Leseprobe
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Aktualität des Themas
1.2 Die Entwicklung der Fragestellung der Arbeit
1.3 Methodisches Vorgehen und weiterer Darstellungsgang
2 Einige wichtige Vorklärungen
2.1 Rechtsextremismus: Eine Begriffsklärung
2.2 Der Nationalsozialistische Untergrund und der NSU-Prozess: Einige Hintergrundinformationen
3 Theoretische Erklärungsansätze zur Entstehung von rechtsextremistischer Orientierung: Wilhelm Heitmeyer versus Klaus Wahl
3.1 Fremdenfeindlichkeit als Folge gesellschaftlicher Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse: Der theoretische Erklärungsansatz von Wilhelm Heitmeyer
3.1.1 Heitmeyers zentrale Studie(n) zur Fremdenfeindlichkeit
3.1.2 Grundannahmen von Heitmeyers Theorie
3.2 Fremdenfeindlichkeit als Ausdruck grundlegender sozio-emotionaler Dispositionen: Der sozialpsychologische Erklärungsansatz von Klaus Wahl
3.2.1 Wahls zentrale Studie(n) zur Fremdenfeindlichkeit
3.2.2 Grundannahmen von Wahls Theorie
3.3 Ein Vergleich der zwei Theorien
4 Rekonstruktion der Biographien der NSU-Täter
4.1 Beate Zschäpe. Ihre Kindheit und Jugend.
4.2 Uwe Böhnhardt. Seine Kindheit und Jugend
4.3 Uwe Mundlos. Seine Kindheit und Jugend
5 Der Weg zur Übernahme rechter Weltansichten durch die NSU-Täter, betrachtet im Lichte der Theorien von W.Heitmeyer und K. Wahl
5.1 Der Weg zur Übernahme rechter Weltansichten durch Beate Zschäpe
5.1.1 analysiert aus der Perspektive der Theorie von W. Heitmeyer
5.1.2 analysiert aus der Perspektive der Theorie von K. Wahl
5.2 Der Weg zur Übernahme rechter Weltansichten durch Uwe Böhnhardt
5.2.1 analysiert aus der Perspektive der Theorie von W. Heitmeyer
5.2.2 analysiert aus der Perspektive der Theorie von K. Wahl
5.3 Der Weg zur Übernahme rechter Weltansichten durch Uwe Mundlos
5.3.1 analysiert aus der Perspektive der Theorie von W. Heitmeyer
5.3.2 analysiert aus der Perspektive der Theorie von K. Wahl
5.4 Die Erklärungskraft der Theorien von W. Heitmeyer und K. Wahl: Ein Vergleich
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Aktualität des Themas
Seit etwa drei Jahren ziehen jeden Montag Patriotische Europäer generationsübergreifend durch Dresden um gegen die Islamisierung des Abendlandes zu demonstrieren. Viele dieser Aktivisten treibt die Furcht vor der Fremde an. In nicht wenigen Fällen bezieht sich diese Furcht explizit auf Geflüchtete und Ausländer. Doch woher kommt diese Furcht und wie äußert sie sich? Treibt man es auf die Spitze äußert sie sich in Fremdenfeindlichkeit. Natürlich trifft dies nicht auf alle Demonstranten zu. Aber das Thema Fremdenfeindlichkeit ist in Deutschland seit jeher ein Thema und wird immer wieder in den Medien aufgegriffen. Daher wundert es auch nicht, dass es omnipräsent zu sein scheint.
Die letzten Bundestagswahlen haben gezeigt, dass 12,6 Prozent der Deutschen mit der rechtspopulistischen Partei AFD sympathisieren. Dieser Zuwachs des politisch rechten Flügels liegt zum einen in der Politikverdrossenheit, aber zum anderen auch in der Flüchtlingskrise begründet.
Diese rechten Tendenzen ziehen sich durch alle Altersgruppen. Aber warum identifizieren auch junge Menschen mit ihnen?
Aufgrund der Medienaktualität und den aktuellen politischen Geschehnissen gilt es dieser Frage auf den Grund zu gehen und nach möglichen Antworten zu suchen.
1.2 Die Entwicklung der Fragestellung der Arbeit
Versuche, theoretische Erklärungsansätze für die Entstehung von Rechtsextremismus allgemein und seine unterschiedlichen Ausprägungen (z.B. Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Neonazismus) zu entwickeln, ist aus mehreren Gründen wichtig. Zum einen ermöglichen diese Ansätze ein tieferes Verständnis für dieses Phänomen, indem sie die sozialen und psychischen Mechanismen spezifizieren, welche zur Übernahme von rechtsextremen Einstellungen von Kindern und Jugendlichen führt. Dies ermöglicht zusätzlich das Verständnis der Entstehungsbedingungen von Rechtsextremismus und bietet so die Möglichkeit wirksame Methoden für die pädagogische Praxis zu entwickeln: erstens für die präventiv-pädagogische Arbeit gegen Rechtsextremismus und zweitens für die pädagogische Intervention bei bereits rechtsextremistisch eingestellten Menschen.
Insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden viele theoretische Erklärungsansätze für die Entstehung von Rechtsextremismus entwickelt. Beispielhaft sind hier der humantheologische Erklärungsansatz des Verhaltensforschers I. Eibl- Eibesfeldt, der psychoanalytische Erklärungsansatz des Psychologen K. Ottomeyer, sowie die Theorie der autoritären Persönlichkeit des Philosophen Th. Adorno zu nennen.
Allerdings wird sich diese Ausarbeitung auf zwei besonders bedeutende Erklärungsansätze beschränken. Die Ansätze von W. Heitmeyer und K. Wahl gehören beide zu den neueren Erklärungsansätzen im Gebiet der Forschung zum Rechtsextremismus und dominierten in den letzten 15-20 Jahren die Debatte über diese Thematik in Deutschland. Außerdem stellen sie deutlich unterschiedliche Erklärungsmodelle für Rechtsextremismus dar, was einen Vergleich beider Theorieansätze interessant macht.
Ziel dieser Ausarbeitung ist es, die Erklärungskraft der beiden Theorien am Beispiel der drei Haupttäter des NSU-Prozesses zu überprüfen. Dementsprechend ist die Frage, welche der beiden Theorien eine überzeugendere Erklärung für die Entstehung rechtsextremer Einstellungen bei den NSU-Tätern bietet, zu beantworten.
1.3 Methodisches Vorgehen und weiterer Darstellungsgang
Beide Theorien werden mithilfe relevanter wissenschaftlicher Literatur ausgewertet. Somit hat diese Ausarbeitung zum Teil den Charakter eines Literaturreviews. Zudem ist ein theoretisch-analytischer Charakter vorhanden, da die Theorien auf die NSU-Täter angewendet werden. Um diese Anwendung möglich zu machen, werden, anhand der dazu verfügbaren Informationen, die Biografien der Täter rekonstruiert. Hier dienen hauptsächlich wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Publikationen und Berichterstattungen seriöser Medien als Informationsquellen. Es findet sich ein hermeneutisch-interpretativer Charakter wieder.
Beginnen wird die Ausarbeitung mit Vorklärungen. Hier wird der Begriff des Rechtsextremismus definiert und ein Einblick in den Nationalsozialistischen Untergrund gegeben. Danach werden die Theorien nach Wilhelm Heitmeyer und Klaus Wahl beschrieben und gegenübergestellt. Anschließend werde ich die Biografien von Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos skizzieren, um dann den jeweiligen Weg zur Übernahme von rechten Weltansichten anhand beider Theorien nachzuvollziehen. Zum Schluss wird die Forschungsfragestellung beantwortet und eine Aussage zur Erklärungskraft der Theorien von Heitmeyer und Wahl getroffen.
2 Einige wichtige Vorklärungen
2.1 Rechtsextremismus: Eine Begriffsklärung
Um gemeinsames Verständnis von Rechtsextremismus für diese Ausarbeitung zu schaffen ist eine Begriffsklärung von Nöten. Fremdenfeindlichkeit wird hier mehr als eine Teildisziplin von Rechtsextremismus gesehen. „Nach einer Definition des Bundesverfassungsschutzes ist ‚ Rechtsextremismus in Deutschland nicht ideologisch homogen. Eine Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit und eine gegen den Gleichheitsgrundsatz gerichtete Fremdenfeindlichkeit sind allerdings bei allen Rechtsextremisten festzustellen’ (Nandlinger, 2008)“.
Jaschke (2001, S.30) versteht unter Rechtsextremismus die Gesamtheit von Einstellungen, Verhaltensweisen und Aktionen, organisiert oder nicht, die:
- von der rassisch oder ethnisch bedingten sozialen Ungleichheit der Menschen ausgehen,
- nach ethnischer Homogenität von Völkern verlangen und das Gleichheitsgebot der Menschenrechts-Deklaration ablehnen,
- die den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum betonen,
- von der Unterordnung des Bürgers unter die Staatsräson ausgehen
- und die den Wertepluralismus einer liberalen Demokratie ablehnen und Demokratisierung rückgängig machen wollen.
Zusätzlich nennt Stöss (2010, S.216) vier wichtige Merkmale des Rechtsextremismus:
- Übersteigerter Nationalismus und eine feindselige Haltung gegenüber anderer Staaten und Völkern,
- Ablehnung der universellen Freiheits- und Gleichheitsrechte,
- Tendenzielle Negierung eines parlamentarisch-pluralistischen Systems,
- und ein gesellschaftliches Leitbild einer ethnisch homogonen Volksgemeinschaft mit einem Führer.
„Kurz: Beim Rechtsextremismus handelt es sich um völkischen Nationalismus (ebd.)“.
2.2 Der Nationalsozialistische Untergrund und der NSU-Prozess: Einige Hintergrundinformationen
Für die Einordnung der Rekonstruktion der Biografien, aber auch für die gesamte Ausarbeitung, ist es unabdingbar Hintergrundinformationen über den Nationalsozialistischen Untergrund darzulegen. Diese Informationen werden größtenteils aus Baumgärtner und Böttchers (2012) Buch Das Zwickauer Terror-Trio, aber auch aus populärwissenschaftlichen Publikationen bezogen. Da später noch auf die Kindheit und Jugend der drei NSU-Täter eingegangen wird, spielen diese Entwicklungsstadien erst in späteren Kapiteln eine Rolle. Die chronologische Aufarbeitung beginnt mit den ersten polizeilichen Auffälligkeiten von Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Bei ihnen handelt es sich um die drei mutmaßlichen Haupttäter folgender Geschehnisse und den Gesichtern des NSU.
Anfang der neunziger Jahre lernen sich Mundlos und Zschäpe in einem Jugendtreff in Jena-Winzerla kennen. In diesem Jugendtreff verkehrt auch Böhnhardt. Die drei werden Freunde und rutschen von da an zunehmend in die rechtsradikale Szene ab. Sie nehmen an Neonazi-Demonstrationen teil und werden in den folgenden Jahren durch Schändungen von Mahnmalen für die Opfer des Faschismus im zweiten Weltkrieg und verschiedene andere Aktionen polizeibekannt. Bis zum Ende des Jahres 1997 tauchen in Jena wiederholt Bombenattrappen auf. Das Trio steht diesbezüglich unter Verdacht. Ende Januar durchsuchen Polizeibeamte mehrere Garagen in Jena mit Böhnhardt in gewahrsam. Die Beamten finden in einer von Zschäpe gemieteten Garage Rohrbomben, Propagandamaterial und erhebliche Mengen Sprengstoff. Währendessen kann sich Böhnhardt lösen und informiert die anderen beiden. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe können abtauchen noch bevor der Haftbefehl vollstreckt werden konnte.
Sie flüchten nach Chemnitz und ziehen in eine Wohnung von Gleichgesinnten. Anschließend hilft ihnen die rechte Szene im Untergrund zu leben. Sie organisieren Pässe und Mietverträge, aber auch rechtsextremistische Benefizkonzerte zugunsten des Trios. Im Dezember 1998 überfallen Böhnhardt und Mundlos erstmals einen Supermarkt in Chemnitz. In den nächsten Jahren werden der Terrorzelle über ein Dutzend Überfälle zugeschrieben.
Im Herbst 2000 beginnt die Mordserie der Terrorzelle. Bei den Opfern handelt es sich, mit Ausnahme des letzten Opfers, um Menschen mit - meist türkischem - Migrationshintergrund. Die Todesursachen waren stets schusswaffeneinsatzbedingte Verletzungen. Die Tatorte sind von Rostock bis München über ganz Deutschland verteilt. Das Ende dieser Mordserie markiert der Polizistenmord von Heilbronn im April 2007. Während dieser Zeit verübt das Trio zusätzlich verschiedene Nagelbombenattentate, welche zahlreiche Menschen verletzen.
Der Nationalsozialistische Untergrund findet im November 2011 sein Ende. Böhnhardt und Mundlos rauben eine Sparkasse in Eisenach aus und flüchten mit Fahrrädern und einem Wohnmobil. Dank einem Zeugen kann ein Streifenwagen das Wohnmobil in einer Neubausiedlung ausfindig machen. Noch bevor es zu einer Konfrontation kommt, richten sich beide Täter im Wohnmobil hin. Kurz danach geht es in Flammen auf. Zeitgleich setzt Zschäpe die gemeinsame Wohnung in Zwickau in Brand, fährt ziellos durch Deutschland und versendet makabere Bekennervideos. Vier Tage später stellt sie sich der Polizei. In der Zwischenzeit stellt die Polizei die Tatwaffen der Mordserie im Wohnmobil und in der Zwickauer Wohnung sicher.
Bei den nachfolgenden Ermittlungen stellt sich heraus, dass es während den NSU- Verbrechen eklatante Ermittlungsfehler gab. So wurde beispielsweise ein Zusammenhang der Mordserie und einem rechtsextremistischen Hintergrund zu wenig beleuchtet.
Beate Zschäpe muss sich nun vor Gericht unter anderem wegen Mittäterschaft an den zehn Morden des NSU, sowie der Bildung einer terroristischen Vereinigung, verantworten.
Der Prozess findet im Oberlandesgericht München statt.
3 Theoretische Erklärungsansätze zur Entstehung von rechtsextremistischer Orientierung: Wilhelm Heitmeyer versus Klaus Wahl
Im folgenden Abschnitt werden zwei Theorien zur Entstehungen von rechtsextremistischer Orientierung bei Jugendlichen erläutert und anschließend gegenübergestellt. Zuerst wird die Theorie des Soziologen und Erziehungswissenschaftlers Wilhelm Heitmeyer besprochen, welche davon ausgeht, dass Fremdenfeindlichkeit eine Folge von gesellschaftlichen Modernisierungs- und Individualisierungsprozessen ist. Danach wird sich der Theorie des Sozialwissenschaftlers und Aggressionsforschers Klaus Wahl zugewandt. Sie fußt vor allem auf der Annahme, dass Fremdenfeindlichkeit ein Ausdruck grundlegender sozio- emotionaler Dispositionen ist.
3.1 Fremdenfeindlichkeit als Folge gesellschaftlicher Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse: Der theoretische Erklärungsansatz von Wilhelm Heitmeyer
3.1.1 Heitmeyers zentrale Studie(n) zur Fremdenfeindlichkeit
In Heitmeyers Untersuchungsansätzen geht es um Teilbereiche des politischen Sozialisationsprozesses von Jugendlichen in rechtsextremistische Richtungen. Um diese Ansätze in einen gewissen Rahmen zu setzen, wird von der Annahme ausgegangen, dass „die Aufklärung über die Hinwendungsursachen und -prozesse sowie die Ausdifferenzierung im rechtsextremistischen Spektrum auch zu differenzierten Sichtweisen führen können, die Vorraussetzungen zu einer Chancenerweiterung politischer und sozialpädagogischer Einflußnahme bilden“ (Heitmeyer, 1989a, S. 101). Die leitende These ist, dass Rechtsextremismus nicht als politisches Problem gesehen wird, welches nur als Randerscheinung in der Gesellschaft auftritt, sondern seinen Ursprung in zentralen ökonomisch-sozialen Bereichen findet. Somit wird eher ein Orientierungsmuster- statt einem Organisationsansatz betrachtet. Rechtsextremistische oder neonazistische Organisationen sind eher als ein Folgeproblem zu betrachten (vgl. ebd.). Für eine Analyse einer rechtsextremistischen Orientierung betrachtet Heitmeyer (ebd.) dafür folgende fünf Aspekte:
- Ökonomisch-soziale Alltagserfahrungen: Ohnmacht, Handlungsunsicherheit, Vereinzelung
- Subjektive Verarbeitungen: Autoritär-nationalisierende Orientierungsmuster und Gewaltakzeptanz
- Soziale Verdichtungen: Problempotentiale in unterschiedlichen Orientierungs mileus
- Politische Verfestigung: Organisationsanbindungen im rechtsextremistischen Spektrum und ihre quantitativen Entwicklungen
- Gewalt-Eskalation: Legitimationsbeschaffung durch Normalisierungsprozesse Die Grundessenz dieses Entstehungsprozesses beinhaltet autoritär-nationalisierende Orientierungsmuster. Sie befinden sich zum einen in der Nähe breiter sozialer Akzeptanz und können zum anderen als Legitimationsmuster für offene Formen von Gewaltakzeptanz dienen. Desweiteren identifizieren sie sich nicht ausschließlich mit nationalsozialistischen Prägungen, wie beispielsweise dem Antisemitismus, sondern stellen die Ausländerfrage in den Mittelpunkt. Dies schafft gemeinsame Schnittpunkte zwischen konservativen und traditionell rechtsextremistischen Positionen. Heitmeyers Kern dieser These ist, dass sich der Prozess der Zunahme von rechtsextremistischen Wahlerfolgen oder neonazistische Militanz darin entscheiden, ob diese Orientierungsmuster durch (neo-)konservative politische Strömungen einen Normalisierungszuwachs erfahren und somit ein Hinwendungszuwachs der Jugendlichen stattfindet (vgl. Heitmeyer, 1989a, S. 102).
Die Analyseperspektive: Orientierungsmuster- statt Organisationsansatz
Lange Zeit war die dominierende Analyseperspektive in Bezug auf die Rechtsextremismusforschung auf den Organisationsansatz ausgelegt. Man ging in der Forschung von einer Mitgliedschaft in den entsprechenden Organisationen aus. Da dies aber schon den Endpunkt des Prozesses zum Rechtsextremismus markiert, ist es notwendig den Prozess der Zuwendung zum Rechtsextremismus zu betrachten. Die Betrachtung verfolgt den Ansatz der Orientierungsmusterperspektive. Der Fokus wird somit auf die Zeit gelenkt, die vor dem Eintritt einer Person in solch einschlägige Gruppierungen liegt. Es geht um die Entwicklung, welche ein Jugendlicher durchläuft auf den Weg zum Rechtsextremismus. Seine sozialen Erfahrungen und Einschnitte auf seinem Lebensweg verdichten sich zu Orientierungsmustern, welche sein Handeln anleiten und begründen können (vgl. Heitmeyer, 1989a, S.103).
Beim organisationsbezogenen Ansatz ist durch die Mitgliedschaft in Organisationen klargestellt, was als rechtsextremistisch gilt. Um zu bestimmen, was bei den Orientierungsmustern als rechtsextremistisch gilt, geht Heitmeyer hier von dem Begriff des soziologischen Rechtsextremismus aus, welcher die ökonomischen und sozialen Entstehungsmomente einbezieht. Rechtsextremistische Orientierungsmuster sind ein gesellschaftlicher Gegenentwurf zu in der Verfassung geregelten Rechten auf freie Entfaltung und die Gleichheit aller Menschen (vgl. Heitmeyer et al., 1992, S. 13). Heitmeyer (1992, S. 16) zeigt die Facetten dieses Gegenentwurfs stichwortartig in zwei Grundelementen auf:
a) Ideologie der Ungleichheit
Sie enthält zwei zentrale Dimensionen:
- Personen bzw. gruppierungsbezogene Abwertung und Ungleichwertigkeit zeigt sich inhaltlich in Aspekten wie
- nationalistischer bzw. völkischer Selbstübersteigerung,
- rassistische Einordnung,
- eugenischer Differenzierung von lebenswertem und unwertem Leben;
- soziobiologischer Behauptung von natürlichen Hierarchien;
- sozialdarwinistischer Betonung des Rechts des Stärkeren,
- totalitären Normverständnissen im Hinblick auf die Abwertung des Andersseins
- und die Betonung von Homogenität und kultureller Differenz.
- Lebenslagenbezogene Ausgrenzungsforderung in Form sozialer, ökonomischer, kultureller, rechtlicher und politischer Ungleichbehandlung von Fremden und Anderen.
Dieses Grundelement offenbart Orientierungen, welche in der gesellschaftlichen Realität politisch interpretiert werden können.
b) Gewaltakzeptanz
Sie kann in vier zentralen, ansteigend verschärften Varianten der
- Überzeugung unabänderlicher Existenz von Gewalt,
- Billigung fremdausgeübter privater bzw. autoritärer staatlicher Gewalt,
- eigener Gewaltbereitschaft,
- und tatsächlicher Gewalttätigkeit dargestellt werden.
Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Gewalt zur Regelung von Konflikten legitim sei. Daraus folgt die
- Ablehnung rationaler Diskurse,
- Betonung des alltäglichen Kampfes ums Dasein,
- Ablehnung demokratischer Regelungsformen von sozialen und politischen Konflikten,
- sowie die Betonung autoritärer und militaristischer Umgangsformen und Stile.
Somit nimmt dieses zweite Grundelement Bezug auf geforderte Ungleichheitsideologien, welche in bestimmter Weise in Realität als Handlungsformen umzusetzen sind.
Man spricht von rechtsextremistischen Orientierungsmustern und Handlungsweisen, wenn diese zwei Grundelemente korrelieren, also die strukturelle gewaltorientierte Ideologie der Ungleichheit mit Varianten der Gewaltakzeptanz als Handlungsform zusammentreffen. (vgl. Heitmeyer et al, 1992, S. 14).
Heitmeyer (ebd.) unterscheidet zwei Zugangsweisen, die sich aus der Verbindung verschiedener Elemente aus beiden Bereichen ergeben:
- In der ersten Variante übernimmt die Ideologie der Ungleichheit die Funktion der Legitimation für die Gewaltakzeptanz in den verschiedenen, ansteigend verschärften Stufen. Da Gewalt eine Handlungsform mit zerstörerischem Gehalt ist, wird diese Legitimation benötigt.
- Die zweite Variante zielt auf die Durchsetzung der Ideologie der Ungleichheit ab.Gewaltakzeptanz übernimmt eine Durchsetzungsfunktion, welche aktive Handlungen sowohl von institutioneller Politik fordern kann, als auch das eigene Aktivwerden.
Diese beiden Elemente machen in der Analyse die Orientierungs- bzw. Handlungsschwerpunkte, ihre Kombinationen, Zugangsweisen, Eskalationsstufen und auch Abgrenzungen bzw. die Verbindungsstücke zwischen neokonservativen, rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Orientierungsmustern und Handlungsweisen deutlich (vgl. ebd.).
Der gesellschaftstheoretische Rahmen: Individualisierungsschübe – Kennzeichen der Risikogesellschaft
Heitmeyer stützt sich zur Charakterisierung gesellschaftlicher Entwicklungen vor allem auf Analysen von Beck. Sie stellen die Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen heraus. Risikogesellschaften kennzeichnet eine überraschende Stabilität der sozialen Struktur, obwohl das Leben mittlerweile jenseits der Klassengesesellschaft stattfindet. Dies liegt unter anderem an einer Niveauverschiebung bei Bildung und Einkommen und der Verschmelzung von Klassen und Kulturen. Diese neuen Lebensbedingungen lassen das Hierarchiemodell sozialer Klassen obsolet wirken und führen zu der oben genannten Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen (vgl. Beck, 1983, S.36). Dies ist möglich geworden
- durch soziale und geografische Mobilität: Es entwickeln sich neue Beziehungsmuster, ohne Anspruch auf Weitervermittlung und Dauer.
- durch künstliche Binnendifferenzierung: Sie ermöglicht in betrieblichen Statushierarchien Auf- und Abstiege.
- durch Ausweitung von Konkurrenzbeziehungen: Sie erzwingen individuelle Abschottung und Vereinzelung, da sie in immer früheren Lebensphasen einsetzen.
- durch neue urbane Großstadtsiedlungen: Sie lassen vorwiegend nur lockere Bekanntschafts- und Nachbarschaftsverhältnisse zu.
- und durch ein kontinuierliches Sinken der Erwerbsarbeitszeit: Dies lässt Raum für andere Entfaltungsmöglichkeiten und Beschäftigungen. Diese können aber auch zu Belastungen führen.
Diese Veränderungen relativieren die sozialmoralischen Milieus und erschweren die Eingliederung von Menschen in Klassenstrukturen. Menschen werden aus ihren traditionellen Bindungen gelöst und stellen sich so ihrem individuellem Schicksal. Dies birgt Chancen, aber auch Risiken für das Individuum. Nach Beck spricht man hier von einem historisch sozialem Kontinuitätsbruch (vgl. Heitmeyer, 1989a, S. 104f.).
Diese gesellschaftliche Entwicklung bewirkt auch eine Wandlung in der Jugendphase. Das kann man besonders in der De-Standardisierung von Lebensläufen beobachten. Das Resultat ist, dass nun jeder für den Fortbestand seiner Existenz verantwortlich ist und seinen eigenen Lebensweg aus den gesellschaftlich vorstrukturierten Handlungsangeboten bestreiten muss.
Da diese Handlungsangebote gewisse Vorqualifikationen vorraussetzen oder anderen Teilsystemen unterliegen, ergibt sich für die Jugendlichen eine komplizierte Situation zwischen dem angestrebten und dem möglichen Lebenslauf (vgl. ebd., S.105).
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