibung liegt (Kap. 4).

Zusammenfassend werden daraufhin die bisher erlangten Informationen interpretiert. Anschließend wird die gewonnene Erkenntnis mit den Rezeptionen Luhmanns letzten Werkes verknüpft, um eine Erklärung für die unterschiedlichen Rezeptionen zu entwickeln. Inhaltlich abschließend wird noch einmal zusammengefasst, welche Ursachen der Problematik zu Grunde liegen, insbesondere der Problematik der Rezeption (Kap. 5).

Im Fazit und Ausblick wird abschließend, um mögliche Missverständnisse zu vermeiden, erklärt, was diese Arbeit leisten konnte, und wichtiger: welcher Anspruch nicht an die Arbeit gestellt werden darf.

2. Einführung

2.1 Code und Programm

Spätestens mit der autopoetischen Wende Luhmanns 1984 ist der Begriff Code bzw. Codierung eines der zentralen Elemente seiner Theorie. Auf den folgenden Seiten soll kurz in die Problematik eingeführt werden:

Niklas Luhmann beobachtet in historischer Perspektive eine Umstellung der Gesellschaftsstruktur von stratifikatori scher zur funktionalen Differenzierung. Eine Gesellschaft ist stratifikatori sch differenziert wenn sie ״als Rangordnung repräsentiert wird“ (Luhmann 1998: 679), wie beispielsweise das indische Kastensystem oder die mittelalterlichen und frühmodemen Adelsgesellschaften (vgl. Luhmann 1998: 678-706). Ungefähr im 16. Jahrhundert beginnt die funktionale Differenzierung der Gesellschaft, an deren Abschluss eine Gesellschaft steht, deren Teilsysteme sich ausschließlich anhand ihrer Funktion für das Gesamtsystem von ihrer Umwelt differenzieren: ״Der Gesichtspunkt der Einheit, unter dem eine Differenz von System und Umwelt ausdifferenziert ist, [ist] die Funktion, die das ausdifferenzierte System [...] für das Gesamtsystem erfüllt“ (Luhmann 1998: 745 f). Diese Teilsysteme werden nicht mehr von einem übergeordneten Ganzen organisiert oder sind auf eine Ordnung reduzierbar. Sie Stehen hierarchiefrei und autonom nebeneinander.

Da der einzelne Mensch nun nicht mehr genau einem solchen Funktionssystem zugordnet werden kann, und damit keinem Teilsystem der Gesellschaft angehört, lässt sich nicht sagen, dass die Gesellschaft aus Menschen bestehe. Menschen sind Umwelt der Gesellschaft (vgl. Luhmann 1998: 744). Vielmehr bestehen die einzelnen Systeme, und damit die Gesellschaft, aus Kommunikation.

Die mit der Ausdifferenzierung entstandenen Funktionssysteme sind autopoetisch, das bedeutet, sie produzieren die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst. Diese Elemente sind bei sozialen Systemen eben ihre Operationen, also Kommunikation. Soziale Systeme schließen stets Kommunikation an Kommunikation an und sichern genau dadurch ihr Fortbestehen. Autopoetische Systeme sind operativ geschlossen: Sie können nur ״in sich selbst, über sich selbst oder über ihre Umwelt kommunizieren, [...] aber nie mit ihrer Umwelt“ (Luhmann 1998: 96).3Und zudem gilt für autopoetische Systeme, dass nichts aus der Umwelt determinierend in ein System eingreifen kann, und ebenso ein System nicht in seine Umwelt. Es kann durch seine Umwelt lediglich irritiert werden, wie das irritierte System darauf reagiert, ist von Außen - und auch von Innen - jedoch nicht vorherzusagen.4 Das Erziehungssystem beispielsweise hat den Anspruch, seine Umwelt - die psychischen Systeme seiner Adressaten (z.B. Schüler und Schülerinnen) - gezielt zu verändern, was sich allerdings aus systemtheoretischer Perspektive als unmöglich herausstellt. Die psychischen Systeme können vom Erziehungssystem lediglich irritiert werden und ihre Reaktion kann dann wiederum beobachtet werden, aber niemals vorher determiniert.5

Trotz ihrer Autopoiesis sind soziale Systeme beispielsweise auf ihre Umwelt angewiesen, besipielsweise auf psychische Systeme. Es geht bei Autopoiesis also nicht um absolute Unabhängigkeit von der Umwelt, sondern um die Produktion der Elemente, aus denen das System aufgebaut ist, also beispielsweise Kommunikation. Umweltoffen sind soziale und psychische Systeme darum auch in einer anderen Hinsicht: Ihre ״basale Operation [ist] auf Beobachtung eingestellt“ (Luhmann, 1998: 97). So kann die Umwelt gleichsam im System wirken, genau dann, wenn ein soziales System über seine Umwelt kommuniziert, bzw. ein psychisches System über seine Umwelt nachdenkt.6

״Autonomie ist [also] nicht als Abwesenheit von Beschränkungen, sondern als Form des Umgangs mit Beschränkungen zu verstehen“ (Luhmann/Schorr 1979: 53). Die Form dieses Umgangs definiert gleichzeitig das Funktionssystem, nämlich als spezifische Codierung:

Codes sind stets binär, sie haben also eine Positiv- und eine Negativ-Fassung, wobei die eine Seite durch Negation der anderen erreicht werden kann. Als grundlegender Code kann hier die Sprache genannt werden: Sie bietet für jede Aussage eine Ja- und eine Nein-Fassung an. Codes dienen damit dazu, alle Inhalte der Kommunikation ״mit Hinweis auf andere Möglichkeiten auszustatten“ (Luhmann 2005a: 14), also als kontingent auszuweisen und so an ihrem Gegenwert reflektieren zu können. Dabei kann es keine dritten Werte neben Ja und Nein, neben positiv und negativ geben. Diese Binarisierung erhöht die Wahrscheinlichkeit von Anschlusskommunikation enorm: Die sonst unzähligen Kommunikationsmöglichkeiten werden auf zwei Möglichkeiten reduziert.

Außerdem bezeichnet Luhmann Codes als Duplikationsregeln, ״die es ermöglichen, jedem Item des einen Symbolsystems ein Korrelat in einem anderen zu geben“ (Luhmann 2005a: 13)7. Soziale Systeme können so Items aus ihrer Umwelt den systeminternen Codes korrelieren, andernfalls wäre ein Anschluss im System nicht möglich. Sie beobachten ihre Umwelt also anhand der beiden Codewerte und erzeugen so Informationen. Diese sind ausschließlich systemintern, es findet kein Export aus der Umwelt statt, welche schon Information enthalten würde. So mag die Situation eines Rauchers in einem Restaurant vom Rechtssystem beobachtet als Unrecht gelten, aber vom Gesundheitssystem beobachtet als ungesund. Für beide Systeme kann die jeweils andere Sichtweise auf der Ebene des Codes keine Rolle spielen. Hierbei ist der konstruktivistische Standpunkt wichtig: Es ist nicht so, dass die beiden Systeme eine quasi bereits vorher objektiv gegebene Situation nur anders deuten. Es ist nicht so, dass die Information, dass hier ein Mensch in einer Kneipe raucht, in der Welt gegeben sei, von den Systemen erkannt würde, und daraufhin eine Bewertung anhand des Codes stattfände. Die Systeme bringen mit der Beobachtung ihre Wirklichkeit erst hervor, davor gibt es keine Information. Es kann keine Beobachtung vor der Codierung geben, weil jede Beobachtung die Codierung voraussetzt. Welche Codierung genutzt wird, hängt vom Beobachter ab, im Beispiel hier: krank/gesund bzw. recht/unrecht.

Obgleich die Codes symmetrisch sind, sind es Präferenzcodes. Eine Seite des Codes sichert die Anschlusskommunikation und die andere Seite dient als Reflexionswert. Es kann trotzdem nicht darum gehen, nur die positive Seite zu erreichen. Das System muss beide Werte richtig zuordnen können. Es geht im Wissenschaftssystem beispielsweise nicht darum nur Wahrheit zu finden, sondern auch Unwahrheit zu erkennen.

Über den Code wird also die Einheit eines Systems definiert, indem jener anzeigt, was zum System gehört und was zur Umwelt: Das System besteht eben genau aus der Kommunikation, welche sich anhand des systemspezifischen Codes organisiert. Codes bewirken damit die operative Schließung und sichern Autonomie. Es lässt sich nun in Bezug auf funktionale Differenzierung spezifizieren: ״Die Ausdifferenzierung dieser Systeme wird nicht durch den Einheitsgesichtspunkt der Funktion, sondern durch das Differenzschema eines Codes ausgelöst“ (Luhmann 2005a: 19).

Auf Ebene des Codes findet also kein Kontakt zur Umwelt statt, dazu dienen Programme.

Programme ordnen die Beobachtungen der Umwelt den Codewerten des Systems zu. Die Programme des Rechtssystems ordnen den Kneipenraucher dem Codewert Unrecht zu. Vor wenigen Jahren war dies noch anders, damals hätte das Programm ihn dem Recht zugeordnet. Daran sieht man, dass Programme veränderbar sind, während Codes stabil bleiben. Am Beispiel lässt sich ein weiteres Merkmal zeigen: Durch Programme lassen sich dritte Werte neben den Codes wieder in das System einführen: So kann das Rechtssystem dem Raucher zwar nicht den Wert ungesund zuordnen, diese Beobachtung des Gesundheitssystems wird aber auf Programmebene in das Rechtssystem wieder eingeführt. So sind die Systeme auf Programmebene sensibel für die Umwelt und können auf diese reagieren. Jedoch wieder: Das Gesundheits- oder das Politiksystem kann dem Rechtsystem nicht vorschreiben, ein solches Verbot zu erlassen; jene können dieses nur irritieren und auf eine entsprechende Reaktion hoffen.

Dabei ist die Trennung von Code und Programm unerlässlich: Wird diese unterlaufen und ein Codewert verabsolutiert, lässt sich die Ermöglichung der Anschlusskommunikation und die operative Geschlossenheit nicht mehr in der hier skizzierten Weise beschreiben. Es müssten in diesem Falle alternative Hypothesen aufgestellt werden, andere Formen der Einheit gebildet werden. Erst durch die Trennung von Code und Programm sichern die Systeme ihre Geschlossenheit und Offenheit zugleich.

Codes sind also das bestimmende Element eines Systems. Wenn die systemtheoretische Beschreibung es nicht vollbringt, in einem System Code und Programm zu erkennen - und als getrennt zu erkennen - so ist dies eine erhebliche Schwierigkeit für die gesamte Theoriearchitektur. Die noch aktuellen Zweifel in Bezug auf das Erziehungssystem sind darum von großer theoretischer Wichtigkeit.

2.2 Aspekte der Untersuchung

a) Historisches Erkenntnisinteresse

Motiviert wird die Arbeit durch die Beobachtung, dass Luhmanns Behandlung des Codes des Erziehungssystems in der Sekundärliteratur häufig widersprüchlich dargestellt ist, obgleich man meinen könnte, dass zwar der Code selbst diskutabel ist, auch die zugrunde gelegte Theoriearchitektur, nicht aber die konkreten Beschreibungen Luhmanns. In Bezug auf das Erziehungssystem gibt es aber zu jedem Entwicklungsschritt Rezipienten, die diesen ignorieren oder verabsolutieren, was zu einer kaum zu überblickenden Gemengelage von teils wenig, teils aber auch radikal unterschiedlichen Rezeptionen führt8. Im Folgenden werden einige dargestellt und beispielhaft entsprechende Quellenangaben gemacht.

- Manche Rezipienten gehen nur auf die letzte Bemerkung Luhmanns zum Code ein, und erklären, der Code sei ״vermittelbar/nicht vermittelbar.9

Auf der anderen Seite wird die neueste Entwicklung ignoriert und nur auf ältere Konzeptionen referiert, ohne dies kenntlich zu machen. So geht beispielsweise Merkens (2006: 87 f.) davon aus, dass der Code bei Luhmann der Selektionscode sei10, und baut sich davon abgrenzend seine eigene Konzeption auf. Im Gegensatz dazu erklären Hellmann (2006: 133) und auch (2006: 211), dass bei Luhmann bis zuletzt gar kein Systemcode gefunden worden sei, und dass darin die Besonderheit des Systems bestehe; der Selektionscode sei nicht entscheidend.

Andere Auffassungen erklären, dass erst 2002 bei Luhmann ein Code des Erziehungssystems gefunden worden sei. So wird in Bezug auf frühere Werke Luhmanns Skepsis bzgl. des Codes verabsolutiert.11

- Widersprechend wird an anderer Stelle diese Skepsis ignoriert: Vor 2002 habe es einen Systemcode gegeben - den Selektionscode -, danach jedoch den Code ״vermittelbar/nicht vermittelbar“12(vgl. Z.B. Bellmann/Priddat 2006: 153, mit der Ergänzung, dass Codierung und Programmierung aber nicht zu trennen seien) oder zwei Codes (vgl. Hörster 2005 2002: 134 f). Oder es wird radi к al isiért, dass Luhmann 2002 durch die Revision eines Systemcodes, der die Operationen strukturiere, eine ״grundlegende Revision der Theorie funktionaler Differenzierung“ fände (Benner 2003: 152)

- Wiederum gibt es deutlich differenziertere Bemerkungen, dass ab Mitte der 80er, also mit der autopoetischen Wende, der Selektionscode als Systemcode bezeichnet worden sei. Seit Anfang der 90er sei jedoch der Versuch der Trennung von Codierung und Programmierung aufgegeben worden, obgleich 2002 ein Code gefunden worden sei (vgl. Witte 2003: 398 f).

Insbesondere als aktuell problematisch muss angesehen werden, dass Rezeptionen, welche auf den Code ״vermittelbar/nicht vermittelbar“ von 2002 referieren, nahezu immer unerwähnt lassen, dass Luhmann trotzdem eine Untrennbarkeit von Codierung und Programmierung annimmt. Diese Annahme ist jedoch für das Verständnis unumgänglich, wird sie ignoriert, wird Luhmanns Ansicht völlig falsch verstanden, denn nur wenn Code und Programm getrennt sind, können sie das System in der von Luhmann beschriebenen Weise definieren.

Es sollte mit diesen exemplarischen Auszügen deutlich geworden sein, dass die Rezeptionen zu unterschiedlich sind, als dass sie sich durch unterschiedliche Beobachterperspektiven oder Forschungsinteressen rechtfertigen lassen.

In der vorliegenden Arbeit muss auf der historischen, darstellenden Ebene also aus naheliegenden Gründen auf Sekundärliteratur verzichtet und möglichst nahe am Text gearbeitet werden. Eine umfassende und chronologische Untersuchung der diversen Texte zum Thema wird mit der Erkenntnis notwendig, dass auch in Luhmanns Darstellung selber viele Widersprüche - oder eben zeitlich beobachtet: Entwicklungen - zu finden sind. Erst eine chronologische Untersuchung vermag dabei Entwicklungen, Brüche und Kontinuitäten aufzudecken.

Dieses noch rein historische Erkenntnisinteresse wird ergänzt durch die Feststellung, dass Luhmanns Bemerkungen zum Code im ״Erziehungssystem der Gesellschaft“ stets vor dem Hintergrund seiner früheren Bemerkungen gedeutet werden, da sie nur wenig ausführlich sind. Infolgedessen ist auch die Interpretation des Werkes von 2002 bei den Rezipienten divers, je nach Interpretation der früheren Werke.

b) Systematische Perspektive der Fragestellung Obgleich aufgrund des Umfangs das Hauptaugenmerk der Arbeit auf der Darstellung von Luhmanns Texten liegen muss, ist das Ergebnis der Untersuchung auch systematisch ertragreich, wenn die Rezeption mit in den Blick genommen wird: Mit einer entwicklungsgeschichtlichen Brille lässt sich der Bezug neuerer Konzeptionen zu Luhmann anders betrachten. Solche Konzeptionen, welche sich selbst in der Tradition von Luhmann sehen, können auf ihre Konsistenz mit Luhmanns Entwicklung untersucht werden. Außerdem gilt: Werden Ursachen für die unterschiedlichen Interpretationen gefunden, eröffnet dies die Chance einer anderen Betrachtung sowohl des Problems, als auch der Rezeptionen und weiterführenden Konzepte. Ein Verständnis der verschiedenen Diskurse, mit der Hoffnung, daran anzuknüpfen, ist nur so zu erreichen. Nicht zuletzt kann die historische Problematisierung zeigen, dass die Frage der Codierung des Erziehungssystems nicht als geklärt abgetan werden kann13.

3. Luhmann und der Code des Erziehungssystem

Wie in den meisten Schriften Luhmanns werden in dieser Arbeit explizit zwei verschiedene Sachverhalte untersucht: Zum einen die Bildung bestimmter Strukturen aus externer Beobachtungsperspektive, zum anderen aber die Beobachtung, wie die Reflexionstheorie, hier die Pädagogik, mit diesen Strukturen umgeht. Es wird also einerseits das System in Fremdbeschreibung und andererseits die Selbstbeschreibung beobachtet14.

Als methodische Hilfe wird der Untersuchungszeitraum in vier Phasen eingeteilt: Die erste Phase reicht bis zu autopoetischen Wende 1984. Die zweite, von 1984 bis etwa 1990, zeichnet sich in Bezug auf den Code durch eine strukturelle Übereinstimmung des Erziehungssystems mit den anderen wichtigen Funktionssystemen aus; die dritte Phase ab 1991 hingegen durch eine Differenz derselben. Als letzter Untersuchungszeitraum bleibt das ״Erziehungssystem der Gesellschaft“, welches sich durch die Einführung eines neuen Codes von den vorangegangen differenzieren lässt.15

3.1 Erste Phase: 1979: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem

״Reflexionsprobleme im Erziehungssystem“ ist das erste Werk Luhmanns bezüglich des Erziehungssystems, welches eine hohe Resonanz erfahren hat, auch und insbesondere in der Erziehungswissenschaft. Obwohl es bereits vor der autopoetischen Wende verfasst wurde, ist es im hier vorliegenden Kontext beachtenswert: Es finden sich bereits umfassende Erläuterungen zum Code des Erziehungssystems, oder vielmehr: zum Code der Selektion. Darüber hinaus wird es in der Sekundärliteratur und auch bei Luhmann selbst weiterhin häufig rezipiert, denn die damals von Luhmann und Schorr dargestellten Reflexionsprobleme sind bis heute aktuell16. Nichtdestotrotz muss bei der hier vorliegenden Fragestellung stets die

[...]


1Eine Ausnahme sind Autoren, die Luhmanns Standpunkt als nicht mehr aktuell ansehen und an seinen Anmerkungen nur noch historisches aber kein systematisches Interesse mehr haben.

2Man könnte sagen: Insbesondere in der Systemtheorie als Spielart des Konstruktivismus ist dies möglich, wenn verschiedene Beobachterperspektiven eingenommen werden, die so unterschiedliche Welten konstruieren. Es geht mitunter darum, welches Verhältnis im Zentrum der Untersuchung steht: Das zwischen Organisation und Interaktion, zwischen Organisation und Gesellschaft oder andere.

3Diese Beobachtung kann allerdings nur ein Beobachter zweiter Ordnung, wie in diesem Falle die Soziologie, machen. Innerhalb der Systeme ist ihre operative Geschlossenheit nicht beobachtbar (vgl. Luhmann 1998: 93).

4Es gilt dabei natürlich: Auch die Gedanken können vom Erziehungssystem nicht direkt beobachtet werden. Die interne Operation eines psychischen Systems ist von seiner Umwelt operativ unzugänglich.

5Es sei erwähnt, dass Luhmann die hiervorgestellte Konzeption der Autopoiesis erst 1984 mit der sogenannten ״autopoietischen Wende“ mit Erscheinen seines Buches ״Soziale Systeme“ entwickelt hat. Früher ging er von einem anderen Systembegriff aus, der näher an dem von Parsons liegt (Kneer/Nassehi 1993: 47). Während die ältere Konzeption in diesem Kontext keine Rolle spielt, ist die autopoietische Wende bei der Beobachtung der Codierung des Erziehungssy Sterns im Verlauf Luhmanns Schaffens zu beachten: Denn bereits zuvor wurden von Luhmann und Schorr einige prominente Texte zum Erziehungssystem, sowie insbesondere die ״Reflexionsprobleme im Erziehungssystem“ (1979) verfasst.

6Gedanken sind - analog zu Kommunikation bei sozialen Systemen - die Elemente, aus denen psychische Systeme aufgebaut sind.

7 So Z.B. das ״Morse-Alphabet“, welches als Code dient, jedem Buchstaben des lateinischen Alphabets einen im Morse-Alphabet zuzuordnen. Nicht das Alphabet selbst ist dabei der Code, sondem die übersetzungsregel.

8Es soll hier nicht auf die Profession (Erziehungswissenschaft oder Soziologie) der Rezipienten eingegangen werden, da sich keine nennenswerten Korrelationen feststellen lassen. Insgesamt werden Luhmanns Ausführungen bzgl. des Erziehungssystems breiter und kontroverser in den Erziehungswissenschaften selbst diskutiert. Es ist allein schon deshalb der Anspruch der Arbeit, sich nicht nur innerhalb eines Diskurses unter Soziologen zu bewegen, der durch einen vermeintlichen Bias oder Unvermögen der Erziehungswissenschaftler gerechtfertigt werden könnte.

9Vgl. Z.B. Gaus und Drieschner, welche ohne Quellenverweis vom Code ״lernen/nicht lemen bzw. vermittelbar/nicht vermittelbar“ bei Luhmann sprechen (Gaus/Drieschner 2014: 19).

10Vgl. ebenfalls die diesbezüglichen Bemerkungen bei Brüsemeister (2006: 198 f.). Insbesondere erklärt er explizit, ohne dies plausibel zu machen, dass Luhmann selbst 2002 noch den Selektionscode als den Code des Erziehungssystems ansähe (199).

11Bei von Saldem heißt es, dass Luhmann 1992 erstmalig einen Systeincodc gesucht habe und dabei erkannte, dass ״das Erziehungssystem keine Codes hat“ (von Saldem 2005: 163), was aber 2002 revidiert worden sei. An späterer Stelle wird jedoch bestritten, dass es eine Codiemng des Systems gibt, der sich auf ״Autopoiesis und Kommunikation bezieht“ (von Saldem 2005: 181). Der Code ist also hier vielschichtiger zu betrachten. Zudem spreche Luhmann im Zusammenhang von Codiemng stets nur von sozialer Selektion (vgl. von Saldem 2005: 181 f), verwiesen wird hier auf die ״Reflexionsprobleme“. Hier ist ein Ausblenden der vielen anderen Bemerkungen Luhmanns zum Code besonders heikel, da es sich tatsächlich um eine Darstellung der verschiedenen Werke handeln soll.

12Vgl. dazu auch Gause/Schmidt (1992) welche 1992 die Codiemng des Systems anhand der Selektion kritisch sehen und ihrerseits den Code ״nützlich/unnütz“ bzw. ״geeignet/ungeeignet“ in Bezug auf die Bildungsinhalte Vorschlägen. Damit liegen sie, wenn ihr Vorschlag auch deutlich weniger elaboriert ist, nahe an dem späteren populären Vorschlag von Jochen Kade.

13Anders sieht das Kade (2006: 14).

14Obw ohl diese Trennung nicht immer klar vollzogen wird und möglicherweise Ursache von Fehlinterpretationen ist, wird auch hier auf eine klare Trennung in Form von Unterkapiteln verzichtet. Wird versucht, die eine Seite ohne die andere darzustellen, ergeben sich durch die enge Wechselwirkung der beiden Ebenen zu viele neue Schwierigkeiten. Verständlichkeit und Lesbarkeit werden mit dem Versuch einer strikten Trennung in der Argumentation unmöglich. Da aber eine Trennung in den Endergebnissen durchaus möglich und für die hier vorliegende Fragestellung notwendig ist, wird am Ende jedes Abschnitts eine trennende Zusammenfassung der beiden Beobachtungsperspektiven vorgenommen.

15Diese Einteilung kann dabei kritisch hinterfragt werden, da so der Eindruck erweckt wird, es hätten dazwischen radikale Paradigmenwechsel stattgefunden. Ob die Entwicklung nicht vielmehr eine kontinuierliche ist, ist diskutabel. Die Einteilung ist in erster Linie eine methodisch hilfreiche, die natürlich seine Berechtigung trotzdem im Gegenstand findet. Ontologisch überstrapaziert werden darf sie aber nicht.

16Das ist einleuchtend, wenn man die paradoxalen Ursachen der Reflexionsprobleme zugrunde legt. Es geht, insbesondere aus soziologischer Sicht, mithin nicht darum, ob und wie das Erziehungssystem die Probleme löst. Es geht mehr darum zu beobachten, wie das Erziehungssystem mit den unlösbaren Problemen arbeitet, wie werden sie invisibilisiert oder konstruktiv in die Theorie eingebaut.

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Das Problem der Codierung des Erziehungssystems. Zwischen Beschreibung und Rezeption
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
45
Katalognummer
V438007
ISBN (eBook)
9783668785878
ISBN (Buch)
9783668785885
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Niklas, Luhmann, Soziologie, Systemtheorie, Schule, Erziehungssystem, Code, Besser-schlechter, Kade, Bildung, Erziehung
Arbeit zitieren
Jonathan Leisch (Autor:in), 2017, Das Problem der Codierung des Erziehungssystems. Zwischen Beschreibung und Rezeption, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/438007

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