(Un-)doing Flamenco

Über den Umgang mit den emotionalen Praktiken im Flamencotanz


Bachelorarbeit, 2018

37 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I. Einleitung
1. Zur Geschichte des Flamencos
2. Entwicklung der Fragestellung
3. Forschungsstand9

II. Hauptteil
4. Theoretische Vorüberlegungen
4.1 Gefühl, Affekt, Emotion?
4.2 „Emotionspraktiken“
4.3 Emotionen und Körper im Flamenco
5. Methodisches Vorgehen
5.1 Autoethnographie
5.2 Teilnehmende Beobachtung
5.3 Interviewführung und Vorstellung der Befragten
6. Empirische Forschung der „Emotionspraktiken“ im Flamencotanz
6.1 Schmerz
6.2 Trauer
6.3 Stolz
6.4 Glück

III. Fazit

Literaturverzeichnis

Internetquellen

IV. Anhang (Glossar 1 , Flamencostile, Transkripte, Liedtexte, Fotomaterial)

Vorwort

„Wenn es etwas gibt, dass unsere Dorfgemeinschaft charakterisiert, dann ist es die Leidenschaft für den Flamenco.“2

Stadtrat von La Puebla de Cazalla

Es ist eine laue Sommernacht im Juli 2017, als sich Maya in einer Gruppe von Flamencobegeisterten zu einer Freilichtbühne eines andalusischen Dorfes bewegt: Einige Kinder hüpfen vor einem hohen Podest herum, Jugendliche stoßen mit einem kühlen Bier an, Erwachsene sind in laute Gespräche vertieft und speisen Chorizo und Manchego von einer gemeinsamen Tapas-Platte, Ältere haben sich in den Stuhlreihen eingefunden und schauen auf das Geschehen des Dorfplatzes.

Wie jedes Jahr findet zu dieser Zeit hier in La Puebla de Cazalla das bekannte Flamencofestival „ Reunión de Cante Jondo “ statt. Sowohl Einheimische aus dem Dorf und der Umgebung als auch Flamencobegeisterte aus dem Ausland lockt an diesem späten Abend ein vielseitiges Konzertprogramm. Durch das Mikrophon wird ein Sänger angekündigt. Pepe el Boleco lautet der Name. Ein kurzer Blick über die Lokalität genügt und Maya erkennt, dass jetzt alle Sitzplätze von zahlreichen Schaulustigen besetzt sind. Vor den bestuhlten Reihen jedoch, neben einem der Kameramänner, sichtet sie noch eine freie Stelle. Hier setzt sie sich aufrecht und voller Neugier hin. Ihre Aufmerksamkeit wird geradeaus auf die Bühnenmitte gelenkt. Von allen Seiten leuchten Scheinwerferlichter auf die Spielfläche, als Pepe, ein kleiner und schmaler gitano erscheint. Er stammt aus diesem Dorf und ist den meisten Zuschauer/innen bekannt, so vernimmt es Maya aus dem Publikum.

Ein junger Mann mit einer Gitarre unter dem Arm begleitet den kleinen Jungen auf die Bühne. Während sich die beiden Künstler auf zwei Stühlen niederlassen und jeweils ihr Mikrophon einrichten, schaut Maya kurz über ihre Schulter. Sie vernimmt, dass sich noch immer einige Zuschauer/innen auf dem Dorfplatz unruhig umherbewegen und nicht wenige in laute Gespräche verwickelt sind. Unterdessen richtet sich Pepe auf und wirft einen konzentrierten Blick über den Dorfplatz. Sein Gitarrist beginnt über die Saiten seines Instrumentes zu streichen. Die ersten Flamencorhythmen verteilen sich in dieser andalusischen Sommernacht. „¡Un poquito de silencio, por favor!“ (deutsch: „Ein bisschen Ruhe, bitte!“) ertönt es plötzlich kräftig von der Bühne. Die Wörter schallen über die gesamte Lokalität und umschließen das Publikum. Die Achtung jeder einzelnen, anwesenden Person soll nun dem kleinen Jungen gehören!

Langsam sinkt sein Blick auf den dunklen Bühnenboden. Beide Hände liegen zu Fäusten geballt auf seinen schmalen Beinen. Hin und wieder scheint begleitend zur Gitarrenmusik ein Zucken einzelne seiner Körperstellen zu durchfahren. Pepe schaut jetzt wieder auf. Ein ernster Ausdruck liegt auf seinem kindlichen Gesicht. Er neigt seinen Kopf zur musikalischen Begleitung. Die Anstrengung, die hinter der virtuosen Spieltechnik des Flamencogitarristen stecken muss, registriert Maya vom Bühnenrand aus: Sein Mund ist geöffnet, der Atmen verläuft schnell und kurz, ihm tropfen Schweißperlen von der Stirn. Maya erschrickt, denn urplötzlich ertönt ein herzzerreißendes Schreien aus den Lautsprechern: „Ay, ay, aaaay!“ Es ist der Gesang von Pepe, dem kleinen gitano aus diesem Dorf, der mit Leib und Seele in die Nacht hineinruft.

Maya ist ergriffen von der verzaubernden Atmosphäre! Ihre Aufmerksamkeit ist jetzt vollkommen eingefangen von der musikalischen Erscheinung des Sängers auf der einen und den hypnotisierten Zuschauer/innen auf der anderen Seite. Sie fragt sich: Was denkt Pepe el Boleco in diesem Moment? Von welchen Emotionen werden er und das Publikum bewegt? Und vor allem, welche Handlungen würde dieses kulturelle Phänomen in ihrer deutschen Heimatstadt hervorrufen?3

I. Einleitung

Emotionen begegnen uns im Alltag überall – wenn wir etwas hören, sehen, riechen, schmecken und ertasten, kommen sie unbewusst oder bewusst in jeder sozialen Praktik auf. Obgleich wir Emotionen individuell erfahren, dienen sie doch vielmehr als Tausch und Austausch in unserer Beziehung zu Menschen und realen oder imaginierten Dingen. Daraus resultiert, wie wir unser Selbst, Andere und die Welt wahrnehmen und wie wir in bestimmten Situationen agieren.4 Emotionen zirkulieren zwischen dem Inneren und dem Äußeren.5 Sie können nicht auf eine dieser Gegebenheiten beschränkt oder festgeschrieben werden. Eher verknüpfen sie Gefühle, Gedanken und Handlungen. Infolge dieser Verflechtungen sind Emotionen ununterbrochen Wandlungen ausgesetzt.6

Dem Körper kann und soll hier eine besondere Bedeutung zugewiesen werden: Ohne unseren Körper könnten wir nicht fühlen!7 In ihm schreiben sich unsere Erfahrungen ein und gleichermaßen verschafft er unserem Tun und Denken Ausdruck. Der Körper ist das „Medium der Einprägung“ und der „Akteur der Ausprägung“.8 Er steht unmittelbar in Verbindung mit unserer Umwelt und kann als Schnittstelle von unterschiedlichen Bedeutungsräumen erfahren werden. Körperlichkeit und körperliche Erfahrungen können somit auch als grundlegende Erkenntnisquelle in einer (auto-) ethnografischen Feldforschung herangezogen werden. An dem Körper, in dem Körper und durch den Körper wird in einem integrativen Prozess das Wissen über geteilte Werte, Überzeugungen und Erfahrungen generiert.9

Auch in der Emotionsforschung kam in den letzten Jahren der Appell auf, dem körperlichen Anteil in der Analyse aufmerksamer als zuvor entgegenzutreten. Monique Scheer entwickelte an dieser Stelle etwa das Modell, Emotionen als Praktiken zu betrachten, die unweigerlich und gleichermaßen mit jeder anderen körperlichen und diskursiven Praktik verwoben sind.10 Der Körper wird hierbei durchdrungen vom Wissen über vergangene Wirklichkeiten und stellt dieses gegenwärtig immer wieder neu her.11 Wir bewegen uns also einerseits inmitten einer bestimmten kulturellen Logik, die unser Handeln, Fühlen und Denken beeinflusst („doing emotions“). Auf der anderen Seite sind wir dazu imstande, uns dieser Ordnung im Alltag zu widersetzen („undoing emotions“).12

Um das Wechselspiel zwischen „doing emotions“ und „undoing emotions“ zu erschließen, wird hier der Tanz als Forschungsfeld herangezogen. Bereits in den neunziger Jahren hat diesbezüglich ein Studienprojekt der Empirischen Kulturwissenschaft konstatiert, dass „[t]anzende Körper […] als ‚window to a person’s world view‘ bezeichnet [werden], und als Kulturwissenschaftler/innen können wir durch dieses Fenster wahrnehmen, welche kulturellen Muster beim Tanzen reproduziert oder auch hinterfragt und aufgebrochen werden.“13

Es ist speziell der Flamencotanz, auf den diese Ausarbeitung ihr Augenmerk legen wird. Im Flamenco stellt die Emotionalität einen wesentlichen Bestandteil dar. So wird von Flamencolog/innen gar beschrieben, dass die „comunión de emociones“14 (deutsch: „Gemeinschaft der Emotionen“) zwischen Aufführenden und Zuhörenden das entscheidende Gut dieses kulturellen Phänomens sei. Die Untersuchung wird sich nun weniger mit dem Diskurs auseinandersetzen, ob es einen wahren oder echten Flamenco (flamenco puro) gibt.15 Eher beschäftigt sie sich mit der Frage, wie beteiligte Akteur/innen in Deutschland mit den emotionalen Praktiken im Flamencotanz umgehen.

Zunächst wird hierzu eine geschichtliche Einführung über den Flamenco stattfinden. Dies soll darüber informieren, dass der Flamenco nicht als „Identitätsmarker“ für eine bestimmte kulturelle Gruppe Andalusiens dient.16 Vielmehr wird er von zahlreichen Menschen in unterschiedlichen Formen als „Reserve“ herangezogen, um das „Eigene“ zu bekräftigen.17 Als nächstes wird die Hinführung zur Fragestellung dieser Forschungsarbeit dargelegt. Damit soll insbesondere die Eingrenzung des Forschungsfeldes auf den Flamencotanz in Deutschland wiedergegeben werden. Eine Aufstellung über den aktuellen Forschungsstand wird im Anschluss zeigen, dass die Emotionen (im Flamencotanz) insgesamt von verschiedenen Wissenschaftler/innen untersucht werden. Kurzum stellt die Emotionsforschung ein interdisziplinäres Vorhaben dar und markiert zugleich einen wichtigen Schwerpunkt der Empirischen Kultur- wissenschaft. Der theoretische Teil wird sich vorerst einer Begriffsdiskussion um Gefühl, Affekt und Emotion widmen. Was wir nämlich heute unter diesen drei Begriffen verstehen, wurde nicht immer von allen Disziplinen gleichermaßen definiert.18

Anschließend wird das Modell der „Emotionspraktiken“ genauer erläutert. Der theoretische Teil schließt mit einem Passus über die emotionale und körperliche Bedeutsamkeit in der Flamencopraxis. An diesem Punkt wird verdeutlicht, dass der Flamenco im Wesentlichen aus dem cante, baile und toque besteht, die wiederum auf dem Grundgerüst der palos basieren. Vor der Analyse wird die Methodologie meiner Forschung verdeutlicht. Ferner wendet sich die Arbeit vier Emotionen zu, die im gesamten Forschungsprozess am häufigsten zutage gekommen sind: der Schmerz, die Trauer, der Stolz und das Glück. Zuletzt werden die Ergebnisse bilanziert und es wird ein Fazit im Hinblick auf die Fragestellung gezogen.

1. Zur Geschichte des Flamencos

Der Flamenco ist ein „vorrangig in Andalusien verankerter Musik- und Tanzstil, der seit dem 19. Jahrhundert gut dokumentiert ist und [von diesem Zeitpunkt an] eine rasche Verfeinerung, Diversifizierung und Professionalisierung erfahren hat.“19 Es waren insbesondere einflussreiche Dichter und romantisch gestimmte Reisende aus Europa und den USA, die sich um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert für Spanien und den Flamenco interessierten. In schriftlichen und mündlichen Dokumentationen hielten sie ihre Eindrücke fest. Aufgrund des aufkommenden Massentourismus während der 1950er Jahre wuchs die Aufmerksamkeit und Neugier für den Flamenco in den (außer-) europäischen Ländern weiter an. Zu jener Zeit wurde Spanien von der Diktatur Francos ergriffen. Es wird vermutet, dass der Flamenco angesichts dieses konservativen Regimes eine stark folkloristische Prägung erfuhr, um schließlich als Nationalsymbol auserkoren werden zu können.20 Heute wird der Musik- und Tanzstil von verschiedenen Akteur/innen21 in unterschiedlichen Kontexten angeeignet und nutzbar gemacht. Der Flamenco kann nunmehr als Kunst, rituelle Körperpraktik, Tourismusattraktion und Lebensstil verstanden werden. Überdies ist er der Gegenstand eines gesamten Forschungszweiges (flamencología) und gehört seit 2010 dem Immateriellen Kulturerbe der UNESCO an.22 „Zahllos ist also das Heer der Sänger, Tänzer, Gitarristen,“ resümiert der Kulturjournalist Kersten Knipp, „und alle tragen sie dazu bei, dem Publikum klarzumachen, dass der Flamenco seine regionalen Ursprünge längst verlassen hat“.23

Auch in Deutschland kann nachgewiesen werden, dass sich unter anderem im Bereich von Universitäten, Flamencofestivals, spezialisierten Akademien und Veröffentlichungen eine Flamencoszene etabliert hat.24 Beteiligte Akteur/innen entdecken vor allem in der Vielfalt der palos die Ausdrucksmöglichkeit ihrer Gefühle. Abgesehen von Liveauftritten dient der Flamenco den Deutschen vornehmlich als körperliche Praxis, während das Instrumentalspiel und der Gesang deutlich weniger Interesse erfahren.25 Dass in Deutschland mit dem spanischen Charakter und dem Flamenco sympathisiert wird, kann ebenso die Vielzahl von deutschen Teilnehmer/innen bei Flamencofestivals und -workshops in Andalusien belegen.

2. Entwicklung der Fragestellung

Der Forschungsprozess dieser Arbeit begann im vergangenen Sommer während eines jährlich stattfindenden Flamencofestivals in dem andalusischen Dorf La Puebla de Cazalla. Tanz-, Gesang-, Gitarren- und Cajón -Workshops gestalteten das mehrtägige Event aus. Zum Abend wurden diverse Liveauftritte von andalusischen Künstler/innen veranstaltet, die einem Publikum aus dem In- und Ausland bis in die späten Stunden den Flamenco vermittelten. Vornehmlich der cante wurde von deutschen Teilnehmer/innen als ungewöhnlich wahrgenommen.26 Von spanischen Akteur/innen erhielt er hingegen ehrenhafte Zusprüche.27 Bei einer näheren Betrachtung dieser Gruppen, konnten in der Flamencopraxis schließlich Differenzen der kulturellen und kommunikativen Fähigkeiten vernommen werden.

Der Flamenco – im Wesentlichen der cante – besitzt die Fertigkeit, im Verlauf eines Auftrittes emotional bei den aufführenden und zuhörenden Personen einzuwirken.28 Während einer zunächst frei durchgeführten Literaturrecherche tauchten hierbei zahlreiche Sichtweisen über die Emotionalität im Flamencogesang auf.29 In Deutschland ist es jedoch in erster Linie der Tanz, der Flamencobegeisterten die Möglichkeit bietet, eigene Gefühle zum Ausdruck zu bringen.30 So beschreibt etwa das Tanzstudio „FlamenSol“ in Tübingen den Flamencotanz als „pure Lebensenergie“, denn „[e]r berührt das Herz, unsere Sinne, fordert uns heraus durch seine Faszination und gibt uns unendlich viel an Gefühl und Stärke zurück!“31 Es ist das Tanzstudio „FlamenSol“, welches sich im weiteren Verlauf als besonders interessantes Forschungsfeld herausstellen sollte.

Der Flamenco ist in meinem eigenen Leben bereits seit meiner Kindheit präsent. Speziell mit der Flamencoszene in meiner Heimatstadt Hamburg kam ich früh in Kontakt. Meine wachsende Begeisterung für den Tanz hat mich dazu bewegt, den baile seit einiger Zeit selbst intensiv zu praktizieren. Ich bin derzeitig Tanzschülerin im Tübinger Tanzstudio „FlamenSol“ und besuche Flamencoworkshops im In- und Ausland. Um meine persönlichen Erfahrungen in diese Ausarbeitung miteinbringen und somit die Darstellung der Untersuchung verdichten zu können, entschied ich mich schließlich für den autoethnografischen Ansatz und die Eingrenzung meines Feldes auf den Flamencotanz in Deutschland, speziell: in Tübingen („FlamenSol“) und Hamburg.

Unter der Berücksichtigung, dass sich die Fähigkeiten in der Flamencopraxis je nach kulturellem Hintergrund unterscheiden können, stelle ich folgende Fragestellung in den Mittelpunkt meiner Forschung: Wie gehen beteiligte Akteur/innen mit den emotionalen Praktiken im Flamencotanz in Deutschland um? Mein Erkenntnisinteresse richtet sich zunächst danach, welche Beweggründe Teilnehmer/innen haben können, sich ausgerechnet dem Flamencotanz zuzuwenden oder sich diesem späterhin abzuwenden („(un-)doing emotions“). Die zentrale Annahme ist, Monique Scheer folgend, das Verständnis von Emotionen als „Emotionspraktiken“.32 Demzufolge soll der Stellenwert von einzelnen und emotional zum Teil völlig unterschiedlich „aufgeladenen“ Flamencostilen herausgefunden werden, der auf die Gefühlswelt Anwesender einwirkt. Welche Emotionen werden wann, wie und wo bei beteiligten Akteur/innen angesprochen, erzeugt und kommen durch den Flamencotanz zum Ausdruck? Das Ziel ist es, diesen Forschungsfragen eine Antwort zu geben und hiernach über die „Emotionspraktiken“ kulturelle Regeln zu identifizieren, nach denen Menschen zusammenleben, sich verständigen und voneinander abgrenzen.

3. Forschungsstand

Wer sich mit der Welt der Emotionen beschäftigen will, vermag ein weites Forschungsfeld öffnen. Dass die Emotionalität ebenso in den literarischen Abhandlungen zur Flamencopraxis thematisiert wird, ist kaum verwunderlich! Es ist besonders der Flamenco, der mit seinen zahlreichen palos dazu imstande ist, unterschiedliche Emotionen anzusprechen.

Vor den 1970er Jahren standen die Emotionen noch indirekt im Fokus der Wissenschaften.33 Der Konsens bestand darin, dass das Emotionale rational nicht erschließbar sei.34 „Im sogenannten therapeutischen Zeitalter, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzte“, erfuhr das Feld jedoch auf interdisziplinärer Ebene einen Aufschwung – „[a]lle sprechen über Gefühle“, hält die Historikerin Ute Frevert fest.35

Die kulturwissenschaftliche Emotionsforschung hat sich unterdessen mit kommunikationstheoretischen Modellen auseinandergesetzt: Emotionen wurden etwa von Lutz und Abu-Lughod in „Language and the Politics of Emotion“ als Diskurs abgehandelt. Demzufolge benennt und konstruiert die sprachliche Äußerung aktiv das Wissen über unser Selbst und die Gesellschaft.36 Von Bedeutung waren auch kognitionswissenschaftliche Vorstellungen: Reddy plädierte zum Beispiel, dass unsere Emotionen, die in einem undurchsichtigen Gedankenkomplex verwoben sind, erst mithilfe unserer Sprache identifiziert werden können.37 Eine wesentliche Beobachtung vollzog schließlich Monique Scheer: Die kulturwissenschaftliche Emotionsforschung reduziere sich mit derartigen Beiträgen zu stark auf die Sprache und vernachlässige den körperlichen Anteil.38 Auf Scheers Beitrag aufbauend, wird ihr Modell der „Emotionspraktiken“ für die eigene Analyse nutzbar gemacht.

Mit dem Flamenco haben sich in erster Linie Flamencolog/innen, Historiker/innen und Romanist/innen beschäftigt. Ihre Werke verfolgen die Frage nach dem Ursprung und der Geschichte des Flamencos. Indessen wurden unterschiedliche Betrachtungsweisen diskutiert: Der französische Flamencologe Bernard Leblon beantwortet die selbst gestellte Frage „Was ist nun geschehen im Kreise dieser Handvoll andalusischer gitano- Familien […]?“ den Flamenco als „gelungene Kultursynthese“ zwischen dieser Gruppe und der Musikkultur der Andalusier/innen.39 Der Historiker Timothy Mitchell wiederum betrachtet den Flamenco als Ergebnis gesellschaftlicher Einschränkungen eines bestimmten Milieus.40 Er fügt hinzu, dass es im Wesentlichen der cante ist, der sich traditionell auf wenig anwesende Personen beschränkt und auf diese emotional einwirkt.41 Um die Entstehungsgeschichte des Flamencos zu überblicken, hat ebenfalls der Romanist Kersten Knipp mit seinem schlicht betitelten Werk „Flamenco“ einen Beitrag geleistet. Darin behandelt er explizit die unterschiedlichen Formen des Flamencotanzes und betont, dass dieser längst seinen andalusischen Heimathafen verlassen und „auf unterschiedlichste Weise Anschluss an die stürmische Fahrt der globalisierten Welt genommen hat“.42 Auch wenn die ethnologischen Publikationen über den Flamenco überschaubar bleiben, sind es Beiträge wie die von William Washabaugh, die in der Forschungslandschaft Bedeutung erlangt haben. Washabaugh beschäftigte sich unter anderem mit der Emotionalität im cante und porträtiert diesen als „spiritual journey to the heart of the human condition“ (deutsch: „spirituelle Reise in das Herz der menschlichen Verfassung“).43 Hierbei argumentiert er, dass der Körper nicht marginal gedacht werden darf, sondern als eine der zentralen Qualitäten in der Flamencomusik.44

Die allgemeine Erkenntnis, dass Gefühle ein körperliches Fundament haben und nicht nur, wie einst angenommen, auf die geistige Sphäre reduziert werden können, entwickelte sich zum Ende des 19. Jahrhunderts heraus.45 Im Zuge dieses Perspektivenwechsels resultierten Veränderungen in unserem Gefühlsvokabular, die im Folgenden skizziert werden.

II. Hauptteil

4. Theoretische Vorüberlegungen

4.1 Gefühl, Affekt, Emotion?

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das Vokabular der Gefühle zu jeder Zeit mit unterschiedlichen Bedeutungen „aufgeladen“ war. Im späten 18. Jahrhundert sowie im 19. Jahrhundert konnte etwa der Höhepunkt einer großen Begriffspalette über Gefühle festgehalten werden.46 Es war eine Phase, in der besonders viele Fachbereiche und somit diverse Termini nebeneinander existierten. Seit dem 20. Jahrhundert erfahren nunmehr das „Gefühl“, der „Affekt“ und späterhin die „Emotion“ in unserer Alltagssprache einen verstärkten Gebrauch, während sich von anderen Begriffen abgewendet wird.47

Das „Gefühl“ wurde primär durch philosophische Schriften wie die von Immanuel Kant auf einer höheren, geistigen Sphäre betrachtet. Daraus resultiert, dass wir dem „Gefühl“ heute eher das Innere und die Subjektivität zusprechen.48 Dem „Affekt“ hingegen wird vorzugsweise eine physiologische und passive Betrachtungsweise auferlegt.49 Letzteres ist der Einfluss neurowissenschaftlicher Forschungen, die Affekte vorsprachlich, unbewusst und rein körperlich behandelt haben.50 Mit einer veränderten Betrachtungsweise unseres Körpers, was mit dem Aufschwung der Naturwissenschaften, der Lebensreformbewegung und dem steigenden Interesse am Sport im 20. Jahrhundert einherging, passierte eine zunehmende Hinwendung zur „Emotion.51 Einer der einflussreichsten Wissenschaftler jener Zeit war Charles Darwin. Er beschäftigte sich mit der Universalisierung von Gefühlen, speziell: den „basic emotions“52 und schuf hiermit eine wesentliche Grundlage für den weiteren Forschungsverlauf. In unserer heutigen Alltagssprache bewährt sich „Emotion“ als ganzheitlicher Begriff, vermag als solcher Dichotomien überbrücken53 und wird aufgrund dessen in dieser Arbeit zu den „Emotionspraktiken“ im Flamencotanz nutzbar gemacht. „Affekt“ und „Gefühl“ werden hier lediglich verwendet, sobald mehr das Äußere oder mehr das Innere gemeint ist.

[...]


1 Die Begriffe, die im Glossar erklärt sind, werden bei ihrer ersten Nennung im Text kursiv markiert.

2 Ayuntamiento: Fiestas Y Tradiciones. Reunión Cante Jondo. La Puebla de Cazalla 2013. URL: www.pueblacazalla.org/ayto/index.php/elayuntamiento/area-de-cultura/reunion-de-cante-jondo (Zugriff: 25.07.2017): „Si hay algo que caracteriza a nuestra población es la pasión que existe por el flamenco.“ [Original].

3 Diese und weitere Narrative sind das Ergebnis meiner (auto-)ethnographischen Forschung zu den „Emotionspraktiken“ im Flamenco. Es handelt sich um Konstruktionen aus Feldnotizen, Einträgen aus dem Forschungstagebuch, Fragebögen, Interview-, Bild- und Filmmaterialien. Meine unterschiedlichen Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand habe ich bewusst gewählt, da sich verschiedene Datentypen wechselseitig ergänzen und schließlich kulturelle Phänomene dicht beschreiben (im Sinne von Clifford Geertz) lassen können. Ein Kapitel stellt in dieser Arbeit explizit meine Methodologie dar. Siehe dazu: S. 18-20.

4 Vgl. Burkitt, Ian: Emotions and Social Relations. London 2014, S. 2.

5 Was wir unter „Innen“ und „Außen“ verstehen beziehungsweise wie wir zwischen „Innen“ und „Außen“ unterscheiden, beruht auf vergangenen Diskussionen und kann im gegenwärtigen Alltag ununterbrochen herausgefordert und umdefiniert werden. Eine Untersuchung dessen, speziell: deutscher Konversationslexika des 18. bis 20. Jahrhunderts, bietet etwa der folgende Beitrag: Scheer, Monique: „Innen“ und „Außen“ als Quellenbegriffe. In: Frevert, Ute et. al. (Hg.): Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Frankfurt am Main 2011, S. 44-46.

6 Vgl. Brauer, Juliane/Lücke, Martin: Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Einführende Überlegungen. In: Dies./Ders. (Hg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven. Berlin 2013, S. 11-26, hier: S. 18.

7 Vgl. Burkitt 2014, S. 2.

8 Vgl. Brauer/Lücke 2013, S. 18.

9 Vgl. Bischoff, Christine et. al. (Hg.): Methoden der Kulturanthropologie. Bern 2014, S. 107.

10 Vgl. Scheer, Monique: Emotionspraktiken: Wie man über das Tun an die Gefühle herankommt. In: Beitl, Matthias/Schneider, Ingo (Hg.): Emotional Turn?! Europäisch ethnologische Zugänge zu Gefühlen & Gefühlswelten. Bd. 27. Wien 2016, S. 15-37, hier: S. 23-29.

11 Vgl. ebd., S. 35.

12 Vgl. ebd., S. 36 f.

13 Bechdolf, Ute et. al. (Hg.): Tanzlust. Empirische Untersuchungen zu Formen alltäglichen Tanzvergnügens. Tübingen 1998, S. 13 f.

14 Vargas, Rafael: Tras las Huellas del Tiempo y de los Mitos. Alcalá de Guadaira. Sevilla 1995, S. 166, zit. nach Krüger, Stefan (Hg.): Die Musikkultur Flamenco. Darstellung, Analyse und Diskurs. Dissertation. Hamburg 2001, S. 67.

15 Im Laufe meiner Forschung hat sich herausgestellt, dass wiederholt die Frage nach der Authentizität des Flamencos aufkommen kann. Wie im Laufe seiner Geschichte darüber diskutiert wurde, zeigt etwa Frederico García Lorca (1898-1936), der speziell den „verlorenen Formen des Flamencos“ nachspürte und vor dem „drohenden Untergang des andalusischen Liedguts“ warnte: „Es kann doch nicht sein, daß die bewegendsten und tiefsten Lieder unserer geheimnisvollen Seele von Tavernen und anderem Schmutz befleckt werden.“ Ab 1921 veröffentlichte er unzählige Gedichte über den Flamenco und 1922 veranstaltete er „als Rettung des nicht-kommerziellen Flamencos“ mit weiteren Künstler/innen den Gesangswettbewerb „Concurso de cante jondo“. Mehr dazu: Knipp, Kersten (Hg.): Flamenco. 1. Aufl. Frankfurt am Main 2006.

16 Vgl. Krüger, Marion: Flamenco zwischen Diskurs, heritagization und lokaler Praxis. In: Harrasser, Karin/Timm, Elisabeth (Hg.): Zeitschrift für Kulturwissenschaften 9/2. Begeisterung und Blasphemie. Bielefeld 2015, S. 125-132, hier: S. 129.

17 Vgl. Krüger 2015, S. 130.

18 Vgl. Plamper, Jan (Hg.): Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte. München 2012, S. 11-50, hier S. 20; Frevert, Ute et. al. (Hg.): Emotional Lexicons. Continuity and Change in the Vocabulary of Feeling 1700-2000. Oxford 2014, S. 16.

19 Krüger 2015, S. 125.

20 Vgl. Knipp 2006, S. 143-174; Ríos Martín, Juan Carlos/Piqueras, Dolores Ros (Hg.): La identidad andaluza en el flamenco. Sevilla 2009, S. 69 f.

21 Der Ethnologe Marion Krüger erfasst während seiner Feldforschung in Granada folgende Akteur/innen innerhalb der Flamencokultur, indem er diese nach dem jeweiligen Ausmaß der Involvierung kategorisiert: Schüler/innen, aficionados, (Profi-)Künstler/innen, Expert/innen, Unternehmer/innen, Institutionen. Siehe dazu: Krüger, Marion: Flamenco im Spannungsfeld der Interessen verschiedener Akteure: Agency, Handlungsstrategien und Diskurse im Flamencofeld Granada. In: Zentrum für Mittelmeerstudien (Hg.): Akteure und Agency im Mittelmeerraum. 2. Bochumer Nachwuchsworkshop für Mediterranist/innen. Bochum 2012, S. 18-23, hier: S. 19-21.

22 Vgl. Krüger 2015, S. 125.

23 Knipp 2006, S. 234.

24 Vgl. Rodríguez-Quiles y García, José Antonio: Haben die Deutschen Interesse am Flamenco? Eine Annäherung an die Flamencokultur in der Bundesrepublik Deutschland. In: Ders. (Hg.): Perspektiven einer Interkulturellen Musikpädagogik. Potsdam 2009, S. 76-95, hier: S. 78.

25 Vgl. Rodríguez-Quiles y García 2009, S. 94.

26 Interview mit Martin vom 07.07.2017, S. 14 im Anhang; Siehe auch: Interview mit Lilith vom 09.12.2017, S. 27 f. im Anhang.

27 Interview mit Juan vom 06.07.2017, S. 7 und S. 10 im Anhang; Interview mit Carmen vom 07.07.2017, S. 17 und S. 19 im Anhang.

28 Siehe dazu: Washabaugh, William (Hg.): Flamenco. Passion, politics and popular culture. Oxford 1996, S. 88: „Singing, according to most flamencologists, requires of cantaores that they establish appropriate moods […] and set their minds to the task of cutting through superficial layers of experience to reach an inner core of emotion.”

29 Kersten Knipp zitiert etwa die Flamencosängerin Tía Amica la Piriñaca, die sich einst über den Schmerz auf der Bühne äußerte: „Wenn ich singe, schmeckt mein Mund nach Blut.“ Ähnlich beschreibt Manuel Torre seine Erfahrungen als cantaor: „Der gute Gesang stimmt nicht fröhlich, er schmerzt . “ Siehe dazu: Knipp 2006, S. 10 f.; Wiederum andere berichten über das Phänomen des so genannten duende. Hierbei kann durch den Gesang die emotionale Teilnahme aller Beteiligten verstärkt werden, sodass der Flamenco im Extremfall einer Ekstase gleich kommt und befreiende Qualitäten annimmt. Siehe dazu: Krüger 2015, S. 128.

30 Vgl. Rodríguez-Quiles y García 2009, S. 93.

31 FlamenSol: Studio für Flamencotanz. Tübingen 2018. URL: www.flamensol.de (Zugriff: 11.02.2018).

32 Vgl. Scheer 2016.

33 Vgl. Svasek, Maruska: Emotions in Anthropology. In: Milton, Kay/Dies. (Hg.): Mixed Emotions. Anthropological Studies of Feeling. Oxford 2005, S. 1-24, hier: S. 2.

34 Vgl. Schneider, Ingo: Über die emotionalen Kompetenzen der Europäischen Ethnologie / Empirischen Kulturwissenschaft / Kulturanthropologie. Zur Einführung. In: Beitl, Matthias/Ders. (Hg.): Emotional Turn?! Europäisch ethnologische Zugänge zu Gefühlen & Gefühlswelten. Bd. 27. Wien 2016, S. 7-14, hier: S. 9.

35 Frevert, Ute et. al. (Hg.): Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche der Moderne. Frankfurt am Main 2011, S. 9.

36 Siehe dazu: Lutz, Catherine A./Abu-Lughod, Lila (Hg.): Language and the Politics of Emotion. Cambridge 1990.

37 Siehe dazu: Reddy, William M.: Against Constructionism. The Historical Ethnography of Emotion. In Current Anthropology Vol. 38, No. 3. (o.O.) 1997, S. 327-351.

38 Vgl. Scheer 2016, S. 23.

39 Leblon, Bernard (Hg.): Gitanos und Flamenco. Die Entstehung des Flamenco in Andalusien. Berlin 1997, S. 67.

40 Vgl. Mitchell, Timothy (Hg.): Flamenco Deep Song. New Haven 1994.

41 Vgl. ebd., S. 174: „The stylized moaning and other vocals techniques elicit the juerga ’s communion or communitas, what José Mercado calls its ‚effervescent states of great emotional tension‘ […] and subsequently the ecstasy and ritual catharsis that flamenco aficionados come to depend upon like a drug or a pseudoreligion.”

42 Vgl. Knipp 2006, S. 203.

43 Washabaugh 1998, S. 101.

44 Vgl. ebd., S. 91.

45 Vgl. Frevert 2011, S. 24.

46 Vgl. ebd.

47 Vgl. ebd., S. 25.

48 Vgl. Scheer 2016, S. 24.

49 Vgl. ebd.

50 Vgl. Plamper, Jan (Hg.): Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte. München 2012, S. 11-50.

51 Vgl. Frevert 2011, S. 29.

52 Siehe dazu: Darwin, Charles (Hg.): The Expression of the Emotions in Man and Animals. 3. Aufl. Oxford 1988, zit. nach Frevert 2011, S. 30.

53 Vgl. Scheer 2016, S. 24.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
(Un-)doing Flamenco
Untertitel
Über den Umgang mit den emotionalen Praktiken im Flamencotanz
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Ludwig-Uhland-Insitut für Empirische Kulturwissenschaft)
Note
1,7
Autor
Jahr
2018
Seiten
37
Katalognummer
V492951
ISBN (eBook)
9783668991279
ISBN (Buch)
9783668991286
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Flamenco, Emotionen, Tanz, Emotionspraktiken, Praktiken
Arbeit zitieren
Maya Victoria Haeckel (Autor:in), 2018, (Un-)doing Flamenco, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/492951

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