Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Jakob als Erzähler
2.1 Lügner wider Willen
2.2 Die Lüge als Hoffnungsspender
2.3 Realitätseinbruch
3 Der namenlose Erzähler
3.1 Zeugnis geben
3.2 Gehürüfinden
3.3 Schönheit contra Wahrheit
4 Fazit
5 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
In Jurek Beckers Roman „Jakob der Lügner“ spielen drei Erz hler eine Rolle: Da ist zuerst Jakob, der Protagonist, der den anderen Ghettobewohnern seine erfundenen Nachrichten erz hlt. Der namenlose Ich-Erz hler erz hlt den Lesern Jakobs Geschichte. Und schlie lich stellt der gesamte Roman nat rlich eine von Jurek Becker erz hlte Geschichte dar. Diese Verschachtelung erm glicht einen Blick auf ein Problem, das in der Literatur von berlebenden, die sich literarisch mit dem Holocaust besch ftigen, deutlich wird: Wie geht man als Autor mit den unfassbaren Gr ueltaten um, die sich ereigneten? Einerseits erscheinen die Fakten durch ihre blo en Dimensionen v llig unwirklich, unvorstellbar, undarstellbar andererseits ist es auch keine Option, die Verfolgung und tätung von Millionen Juden einfach nicht zu erw hnen. Die Shoa ist ein Zivilisationsbruch, der nicht nichtäthematisiert werden kann; auch in einem fiktiven Werk k me das Verschweigen einer v lligen Verharmlosung gleich. Dennoch ist der Literatur die Fiktion, das Ausgedachte und Unreale, immanent. Wie also kann eine L sung aussehen, in der nichts verschwiegen wird, aber auch die literarische Fiktion zu ihrem Recht kommt?
Bereits im Titel von Beckers Roman, „Jakob der Lügner“, wird Fiktion benannt: Auch eine L ge ist eine Form von Fiktion, erfundener Geschichte, und der Protagonist Jakob erfindet erst spontan, sp ter ganz bewusst eine Geschichte, um seinen Mitmenschen einen Grund zum Hoffen und damit zum Weiterleben zu geben. Und auch der Erz hler, durch den Jakobs Schicksal vermittelt wird, liefert nicht einfach einen Bericht, sondern seinerseits eine Geschichte, die aufürealen Ereignissen aufbaut, aber mit fiktionalen Elementen gef ttert ist. (Nat rlich sind „Wahrheit“ und „Realität“ im Rahmen eines Romans keine eindeutigen Begriffe, da auch die „wahre“ Geschichte Jakobs ja nur eine Erfindung Jurek Beckers ist; da seine Schilderungen allerdings ein sehr realistisches Bild der historischen Ghettowirklichkeit zeichnen, ist nach Danow die Frage nach der spezifischen Wirklichkeit des Geschehens zweitrangig.[1] Dieser Auffassung schlie e ich mich an und verwende in der Hausarbeit die Begriffe „Realität“ und „Wahrheit“ in Bezug auf die im Roman geschilderte Geschichte von und um Jakob im Ghetto.)
Interessant ist die Frage, warum sowohl Jakob als auch der namenlos bleibende Ich-Erz hler berhaupt auf die Idee kommen, sich zus tzlich zu ihren realen Informationen Dinge auszudenken, also nicht nur zu berichten, sondern zu erz hlen. Weshalb erscheint ihnen jeweils zumindestäteilweise Fiktion sinnvoller als ein n chterner Tatsachenbericht? Was kann Fiktion, was neutrale Nachrichten nicht können?
Diesen Fragen m chte ich in der vorliegenden Hausarbeit auf den Grund gehen. Dazu betrachte ich zuerst für Jakob, dann für den Erz hler jeweils, warum und wozu sie berhaupt Informationen weitergeben wollen; wie sie das tun, inwieweit Realität und Fiktion vermischt werden und wie sich ihre Erz hlungen auswirken; und schlie lich, an welchem Punkt Realität und Fiktion unvereinbar werden.
2 Jakob als Erz hler
2.1 Lügner wider Willen
Jakob, der bereits im Titel des Romans als Lügner charakterisiert wird, hat zun chst berhaupt nicht die Absicht, zu l gen: Er hat durch einen Zufall eine freudige Nachricht, n mlich von der wom glich baldigen Ankunft der Russen und damit der Befreiung des Ghettos, mitbekommen. Diese gute Neuigkeit m chte er mit seinen Freunden und Mitgefangenen teilen, jedoch ist die Frage: wie kann er das anstellen, ohne in den Verdacht zu kommen, ein Spitzel für die Nazis zu sein[2] oder Versprechen zu machen, die er nicht halten kann?[3] So kommt Jakob „ohne feste Absichten“[4] am n chsten Morgen zum Bahnhof, seinem Arbeitsplatz; er wei noch nicht, wie er seine Informationen weitererz hlen soll und w rde sie vielleicht zun chst für sich behalten, wenn Mischa nicht w re. Dieser hat den Plan geschmiedet, Kartoffeln aus einem Waggon zu stehlen, eine Tat, für die er sofort erschossen werden w rde, wenn die Deutschen ihn dabei entdeckten. Jakob findet es allerdings, gerade im Wissen um die nahende Rettung durch die Russen, v llig unn tig, dass Mischa sein Leben so leichtfertig riskiert und berichtet ihm seine gro e Neuigkeit, um Mischa vom Kartoffeldiebstahl abzuhalten.[5] Jedoch h lt Mischa die wahre Geschichte Jakobs für unglaubw rdig und nimmt ihm deshalb auch die Radiomeldung nicht ab; Grund genug für Jakob, in Eile zu behaupten, er selbst h tte ein Radio. Diese Nachricht endlich schafft es, Mischa sein Leben nicht aufs Spiel setzen zu lassen.[6] So entsteht aus einer kleinen Notl ge heraus die gro e L gengeschichte von Jakobs Radio.
Bereits in dieser kleinen Szene zeigt sich, dass in der „verkehrten Welt“ des Ghettos auch das Verh ltnis von Wahrheit und L ge verschoben ist. In einer Welt, in der v llig normale Dinge wie der Besitz von Wertgegenst nden, das Halten von Haustieren oder das Verlassen des Hauses nach 20 Uhr bei Todesstrafe verboten sind,[7] ist auch die L ge nicht mehr nur negativ:
What can be immediately derived from the work is that contrary to expectations whereby what is positive is normally equated with truth, and negative with the lie the relations between the two, as well as independent understandings of the one and the other, are atätimes reversed. Truth may condemn to death, by causing a loss of hope, by giving up on life. While a lie may (falsely) sustain hope and the very possibility of (more) life.[8]
Dieses „Prinzip der Umkehrung“,[9] die ungew hnliche Situation, in der die Wahrheit grausam und die L ge barmherzig ist, f hrt dazu, dass Jakob beschlie t, seine Erz hlung vom Radio Mischa gegen ber noch ein wenig aufrechtzuerhalten. Doch Mischa schafft es nicht lange, die freudige Nachricht für sich zu behalten.
2.2 Die L ge als Hoffnungsspender
Bereits zur Mittagszeit hat sich die hoffnungsvolle Neuigkeit vom Vorr cken der Russen und auch ihre vermeintliche Quelle Jakobs Radio unter den Arbeitern verbreitet. Kowalski, Jakobs alter Bekannter, spricht ihn beim Essen darauf an und l sst sich nicht abwimmeln, bis er von Jakob selbst h rt, dass die Russen bei Bezanika stehen.[10] Jakob ist klar, dass es nun zu sp t ist, die Information ber seine Quelle richtig zu stellen.[11] Und als er am n chsten Tag wieder von Kowalski nach Neuigkeiten gefragt wird, erfindet er nach versuchten Ausfl chten einfach eine Nachricht: Die Russen seien drei Kilometer vorger ckt.[12] Hier wird Jakob eigentlich zum ersten Mal zum Lügner: Hatte er vorher nur die Quellenangabe einer echten Information ver ndert, erfindet er nun frei eine weitere Nachricht. Er wei , dass er damit Hoffnung gibt:
Die erste L ge, die vielleicht gar keine war, so klein nur, und Kowalski ist zufrieden. Das ist es wert, die Hoffnung darf nicht einschlafen, sonst werden sie nicht berleben, er wei genau, da die Russen auf dem Vormarsch sind, er hat es mit den eigenen Ohren geh rt, und wenn es einen Gott im Himmel gibt, dann m ssen sie auch bis zu uns kommen, und wenn es keinen gibt, dann m ssen sie auch bis zu uns kommen, und m glichst viele berlebende m ssen sie antreffen, das ist es wert. Und wenn wir alle tot sein werden, dann war es ein Versuch, das ist es wert.[13]
Die Stimmung im Ghetto ver ndert sich infolge der erfundenen Nachrichten, die die russischen Truppen St ck für St ck n her kommen lassen. Die Menschen beginnen, an eine Zukunft zu glauben: „Alte Schulden beginnen eine Rolle zu spielen, [...] T chter verwandeln sich in Br ute, [...] die Leute sind vollkommen verr ckt, die Selbstmordziffern sinken auf Null.“[14] Exemplarisch wird diese Entwicklung an Mischa und Rosa sichtbar.
Mischa und Rosa Frankfurter sind schon etwa ein Jahr ein Paar und er besucht sie und ihre Eltern regelm ig. Bei seinem ersten Besuch, nachdem er von Jakob die Neuigkeit erfahren hat, m chte er diese an die Frankfurters weitergeben. Doch als er ankommt, dreht sich das Gespr ch zun chst um ein neugeborenes Kind im Ghetto. W hrend Rosa und ihre Mutter ber die Namensgebung sinnieren, ist es Felix Frankfurter, der die Realität in den Raum holt: „Wenn alles vorbei ist, lebt das Kind nicht mehr, und die Eltern leben nicht mehr. Wir alle werden nicht mehr leben, dann ist alles vorbei.“[15] für ihn ist der drohende Tod ein Selbstverst ndnis; Zukunftsvisionen gestattet er sich nicht mehr.
In diese Stimmung hinein h lt Mischa um Rosas Hand an. Rosas Vater „ist erschlagen“:[16] Er kann nicht fassen, dass Mischa im Ghetto an eine Hochzeit denkt. Heiraten, also ein Versprechen für die Zukunft abgeben das erscheint Frankfurter in ihrer Situation nicht denkbar. Im Ghetto, unter der menschenverachtenden Herrschaft der Nazis, klingen „ganz normale W nsche wie Ungeheuerlichkeiten“.[17]
Doch Mischa wei bereits, was Frankfurter nicht wei : Die Russen r cken vor und werden in absehbarer Zeit auch in ihrem Ghetto ankommen. für Mischa ist „seit gestern [...] morgen auch noch ein Tag“;[18] er kann sich eine Zukunft vorstellen, eine Zukunft mit seiner geliebten Rosa. Diese beginnt, sich ihre Zukunft gleich ganz konkret auszumalen: Die erste Auseinandersetzung hat das junge Paar um die Frage, ob Rosas Eltern bei ihnen wohnen werden oder nicht. Waren solche Fragen vorher v llig irrelevant, weil nie klar war, wie lange ihre gemeinsame Gegenwart andauern w rde „es hatte immer nur die eine Nacht gegeben, in der man gerade lag und sich liebte, die eine und keine andere, alle folgenden mu ten erst abgewartet werden, und es lohnte nicht, gro ber sie zu reden“[19], so spielt diese Erw gung nun eine so wichtige Rolle, dass Rosa Mischa dafür mitten in der Nacht aufweckt. Sie stellt sich bereits vor, wie sie zusammen leben werden, sie plant ihr zuk nftiges Haus von der Anzahl der Zimmer bis hin zu den Details der Einrichtung.[20]
Auch Kowalski macht sich Gedanken ber die Zukunft. Seine Hoffnung scheint durch, wenn er Jakob fragt: „Soll man nicht langsam wieder anfangen, sich an was Normales zu gew hnen?“[21] Au erdem bittet er Jakob um Rat, was seine Gesch ftspl ne für die Zeit nach dem Krieg angeht.[22]
Selbst diejenigen im Ghetto, die eigentlich gegen das Radio sind, m ssen zugeben, dass die Effekte der guten Nachrichten nicht zu bersehen sind: Professor Kirschbaum, der Arzt, kommt eigentlich zu Jakob, um ihm Vorw rfe zu machen sollte die Gestapo herausfinden, dass jemand im Ghetto ein Radio besitzt und jeder das wusste, sind alle in Gefahr.[23] Doch Jakob h lt ihm die Hoffnung entgegen, die er bringt und die für viele der einzige Grund ist, weshalb sie berhaupt noch leben wollen:
Gen gt es Ihnen nicht, da wir so gut wie nichts zu fressen haben, da jeder f nfte von uns im Winter erfriert, da jeden Tag eine halbe Stra e zum Transport geht? Das alles reicht noch nicht aus? Und wenn ich versuche, die allerletzte M glichkeit zu nutzen, die sie davon abh lt, sich gleich hinzulegen und zu krepieren, mit Worten, verstehen Sie, mit Worten versuche ich das! Weil ich n mlich nichts anderes habe![24]
Mit diesem Gedanken und dem Hinweis auf die auf Null zur ckgegangenen Selbstmordziffern bringt Jakob Kirschbaum dazu, seine Einsch tzung des Geschehens noch einmal zu berdenken.[25] Und sogar Rosas Vater, der aus den selben Gr nden wie Kirschbaum die verbreiteten Radionachrichten sehr skeptisch betrachtet[26] und lange Zeit den Gedanken an eine gl ckliche Zukunft l cherlich fand, kommt nicht umhin, sich von der hoffnungsvollen Stimmung anstecken zu lassen: Er notiert sich Theaterrollen, die er sp ter einmal spielen m chte.[27]
Doch nat rlich sind es nicht nur die anderen Bewohner des Ghettos, die hoffen, sondern genauso Jakob selbst. Auch ihm w re es am liebsten, wenn sich zum Schluss herausstellte, dass seine erfundene Geschichte tats chlich wahr w re.
[...]
[1] Vgl. David K. Danow: Truth and Lie in extremis: Holocaust Literature (Jakob the Liar, The Final Journey). In: Canadian review of comparative literature 29 (2002) H. 4. S. 519 536, S. 523.
[2] Vgl. Jurek Becker: Jakob der Lügner. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982 (= suhrkamp taschenbuch 774), S. 27.
[3] Vgl. ebd., S. 26.
[4] Ebd., S. 27.
[5] Vgl. ebd., S. 30.
[6] Vgl. ebd., S. 32.
[7] Vgl. ebd., S. 8.
[8] Danow: Truth and lie in extremis, S. 523.
[9] Elke Kasper: Nicht zu erinnernde Vergangenheit. Zu Jurek Beckers Roman Jakob der Lügner. In: Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Hg. von Stephan Braese, Holger Gehle u. a. Frankfurt, New York: Campus 1998. S. 141 155, S. 142.
[10] Vgl. Becker: Jakob der Lügner, S. 40 42.
[11] Vgl. ebd., S. 42.
[12] Vgl. ebd., S. 74.
[13] Ebd., S. 75.
[14] Ebd., S. 83.
[15] Ebd., S. 50.
[16] Ebd., S. 52.
[17] Ebd.
[18] Ebd., S. 50.
[19] Ebd., S. 65.
[20] Vgl. ebd., S. 65 67.
[21] Ebd., S. 121.
[22] Vgl. ebd., S. 158 160.
[23] Vgl. ebd., S. 192 194.
[24] Ebd., S. 194.
[25] Vgl. ebd., S. 195 196.
[26] Vgl. ebd., S. 58 59.
[27] Vgl. ebd., S. 226.