Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Darstellung der drei Perspektiven
2.1. Soziale Ungleichheit, Bildung und Habitus
2.2. BildungsaufsteigerInnen aus benachteiligten Milieus
2.3. Weiterbildung und soziale Milieus
3. Analyse der drei Perspektiven: Explikation und Diskussion der Vergleichshorizonte
3.1. Explikation und Diskussion immanenter Gesichtspunkte
3.2. Explikation und Diskussion exmanenter Gesichtspunkte
3.3. Fazit
4. Zusammenfassung und „empirischer Ausblick“
5. Literaturverzeichnis
5.1. Abbildungsverzeichnis
5.2. Anhang
1. Einleitung
Dieses komparative Analyse-Essay beschäftigt sich mit drei Werken, welche die übergeordnete Thematik „Soziale Herkunft und soziales Milieu als Einflussfaktoren der Schul- und Erwachsenenbildung“ verbindet. Hierbei stellt sich die zentrale Frage, ob und durch welche Mechanismen die soziale Herkunft und das soziale Milieu den Bildungs- und Berufsweg beeinflussen.
In diesem Zusammenhang untersucht Fabian van Essen in seinem Buch „Soziale Ungleichheit, Bildung und Habitus“, auf welche Art ein Förderschulabschluss die Möglichkeitsräume von Förderschulabgänger/innen beeinflusst. Das Buch lässt sich in die Debatte um Bildungsgerechtigkeit, Bildungsungleichheit und die Sinnhaftigkeit der Förderschule einordnen. Die Frage, ob die Förderschule tatsächlich zur Förderung von Schüler/innen mit einem Förderungsbedarf beiträgt, steht dabei im Mittelpunkt. Das Themenfeld dieser Debatte wird durch weitere Werke wie „Elitebildung, Bildungselite“ (2006) und „Pädagogik bei Lernschwierigkeiten“ (2016) ergänzt.
Aladin El-Mafaalani setzt in seiner Abhandlung über Bildungsaufsteiger/innen aus benachteiligten Milieus seinen thematischen Schwerpunkt darauf, wie es möglich ist, der Reproduktion sozialer Ungleichheit zu entkommen und welche Aspekte dafür ausschlaggebend sind. Zusätzlich dazu vergleicht er die Aufstiegsprozesse von Personen mit und ohne Migrationshintergrund. Diese Thematik lässt sich in die Debatte um Bildungsgerechtigkeit und die mögliche Bildungsbenachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund einordnen. Weitere relevante Werke aus diesem Bereich sind u.a. „Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien im deutschen Bildungssystem“ (2010) sowie „Bildungsgerechtigkeit“ (2017).
Das dritte Buch mit dem Titel „Weiterbildung und soziale Milieus“ ist bereits achtzehn Jahre alt und wurde von Heiner Barz geschrieben. Der Autor beschäftigt sich mit der milieuspezifischen Wahrnehmung von Weiterbildung, insbesondere mit der Wahrnehmung des Bildungsanbieters „Volkshochschule“. Hierzu wird die „Freiburger Studie“ von 1995 analysiert. Der Text des Autors lässt sich in die Debatte um lebenslanges Lernen und um die (Weiter)Entwicklung der Erwachsenenbildung einordnen. Auch hier gibt es eine Auswahl weiterführender Veröffentlichungen, wie die Bücher „Trends der Weiterbildung“ (2010) und das „Handbuch Bildungsforschung“ (2010).
Im Folgenden werde ich die drei Bücher sowie ihre zentralen Inhalte und Erkenntnisse zunächst darstellen. Anschließend findet eine immanente Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Konzeptionen der Autoren statt. Danach werden die Abhandlungen exmanent verglichen und diskutiert. Schließlich folgt eine Zusammenfassung der Ergebnisse. Als Abschluss dieses Essays wird ein empirischer Ausblick auf eine weitergehende Forschung zu dieser Thematik formuliert.
2. Darstellung der drei Perspektiven
2.1. Soziale Ungleichheit, Bildung und Habitus
Zunächst soll die Perspektive des Werks „Soziale Ungleichheit, Bildung und Habitus“ von Fabian van Essen (2013) betrachtet werden. Der Autor schreibt über die Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit, Bildung, Habitus und dem damit in Zusammenhang stehenden Schulerfolg. Hierbei legt er den Schwerpunkt auf die Möglichkeitsräume ehemaliger Förderschüler/innen. Die Verhältnisse zwischen dem sozialen Herkunftsmilieu, der damit potentiell einhergehenden Schullaufbahn und den entsprechenden Konsequenzen für das spätere (Berufs-)Leben werden durch die Analyse von qualitativ-empirischen Interviews untersucht.
Einführend in die Thematik werden anhand des Konstrukts des sozialen Raums von Pierre Bourdieu die sozialen Felder Schule, berufliche Ausbildung und Berufstätigkeit hinsichtlich verschiedener Aspekte beleuchtet. Der soziale Raum beschreibt dabei den Zusammenhang der verschiedenen Mitglieder einer Gesellschaft zueinander mit der Absicht, Unterschiede zwischen diesen kenntlich zu machen (vgl. Van Essen 2013, S. 17-49, S. 18; vgl. Bourdieu 1985). Besagte Unterschiede zwischen den Gesellschaftsmitgliedern äußern sich in diesem sozialen Raum in Form von Kapital(-Sorten), die sich in ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital einteilen lassen. Auch weitere Abstufungen sind möglich, beispielsweise ist ein Bildungsabschluss eine Form des institutionalisierten kulturellen Kapitals (vgl. Van Essen 2013, S. 17-49; vgl. Bourdieu 1986).
Ferner lässt sich der soziale Raum in soziale Felder aufteilen, mit denen Bourdieu verschiedene gesellschaftliche Bereiche wie z.B. Politik, Kultur und das Bildungssystem bezeichnet. Weiterhin muss beachtet werden, dass Lebensstile und Wahrnehmungen in hohem Maße vom persönlichen Habitus abhängig sind (vgl. Van Essen 2013, S. 18-34). Die Verflechtung von Kapitalformen, sozialen Feldern und dem jeweiligen Habitus setzen den individuellen Möglichkeiten der Lebensgestaltung Grenzen; hieraus ergibt sich der Möglichkeitsraum einer Person oder einer Gruppierung (vgl. Bourdieu 2000, S.58; vgl. Van Essen 2013, S. 18-43).
Nach der theoretischen Konturierung beschäftigt sich Van Essen mit dem thematischen Schwerpunkt seiner Arbeit, indem er das soziale Feld der Schule im Zusammenhang mit der Strukturierung von Möglichkeitsräumen betrachtet. Der Fokus liegt hier auf den Möglichkeitsräumen von ehemaligen Schüler/innen, die eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ besucht haben. In diesem Zusammenhang stellt der Autor fest, dass das soziale Feld „Schule“ maßgeblich zur generationsübergreifenden Weitergabe von Kapitalbesitz beiträgt. Dies wird durch empirische Befunde untermauert, die den Zusammenhang „zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg sowie die hohe Wirksamkeit der hierarchisierten Schulabschlüsse auf dem Ausbildungs- und dem Arbeitsmarkt zeigen“ (Van Essen 2013, S. 105). Weiterhin betrachtet der Autor die soziale Konstruktion „Lernbehinderung“ als ein Klassifikationsmerkmal zum Vorteil der formalen Legitimierung der Ungleichheitsreproduktion (vgl. Van Essen 2013, S. 105-109). In Anbetracht dessen wird der Schluss gezogen, dass ein Förderschulabschluss aufgrund der genannten Aspekte sehr wenig Chancen bietet, auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt Fuß zu fassen und dass eine Förderung zum Vorteil der Schüler/innen in der Förderschule erwiesenermaßen nicht gelingt (vgl. Van Essen 2013, S. 105ff).
Auch die möglichen (beruflichen) Konsequenzen eines Förderschulbesuches werden untersucht: Exklusionsmechanismen in Ausbildung und Arbeit. Hier zeigen sich die negativen Folgen der Bildungsexpansion in Deutschland: Zwar schlagen mehr Personen einen hohen oder mittleren Bildungsweg ein, gleichzeitig werden aber die unteren Bildungsgruppierungen zunehmend kleiner. Auf der ökonomischen Ebene löst dies Verdrängungsprozesse zum Nachteil der Angehörigen unterer Bildungsgruppen aus. Dementsprechend unvorteilhaft gestaltet sich daher der Konkurrenzkampf zwischen ehemaligen Förderschüler/innen und Absolvent/innen anderer Schulformen um begehrte Ausbildungs- und Arbeitsplätze (vgl. Van Essen 2013, S. 135 ff).
Anschließend findet die empirische Untersuchung anhand einer mit qualitativen Interviews durchgeführten Studie statt, die mit (ausschließlich) männlichen Förderschulabgängern durchgeführt wurde. Dem schließt sich eine Darstellung und Interpretation der Ergebnisse an. Van Essen formuliert hierzu sieben Fragestellungen, auf denen die empirische Untersuchung zu den Lebensverläufen von ehemaligen Förderschülern aufbaut. Die Themenschwerpunkte der Fragestellungen sind: Soziale Laufbahnen, Kapitalkonfigurationen, subjektive Sichtweisen, konstruktive Erfahrungsräume, Lebensstile, Habitusformen und Zukunftsorientierungen (vgl. Van Essen 2013, S. 151-153).
Die empirische Studie wurde mit der Erhebungsmethode des narrativ-fundierten Interviews erhoben und mit der dokumentarischen Methode der Interpretation ausgewertet. Die Grundgesamtheit der Studie umfasst die Abgänger der Abschlussjahrjahrgänge 2002-2005 von Sonderschulen für Lernbehinderte im Ruhrgebiet. Die Eingrenzung der Stichprobe erfolgte gemäß dem Prinzip des Theoretical Sampling und die Kontaktaufnahme geschah schriftlich über ein virtuelles soziales Netzwerk. Aufgrund der Form der Kontaktaufnahme besteht die Möglichkeit, dass die Stichprobe dadurch selektiert erhoben wurde (vgl. Van Essen 2013, S. 179f).
Obwohl der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und einer Schullaufbahn in der Förderschule zwar längst bekannt ist, wird der Grund für schulischen Misserfolg dennoch überwiegend durch „alltagstheoretisch individual-dispositive Begründungsmuster“ (Van Essen 2013, S. 403) hergeleitet. Weiterhin wird geschlussfolgert, dass ein Förderschulabschluss langfristige Auswirkungen auf das weitere Leben hat: „Zum einen beeinflusst es die Selbstthematisierungen vieler jungen Menschen auf negative Art und Weise … Zum anderen führt es dazu, dass der Zugang zu betrieblichen Ausbildungsplätzen sowie zu Erwerbsmöglichkeiten jenseits des Jedermannarbeitsmarkts für die meisten von ihnen schlichtweg blockiert bleibt“ (Van Essen 2013, S. 403).
2.2. BildungsaufsteigerInnen aus benachteiligten Milieus
Das zweite betrachtete Werk wurde von Aladin El-Mafaalani verfasst und beschäftigt sich mit Bildungsaufsteiger/innen mit und ohne (türkischen) Migrationshintergrund aus benachteiligten Milieus. Zentrales Thema ist die Untersuchung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft, Bildungserfolg und sozialem Status im Erwachsenenalter in Deutschland. Der Autor bezeichnet diesen Zusammenhang als Herkunftseffekt, welcher die Grundlage bildet, auf der der Autor sein Werk und die folgenden zentralen Fragestellungen aufbaut (vgl. El-Mafaalani 2012, S.13-17).
Die zentralen Fragestellungen seiner Arbeit formuliert El-Mafaalani folgendermaßen: „Wie haben die Aufsteiger/innen in ihren individuellen Bildungskarrieren die Restriktionen der sozialen Herkunft erfolgreich überwunden? Welche typischen Unterschiede bestehen dabei zwischen Einheimischen und Migrant/inn/en; welche zwischen Männern und Frauen? Und: Wie lässt sich die Transformation der Herkunftsbedingungen mit dem Habitusbegriff fassen?“ (El-Mafaalani 2012, S. 15). Der empirische Schwerpunkt der Arbeit liegt auf einer Studie, die acht narrativ-biografische Interviews mit Bildungsaufsteiger/innen umfasst, welche unter Anwendung der dokumentarischen Methode analysiert werden (vgl. El-Mafaalani 2012, S. 14ff; S. 103-118).
Als thematischer Einstieg wird die Bildungsungleichheit in Deutschland beleuchtet. Diesbezüglich fokussiert sich der Autor auf die soziale Reproduktion und Transformation von Ungleichheit. Er vertritt die Perspektive, dass Menschen, die in ressourcenschwachen sozialen Milieus aufwachsen, sowohl nach dem Proporzmodell1 als auch nach dem meritokratischen Modell2 als (bildungs-)benachteiligt betrachtet werden können (vgl. El-Mafaalani 2012, S. 19-44). Daher kommt der Autor zu dem Schluss, „dass sich die sozialen Ungleichheitsdimensionen soziale und ethnische Herkunft negativ auf den Bildungserfolg auswirken und sich dieser Herkunftseffekt langfristig, also über den Lebensverlauf hinweg, hält“ (El-Mafaalani 2012, S. 44).
Anschließend wird der Begriff der Bildungsmobilität in Verbindung mit der qualitativen Sozialforschung beleuchtet: Hier orientiert sich der Autor an drei Forschungslinien: „ Gender “ (Bildungsaufstieg von Arbeitertöchtern), „ Class “ (Bildungsaufstieg von deutschen Arbeiterkindern) und „ Ethnicity “ (Bildungsaufstieg von türkischstämmigen Gastarbeiterkindern) (vgl. El-Mafaalani 2012, S. 45-63). In Bezug darauf stellt El-Mafaalani fest, dass es auf der Basis der seiner Arbeit vorangegangenen Studien als typisches Verhalten für Bildungsaufsteiger/innen gelten kann, sich von den habituellen Praktiken des Herkunftsmilieus und von der Herkunftsfamilie zu distanzieren. Bei der Betrachtung von Bildungsmobilität in Zusammenhang mit dem Habitus folgt der Autor der Auffassung, dass der Habitus von sozial benachteiligten Milieus kaum Überschneidungspunkte mit dem Habitus von sozial hochgestellten Milieus hat. Gleichzeitig hat der Habitus nach El-Mafaalani (2012, S. 65-102) eine wegweisende, jedoch keine determinierende Funktion; eine Transformation des Habitus durch neue soziale Kontexte oder (Selbst-)Reflexion ist denkbar.
Vor dem Hintergrund der Annahme, dass ein Bildungsaufstieg einen starken Kontrast zwischen der sozialen Herkunft und der gegenwärtigen Position im sozialen Raum erzeugt und dass solche Bildungsaufstiege seltene Ereignisse sind (da Chancengleichheit von gesellschaftlichen Strukturen begrenzt wird), versucht der Autor aus der Analyse der narrativ-biografischen Interviews Erfahrungsräume zu identifizieren, die eine Habitustransformation anregen. El-Mafaalani schlussfolgert, „dass der objektive Aufstiegsprozess (Transformation der Herkunftsbedingungen) einhergeht mit einer Transformation von Denk- und Handlungsmustern sowie von Selbst- und Weltverhältnissen (Habitustransformation)“ (El-Mafaalani 2012, S. 314).
Den Ablauf der Habitustransformation beschreibt der Autor in drei Phasen: Zunächst kommt es bei den interviewten Bildungsaufsteiger/innen zu einer Phase der Irritation, die auch als Disharmonie zwischen zwei verschiedenen Milieus verstanden werden kann. In der anschließenden Phase der Distanzierung entstehen neue soziale Bezüge und neue Formen der (Handlungs-)Praxis; am Ende dieser Phase etabliert sich ein neuer Habitus. Diese Habitustransformation bedeutet dabei jedoch nicht, dass der neue Habitus keinerlei Bezüge mehr zum vorherigen Habitus hätte. Alsdann folgt die Phase der Stabilisierung, in der sich das Verhältnis zur eigenen Herkunft (insbesondere zur eigenen Familie), klärt. Diese Phase kann sich mit der Phase der Distanzierung überschneiden und kennzeichnet sich durch den Versuch, sich den Eltern (nach der Distanzierung) wieder anzunähern.
In seinem Fazit nennt der Autor die aus seiner Perspektive zentralen Gründe, welche dazu führen, dass Bildungsaufstiege aus benachteiligen Milieus zwar möglich, aber statistisch unwahrscheinlich sind: Es handelt sich hierbei nicht ausschließlich um Aspekte wie den Bildungsort oder individuelle Defizite, sondern besonders um gesellschaftliche Strukturen, die die Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit begrenzen.
2.3. Weiterbildung und soziale Milieus
In „Weiterbildung und soziale Milieus“ von Heiner Barz (2000) geht der Autor auf den Wandel der (Weiterbildungs-)Teilnehmerforschung, soziale Milieus als Zielgruppen der Erwachsenenbildung und die „Freiburger Studie“ ein. Bei Letzterem handelt es handelt es sich um eine qualitativ-empirische Studie aus dem Jahr 1995, welche die Auswirkungen von unterschiedlichen sozialen Milieus auf das Weiterbildungsverhalten untersucht (vgl. Barz 2000, S. 136 - 162). Der Ausblick auf die Teilnehmerforschung bildet dabei zusammen mit der Untersuchung von sozialen Milieus als Zielgruppen der Erwachsenenbildung ein theoretisches Fundament, auf dem die Analyse der qualitativ-empirischen „Freiburger Studie“ aufbaut.
[...]
1 Proporzmodell: Chancengleichheit liegt vor, wenn eine gesellschaftliche Gruppe auf allen hierarchischen Ebenen des Bildungssystems im selben Anteil wie in der Gesamtbevölkerung vertreten ist (vgl. El-Mafaalani 2012, S. 19; Geißler 2008, S. 72).
2 Meritokratisches Modell: Chancengleichheit liegt vor, wenn die persönlichen Kompetenzen und Leistungen im Mittelpunkt stehen (vgl. El-Mafaalani 2012, S. 19; Geißler 2008, S. 72).