Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Orientierung am Horizont der Subjektphilosophie
3. Der Konflikt zwischen Jean-Paul Sartre und Michel Foucault
4. Sartres gespaltenes Subjekt
4.1. Das bewusste Subjekt
4.2. Das freie Subjekt
4.3. Das Subjekt des Anderen
5. Foucaults genealogische Subjekte
5.1. Die Subjekte der Erkenntnis
5.2. Die Subjekte der Macht
5.3. Die sich selbst formierenden Subjekte
6. Vergleichende Betrachtung und Annäherung
7. Vorläufige Einschätzung und Ausblick
8. Verzeichnis der verwendeten Siglen
9. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Jean-Paul Sartre (1905-1980) und Michel Foucault (1926-1984) stellen in ihrem Denken beide die Frage nach dem theoretischen und praktischen Status des menschlichen Subjekts. Dabei kann behauptet werden, für beide Philosophen sei das „ Subjekt “ ein zentrales, wenn nicht das zentrale Thema in ihrem Werk. So verschreibt sich Jean-Paul Sartre explizit der cartesianischen Tradition, indem er wiederholt betont, dass man in der Philosophie vom Subjekt ausgehen müsse.[1] Und Michel Foucault stellt zwei Jahre vor seinem Tod fest: „Das umfassende Thema meiner Arbeit ist also nicht die Macht, sondern das Subjekt.“[2]
Die Bedeutung der Frage nach dem Subjekt ist im philosophischen Denken generell als entscheidend anzusehen, rührt sie doch an dessen Grundlagen und Voraussetzungen. Ob nun an der Idee eines Subjekts festgehalten oder sie als vollkommen überflüssig und das Subjekt gar für „tot“ erklärt wird, in allen Betrachtungsweisen entstehen logische Konsequenzen für das, was als Wahrheit gelten, oder eben nicht gelten, darf.
In dieser Arbeit versuche ich zu rekonstruieren, was Sartre und Foucault über das Subjekt gedacht haben. Dabei erscheint es mir sinnvoll, Subjekt und Mensch nicht von vornherein gleichzusetzen, da der Begriff „Mensch“ mit anderen Schwerpunkten und Assoziationen verbunden ist als der traditionell bewusstseins- oder erkenntnistheoretisch konzipierte Begriff des Subjekts. Dieser ist aus meiner Sicht geeigneter, um die Probleme zum Verständnis von „ Freiheit “ und damit die Möglichkeit von Selbstbestimmung im Denken und Handeln von Menschen anzugehen.
Währenddessen gilt es zu berücksichtigen, dass die beiden Autoren nicht immer stringent zwischen Subjekt und Mensch unterscheiden und es im Kern der Auseinandersetzung mit dem Begriff des Subjekts auch um ein bestimmtes Bild vom Menschen geht. Als Ausgangsdefinition verstehe ich dementsprechend zunächst unter einem „Subjekt“ ein räumlich und zeitlich verortetes menschliches Individuum, das über seine objektive genetische und biologische Beschaffenheit hinaus die Eigenschaft hat, bewusst zu sein.[3]
Die vorliegende Arbeit verfolgt zwei Ziele. Erstens untersuche ich, ob Sartre und Foucault sich in ihrem Verständnis vom Subjekt so stark unterscheiden, wie man, auch aufgrund ihrer eigenen kritischen Absetzung von-einander, annehmen könnte. Oft werden ihre Positionen von Interpreten als vorwiegend divergent rezipiert.[4] Sartre gilt dann häufig als „Verteidiger“ und Foucault als „Zerstörer“ des Subjekts.[5] Demgegenüber versuche ich, im Vergleich ihrer zentralen Thesen zum Subjekt Gemeinsamkeiten zu erkunden und die beiden Standpunkte einander anzunähern.[6]
Hierbei zeichnen sich aus meiner Sicht drei mögliche ‚Brücken’ zwischen den beiden Gedankengebäuden ab. Erstens zwischen Sartres Begriff vom „präreflexiven Cogito“ und Foucaults Verständnis von Subjekten als wandelbarer Form, zweitens zwischen Sartres Intersubjektivitäts- und Foucaults Machttheorie und drittens zwischen ihren, jeweils ontologisch verankerten, Auffassungen der grundsätzlichen Freiheit menschlicher Subjekte.
Zweitens versuche ich, über den Weg der Auseinandersetzung mit beiden Denkern und der Rekonstruktion ihrer Hauptthesen zu einem eigenen Standpunkt in Bezug auf die Bedeutung des Subjektbegriffs zu gelangen. Dabei argumentiere ich, im Sinne beider Autoren, für ein Verständnis vom „menschlichen Subjekt“ als dynamischen „ Prozess “ mit prinzipiell offenen Möglichkeiten. Orientiert an den ‚Theoriewerkzeugen’ Foucaults skizziere ich ein eigenes Analyseraster, welches eine philosophisch angeleitete Untersuchung und Einordnung von Subjektformungsprozessen ermöglichen soll und gleichzeitig die Möglichkeit einer prinzipiellen Öffnung für zukünftige Subjektivierungen bietet.
Die Arbeit beginnt mit einer knappen Beschreibung der großen philosophischen Positionen im Bereich der Subjektphilosophie. Hier wird stark vereinfachend eine chronologische Entwicklung des Subjektbegriffs von Descartes bis Nietzsche und Heidegger aufgezeigt. Diese soll den Horizont markieren, an dem auch das Denken Sartres und Foucaults erscheint. In einem zweiten Schritt untersuche ich die zentralen Punkte der direkten Auseinandersetzung zwischen Sartre und Foucault und versuche, ihre Hauptkritikpunkte aneinander zu destillieren. In den folgenden zwei Kapiteln rekonstruiere ich die Subjektphilosophien der beiden Denker. Dabei muss ich mich auf ihre Hauptargumente und -thesen beschränken und kann die beiden umfangreichen Werke nicht in ihrer Gesamtheit darstellen. Auch auf methodische und inhaltliche Brüche, Positionsverschiebungen und die Verlagerung von Schwerpunkten in der jeweiligen Denkhistorie gehe ich nicht im Detail ein, da dies den Umfang dieser Arbeit übersteigen würde. Ebenfalls ausklammern muss ich die Biografien der beiden Autoren, welche naturgemäß einen entscheidenden Einfluss auf ihr Werk haben.[7] Vielmehr geht es mir darum, mich anhand der einschlägigen Textstellen der Essenz der beiden Ansätze in Bezug auf das, was das menschliche Subjekt ausmacht, zu nähern.
Im Denken Sartres geben hierbei seine bewusstseinsphilosophische Begründung des Subjekts, sein radikaler Freiheitsbegriff und seine Intersubjektivitätstheorie die Folie zum nachvollziehenden Verständnis ab. Bei Foucault lege ich den Schwerpunkt auf die Beschreibung seiner Analyse der modernen Subjektformen, die er in drei Achsen genealogischer Subjektkonstitution zu erfassen sucht – nämlich der Konstitution der Subjekte in ihrer Beziehung erstens zur Wahrheit, zweitens zur Macht und drittens zur Moral bzw. Ethik. Im darauffolgenden Vergleich der beiden philosophischen Positionen werde ich aufzeigen, inwiefern diese verwandt sind und an welchen Stellen sie gegebenenfalls als nicht zu versöhnen erscheinen. Die Arbeit endet mit dem Versuch, einen eigenen Standpunkt zur Frage des Status des Subjekts einzunehmen.
2. Orientierung am Horizont der Subjektphilosophie
Die Herkunft des Wortes „Subjekt“ ist mit zwei konträren Übersetzungsmöglichkeiten verbunden: Das griechische „hypokéimenon“ (ὑποκείμενον) und das lateinische „subjectum“ bezeichnen sowohl das „Zugrundeliegende“ als auch das „Unterworfene“.[8] Diese zwei widersprüchlichen Bedeutungen spiegeln sich in der Geschichte des philosophischen Diskurses über den Status des menschlichen Subjekts wider und tauchen dort in den Extrempolen einer Bestimmung des Subjekts als Grundlage jeder Erkenntnis und demgegenüber als unterworfene und verdinglichte Einheit auf. Auch in der Auseinandersetzung mit den Subjektkonzeptionen von Sartre und Foucault lässt sich diese Polarität wiederfinden, wie später noch deutlich wird.
Philosophiegeschichtlich wird die Rolle des bewussten und erkennenden Subjekts seit der Neuzeit thematisiert. Auf der Suche nach einem unbezweifelbaren, archimedischen Punkt entdeckt René Descartes (1596-1650) die Wahrheit: „ Ich denke, also bin ich “[9] als erstes Prinzip der Philosophie. So wird das „(ego) Cogito “ als Fundament und Letztbegründung allen Wissens etabliert und Descartes zum ‚Vater’ der abendländischen Subjektphilosophie, in der das menschliche Subjekt, sein Bewusstsein und seine Selbsterkenntnis im Zentrum stehen. Diese geht von der Selbstbestimmtheit des Subjekts aus, welches als irreduzible Instanz der Erkenntnis, des Handelns und des Ausdrucks gesetzt wird und die Bedingungen seiner Möglichkeiten nur in sich selbst findet.[10]
Während das cartesianische Subjekt noch als eine Art neutraler Spiegel charakterisiert werden kann, in dem die Welt ihre objektive Repräsentation findet, verschiebt sich mit der durch Immanuel Kant (1724-1804) eingeleiteten „kopernikanischen Wende“ die Rolle des Subjekts in der Philosophie hin zu einer die Welt aktiv erschaffenden Entität. Bis dahin geht man davon aus, „alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten“, aber Kants neue „Denkungsart“ soll beweisen, „daß wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen.“[11]
Entgegen Kants Beschreibung des Wissens über die Welt als Funktion der konstanten Bedingungen der Erfahrung der Subjekte bestreitet Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) die Existenz konstanter Subjekte und Objekte. Vielmehr gleichen sich, gemäß Hegels Philosophie, Subjekt und Objekt in dialektischen Bewusstseinsprozessen systematisch einander an, bis der Gegensatz zwischen beiden überwunden wird und ihre absolute Einheit hergestellt ist. Das Subjekt wird unter diesen Voraussetzungen zum „Subjekt-Objekt“.[12]
Seit dem Auftauchen Friedrich Nietzsches (1844-1900) werden die Grundannahmen des, das westliche Denken prägenden, Diskurses der Subjekt-philosophie immer stärker infrage gestellt. Nietzsche versucht das autonome Subjekt als vermeintliche „Fiktion“, das Produkt „unserer grammatischen Gewöhnung“[13] zu entlarven und beschreibt es als „nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes“.[14] Die Bedingtheit des Subjekts rückt in den Fokus des philosophischen Denkens. Auch Martin Heidegger (1889-1976) erkennt im Festhalten an der Idee eines substanziellen sich-selbst-begründenden Subjekts nicht mehr als die Manifestation einer „Seinsvergessenheit“ und will sie überwinden, die „Herrschaft der neuzeitlichen Metaphysik der Subjektivität“[15] brechen, indem er seine existenzialen Voraussetzungen herleitet und es auf sein „Sein“ hin untersucht.
Unter Einfluss der strukturellen Linguistik Ferdinand de Saussures (1857-1913) verliert die Vorstellung vom Subjekt als „selbstbestimmte Schöpferentität“ weiter an Bedeutung[16] und die ihm äußeren Strukturen und Systeme geraten in den Mittelpunkt des philosophischen Interesses. Das Subjekt wird nun auf theoretischer Ebene „dezentriert“ und es zeigt sich als kontingent und abhängig von den äußeren gesellschaftlich-kulturellen Strukturen. In der Konsequenz bekennen sich einige Philosophen zu einem „radikalen Denken“, das davon ausgeht, dass in der gegenwärtigen Situation „ die Position des Subjekts schlichtweg unhaltbar geworden “[17] sei, und konstatieren teilweise sogar den „Tod des Subjekts“.[18]
Am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts verschiebt sich so das Augenmerk einflussreicher Teile der subjektphilosophischen Theorie von der Untersuchung innerer allgemeingültiger und universaler Eigenschaften des Subjekts hin zu seinen äußeren historischen Bedingungen. Eine entsprechend angepasste, kulturwissenschaftlich geprägte, Definition des Subjekts könnte dann lauten: Es sei „die gesamte kulturelle Form […], in welcher der Einzelne als körperlich-geistig-affektive Instanz in bestimmten Praktiken und Diskursen zu einem gesellschaftlichen Wesen wird“.[19]
Unter diesen veränderten theoretischen Voraussetzungen entstehen neu gelagerte Aufgabenstellungen in der Philosophie und den Sozial-wissenschaften, die auf das Verstehen der dynamischen Prozesse aus sind, durch die Subjekte konstituiert werden. Forschungsfragen können nun beispielsweise so formuliert werden: „Welche Codes, Körperroutinen und Wunschstrukturen muss sich der Einzelne in einem jeweiligen historisch-kulturellen Kontext einverleiben, um zum zurechenbaren, vor sich selber und anderen anerkannten ‚Subjekt’ zu werden?“ Oder auch: Welche kulturellen Entstehungsmuster „sind die Voraussetzung für die soziale Produktion“ einer gegebenen Subjekt-Einheit?[20]
3. Der Konflikt zwischen Jean-Paul Sartre und Michel Foucault
Mitte bis Ende der 1960er Jahre tragen Sartre und Foucault in Form mehrerer Interviews einen heftigen Konflikt aus und kritisieren sich gegenseitig scharf. Im Kern dieser Auseinandersetzung geht es, aus meiner Sicht, um die theoretische und praktische Rolle des menschlichen Subjekts und, damit verbunden, um ihr jeweiliges grundsätzliches Verständnis von Philosophie. Zugespitzt kann man sagen, der Streit drehe sich um die Gewichtung und den Rang zwischen Subjekt und äußeren Einflussstrukturen bzw. Systemen, die, wie wir sehen werden, teilweise unbewusst sind.
So diagnostiziert Foucault: „Wir denken stets innerhalb eines anonymen, zwingenden Gedankensystems, das einer Zeit und einer Sprache zugehört. Dieses Denksystem und diese Sprache haben ihre eigenen Transformationsgesetze. Aufgabe der heutigen Philosophie […] ist es, dieses Denken vor dem Denken, dieses System vor dem System aufzudecken … Es bildet die Grundlage, auf der unser ‚freies’ Denken entsteht und für einen kurzen Moment funkelt …“[21] Damit ist der Fokus auf das System, als eigentliches „Tiefenphänomen“, das die menschlichen Subjekte „in Zeit und Raum trägt“ und ihnen zeitlich voraus geht, gelegt. Die Idee eines autonomen Subjekts erscheint Foucault erst einmal überflüssig und irreführend – es geht ihm primär um die Untersuchung des „anonymen Systems ohne Subjekt“.[22] Dieses stellt gewissermaßen das Unbewusste in der Geschichte der Wissenschaften, der Erkenntnis und des menschlichen Wissens dar.[23]
Sartre widersetzt sich vehement dem, was er als eine „Parteinahme für das System“[24] bezeichnet. Dabei leugnet er nicht prinzipiell dessen Einfluss, legt aber sein Augenmerk auf seine Konstitution durch die Praxis der Subjekte und ihre Fähigkeit, es zu übersteigen. So kontert er: „ich fechte weder die Existenz der Strukturen an noch die Notwendigkeit, ihren Mechanismus zu analysieren. Aber die Struktur ist für mich nur ein Moment des Praktisch-Trägen. Sie ist das Ergebnis einer Praxis, die deren Akteure übersteigt. Jede menschliche Schöpfung hat ihre passiven Bereiche: das bedeutet nicht, das sie völlig determiniert ist.“[25] Und weiter: „Ein Subjekt oder Subjektivität, wenn Sie so wollen, existiert in dem Augenblick, wo sein Bemühen einsetzt, über die gegebene Situation hinauszugehen, indem man sie konserviert. Dieses Überschreiten ist das eigentliche Problem. Man muß begreifen, wie das Subjekt oder die Subjektivität auf einer Basis, die vorgängig ist, sich durch einen fortlaufenden Prozeß der Interiorisierung und erneuter Exteriorisierung konstituiert.“[26] Es zeigt sich hier Sartres prozesshafte Auffassung vom Subjekt, das sich durch innere und äußere Bezugnahme selbst konstituiert, und zwar auf einer vorgängigen Basis.
Insofern ist es für Sartre unablässig, an der Idee des Subjekts und seiner Selbstentfaltungskräfte festzuhalten. Für ihn hat das Subjekt klare Priorität vor dem System. In diesem Sinne formuliert er als Replik auf Foucault: „Das Wesentliche ist nicht, was man aus dem Menschen gemacht hat, sondern was er aus dem macht, was man aus ihm gemacht hat. Was man aus dem Menschen gemacht hat, das sind die Strukturen, die Sinn-Einheiten, die die Geistes- und Sozialwissenschaften untersuchen. Was der Mensch macht, das ist die Geschichte selbst, das wirkliche Überschreiten dieser Strukturen in einer totalisierenden Praxis.“[27] Im selben Interview gibt er seiner großen Empörung gegenüber Foucault Raum, wenn er sagt: „Nun glaube ich aber, […] daß der Mensch in Bezug auf die Strukturen, die ihn bedingen, ständig ‚hinaus’ ist, weil es noch etwas anderes ist, das ihn sein läßt, was er ist. Ich verstehe also nicht, daß man bei den Strukturen halt macht: für mich ist das ein logischer Skandal.“[28] Foucault kann in Konsequenz für Sartre vielleicht als (Sozial-) Wissenschaftler gelten, aber sicher nicht als Philosoph – als solcher müsste er die bzw. seine Existenz als Subjekt methodisch reflektieren. Dies aber, so behauptet Sartre, tut er gerade nicht.
Für Foucault ist derweil eindeutig, dass das menschliche Subjekt aus der Philosophie verschwindet, „nicht als Objekt von Wissen, sondern als Subjekt der Freiheit und des Daseins.“[29] Denn, so argumentiert er, die „Wissenschaften haben noch niemals zu sagen vermocht, was der Mensch eigentlich ist. Wenn man die menschliche Sprache analysiert, stößt man nicht auf die Natur, das Wesen oder die Freiheit des Menschen. Statt dessen stößt man auf unbewusste Strukturen, die uns beherrschen“,[30] und fügt im gleichen Sinne im Hinblick auf Psychoanalyse und strukturale Linguistik hinzu: „Je tiefer man in den Menschen eindrang, desto mehr verflüchtigte er sich. Je weiter man ging, desto weniger fand man ihn.“[31] Und so positioniert er Sartre in einer philosophischen Tradition, die auf eine unberechtigte Totalisierung der Perspektive des menschlichen Subjekts abzielt: „Von Hegel bis Sartre war die Philosophie im Wesentlichen der Versuch einer Totalisierung, wenn nicht der Welt und des Wissens, so doch zumindest der menschlichen Erfahrung.“[32] Hier kommt auch der Vorwurf zum Ausdruck, Sartre versuche sich an einer Art Wesensbestimmung des menschlichen Subjekts.
Sartre hingegen bezichtigt Foucault eines „Positivismus der Zeichen“,[33] der einer wissenschaftlichen Analyse angemessen sein mag, aber keinesfalls des philosophischen Denkens, welches dialektische „Befragung über die Praxis und damit gleichzeitig über den Menschen, das heißt über das totalisierende Subjekt der Geschichte“[34] zu sein hat. Und er versucht Foucaults Kritik zu entkräften, indem er andeutet, diese richte sich auf die längst überholte Idee eines substanziellen Selbst. So sagt er: „Wenn man darauf besteht, unter Subjekt eine Art von substanziellen Ich zu verstehen oder eine immer mehr oder weniger gegebene zentrale Kategorie, von der aus sich eine Reflexion entwickelt, dann ist das Subjekt schon lange tot.“[35]
Inwiefern es Foucault tatsächlich bewerkstelligt, eine Philosophie „ohne Subjekt“ zu betreiben, und es Sartre gelingt, das Subjekt ins Zentrum seines Denkens zu stellen, ohne aus ihm eine „zentrale Kategorie“ zu machen, wird die folgende Untersuchung ihres Werkes zeigen.
4. Sartres gespaltenes Subjekt
Sartres Subjektbegriff ist ursprünglich bewusstseinstheoretisch angelegt. Er nimmt in cartesianischer Tradition als notwendig gegeben an, dass ein Standpunkt jenseits des „Cogito“ nicht angenommen werden kann. Für ihn kann es dementsprechend „als Ausgangspunkt [seiner Philosophie] keine andere Wahrheit geben als diese: ich denke also bin ich, das ist die absolute Wahrheit des sich selbst erreichenden Bewußtseins.“[36]
Dabei versucht er, wie wir sehen werden, auf der Grundlage seiner phänomenologischen Bestimmung des Bewusstseins als „Bewusstsein von etwas“ sowohl Descartes Dualismus[37] als auch die Idee eines Innenlebens und jegliche Determination des menschlichen Subjekts zu überwinden. In diesem Zusammenhang distanziert sich Sartre auch von der Idee eines „Ichs“ oder „Egos“ als einer Art substanziellen Kerns des Subjekts. Gleichzeitig bestimmt er das Bewusstsein ontologisch als „transphänomenale Seinsdimension des Subjekts“[38]. Die Voraussetzung dafür ist seine Feststellung: „das Seinsgesetz des erkennenden Subjekts ist es, bewußt-zu-sein.“[39]
Aufgrund seiner Bewusstseinsstruktur stellt sich, wie ich zeigen werde, Sartres Subjekt als gespaltenes Subjekt dar. Es ist ein „ Mit-sich-nicht-identisches Identisches “. Diese paradoxale Struktur führt aber letztlich dazu, dass Sartre das menschliche Subjekt als notwendig „frei“ und als autonomer Schöpfer seines eigenen Wesens bestimmen kann.
Sartres Subjektbegriff wird durch seine Intersubjektivitätstheorie vervollständigt. In dieser stellt er die Faktizität eines „Anderen“ phänomenologisch fest und deutet dessen Existenz sowohl als Bedingung der Selbsterkenntnis des Subjekts als auch als Begrenzung seiner ursprünglichen Freiheit.
Im Folgenden werde ich erstens Sartres phänomenologisch-ontologische Erschließung der Bewusstseinsstruktur des Subjekts, zweitens seinen darauf gründenden Freiheitsbegriff und drittens seine Intersubjektivitätstheorie rekonstruieren. Diese drei Komponenten stellen aus meiner Sicht die Quintessenz der Sartreschen Subjektphilosophie dar.
4.1. Das bewusste Subjekt
In Übereinstimmung mit dem Prinzip der Intentionalität[40] aus der Phänomenologie Husserls geht Sartre davon aus, „daß jedes Bewußtsein Bewußtsein von etwas ist, was bedeutet, daß das Objekt nicht Inhalt des Bewußtseins ist, sondern daß es sich außerhalb befindet als intentionales Ziel.“[41] Oder, wie er an anderer Stelle formuliert: „[D]as bedeutet, daß es kein Bewußtsein gibt, das nicht Setzung eines transzendenten Objekts wäre, oder, wenn man lieber will, daß das Bewußtsein keinen ‚Inhalt’ hat.“[42]. Gemäß Sartre muss daher „[d]er erste Schritt einer Philosophie […] darin bestehen, die Dinge aus dem Bewußtsein zu verbannen und dessen wahres Verhältnis zur Welt wieder herzustellen, daß nämlich das Bewußtsein setzendes Bewußtsein von der Welt ist.“[43]
Auf der Basis dieser Prämissen bestimmt Sartre das Subjekt mittels der phänomenologischen Analyse der komplexen Struktur seines Bewusstseins. Hierbei differenziert er grundsätzlich zwischen zwei Ebenen des Bewusstseins, nämlich erstens der des reinen „präreflexiven Bewusstseins“ oder Cogitos, welches er ebenfalls als „Bewusstsein (von) Bewusstsein“ bezeichnet, und zweitens der des „reflexiven Bewusstseins“ oder Cogitos, welches von Sartre auch als „Ego“ oder „Ich“ benannt wird. Seine phänomenologischen Beschreibungen deutet er in folgender Weise ontologisch aus: „Das Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas: das bedeutet, daß die Transzendenz konstitutive Struktur des Bewußtseins ist; das heißt, das Bewußtsein entsteht als auf ein Sein gerichtet, das nicht es selbst ist.“[44] Deshalb unterscheidet er „zwei absolut voneinander getrennte Seinsbereiche […]: das Sein des präreflexiven Cogito und das Sein des Phänomens.“[45] Diese Seinstypen bezeichnet Sartre als „Für-sich-Sein“ und „An-sich-Sein“, und stellt so, vereinfacht gesagt, das Sein des menschlichen Subjekts als Bewusstsein dem Sein der Dinge gegenüber. Dabei bestimmt er das „reflexive Cogito“ oder „Ich“ mit seinen Handlungen und Zuständen als dem Seinstyp des „An-sich“ zugehörig.
Unter der Voraussetzung der phänomenologischen Grundannahme, dass Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist, verabschiedet sich Sartre so schon am Beginn seines Denkweges von der Vorstellung eines substanziellen Ichs oder Egos als innerer Instanz des Bewusstseins. Im gleichen Zuge fechtet er auch die Annahme eines Unbewussten oder generell eines Innenlebens des Subjekts an und erklärt sie für falsch und vollkommen „absurd“[46].
Da das Bewusstsein notwendig als auf einen transzendenten Gegenstand gerichtet erscheint, schließt Sartre darauf, dass wenn man dem Bewusstsein seinen Gegenstand entzieht, sich dieses, in seinem reinen Zustand, als völlig durchsichtig und leer herausstellt. So schreibt Sartre: „Zunächst muß man sehen, daß es im Bewußtsein nichts gibt, das nicht Bewußtsein wäre. Es gibt keinen Inhalt des Bewußtseins; es gibt, was meiner Meinung nach der Irrtum Husserls ist, kein Subjekt hinter dem Bewußtsein oder etwas wie eine Transzendenz in der Immanenz, wenn es sich um das Selbstbewußtsein handelt: es gibt allein und durchgängig Bewußtsein. Was auch immer man zum Bewußtsein hinzufügen würde, kann es nur entstellen und trüben.“[47] Das reine Bewusstsein hat demnach also keinerlei innere Aspekte oder Eigenschaften und kann so direkt zur Welt vordringen und sie repräsentieren. Deshalb gilt auch, „daß nichts außer dem Bewußtsein die Quelle des Bewußtseins sein kann“[48], d. h. es gründet als ein Absolutes auf sich selbst; es ist eine causa sui. „Es selbst kennt sich nur als absolute Interiorität.“[49] Dieses ungetrübte, reine Bewusstsein nennt Sartre das „präreflexive Bewusstsein“ bzw. das „präreflexive Cogito“. Es gibt nur einen Gegenstand des präreflexiven Bewusstseins, nämlich das intentionale äußere Objekt, welches sich ihm unter unendlich vielen Abschattungen und Perspektiven zeigt. Das Objekt ist „opak“ und, weil es nur durch das intentionale Bewusstsein in Erscheinung tritt, als lediglich „wahrscheinlich“ zu bezeichnen, während allein das nicht-gegenständliche, durchsichtige Bewusstsein in seiner Unmittel-barkeit „adäquat“ ist, also als gewiss gelten muss.[50]
Als ein solches intentionales Objekt in der Welt muss auch das „Ich“ oder „Ego“ verstanden werden, welches immer nur gelegentlich eines „schöpferischen und poetischen reflexiven Aktes“[51] erscheint, durch den die Zustände, Handlungen und Qualitäten des auf einen Gegenstand gerichteten Bewusstseins zu einer (Objekt-) Einheit geschaffen werden bzw. in sie projiziert werden. Sartre sagt: „In der Reflexion vollzieht sich eine Verdoppelung, so daß der Mensch in einem bestimmten Maße […] sich selbst Objekt ist.“[52] Er definiert in diesem Sinne: Das „Ego“ oder „Ich“ „ist der sich selbst als Einheit seiner selbst konstituierende Fluß des Bewußtseins, – und eine transzendente Einheit: die Zustände und die Handlungen. Das Ego ist Einheit der Zustände und Handlungen – fakultativ der Qualitäten. Es ist die Einheit der transzendenten Einheiten und selbst transzendent.“[53]
Das „Ego“ oder „Ich“ und die Welt sind also zwei Objekte für das absolute Bewusstsein. „Dieses absolute Bewußtsein hat, wenn es vom Ich gereinigt ist, nichts mehr von einem Subjekt, es ist auch keine Kollektion von Vorstellungen: es ist ganz einfach eine erste Bedingung und eine absolute Quelle für Existenz.“[54]
Damit ist der Vorrang des präreflexiven Bewusstseins gegenüber dem reflexiven Bewusstsein belegt – dieses wird durch jenes bedingt. Sartre stellt entsprechend fest: „So hat die Reflexion keinerlei Primat gegenüber dem reflektierten Bewußtsein: dieses wird sich selbst nicht durch jene offenbart. Ganz im Gegenteil, das nicht-reflexive Bewußtsein ermöglicht erst die Reflexion: es gibt ein präreflexives Cogito, das die Bedingung des cartesianischen Cogito ist.“[55]
Mithilfe dieser „phänomenologisch-ontologischen“ Ermittlung des reinen, einen Gegenstand nicht setzenden, präreflexiven Bewusstseins als „absoluter Existenz“ gelangt Sartre in Übereinstimmung mit Heidegger[56] zu seiner zentralen These des Primats der Existenz als bestimmter Weise des Seins vor dem Wesen als „Was-sein“. Er formuliert entsprechend: „die Existenz geht dem Wesen voraus, das ist ein inneres Merkmal des nicht-thetischen Bewußtseins.“[57] Die Vorrangigkeit der Existenz bedeutet schlussendlich, dass das Subjekt nicht anhand seiner objektiven Eigenschaften zu bestimmen ist wie ein Gegenstand. Es ist von einer grundsätzlich anderen Seinsweise als das Sein des Dings („An-sich-Sein“), welches, als „mit sich selbst Identischen“, einfach nur „ist was es ist“.[58] Das Sein des Bewusstseins, das „Für-sich-Sein“ definiert Sartre hingegen „als das seiend, was es nicht ist, und als nicht das seiend, was es ist.“[59]
[...]
[1] Vgl. zum Beispiel SN, S. 164, EH, S. 148.
[2] S IV, S. 270.
[3] Kollektive und nicht-menschliche Subjekte stehen nicht im Fokus der Arbeit.
[4] Philip Knee und Andrea Roedig zeigen zum Beispiel auf, dass Sartres Denken sich innerhalb des von Foucault beschriebenen „anthropologischen Vierecks“ abspielt, und wollen damit auch die philosophische Distanz der beiden Denker beweisen. Vgl. Knee (1990), Roedig (1997).
[5] Vgl. Birnstiel (2016), S. 215 ff.
[6] Hierin folge ich gewissermaßen der Aufforderung Jeannette Colombels, die die Meinung vertritt: „Il faut cesser d’opposer Sartre et Foucault“, und ihre grundsätzliche Gegensätzlichkeit verneint, wenn sie feststellt: „Il faut donc ‘chasser cette idée de pierre’ qui ferait de Foucault un structuraliste excluant le sujet, et de Sartre le ‘dernier des métaphysiciens’. C’est un cliché trompeur auquel je veux substituer leurs deux itinéraires autour de la question du sujet et de la subjectivité.“ (Colombel 2000, S. 50). In diese Richtung bewegt sich zum Beispiel Mathias Richter, der die beiden Autoren aus gesellschaftstheoretischer Perspektive als Emanzipationstheorie (Sartre) und Systemanalyse (Foucault) liest. Dabei versucht er, “von der Sache her mögliche Anschlussstellen zu lokalisieren und die notwendigen methodologischen Voraussetzungen zu klären, unter denen die beiden sich zunächst scheinbar ausschließenden Theorieprogramme miteinander kompatibel gemacht werden können“. Richter (2011), S. 62.
[7] Es gibt zahlreiche publizierte Biografien, z. B. von Bernard-Henri Lévy zu Sarte (2017) und Didier Eribon zu Foucault (2005).
[8] Vgl. Zima (2010), S. XI.
[9] Descartes (2011), S. 59. Im französischen Original: „je pense, donc je suis“, ebd., S. 58.
[10] Als Gründungsdokument der neuzeitlichen Subjektphilosophie können Descartes‘ „Meditationes de prima philosophia“ von 1641 gesehen werden.
[11] Kant (1995), Bd. 1, S. 25 f.
[12] Hegel zeichnet diesen Prozess in seinem Hauptwerk „Die Phänomenologie des Geistes“ von 1807 nach. Eine umfassende Rekonstruktion der neuzeitlichen Subjektphilosophie von Descartes bis Hegel leistet z. B. Kaehler (2010).
[13] Nietzsche (1999), S. 549.
[14] Ebd., S. 315.
[15] Heidegger (1976), S. 318.
[16] Traditionell hatte man bisher die Identität von Wort und Gegenstand angenommen. In der strukturellen Linguistik wird der differenzielle Charakter des Signifikanten herausgestellt, welcher in seiner Bedeutung nicht durch sein Signifikat bestimmt wird, sondern durch seine Abgrenzung zu anderen Signifikanten. Alle sprachliche Bedeutung ist demnach ein Effekt der Struktur – die bisher zentrale Rolle eines (Sprecher-) Subjekts kann folglich vernachlässigt oder ausgeklammert werden. Vgl. Saussure (2001), S. 76 ff.
[17] Baudrillard (1991), S. 140.
[18] Vgl. z. B. van Reijen (1988), S. 398; Heller (1993), S. 623 ff.
[19] Reckwitz (2010), S. 17.
[20] Ebd., S. 14 ff.
[21] S I, S. 666.
[22] Ebd.
[23] Ebd., S. 849.
[24] JPSa, S. 211.
[25] Ebd., S. 210.
[26] Ebd., S. 211. Es scheint, dass Sartre an dieser Stelle „Subjekt“ und „Subjektivität“ gleichsetzt und nicht weiter unterscheidet. Differenzierender kann „Subjektivität“ als eine der möglichen Eigenschaften von Subjekten beschrieben werden. Sartre hat den Begriff der Subjektivität in einem Vortrag 1961 eingehender besprochen. Vgl. Sartre (2015): „Was ist Subjektivität?“
[27] Ebd., S. 212.
[28] Ebd., S. 213.
[29] S I, S. 847.
[30] Ebd., S. 841.
[31] Ebd., 847.
[32] Ebd., 848.
[33] JPSa, S. 212.
[34] Ebd., S. 213.
[35] Ebd., S. 211.
[36] EH, S. 165.
[37] Dichotomie von Geist („res cogitans“) und Körper („res extensa“). Vgl. Descartes (2008), S. 53 ff.
[38] Das Sein ist insofern transphänomenal, dass es sich nicht auf seine Erscheinungen reduziert.
[39] SN, S. 19.
[40] „Intentionalität“ verstanden als wesenhafte Seinsgerichtetheit des Bewusstseins, d. h. es kann kein Bewusstsein geben, es sei denn, es ist auf transzendentes Sein ausgerichtet. Vgl. Husserl, Ideen, § 34, 36 ff. und Cartesianische Meditationen, §14.
[41] SBuSE, S. 286.
[42] SN, S. 19.
[43] Ebd.
[44] Ebd., S. 35.
[45] Ebd., S. 39.
[46] SN, S. 20.
[47] SBuSE, S. 288.
[48] TE, S. 53.
[49] Ebd., S. 46.
[50] Vgl. SN, S. 9 ff.
[51] TE 71 ff.
[52] SBuSE, S. 284.
[53] TE, S. 59.
[54] Ebd., S. 91. Der Begriff „Subjekt“ bezieht sich hier auf die cartesianische Idee eines selbstbestimmten und substanziellen Erkenntnissubjekts. Während die „Essenz“ oder das Wesen beschreibt, was etwas ist, beschreibt die Existenz, dass es ist. Auf den Begriff der Existenz, welchen Heidegger in seinem Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ entfaltet, bezieht sich also auch Sartre zur Bezeichnung der spezifischen Weise des Seins, obschon mit dem Hauptaugenmerk auf das Sein des Bewusstseins.
[55] SN, S. 22.
[56] Heidegger fasst diesen Zusammenhang in „Sein und Zeit“ zum Beispiel folgendermaßen zusammen: „Das ‚Wesen’ des Daseins liegt in seiner Existenz.“ Heidegger (2006), S. 42.
[57] SBuSE, S. 293
[58] SN, S. 42.
[59] Ebd.