Außerschulische politische Bildung zur Vorbeugung der Stigmatisierung psychisch kranker Menschen

Eine Analyse des Studientages "Medizin und Menschenbild im Nationalsozialismus" im DoKuPäd Nürnberg


Studienarbeit, 2018

53 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Psychisch kranke Menschen sehen sich zunehmend mit ihrer Ablehnung in der Bevölkerung konfrontiert

2. Stigma und Stigmatisierung - welche Rolle die Soziale Arbeit und die politische Bildung in diesem Prozess spielen
2.1. Abgrenzung von Stigma, Stigmatisierung und ähnlichen Begriffen
2.2 Erweiterter Teufelskreis der Stigmatisierung
2.3 Entstigmatisierung ist unentbehrlich
2.4 Ziele, Chancen und Probleme der außerschulischen politischen Jugendbildung

3. Analyse des Studientages „Medizin und Menschenbild im Nationalsozialismus“ im DoKuPäd Nürnberg
3.1 Vorstellung des DoKuPäd in Nürnberg und des Studientages „Medizin und Menschenbild im Nationalsozialismus“
3.2 Geplante Forschungsmethoden
3.3 Ablauf des beobachteten Studientages
3.4 Zusammenfassung der Ergebnisse in Hinblick auf die geplanten Beobachtungseinheiten
3.5 Interpretation der Ergebnisse - Konsequenz für die Frage der Studienarbeit

4 Die vielfältigen Möglichkeiten der Entstigmatisierung werden nicht vollkommen ausgeschöpft

Literaturverzeichnis

Anhang 1: Konzept des Studientages „Medizin und Menschenbild im Nationalsozialismus“ des DoKuPäd

Anhang 2: Skript zur Begleitung von Gruppen durch die Ausstellung „Faszination und Gewalt“

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Stigma und seine Folgen: Der Teufelskreis der Stigmatisierung (Schulze, 2005, S.123) 6

Abbildung 2: Umgang der Betroffenen mit dem Stigma der psychischen Erkrankung

Abbildung 3: Die vier Phasen vom Stigma zur Stigmatisierung

Abbildung 4: Folgen der Stigmatisierung von psychisch kranken Menschen

Abbildung 5: Abschließende Darstellung des Teufelskreises der Stigmatisierung

Abbildung 6: Klassischer Tagesablauf (tabellarisch)-Version A (Anhang 1; Konzept zum Studientag, 2013, S. 4)

Abbildung 7: Abschnitt des Reflexionsbogens für MitarbeiterInnen

1. Psychisch kranke Menschen sehen sich zunehmend mit ihrer Ablehnung in der Bevölkerung konfrontiert

Psychische Krankheiten sind in unserer Gesellschaft weit verbreitet.

Das zeigt die „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“, kurz DEGS1 genannt. Das Robert-Koch-Institut führte die Untersuchung mit dem Zusatzmodul „Psychische Gesundheit (DEGS1-MH)“ von 2008 bis 2011 durch. Ermittelt wurden die 12-Monats-Prävalenzen psychischer Störungen in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung, bei denen psychische Erkrankungen aufgrund medizinischer Krankheitsfaktoren oder substanzinduzierten Störungen ohne Nikotinabhängigkeit, miteingeschlossen wurden.

Demnach betrug die 12-Monats-Prävalenz aller untersuchten Beschwerden 27,7 Prozent bei den 18- bis 79-jährigen Erwachsenen in Deutschland. Psychische Störungen betrafen zu dieser Zeit folglich ca. 17,8 Millionen Menschen in unserer Bevölkerung.

Zu den festgestellten Krankheitsbildern gehörten 15,3 Prozent der Befragten, die an Angststörungen nach ICD-10 F 40 und F 41 litten. 9,3 Prozent hatten affektive Störungen nach ICD-10 F3, zu denen Depression und bipolare Störungen gezählt werden. Unter Zwangsstörungen waren 3,6 Prozent der Erwachsenen erkrankt und bei den somatischen Störungen lag die Zahl bei 3,5 Prozent (Jacobi et al., 2017, S. 80).

Trotz der Häufigkeit von psychischen Erkrankungen in der Bevölkerung, sehen sich Betroffene und Angehörige weiterhin mit Stigmatisierungen und Diskriminierungen konfrontiert. Dies betrifft vor allem die interpersonelle Interaktion in Form von Unverständnis und Ablehnung durch Freunde, Verwandte, Bekannte und Arbeitskollegen (Schulze & Angermeyer, 2002, S. 79).

Für Betroffene und Angehörige stellt der offene Umgang mit ihrer Krankheit, unter anderem aus diesem Grund, weiterhin eine große Hürde dar.

In einer Studie aus dem Jahr 2011 der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald, wurden 3600 Menschen unter Leitung des Privatdozenten Dr. Georg Schomerus ausführlich zu ihren Einstellungen befragt, die sie zu den Krankheitsbildern Schizophrenie, Depression und Alkoholismus haben. Hier zeigte sich, dass sich die Meinung über an Schizophrenie erkrankten Menschen erschreckend verschlechtert hat.

Lehnten es beispielsweise 1990 nur 20 Prozent der Befragten ab, mit einer Person zusammenzuarbeiten, die an Schizophrenie erkrankt ist, stieg diese Zahl in 21 Jahren auf 31 Prozent an. Bei der Frage, ob sie eine Person mit Schizophrenie einem Freund vorstellen würden, lehnten im Jahr 1990, 39 Prozent diese Idee ab. 2011 waren es schon 53 Prozent.

Von den drei Krankheitsbildern erfuhren Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit die stärkste persönliche Ablehnung. So gaben 34 Prozent der Befragten an, dass sie einen alkoholabhängigen Menschen nicht als Arbeitskollegen haben wollen und sogar 60 Prozent nicht in ihrem Freundeskreis. Schomerus zieht trotz der Ergebnisse seiner Studie, ein positives Fazit: „Die Öffentlichkeit weiß mehr über psychische Krankheiten und ist einer psychiatrischen Behandlung gegenüber aufgeschlossener“ (Steinke, 2014).

Ablehnende Einstellungen gegenüber psychisch erkrankten Menschen entstehen vor allem durch „internalisierte Vorstellungen und Erwartungen“ (Grausgruber, 2005, S. 28f.).

Historisch betrachtet kam das Wissen um Menschen mit psychischen Erkrankungen spätestens 1933 in der Öffentlichkeit an. In diesem Jahr erließen die Nationalsozialisten das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, in dem definiert wurde, welche Personen als erbkrank galten und zu ihrer Sterilisation gezwungen wurden. Dazu gehörten unter anderem Menschen mit Schizophrenie, „manisch-depressivem Irresein“ und „schwerem Alkoholismus“ (Brückner, 2015, S. 127). Ab 1939 wurden Menschen mit diesen und anderen Krankheitsbildern im Zuge der „Aktion T4“ ermordet (ebd., S. 128).

Nach dem 2. Weltkrieg blieben psychiatrische Anstalten „zunächst eine Institution der Verwahrung“ (ebd., S. 133). Erst ab 1970 formierte sich die Psychiatrie auf Kongressen und im „Mannheimer Kreis“. 1975 veröffentlichte eine Sachverständigenkommission des Bundestages eine umfassende Bestandsaufnahme und Reformvorschläge, die sogenannte „Psychiatrie-Enquete“ (ebd., S. 140). Brückner beurteilt den Reformprozess, als bis heute nicht abgeschlossen (ebd., S. 143).

Wenn Psychiater, Psychologen, Fachleute und Wissenschaftler ca. 40 Jahre benötigten um Menschen mit psychischen Erkrankungen wertzuschätzen und zu fördern, lässt sich kaum erahnen, wie lange die Bevölkerung im Allgemeinen für diesen Prozess braucht und wie viele weitere Jahre oder gar Jahrzehnte die gesellschaftliche Ablehnung gegenüber psychisch Kranken anhalten wird.

Asmus Finzen betrachtet die Entstigmatisierung als eine „politische Aufgabe für Verbände, Interessenvertretungen von Psychiatrie, Angehörigen und Kranken“ (2017, S. 195).

Die vorliegende Studienarbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob es der Sozialen Arbeit im Arbeitsfeld der außerschulischen politischen Jugendbildung möglich ist, der Stigmatisierung von psychisch kranken Menschen entgegenzuwirken. Vermag die Soziale Arbeit auf diese Art als Interessenvertretung von Betroffenen und Angehörigen zu fungieren?

Hierzu werden im zweiten Punkt der Arbeit die Begriffe Stigma und Stigmatisierung definiert und der Versuch unternommen, diese von ähnlichen Fachausdrücken abzugrenzen. Es muss verstanden werden, wie Stigmatisierung entsteht, was sie für Betroffene bedeutet und welche Folgen dieser Prozess hat. Hierzu wurde der „Erweiterte Teufelskreis der Stigmatisierung“ erarbeitet. Es wird aufgezeigt, aus welchem Grund die Entstigmatisierung von psychisch kranken Menschen wichtig und unentbehrlich ist. Des Weiteren wird begründet, warum ebendies eine Aufgabe der Sozialen Arbeit ist. Im Anschluss werden hier die allgemeinen Ziele, Chancen und Grenzen der außerschulischen politischen Jugendbildung beschrieben.

Inwieweit die außerschulische politische Jugendbildung zur Entstigmatisierung von psychisch kranken Menschen beitragen kann, wird im dritten Punkt der Studienarbeit genauer betrachtet. Zu diesem Zweck wird die Einrichtung des DoKuPäd in Nürnberg und der Studientag „Medizin und Menschenbild im Nationalsozialismus“ vorgestellt, seine Wirkung auf TeilnehmerInnen erforscht und ausführlich analysiert. Die geplanten Forschungsmethoden werden erläutert, die Ergebnisse dargestellt und interpretiert. Es erfolgt ein alternativer Vorschlag für die Weiterentwicklung des Studientages.

Abschließend werden die Erkenntnisse im letzten Punkt zusammengeführt.

Aufgrund der häufigen Nutzung und der besseren Lesbarkeit wird in der Studienarbeit für den Begriff „psychisch kranke Menschen“ die Abkürzung PKM genutzt.

Für eine bessere Nachvollziehbarkeit wurden die Konzeption für den Studientag „Medizin und Menschenbild im Nationalsozialismus“ sowie das Skript für den Ausstellungsbesuch des DoKuPäd, der Studienarbeit beigefügt.

2. Stigma und Stigmatisierung - welche Rolle die Soziale Arbeit und die politische Bildung in diesem Prozess spielen

2.1. Abgrenzung von Stigma, Stigmatisierung und ähnlichen Begriffen

„Stigma – Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identitäten“ von dem Soziologen Erving Goffman ist ein klassisches Werk zum Thema. Er beschäftigte sich 1975 als einer der Ersten ausführlich mit der Entstehung und den Funktionen von Stigmata, sowie den Bewältigungsstrategien und Folgen für Stigmatisierte.

Mit den Begriffen Stigma und Stigmatisierung sind diverse angrenzende Fachbegriffe verbunden.

Diese werden im Folgenden erläutert und voneinander abgegrenzt.

Stigma

Der Begriff Stigma stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Zeichen“ oder „Brandmal“. Ein Stigma bezeichnete ursprünglich „körperliche Zeichen, mit denen Personen als ungewöhnlich und unehrenhaft erkennbar gemacht wurden“ (Lutz, 2017, S. 881).

Alfred Grausgruber fasst den Begriff, wie er heutzutage verstanden und gebraucht wird zusammen als ein vorhandenes Merkmal, welches in einer eindeutigen Art negativ definiert wird. Über dieses Attribut hinaus werden der Person weitere ungute Eigenschaften zugeschrieben, die mit dem eigentlichen Merkmal wenig bis nichts mehr gemeinsam haben (2005, S. 21).

Stigmata ist der Plural von Stigma.

Goffman unterscheidet drei Typen von Stigmata.

Es gibt die „Abscheulichkeiten des Körpers“, mit denen er verschiedene physische Deformationen bezeichnet. Zweitens gibt es Stigmata, die den „individuellen Charakterfehlern“ zuzuordnen sind, die als „Willensschwäche“ wahrgenommen werden und drittens die „phylogenetischen Stigmata von Rasse, Nation und Religion“.

Demnach gehören zur ersten Kategorie körperliche Behinderungen und Missbildungen, die offensichtlich erkennbar sind. Zu den individuellen Charakterfehlern zählen laut Goffman PKM, Suchterkrankte, arbeitslose Menschen oder Personen mit radikalem politischen Verhalten. Ihnen wird generell unterstellt, dass sie willensschwach gegenüber ihren „beherrschenden oder unnatürlichen Leidenschaften“ sind, dass sie „tückische und starre Meinungen“ haben und unehrenhaft sind (Goffman, 2016, S. 12f.).

Der dritten Kategorie lassen sich konkurrierende Religionen und Nationalität zuordnen, die sich gegenseitig stigmatisieren und diskriminieren, sowie bis dato vorhandene Vertreter der Rassentheorie.

Stigmata erfüllen eine eindeutige Funktion für den Menschen und die Gesellschaft.

„Wann und wo immer Menschen zusammenleben, entwickeln sie bestimmte Vorstellungen darüber, wie sich Menschen verhalten sollten, wie sie auftreten sollten, wie sie leben sollten. Diese Vorstellungen prägen unser Verhalten und haben auch wesentlich entlastende Funktionen. Wenn wir fremden Menschen begegnen, dann stehen uns meist bereits bestimmte Kategorien und Vorstellungen zur Verfügung, mit denen wir andere Personen einordnen können.“

(Grausgruber, 2005, S. 20)

Stigmatisierung

Stigmatisierung bezeichnet den Prozess, „in dem einer Person oder Gruppe ein Stigma von der

personellen und gesellschaftlichen Umwelt kontinuierlich zugeschrieben wird“. Es findet somit eine dauerhafte Übertragung von einem negativen Merkmal, dem Stigma, und den damit verbundenen Vermutungen auf die gesamte Person statt. Das Stigma wird generalisiert. Stigmatisierungen sind von Gesellschaft, Zeit, Religion, Milieu und Lebenswelt abhängig. Was „normal“ und „nicht normal“ ist, unterscheidet sich von Land zu Land und von Kultur zu Kultur. Sie sind kontextabhängig und relativ (Lutz, 2017, S. 881).

Wie der Prozess von einem Stigma zu einer Stigmatisierung verläuft, wird im nächsten Punkt erklärt. Zuvor wird die Abgrenzung von Stigma bzw. Stigmata und Stigmatisierung zu ähnlichen Begriffen vollzogen.

Vorurteile

Vorurteile sind „vorgefasste, nicht durch Erfahrung überprüfte, verallgemeinerte Meinungen über einen Sachverhalt, eine Person oder Soziale Gruppe“. Sie beinhalten eine kognitive und eine emotionale Komponente. Vorurteile treten nicht zwingend als diskriminierendes Verhalten in Erscheinung (Brockhaus, 2001, S. 673). Die negative Bewertung findet aufgrund von vorgefertigten Meinungen, wie: „Schizophrene sind unberechenbar und gefährlich.“, statt.

Stereotype

Stereotype sind festgelegte Bilder von Personen oder Gruppen und unterscheiden sich zu Vorurteilen durch „die geringe emotionale Beteiligung“. Sie kategorisieren soziale Tatbestände (ebd., S. 580). Ein Beispiel wäre hier: „Depressive schlafen nur“. Bei Stereotypen handelt es sich um das umgangssprachliche „Schubladen-Denken“.

Diskriminierung

Diskriminierungen sind „moralisch ungerechtfertigte, humane Grundwerten widersprechende Verhaltensweisen, mit denen bestimmte Personen oder Gruppen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Kategorie von anderen Menschen oder von staatlichen Einrichtungen benachteiligt werden“ (ebd., S. 109). Diskriminierung ist somit die Reaktion und Handlung, die aus Vorurteilen resultieren können. Dies wäre beispielsweise die Haltung: „Mit Psychos spreche ich erst gar nicht“ oder sogar der Versuch den geplanten Bau einer Psychiatrie in Wohnnähe zu verhindern. Sie führt zu Isolierung, Ausschluss und ungerechtfertigter Benachteiligung aufgrund eines oder mehrerer prägnanter Merkmale bzw. Stigmata (Finzen, 2013, S. 30).

Vorurteile und Stereotype sind die Vorstufen von Stigmatisierung. Stigmatisierung kann zu Diskriminierung führen, wenn die Abwertung des Individuums durch unterschiedliche Behandlung und Benachteiligung sichtbar wird. In verschiedenen Konzepten und Theorien werden diese Begriffe oft synonym verwendet.

Corrigan und Watson unterscheiden das öffentliche Stigma und das internalisierte Stigma. Damit sind zum einen die Vorurteile, Stereotype und die Diskriminierung von außen gemeint und zum anderen die Vorurteile, Stereotype und die Diskriminierung, die aus der betroffenen Person selbst stammen. Die sie internalisiert hat und über sich selbst denkt (2002, S. 16).

2.2 Erweiterter Teufelskreis der Stigmatisierung

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die oben unterschiedenen Fachbegriffe anhand einer sich schrittweise aufbauenden Grafik zu veranschaulichen. Dabei sollen Entstehung, Funktion, Bewältigung und die Folgen von Stigmata und Stigmatisierungen für Betroffene in Form des „erweiterten Teufelskreises der Stigmatisierung“ ausführlich geschildert werden.

Bei der Darstellung wird davon ausgegangen, dass die psychische Erkrankung als ein Stigma gesehen wird und daraus eine Stigmatisierung entsteht. Der Fall, dass das Umfeld des Betroffenen ihre Krankheit nicht als Stigma empfindet, wird hier aufgrund der Kürze der Studienarbeit, vernachlässigt.

Die selbsterstellte Grafik eines „Erweiterten Teufelskreises der Stigmatisierung“ basiert auf der untenstehenden Abbildung „Der Teufelskreis der Stigmatisierung“ von Beate Schulze.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Stigma und seine Folgen: Der Teufelskreis der Stigmatisierung (Schulze, 2005, S.123)

Beate Schulze nutzt die Illustration um den Prozess der Stigmatisierung und die Folgen für die Betroffenen darzustellen (Schulze, 2005, S. 123).

Ihre Darstellung wird in diesem Zusammenhang schrittweise zu dem „erweiterten Teufelskreis der Stigmatisierung“ aufgebaut.

Dabei sollen die Seite der Betroffenen und der Gesellschaft bestmöglich voneinander getrennt betrachtet werden. In den „erweiterten Teufelskreis der Stigmatisierung“ fließen verschiedene bekannte Theorien und Modelle ein, die sich zur Darstellung der Entstehung und Wirkung von Stigmatisierung vorzugsweise eignen.

Bedeutung der Diagnose für Betroffene

Zuerst erhält eine Person die Diagnose einer psychischen Krankheit von ihrem Arzt oder Psychiater. Bis dahin fühlte sich das Individuum noch geschützt durch ihren eigenen Identitätsglauben. Sie dachte, dass sie „ein vollgültiges normales menschliches Wesen“ ist (Goffman, 2016, S. 15).

Zur Erinnerung: Psychische Krankheiten werden als Stigma gesehen, „negativ definiert“ (Grausgruber, 2005, S. 21) und Betroffene erscheinen Außenstehenden als „willensschwach“ (Goffman, 2016, S. 12).

Für beide Seiten, Betroffene und Gesellschaft, erscheint die psychische Erkrankung erst einmal auf die gleiche Art und Weise, als ein Stigma. Die Reaktion und der Umgang mit dem Stigma sind indessen unterschiedlich.

Link geht in seiner Studie davon aus, dass beim erstmaligen Auftreten einer psychischen Erkrankung das Stigma vom Betroffenen übernommen und sich zu eigen gemacht wird. Der Person wird klar, dass sie „nun zu denjenigen gehört, die in der Gesellschaft stigmatisiert sind“ (Zäske, Baumann & Gaebel, 2005, S. 56). Sie fühlen sich daraus resultierend nicht mehr als „normale Wesen“.

Goffman spricht an dieser Stelle von dem Dilemma der „Diskreditierten“ oder „Diskreditierbaren“. Unter die „Diskreditierten“ fallen Menschen, deren Stigma schnell von außen sichtbar ist oder bei dem die Außenstehenden von dem Stigma Kenntnis haben. Bei den „Diskreditierbaren“ ist das Stigma nicht wahrnehmbar und somit wissen Außenstehende nicht Bescheid (ebd., S. 12). Die „Diskreditierbaren“ stehen künftig vor dem Problem, dass es jederzeit im Bereich des Möglichen liegt, dass die Außenwelt irgendwann auf ihr Stigma aufmerksam wird. Dann werden sie zu „Diskreditierten“.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Umgang der Betroffenen mit dem Stigma der psychischen Erkrankung

Das Stigma-Management

Wie in der Abbildung 2 zu sehen ist, nutzen Betroffene laut Goffman zu diesem Zeitpunkt verschiedene Strategien und Vorgehensweisen um mit dem Stigma umzugehen, das sogenannte „Stigma-Management“.

Der Katalog an Strategien ist komplex. Sie werden in verschiedenen Alltagssituationen, je nach aktueller Verfassung und in Abhängigkeit des Gegenübers, unterschiedlich von Betroffenen genutzt.

Zum einen versuchen stigmatisierte Personen ihr Stigma zu korrigieren. So könnte die Person, die die Diagnose einer psychischen Erkrankung erhalten hat, umgehend anstreben eine Therapie in Gang zu setzen, und nimmt bereitwillig Medikamente ein, um die Symptome zu lindern und die Krankheit zu verbessern. Hierbei besteht durchaus die Gefahr, dass das Stigma lediglich „transformiert“ wird, von einem „Ich mit einem bestimmten Makel zu einem Ich mit dem Kennzeichen, einen bestimmten Makel korrigiert zu haben“.

Zum anderen könnten sie zum Ziel haben ihr Stigma „indirekt zu korrigieren“. Hiermit bezeichnet Goffman Bemühungen der Betroffenen, sich unter diesen Umständen einer speziellen Tätigkeit zu widmen. Sie versuchen ebendiese Aufgabe zu meistern und so der Außenwelt zu beweisen, dass die Unzulänglichkeiten, die auf die Krankheit hinweisen könnten, nicht bestehen.

Weitere Strategien sind, dass Betroffene Kontakte abbrechen oder vermeiden, offen mit ihrem Krankheitsbild umgehen oder sogar auf konfrontativer bis hin zu einer aggressiven Art an die Sache herangehen. Der Umgang ist im Allgemeinen abhängig davon, ob sie die Diagnose als Glück oder Unglück betrachten. Ebenso liegt es im Bereich des Möglichen, dass die Diagnose verleugnet und nicht angenommen wird. Gleich welche Strategie gewählt wird, führt das Stigma laut Goffman bei Betroffenen dazu, dass ihre „soziale Identität“ beschädigt wird und sie in ihrem Status unbeständig sind (2016, S. 18ff.). Sie sind gezwungen sich mit der neuen Situation auseinanderzusetzen und „die eigene Identität neu bestimmen“ zu müssen (Grausgruber, 2005, S. 21).

Die Reaktion der Gesellschaft auf die Erkrankung

Wie reagiert aber die Allgemeinheit unter diesen Umständen auf das Stigma „Psychisch krank“?

Link und Phelan haben in ihrer „modifizierten Labeling Theorie“ vier Phasen herausgearbeitet, welche Vorgänge in Menschen ablaufen, wenn sie auf ein Stigma treffen und wie dies zur einer Stigmatisierung des Stigma-Inhabers führt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Die vier Phasen vom Stigma zur Stigmatisierung

Die erste Phase beginnt mit der Wahrnehmung eines Merkmals, das unerwünscht ist und in dieser Form festgestellt wird (Grausgruber, 2005, S. 30). Das Stigma „psychisch krank“ ist von überaus spezieller Art, denn die Krankheit ist in den seltensten Fällen von außen sichtbar. Es ist somit nur möglich, es einer Person zuzuschreiben, wenn sie ihre Krankheit der Umwelt mitgeteilt hat, oder sie wirklich durch eine Art von Abweichendem Verhalten, einem „nicht-normalen“, in aller Öffentlichkeit auffällt (Goffman, 2016, S. 12). Wie und woran Menschen, die sich als „normal“ einstufen, die psychische Erkrankung eines anderen genau „feststellen“, der diese noch nicht geäußert hat, ist aufgrund der Kürze der Arbeit an dieser Stelle nicht ausführlich behandelbar. Das Gegenüber hat jedoch konkrete Vorstellungen über das Stigma. In dieser Stufe wird der Unterschied zwischen sich und einer PKM festgestellt.

In der zweiten Phase wird eben diese Differenz mit negativen Attributen und Stereotypen in Verbindung gebracht.

In Folge dessen kommt es in der dritten Phase wie oben erwähnt zur Abgrenzung der anderen Menschen zu einer Bildung von „WIR“ und „SIE“ (Grausgruber, 2005, S. 31).

Besitzt eine Person ein Stigma, dann ist sie „in unerwünschter Weise anders, als wir es antizipiert hatten“. So nehmen Menschen, laut Goffman, „unerwünschte Andere“ als „Nicht-Normal“ und andersartig, somit nicht zugehörig wahr. Dahingegen sind „diejenigen, die von jeweils in Frage stehenden Erwartungen nicht negativ abweichen, […] die Normalen“ (Goffman, 2016, S. 13).

Die vierte Phase bringt den Statusverlust und die Diskriminierung der adressierten Person mit sich. Diese Diskriminierung kann drei unterschiedliche Formen annehmen. Erst wirkt sie sich auf die soziale Interaktion in Form von Vermeidung und Handlungen aus. Zweitens gibt es die gesellschaftlich bzw. strukturelle Diskriminierung. Die dritte Art stellt die Selbstdiskriminierung dar, auf die später näher eingegangen wird (Grausgruber, 2005, S. 30f.). Nach Grausgruber ist bereits dann von Diskriminierung zu sprechen, wenn die Krankheit von Außenstehenden aus Wissensmangel oder Desinteresse verharmlost, nicht ernst genommen oder abgewertet wird (ebd., S. 23).

Gründe für diese Reaktion und Unsicherheit im Umgang mit PKM, sieht Schulze im Wissensmangel über die verschiedenen Krankheitsbilder. Ebenso spielen Ängste eine große Rolle, beispielsweise vor dem unberechenbaren und gefährlichem Verhalten der PKM. Nicht zu unterschätzen ist die Darstellung prominenter Personen mit psychischen Erkrankungen in den Medien. Alle Gründe hängen eng mit bestehenden Vorurteilen und Stereotypen zusammen (2005, S. 124f.). „Welche Krankheit hat die Person den überhaupt? Wie soll man mit der Person reden? Wie belastbar ist die Person? Schizophrene sind doch gefährlich und unberechenbar, oder? Solche Menschen sollte man besser wegsperren!“ All dies wären Gedanken und Fragen, die für die Veranschaulichung der Unsicherheit, des Wissensmangels und der Angst denkbar sind.

Die Art und Weise wie Betroffene mit ihrer Krankheit und dem Stigma umgehen, erzeugen ebenfalls Reaktionen bei Mitmenschen und in der Gesellschaft. Die Betroffenen werden dann entweder als zu aggressiv oder als zu schüchtern empfunden (Goffman, 2016, S. 28). Außenstehende könnten so ein Verhalten als Bestätigung ihrer Vorurteile werten.

Die besondere Rolle der Medien

An dieser Stelle muss kurz auf die Rolle eingegangen werden, die Medien in diesen Prozessen spielen. Es existieren zahlreiche Studien darüber, wie PKM in den Massenmedien dargestellt werden und welche Wirkung dies auf die ZuschauerInnen hat.

Medien tragen zur Entwicklung und zur Aufrechterhaltung, sogar zur Verschlimmerung negativer Vorstellungen und Einstellung gegenüber PKM bei. Sie begünstigen so deren Stigmatisierung und Diskriminierung. Sie tragen zur Bildung von Stereotypen bei, wenn beispielsweise in einem Spielfilm ein Gewaltverbrechen gezeigt wird, dass von einem psychisch kranken Menschen verübt wird.

Als treffendes Beispiel für die einseitige Darstellung, nennt Asmus Finzen Harald Juhnke. Er war zu seinen Lebzeiten regelmäßig auf den Titelseiten zu finden, weil er erneute Alkoholrückfälle hatte (Finzen, 2017, S. 191).

Im April 2018 berichtete die Bild-Zeitung abwertend und verhöhnend über den Amokfahrer von Münster und zitierte aus seinem 92-seitigen Abschiedsbrief (Bild Zeitung, 2018).

Solche Artikel wirken auf die LeserInnen. Vorhandene Ängste, Vorurteile und Stereotype werden so bestätigt und keine Notwendigkeit darin gesehen sich weiter über psychische Krankheiten zu informieren.

Die Folgen der Stigmatisierung für Betroffene

Selbst bei diesen prominenten Beispielen kam es zum Statusverlust der Stigmatisierten. Betroffene müssen ihren Status neu definieren. Goffman spricht sogar vom Verlust der sozialen Identität, aufgrund der Diskrepanz zwischen Individuum und Gesellschaft (2016, S. 30).

Wenn Betroffene ihren Status durch die Bewertung Außenstehender verloren haben, werden sie nicht mehr als zugehörig identifiziert, ausgeschlossen und diskriminiert.

Diese Stigmatisierung, Diskriminierung und die Bewältigungsstrategien im Umgang mit dem Stigma haben weitreichende Auswirkungen für die Betroffenen. Schon das nötig werden von Bewältigungsstrategien darf als soziale Folgen der Stigmatisierung bezeichnet werden.

Würde man die Diagnose auf das Stressmodell von Lazarus übertragen, bedeutet das, dass der Krankheitsbefund einen Stress-Auslöser darstellt. In Folge dessen kommt es zur ersten Bewertung und der Einschätzung der Situation. Wird hier das Urteil getroffen, dass es sich bei der Diagnose um einen Schaden oder eine Bedrohung handelt und man jetzt anders, als die Umwelt ist, erfolgt eine zweite Bewertung. Hier geht es um die Einschätzung der eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten zur Bewältigung der Krankheit. Hält die betroffene Person ihre Kompetenzen und Expertise für unzureichend, weil sie die Vorurteile, Stereotype und Stigmatisierung internalisiert hat, entsteht Stress. Dieser Stress kann schließlich zum Dauer-Stress werden.

PKM sind fortwährend darum bemüht, anderen etwas vorzuspielen, sich zu verstellen und zu verstecken. Aus diesem Grund bezeichnet Asmus Finzen die „Stigmatisierung als zweite Krankheit“ (2017, S. 195).

Stigmatisierte vermögen nie gänzlich zu wissen, was die Menschen in ihrer Umgebung faktisch über sie denken. Dennoch sind sie ständig um Geheimhaltung und Verschleierung bemüht.

Sie führen im Grunde ein Doppelleben (Goffman, 2016, S. 100).

Diese pausenlosen Versuche und Bemühungen „normal“ wirken zu wollen, sowie der damit verbundene Dauer-Stress, erfordern zusätzlich zur grundlegenden Erkrankung, eine enorme Kraftanstrengung. So ist es möglich, dass sich die eigentliche psychische Krankheit auf vielfältige Weise verschlechtert (Finzen, 2013, S. 55).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Folgen der Stigmatisierung von psychisch kranken Menschen

Die Auswirkungen der Stigmatisierung sind massiv. Es ist möglich, dass mehrere Folgen eine Person gleichzeitig belasten. Sie sind überaus komplex und wirken wechselseitig.

Wie erwähnt, ist die Vermeidung oder der Rückzug von sozialen Kontakten nur eine Art des Umgangs des Betroffenen mit seinem Stigma. Gleichzeitig handelt es sich dabei um eine direkte Folge der Stigmatisierung durch die Gesellschaft.

Betroffene ziehen sich von Freunden und Bekannten zurück und reduzieren so ihre sozialen Kontakte. Dies tun sie einerseits in Eigeninitiative, weil sie sich nicht verstanden fühlen. Andererseits, weil sie von den Menschen aus ihrem Umfeld abgelehnt werden, da diese nicht im Stande sind mit dem veränderten Verhalten umzugehen oder wenig Wissen über das Krankheitsbild besitzen. Diese ablehnende und diskriminierende Haltung gilt es zusätzlich zur Krankheit zu verarbeiten und zu verkraften. Jeder Mensch, ob krank oder gesund, braucht soziale Kontakte. Dieser Austausch ist für PKM bedeutungsvoll (Finzen, 2013, S. 48).

Schulze spricht von „Schwierigkeiten beim Zugang zu sozialen Rollen“ und meint damit nicht nur Probleme am Arbeitsplatz. Personen, die bisher in einer Anstellung waren, sehen sich ständig mit der Angst konfrontiert, dass sie ihre Arbeit verlieren könnten. Arbeitslose sind sich im Unklaren darüber, ob sie aufgrund ihrer Symptome und Einschränkungen, erneut arbeitsfähig sind und nach längerer Arbeitslosigkeit zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden. Ebenso könnten Schwierigkeiten beim Finden oder Aufrechterhalten von Partnerschaften vorkommen. (Schulze, 2005, S. 124f.).

Solche Ängste und Befürchtungen, kombiniert mit der Isolation und Vermeidung von sozialen Kontakten, reduzieren die Lebensqualität der Betroffenen immens. Das Selbstwertgefühl der PKM wird weiter beeinträchtigt.

Zur strukturellen Diskriminierung zählen Konfrontationen auf Ämtern und Behörden, wie beispielsweise Arbeitsamt und Jobcenter, wenn kein Verständnis für Krankheitsbilder herrscht und dadurch die Arbeitsmotivation in Frage gestellt wird. Mitunter kommt es sogar bei Ärzten und in Psychiatrien zu Stigmatisierungen der Betroffenen und ihrer Angehörigen, weil Anliegen und Beschwerden nicht ernstgenommen werden (Rüesch, 2005, S. 196ff.).

Stigmatisierung betrifft nach Aussage von Betroffenen größtenteils die interpersonelle Interaktion. Gefolgt von dem Bild von PKM in der Öffentlichkeit und den Zugang zu Sozialen Rollen, sowie die strukturelle Diskriminierung (Schulze, 2005, S. 127-132).

Selbststigmatisierung

Eine spezielle Folge der Stigmatisierung von PKM stellt die Selbststigmatisierung dar. Sie entsteht, wenn Betroffene die Vorurteile und Stereotype über ihr Stigma kennen, ihnen zustimmen und sie gegen sich wenden. Die Stigmatisierung von außen wird antizipiert und internalisiert. Je ausgeprägter die gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber der Krankheit sind und je stärker Betroffene im Alltag Zurückweisungen ausgesetzt sind, desto eher entwickeln sie daraus eine „Missbilligung ihrer selbst“ (Finzen, 2013, S. 45). So entstehen Selbstvorurteile und Selbstdiskriminierung, die fatale Auswirkungen haben. (ebd., S. 63).

Bei depressiven Erkrankungen ergeben sich beispielsweise Selbstwertprobleme und die verringerte Selbstwirksamkeit bereits aus der Erkrankung heraus. Diese verschlechtern sich durch die Selbststigmatisierung und die Selbstdiskriminierung noch mehr. So trauen sich die Betroffenen kaum oder gar nichts mehr zu. Sie erlauben sich selbst auch nicht mehr „normal“ zu sein. Dies liegt dann nicht mehr nur an der eigentlichen Erkrankung, „sondern an dem selbstdiskriminierenden Verhalten der Betroffenen“ (Rüsch, Berger, Finzen & Angermeyer, 2004, S. 5).

Um ihr Stigma und ihre Stigmatisierung erfolgreich zu bewältigen und sie nicht zu einer zweiten Krankheit werden zu lassen oder sich selbst zu stigmatisieren, benötigen PKM ein positives Zugehörigkeitsgefühl, Erfolgserlebnisse und soziale Unterstützung. Dies sind Quellen der Selbstwirksamkeit, die verbessernd auf Selbstwertprobleme, die Selbststigmatisierung und im Umkehrschluss auf die Erkrankung wirken können.

Das Wissen um Stigma und Stigmatisierung kann das rechtzeitige Aufsuchen professioneller Hilfen deutlich erschweren. So ist es möglich, dass sich Beschwerden verschlechtern und chronisch werden. Hierbei besteht die Gefahr, dass unbehandelte psychische Krankheiten oft in engem Zusammenhang mit Suizidalität stehen (Wolfersdorf & Lewitzka, 2015). Dieses Risiko liegt oft nicht in der eigentlichen Krankheit begründet. Betroffene ertragen die Stigmatisierung und Diskriminierung von außen sowie die Selbststigmatisierung nicht mehr und sehen den Suizid als einzigen Ausweg, ja sogar als eine Art Erlösung (Finzen, 2013, S. 73).

Bei einer Verschlechterung der eigentlichen psychischen Erkrankung, Erstmanifestion genannt, beginnt der Stigmatisierungsprozess von Neuem. Ein Teufelskreis entsteht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Abschließende Darstellung des Teufelskreises der Stigmatisierung

2.3 Entstigmatisierung ist unentbehrlich

Durch die obige Darstellung des „Teufelskreises der Stigmatisierung“ wurde deutlich aufgezeigt, welche Folgen die Stigmatisierung von PKM hat und dass sich diese biopsychosozial auswirken. Die weite Verbreitung der verschiedenen Krankheiten wurde eingangs erwähnt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte im Februar 2017 im Rahmen einer mit internationalen Fachleuten besetzten Konferenz im Bundeskanzleramt, mehr Aufklärung über psychische Erkrankungen und Entstigmatisierung von PKM, vor allem in der Arbeitswelt. „Es ist in der Tat ein Thema, das uns alle zu Entwicklungsländern macht“, sagte sie auf der Konferenz (Deutsches Ärzteblatt, 2017).

Hier zeigt sich, dass die Entstigmatisierung nicht nur von großer Bedeutung für Betroffene ist. Ein Blick auf die volkswirtschaftlichen Interessen an psychischen Erkrankungen ist nicht zu vernachlässigen.

Bei den Krankheitskosten lag die Gruppe der psychischen Erkrankungen im Jahr 2008 an dritter Stelle. 28,7 Milliarden Euro wurden für medizinische Heilbehandlungen, Präventions-, Rehabilitations- und Pflegemaßnahmen ausgegeben (Gesundheitsberichterstattung des Bundes, 2015, S. 112).

Im Jahr 2012 kam es zu 60 Millionen Fehltagen aufgrund psychischer Erkrankungen (DAK, 2015, S. 15). Im Jahr 2015 waren es 70 Millionen erfasste Krankheitstage (BKK Dachverband, 2015, S. 7). Volker Ulrich summierte die indirekten und direkten Kosten, die durch psychische Erkrankungen im Jahr 2008 entstanden, auf rund 90 Milliarden Euro (2014, S. 13).

Die Gesundheitsprävention ist in verschiedenen Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland verankert und vorgeschrieben. Das Aktionsbündnis für psychische Gesundheit betrachtet Entstigmatisierung als Interventionsmaßnahme (2010, S. 1ff.).

Es kann bei der Entstigmatisierung nicht nur von einer Interventionsmaßnahme gesprochen werden. Wie am Teufelskreis deutlich zu erkennen ist, handelt es sich bei der Entstigmatisierung gleichzeitig um eine Präventionsmaßnahme. Sie beinhaltet das Potential, den Teufelskreis gar nicht erst entstehen zu lassen. Im Umkehrschluss wäre sie, so die Behauptung, gesetzlich verankert und begründet.

Entstigmatisierung ist eine Aufgabe der Sozialen Arbeit

Warum ist die Entstigmatisierung von PKM ein notwendiger Auftrag der Sozialen Arbeit?

Die Entstigmatisierung ist als eine interdisziplinäre Querschnittsaufgabe zu betrachten, die Medizinern, Psychologen, Psychiatern, Therapeuten, psychiatrischem Personal, Arbeitgebern, Krankenkassen, Politik und vielen mehr obliegt.

PKM haben aufgrund ihrer zahlreichen Belastungen kaum bis gar keine Kraft und Energie ihre eigenen Interessen zu vertreten.

Die Soziale Arbeit versteht sich laut Deutschem Berufsverband für Sozialer Arbeit als eine praxisorientierte Profession (Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V. [DBSH], 2016, S. 2). Soziale Arbeiter gelten allgemein als Interessenvertretung (DBSH, 2009, S.4.).

„Sozialarbeiter haben eine Verpflichtung, soziale Gerechtigkeit zu fördern

in Bezug auf Gesellschaft im Allgemeinen und in Bezug auf die Person.“

(ebd., S. 2)

Silvia Staub-Bernasconi bezeichnet die Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession und definiert: „Soziale Arbeit ist eine Profession, die sozialen Wandel, Problemlösungen in menschlichen Beziehungen sowie die Ermächtigung und Befreiung von Menschen fördert, um ihr Wohlbefinden zu verbessern. […] Dabei sind die Prinzipien der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit für die Soziale Arbeit von fundamentaler Bedeutung“ (Staub-Bernasconi, 2007, S. 26f.). Ergo frei nach dem Motto: „Den Schwachen eine Stimme geben.“

Sogar Paulo Freire bezeichnet Sozialarbeiter als „agents of change“ und definiert, dass sie Anstöße zur Veränderung in der Alltagspraxis geben sollen (Erath, 2006, S. 127ff.).

Der Sozialen Arbeit stehen zahlreiche Modelle, Handlungskonzepte, Methoden und Techniken zur Verfügung, die in Projekten zur Entstigmatisierung und in Anti-Stigma-Programmen, eine Möglichkeit bieten, um in diesen Prozessen nicht nur zu intervenieren, sondern wie oben begründet präventiv zu arbeiten. Hierzu zählen beispielsweise die Gemeinwesenarbeit, verhaltensorientierte Sozialarbeit, Unterstützungsmanagement, systemische Sozialarbeit, Empowerment und viele mehr (ebd., S. 140 – 175).

[...]

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
Außerschulische politische Bildung zur Vorbeugung der Stigmatisierung psychisch kranker Menschen
Untertitel
Eine Analyse des Studientages "Medizin und Menschenbild im Nationalsozialismus" im DoKuPäd Nürnberg
Hochschule
Georg-Simon-Ohm-Hochschule Nürnberg  (Fakultät Sozialwissenschaften)
Veranstaltung
Praxis-Theorie-Transfer
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
53
Katalognummer
V441513
ISBN (eBook)
9783668800830
ISBN (Buch)
9783668800847
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Stigmatisierung
Arbeit zitieren
Renate Bajer (Autor:in), 2018, Außerschulische politische Bildung zur Vorbeugung der Stigmatisierung psychisch kranker Menschen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/441513

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