Leseprobe
1 Einleitung
2 Wie führt aristoteles den begriff der eudaimonia ein? Eine formale Herleitung
2.1 These 1: Alles strebt nach einem Gut. Erstes Buch, 1: 1094a1-9
2.2 These 2: Es gibt ein letztes Ziel des Handelns, das damit das Beste ist. Erstes Buch, 1: 1094a10-26
2.3 These 3: Dieses letzte Ziel ist die eudaimonia. Erstes Buch, 2: 1095a14-19
2.4 Recap: Was damit gesagt ist
3 Was ist die eudaimonia? Eine inhaltliche Charakterisierung
3.1 Die drei Hauptformen des Lebens Erstes Buch, 3 1095b15-1096a10
3.2 Die Kriterien der eudaimonia Erstes Buch, 5 1097a15-1097b21
3.3 Die eudaimonia des Menschen (Das ergon -Argument) Erstes Buch, 6 1097b22-1098a19
3.4 Recap: Was damit gesagt ist
4 Gelingt die Konzeption der Eudaimonia? SPannungsfelder
4.1 Inklusive vs. Dominante Interpretation
4.2 Das theoretisch-betrachtende Leben
4.3 Äußere Güter
4.4 Recap: Was damit gesagt ist
5 was bleibt von Aristoteles’ eudaimonia? ein Fazit
6 konkordanz altgriechischer begriffe
7 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Aristoteles stellt sich mit der Konzeption der eudaimonia einer Frage, die sich jeder früher oder später in seinem Leben stellt: Wie kann ich glücklich werden? Im digitalen Zeitalter ist der erste Ansprechpartner für Fragen aller Art die online Suchmaschine Google, die natürlich auch zu dieser Frage Antworten liefert. Um genau zu sein 82.700.000 an der Zahl und das innerhalb von 0,48 Sekunden. So verspricht die allererste Antwort der Google -Suche eine „ultimative Schritt-für-Schritt-Anleitung” für ein glückliches Leben. Aristoteles ’ Antwort auf die Frage (so viel sei an dieser Stelle schon verraten) wird etwas mehr Zeit erfordern und auch komplexer sein als die Antworten der Google -Suche – Warum also sich heute noch mit Aristoteles ’ Konzeption der eudaimonia beschäftigen?
Zuerst bedarf es einer einleitenden Erklärung, was die eudaimonia überhaupt ist. Der Begriff der eudaimonia wird aus dem Altgriechischen mit Glück, Glückseligkeit, Lebensglück oder gelingendes Leben übersetzt.1 Insbesondere die Übersetzung „Glück“ ergibt die Problematik, dass der Begriff „Glück” umgangssprachlich auch für glückliche Zufälle und zur Beschreibung einer Stimmungslage oder eines Gefühlszustandes verwendet wird. Aristoteles ’ Gebrauch des Begriffs eudaimonia bezieht sich hingegen auf einen andauernden Zustand, eine bestimmte Lebensweise oder ein gelingendes Leben im Ganzen. Da die eudaimonia im Zuge dieser Arbeit ausführlich hergeleitet und charakterisiert wird, wird auf eine Übersetzung des Begriffs verzichtet, um einer inhaltlichen Verfälschung entgegenzuwirken.
Zurück zu der aufgeworfenen Frage: Warum heute noch Aristoteles lesen? Die Frage nach dem gelingenden Leben beschäftigt die Menschen bis zum heutigen Tag, aber von der großen philosophischen Bühne ist sie verschwunden. Dies ist fatal, da populäre ethische Positionen, wie beispielsweise der Utilitarismus, eine Definition über das gelingende Leben als implizite Prämisse zugrunde legen. Nach dem Utilitarismus ist diejenige Handlung moralisch, welche das Gesamtwohl maximiert – aber was zeichnet dieses Gesamtwohl überhaupt aus?
Die Frage nach dem gelingenden Leben ist tief in der philosophischen Disziplin der Ethik verankert, ohne dass sie heute noch explizit diskutiert wird. Die Notwendigkeit dessen zeigt sich auch deutlich in Bezug auf die Motivationsfrage der Ethik „Warum soll ich ethisch handeln?”. Die Beantwortung dieser Frage ist grundlegend für unser ethisches Selbstverständnis.
Um den Grundstein für die Ethik schlüssig und nachhaltig zu legen, bedarf es mehr als einer Google -Suche. Es bedarf einem tiefgehenden Verständnis, welche Lebensweise für uns erstrebenswert ist, um zu zeigen, warum ausgerechnet diese eine Lebensweise einen vertretbareren Ansatzpunkt der Ethik darstellt. Dabei geht es nicht darum, welche Lebensweise wir als moralisch gut empfinden, sondern es gilt zuerst festzustellen, nach welcher Lebensweise die Menschen überhaupt streben – Was macht das gelingende Leben aus? Aristoteles legt mit seiner Konzeption der eudaimonia einen wichtigen Grundstein in der Beantwortung dieser Frage und greift damit eine Fragestellung auf, die in der Ethik mehr Beachtung verdient.
Diese Arbeit widmet sich der Erarbeitung der Konzeption der eudaimonia. Im ersten Schritt (Kapitel 2) erfolgt eine formale Herleitung nah an den ersten Abschnitten des ersten Buchs der Nikomachischen Ethik. Dazu werden drei zentrale Thesen erläutert, die Aristoteles’ Argumentation in einzelnen Argumenten nachvollziehbar macht. Ziel des ersten Schritts ist es zu verstehen, wie Aristoteles den Begriff der eudaimonia einführt. Im nächsten Schritt (Kapitel 3) findet die inhaltliche Charakterisierung der eudaimonia statt, mit dem Ziel zu verstehen, was eudaimonia ist. Hierzu werden drei Lebensformen als Kandidaten für die eudaimonia angeführt, zwei konkrete Kriterien genannt und zuletzt das ergon -Argument erläutert. Nachdem die Konzeption der eudaimonia somit in Kapitel 2 und Kapitel 3 ausführlich und nah an Aristoteles selbst erarbeitet wurde, werden in Kapitel 4 drei Spannungsfelder aufgezeigt, die vermeintliche Schwächen oder Lücken der Argumentation untersuchen. Das erste Spannungsfeld erläutert die Konkurrenz zwischen der inklusiven und dominanten Interpretation. Das zweite Spannungsfeld stellt in Frage, inwiefern Aristoteles das theoretisch-betrachtende Leben plausibel als eine konkrete Lebensweise herausdeuten kann. Zuletzt wird als drittes Spannungsfeld untersucht, inwiefern die Realisierung der eudaimonia unabhängig von äußeren Gütern ist. Am Ende der Arbeit steht die Frage, was Aristoteles mit seiner Konzeption der eudaimonia leistet.
2 Wie führt aristoteles den begriff der eudaimonia ein? Eine formale Herleitung
Bevor die eudaimonia als Konzept an sich erläutert wird, gilt es an einem früheren Punkt anzusetzen und Aristoteles’ Herleitung der eudaimonia schrittweise nachzuvollziehen. Es ist essenziell zu verstehen, wie Aristoteles zu dem Begriff der eudaimonia kommt, um Begrifflichkeiten zu klären, sich auf den argumentativen Gedankengang einzulassen und in den folgenden Kapiteln diesen Gedankengang weiter nah an Aristoteles’ Position verfolgen zu können.
In diesem Kapitel werden drei zentrale Thesen2 textnah erläutert, um die aristotelische Konzeption des Strebens mit der eudaimonia zu verbinden und damit den Ansatzpunkt der eudaimonia aufzugreifen. Der Textinterpretation werden zentrale Sätze des Textes vorangestellt, die ggf. in Teilsätze gegliedert werden. Somit soll eine zielgerichtete Herleitung der eudaimonia ermöglicht werden, die jeden der Argumentationsschritte nachvollziehbar erklärt. Auch wenn nur einzelne Sätze explizit herausgegriffen und vorangestellt werden, wird im Zuge der Interpretation der zum Verständnis relevante Text in seiner Gesamtheit einbezogen. Weiterführend werden unterschiedliche Perspektiven aufgezeigt, die die Inhalte ausführlich von verschiedenen Seiten beleuchten und damit bereits Vorarbeit für die Untersuchung der Spannungsfelder in Kapitel 4 leisten.
Übersicht über die Thesen
These 1: Alles strebt nach einem Gut.
These 2: Es gibt ein letztes Ziel des Handelns, das damit das Beste ist.
These 3: Dieses letzte, höchste Ziel ist die eudaimonia.
2.1 These 1: Alles strebt nach einem Gut. Erstes Buch, 1: 1094a1-9
„Jede technē und jedes wissenschaftliche Vorgehen (a), ebenso jedes Handeln und prohairesis (b) strebt, [so die verbreitete Meinung (c)]3, nach einem Gut (d).“4
Ross zeigt treffend auf, dass in diesem allerersten Satz bereits die „keynote“5 von Aristoteles steckt, von welcher ausgehend er zielgerichtet die Konzeption der eudaimonia aufbaut. Deswegen gilt es einen genauen Blick auf die Begrifflichkeiten zu wenden. Es ergeben sich zwei inhaltliche Bereiche, die es differenziert aus Aristoteles’ antikem Standpunkt zu denken gilt: Erstens, in (a) und (b) die aufgezählten „Hauptbereiche des menschlichen Tuns“6 und zweitens in (d) das Streben nach dem „Gut“.
(a) technē und wissenschaftliches Vorgehen
Der Begriff technē drückt „Herstellungswissen“7 oder eine Fertigkeit, die sich auf das praktische Herstellen bezieht,8 aus. Im Englischen wird technē übersetzt mit „art“9, „craft“10 oder „skill“11. Die greifbarste Gemeinsamkeit, die sich aus dieser Vielzahl an Begriffen abstrahieren lässt, ist die, dass die technē es dem Einzelnen ermöglicht Dinge hervorzubringen. Die englischen Übersetzungen des Altgriechischen erinnern, in Aristoteles’ Kontext hineingedacht, an eine Handwerkstätigkeit. Diese setzt entsprechende Fähigkeiten voraus und ist eine schaffende Arbeit. Auch die deutsche Übersetzung betont, dass etwas geschaffen, hergestellt oder erzeugt wird.
Zur Verdeutlichung kann das Beispiel eines Tischlers, der mit der Herstellung von Tischen12 beschäftigt ist, herangezogen werden. Die technē des Tischlers umfasst nicht nur sein Können im Sinn einer praktischen Fertigkeit, sondern beispielsweise auch die Arbeit seiner Hände bei dem Formen eines Tischbeins. Wird eben diese Fähigkeit zu kurz gedacht und „art“ naiv interpretiert, könnte technē auch im Sinn einer Fertigungskunst verstanden werden. Wie aber die Übersetzungen „craft“ oder „Herstellungswissen“ beispielsweise aufzeigen, beschreibt Aristoteles mit technē eine Kunst, die sich auf die Herstellung praktischer Gegenstände oder Dinge bezieht. Weiterführend verfügt der Tischler über Expertise oder grundlegendes Wissen. Beispielsweise, dass alle vier Tischbeine dieselbe Länge haben müssen, damit der Tisch geradesteht. Technē drückt aber auch aus, dass der Tischler dieses Wissen nicht nur aus einem Lehrbuch übernimmt, sondern ein tieferes Verständnis davon besitzt. Dieses Wissen ist somit nicht nur ein „erfahrungsmäßiges Können“13, da der Tischler weiß, dass es erstrebenswert ist die Tischplatte möglichst eben anzubringen. Er besitzt zusätzlich das Wissen über die Gründe für die Notwendigkeit der gleichen Länge.
Als zweites nennt Aristoteles die „Untersuchung“14 oder das „wissenschaftliche Vorgehen“15, welches im Englischen mit „inquiry“16 bzw. „investigation“17 übersetzt wird. Da Aristoteles das Handeln, die technē und die Wissenschaft (engl. „science“18 ) in 1094a7f aufzählt, lässt sich vermuten, dass methodos (1094a1) im Sinn der epistēmē (1094a7) zu verstehen ist. Dadurch wird auch eine Verbindung zwischen technē und methodos deutlich: Beides setzt ein Wissen über Gesetzmäßigkeiten19 voraus. So kennt der Tischler die Eigenschaften von Holz bzw. eben die Gesetzmäßigkeiten der Holzverarbeitung. Auch der Unterschied zwischen den beiden genannten wird deutlich, da man dem Tischler, der sich mit der Herstellung von Tischen befasst, nicht wissenschaftliches Vorgehen zuschreiben würde. Wenn hingegen der Tischler sich der Holzverarbeitung in dem Sinne zuwenden würde, dass er verschiedene Holzarten untersucht, Experimente durchführt auf der Suche nach allgemeinen Regelmäßigkeiten und Theorien über die Verarbeitung von Holz entwickelt, würde man ihm weniger Herstellungswissen zugestehen Er würde zum Wissenschaftler werden, der sich nicht mehr mit dem praktischen Herstellen von Tischen befasst.
(b) ebenso jedes Handeln und Vorhaben
Wie durch das Beispiel des Tischlers deutlich geworden ist, ist die technē eine praktische Fertigkeit wie auch das Handeln praktisch ist. Allerdings hat die technē am Ende ein gegenständliches Ergebnis (den Tisch), während die Handlung diese Eigenschaft nicht besitzt20. Die Handlung zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass sie ihr Ziel in sich selbst hat.21 Im Englischen findet sich die Übersetzung mit „action“22. Damit greift Aristoteles auch „non-rational or downright irrational action“23 auf, die keinen ethischen Charakter haben.
Etwas spezifischer gefasst und in die Fragestellung der Ethik eingebettet ist der Begriff prohairesis, der in Buch III in Abschnitt vier bis sechs tiefergehend von Aristoteles erläutert wird. Auch bei dieser Handlung geht es darum, dass sie um ihrer selbst willen gewollt wird. Die englischen Übersetzungen hierfür unterscheiden sich in Nuancen („pursuit“24, „rational choice“25 und „decision“26 ) und verdeutlichen damit auch bereits, dass es sich wie bei dem Begriff technē um einen altgriechischen Begriff handelt, der nicht direkt übersetzt werden kann, ohne die Bedeutung zu verzerren. Aristoteles beschreibt durch diesen Ausdruck Handlungen, denen eine bewusste Entscheidung und eine rationale Abwägung vorausgeht.
(d) strebt nach einem Gut
Diese erläuterten Bereiche des menschlichen Tuns (technē und wissenschaftliches Vorgehen, Handeln und prohairesis) streben nach einem Gut, so Aristoteles. Beim zweiten Teil angekommen stellt sich vordergründig die Frage, was Aristoteles mit „Gut“ meint. Man könnte vorschnell urteilen, dass es sich hier um eine normative Wertung im Sinn von “ethisch gut“ oder “ethisch richtig“ handelt. Allerdings kommt diese Interpretation schnell an ihre Grenzen. Schließlich wurde bereits in (a) erläutert, dass technē sich auf Fertigkeiten oder Herstellungswissen bezieht und damit außerhalb der Sphäre des ethischen Handels liegt: Dem Tischler würde niemand unmoralisches Handeln vorwerfen, wenn der hergestellte Tisch nicht geradesteht. Und auch in Bezug auf Teilsatz (b) wurde erklärt, dass das Handeln nicht zwingend einen ethischen Hintergrund hat. Eine normative Wertung im Sinne einer ethischen Beurteilung kann somit nicht von Aristoteles gemeint sein.
Es wird verständlicher, was Aristoteles mit einem „Gut“ meint, wenn der nächste Satz einbezogen wird. Hier wird „das Gut“ mit „Ziel“ formuliert27, wonach der Teilsatz (d) sich umformulieren lässt in „strebt nach einem Ziel“ – aber was genau ist nun darunter zu verstehen?
Aristoteles beschreibt durch die genannten Begriffe in (a) und (b) „die Struktur von größeren Wirkungsbereichen oder Tätigkeitsfeldern“28. Das Ziel bezieht sich folglich auf einen gesamten Wirkungsbereich im Sinne einer „konzeptuelle(n) Verbindung“29, wie Ackrill es treffend benennt. Ackrill verdeutlicht damit, dass diese formale Beziehung zwischen technē, wissenschaftliches Vorgehen, Handeln und prohairesis auf der einen und dem „Gut“ auf der anderen Seite einen grundlegenden Charakter hat. Um zu verstehen, was Aristoteles mit diesem zentralen Gedanken meint, wird erneut das Beispiel des Tischlers herangezogen.
Der Tischler als herstellender Handwerker und damit Vertreter der technē hat das Ziel Tische herzustellen. Die einzelne Tätigkeit oder der einzelne Arbeitsschritt, beispielsweise das Zurechtschneiden einer Tischplatte, hat zunächst das Ziel eben genau diesen Arbeitsschritt (die zurechtgeschnittene Tischplatte) fertigzustellen. Allerdings ist das Ziel des Tischlers dabei nicht bloß eine einzelne Tischplatte herzustellen, sein eigentliches Ziel ist der vollständige Tisch. Wenn wir nun die Arbeit des Tischlers als Tätigkeit im Sinne einer speziellen technē verstehen, ist auch sein Ziel nicht nur ein einzelner Tisch, sondern eben die Herstellungen von Tischen allgemein. Es geht dem Tischler also nicht um den einzelnen Tisch30, sondern um seine Tätigkeit in ihrer Gesamtheit. Diese einzelne Tätigkeit bringt ihn „dem Guten“, das Fertigstellen des Tisches, näher31. Gerade „von seiner Tendenz dieses zu produzieren, leitet sich sein (der Einzelhandlung) Wert ab“32. Die Tätigkeit des Tischlers definiert sich also durch das Ziel der Tischherstellung und alle einzelnen Handwerksschritte vollzieht der Tischler mit diesem Ziel vor Augen.33 Folglich hat jede technē ein entsprechendes Ziel. Durch dieses Ziel zeichnet sie sich aus und damit wird es zu ihrem „Gut“.
Damit sagt Aristoteles nichts über das „Gut“ aus in dem Sinn, dass er es genauer bestimmt oder auch konkret nennt, was das „Gut“ ausmacht. Er beschreibt es in der Beziehung zu einem erstellten Produkt oder einer Handlung und damit auch zu dem herstellenden oder handelnden Menschen. Jedoch trifft er keine Aussage über die einzelnen Motive des handelnden Menschen.34 Gerade aber weil er die Beziehung im Blick hat, besteht nicht die Notwendigkeit sich auf ein einziges „Gut“ oder ein einziges „Ziel“ festzulegen. Es ist ein „Gut“, weil der handelnde Mensch danach strebt. Diese „notwendige Verbindung“35 macht es erst zu einem „Gut“. Aus demselben Grund erklärt sich auch, warum der Handelnde nach dem Erreichen seines Ziels bewertet wird36, nicht wie eben schon betont, nach seinen einzelnen, eigenen Motiven. So wird der Tischler nach seinem hergestellten Tisch beurteilt, beispielsweise nach der Ebenheit der Tischplatte.
(c) so die verbreitete Meinung
Durch den eingeschobenen Satzteil (c) weist Aristoteles darauf hin, dass die These eine allgemeine, verbreitete Meinung sei.37 Damit qualifiziert Aristoteles die Wahrheit einer Aussage, denn eine richtige Aussage muss mit den gängigen Überzeugungen der Menschen übereinstimmen.38 Der Gedanke wird in dem darauffolgenden Satz nochmals bekräftigt, auf den im Folgenden genauer eingegangen wird.
„Deshalb hat man «Gut» zu Recht erklärt als «das, wonach alles strebt».“ 39
Obwohl dieser Satz das bereits Gesagte scheinbar nur geringfügig erweitert, soll er trotzdem erläutert werden, da bei einer oberflächlichen Betrachtung leicht ein falscher Schluss gezogen werden könnte. Folgt man der bereits aufgezeigten Interpretation scheint der nächste Satz einen Widerspruch zu formulieren, da fälschlicherweise verstanden werden könnte, dass nun alle diese Tätigkeitsfelder nach einem einzigen „Gut“ streben. Dieser Ansatz scheint widersprüchlich, da im folgenden Satz Aristoteles die Unterschiede zwischen den Zielen40 betont.
Ackrill stellt klar: „This (affirming a conceptual connection) is not to deny that different activities have different aims.”41 In dem Beispiel des Tischlers, war von Anfang an klar, dass der Tischler ein konkretes Ziel hat: das Herstellen von Tischen. Und so gibt es auch andere Felder der technē, die andere Ziele haben. Das „Gut“ kann demnach kein einziges, einheitliches sein. Diese Fehlinterpretation bezieht sich darauf, dass „alles” und damit alle genannten Tätigkeitsfelder nur in ihrer Gesamtheit nach dem „Gut“ streben würden. Aristoteles meint allerdings etwas anderes: Jede einzelne Tätigkeit strebt nach dem „Gut“ und in ihrem Streben für sich selbst sind sie gleich. Wie in (b) in Bezug auf den vorhergehenden Satz erläutert, ist eben diese strukturelle Beziehung essentiell um zu verstehen, inwiefern der Einzelne nach der eudaimonia strebt.
Rowe & Broadie führen eine weitere Perspektive an, die auch zu demselben Schluss kommt. Zentral ist dabei die Unterscheidung zwischen einem „Gut“, das sich durch eine „qualifiying expression“42 auszeichnet, und „the good simpliciter, or without qualification“43. Wie bereits aufgegriffen gibt es viele verschiedene Tätigkeitsfelder und folglich auch viele verschiedene Ziele. Um der Unterscheidung willen wird jedes mit einem entsprechenden Ausdruck versehen, um zu verdeutlichen um welches „Gut“ es sich handelt. Beispielsweise ist das „Gut“ der Tätigkeit eines Tischlers „das Gut der Holzverarbeitung” oder „das Gut der Tischlerkunst”. Von diesen Einzelnen ausgehend, argumentieren Rowe & Broadie: „since specific projects each seek some specific good, the good without qualification must be what is sought by any project whatsoever”44. Wenn es also etwas gibt, nachdem alle Tätigkeitsfelder streben, dann ist es das „Gut“, dass dadurch, dass alles danach strebt, keine Qualifikation hat.
2.2 These 2: Es gibt ein letztes Ziel des Handelns, das damit das Beste ist. Erstes Buch, 1: 1094a10-26
„[...] in all diesen Fällen sind die Ziele der leitenden Kenntnisse wählenswerter als die der untergeordneten; denn jene zuliebe werden auch diese verfolgt.“45
Nachdem Aristoteles nun die grundlegende Beziehung beschrieben hat, argumentiert er, dass es eine Hierarchie zwischen den Zielen gibt. Dazu führt er folgendes Beispiel an: „die Sattlerei und die übrigen Kenntnisse, die mit der Ausstattung von Pferden zu tun haben“46 seien der Reiterkunst untergeordnet und auch diese sei wie „alle Arten der kriegerischen Handlungen ihrerseits der Strategik“47 untergestellt. Wenn man das Beispiel des Tischlers, der Tische herstellt, erneut heranzieht, wird auch hier klar, dass dieses Handwerk dem Schreinerhandwerk, das verschiedene Möbel herstellt, untergestellt ist. Und auch hier kann man sich ein Handwerk vorstellen, dass sich mit der Verarbeitung von verschiedensten Materialen beschäftigt und demnach auch eine noch höhere Stufe in der Hierarchie einnimmt. Aristoteles stellt dar, dass die Ziele nicht gleichwertig sind und es zusammenhängende Gebiete von Zielen gibt.48
Aber warum ist ein Ziel wählenswerter? Aristoteles sagt, dass manche Ziele einen leitenden Charakter haben. So leitet die Strategik, welche Ziele für die Reiterkunst von Bedeutung sind. Auch der Tischler, der einen Tisch herstellt, wird sich von den Zielen der Gesamteinrichtung leiten lassen. Der Tisch, der in einer Küche steht, hat andere Merkmale als ein Schreibtisch und erfordert somit eine andere Zielsetzung bei der Herstellung. Die untergeordneten Ziele werden „zuliebe“49 der übergeordneten verfolgt. Allerdings, so weist Jacobi in Bezug auf Gauthier darauf hin, kann in Frage gestellt werden, ob „in der Ausdehnung des Gedankens der Zielhierarchien vom Bereich des Herstellens aus den des Handelns“50 ein Fehler von Aristoteles’ liegt.
Zwar hatte Aristoteles in 1092a5 bereits betont, dass „die Produkte besser als die Tätigkeiten“ sind, so werden hier die Ziele bewertet. Es findet ein Übergang in der Argumentation statt: Weil das Ziel von A besser als das Ziel von B ist, ist Tätigkeit A besser als Tätigkeit B.51 Durch diesen Übergang kann sich Aristoteles im nächsten Argumentationsschritt auf Ziele und Tätigkeiten gleichzeitig beziehen.
„Wenn es nun für das, was wir tun, ein Ziel gibt, das wir um seiner selbst willen wünschen, während wir die übrigen Dinge um seinetwillen wünschen, (a) und wenn wir nicht alles um eines weitergehenden Ziels willen wählen – denn auf diese Weise ginge der Prozess ins Unendliche, sodass das Streben leer und vergeblich würde –, (b) dann wird offensichtlich dieses (Ziel) das Gut, und zwar das beste Gut sein (c).“52
Wir halten fest: Es gibt verschiedene Tätigkeitsfelder und damit auch verschiedene Ziele. Es gibt „hierarchisch geordnete Zielketten“53 und deswegen sind die entsprechenden Tätigkeiten oder Produkte auch in einer hierarchischen Beziehung. Wie kommt Aristoteles von diesem Punkt nun der eudaimonia näher?
(a) Wenn es nun für das, was wir tun, ein Ziel gibt, das wir um seiner selbst willen wünschen, während wir die übrigen Dinge um seinetwillen wünschen
Der erste Teil des Arguments stellt dar, dass es folglich Ziele gibt, die man um seiner selbst willen wünscht, und auf der anderen Seite Ziele gibt, die gewählt werden, da diese den höheren untergeordnet sind. Diesen Gedanken kann er aus dem Argument der Hierarchie zwischen den Zielen ableiten, da er bereits an dieser Stelle dargestellt hatte, dass manche Ziele nur in Bezug auf die übergeordneten, größeren Bereiche gewählt werden. Dem fügt er hinzu, dass es dementgegen gesetzt auch ein Ziel geben muss, das seiner selbst willen gewünscht wird. Was genau es bedeutet, ein Ziel „um seiner selbst willen” zu wählen, wird weiterführend in 3.2 aufgegriffen. Zunächst wird sich der Frage gewidmet, wie Aristoteles argumentiert, dass es ein Ziel geben muss, das sich entsprechend von den anderen abgrenzen lässt.
(b) und wenn wir nicht alles um eines weitergehenden Ziels willen wählen – denn auf diese Weise ginge der Prozess ins Unendliche, sodass das Streben leer und vergeblich würde –
Nachdem Aristoteles zuvor die Hierarchie eingeführt hat, stellt er sich nun der Frage, wie diese Hierarchie sich fortsetzt. Er argumentiert, dass es einen Endpunkt in der Kette der Ziele geben muss, da unser Streben sonst „ins Unendliche“54 gehen würde (oder es in einem Kreis enden würde)55 und es damit „leer und vergeblich“56 wäre. Damit gäbe es keine Möglichkeit der Befriedigung. Zum einen, weil der Erfüllung eines Wunsches immer noch ein anderer unerfüllter nachstehen würde und zum anderen, weil die Erfüllung des Wunsches nicht das ist, was ich wirklich will, da ich den Wunsch nicht um seiner selbst willen hege. Ich hege den Wunsch nur, weil er einem anderen Wunsch untergeordnet ist. Warum nach etwas streben, wenn es keine Befriedigung geben kann?
Weiterführend weist Wolf auf eine neue eingeführte Formulierung in der Argumentation hin: eine „Wir-Perspektive handelnder Menschen“57. Während Aristoteles davor die Beziehung zwischen verschiedenen Tätigkeitsfeldern und dem „Gut“ erläutert hat, wendet er sich hier dem Menschen zu. So ist auch sein Argument, warum es einen Endpunkt in der Kette geben sollte, in dem menschlichen Wesen begründet. Er schreibt dem Menschen ein Streben nach Zielen und nach Befriedigung dieser zu. Diese neue Ebene der Argumentation wird besonders deutlich werden, wenn in Kapitel 4 Spannungsfelder untersucht werden, da hier oft Aristoteles’ Position mit der eigenen intuitiven Weltsicht scheinbar in Konflikt steht.
Zwar hat Aristoteles mit diesem Argument begründet, dass diese Kette nach einem Endpunkt verlangt, allerdings kann in Frage gestellt werden, warum diese Kette genau einen Endpunkt hat. Von Aristoteles’ Argumentation ausgehend, wäre die Unendlichkeit der Kette auch verhindert, wenn es mehrere Endpunkte geben würde. Jeder dieser Endpunkt könnte wie in (a) beschrieben um seiner selbst willen gewünscht sein – warum also sollte es nun genau einen Endpunkt geben?
Aus dieser Frage ergeben sich zwei Spannungsfelder: Erstens, die Frage warum Aristoteles von einem einzigen Endpunkt ausgeht und zweitens, inwiefern dieser Endpunkt tatsächlich ein einziges Ziel umfasst. Zur differenzierten Untersuchung dieser Spannungsfelder bedarf es zuerst einer umfassenden Charakterisierung, sodass diese Auseinandersetzung in Kapitel 4 stattfindet.
c) dann wird offensichtlich dieses (Ziel) das Gut, und zwar das beste Gut sein.
Der Satz endet damit, dass nun dieses letzte Ziel das beste Gut sein muss. Aristoteles nutzt einen Superlativ um das letzte, höhergestellte Ziel von den übrigen abzugrenzen. Er bringt den mit These 1 begonnen Gedanken zu Ende: Alle Tätigkeitsfelder streben nach einem Ziel, das somit ihr „Gut“ ist. Diese verschiedenen Ziele sind hierarchisch angeordnet und an ihrer Spitze steht das „beste Gut“. Was dieses „beste Gut“ ist, wird in These 3 genauer beschrieben und in Kapitel 3 weiter auf konkrete Merkmale hin genauer untersucht.
[...]
1 Jan Szaif: „Eudaimonia“, in: Christoph Horn und Christof Rapp [Hrsg.]: Wörterbuch der antiken Philosophie. S. 158; Thomas Blume: „Eudaimonie“, in: Wulff D. Rehfus [Hrsg.]: Handwörterbuch Philosophie. S. 244. Wenn Begrifflichkeiten direkt aus dem Altgriechischen übernommen werden, werden sie kursiv dargestellt. In Kapitelüberschriften wird auf diese Kennzeichnung verzichtet (siehe Kapitel 6).
2 Diese Gliederung orientiert sich zunächst an der Reihenfolge, wie sie in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik am Anfang des ersten Buches gegeben ist. Von der inhaltlichen Struktur folgt sie Ursula Wolf (2007): Aristoteles’ Nikomachische Ethik. S. 24-36. Da mehrere Werke von Wolf zitiert werden, wird das Jahr der Publikation zur Unterscheidung verwendet.
3 *[ ]: Teilsatz (c) wurde mit Klammern versehen, da er nicht essenziell für das Verständnis des zentralen Gedankens ist. Er wird am Ende des Unterkapitels 2.1 erläutert.
4 NE I, 1 1094a1ff. Übersetzung von Ursula Wolf (2015): Aristoteles. Nikomachische Ethik.
5 Sir David Ross (1923): Aristotle. S. 195. Da mehrere Werke von Ross zitiert werden, wird das Jahr der Publikation zur Unterscheidung verwendet.
6 Wolf (2007), ebd., S. 25.
7 NE I, 1 1094a1.
8 Wolf (2007), ebd., S. 25.
9 Sir David Ross (1980): Aristotle, The Nicomachean Ethics. S.1.
10 Terence Irwin: Nicomachean Ethics. S. 1.
11 Roger Crisp: Aristotle. Nicomachean Ethics. S. 3.
12 Zur Vereinfachung des Beispiels wird davon ausgegangen, dass der Tischler sich lediglich der Herstellung von Tischen widmet. Damit stellt der Tischler einen Vertreter einer bestimmten technē dar: des Tischlerhandwerks oder der Tischlerkunst der Tischherstellung.
13 Wolf (2007), ebd., S. 25.
14 Wolf (2007), ebd., S. 24.
15 NE I, 1 1094a1f.
16 Ross (1923), ebd., S. 1; Crisp, ebd., S. 3.
17 Irwin, ebd., S. 1.
18 Ross (1923), ebd., S. 1; Crisp ebd., S. 3; Irwin ebd., S. 1.
19 Wolf (2007), ebd., S. 25.
20 NE I, 1 1094a4: „Doch zeigt sich ein Unterschied zwischen den Zielen; einige sind Tätigkeiten, andere darüber hinaus Produkte der Tätigkeiten.“
21 Wolf (2007), ebd., S. 25.
22 Ross (1923), ebd., S. 1; Crisp, ebd., S. 3; Irwin, ebd., S. 1.
23 Christopher Rowe & Sarah Broadie: Aristotele. Nicomachean Ethics. S. 261.
24 Ross (1923), ebd., S. 1.
25 Crisp, ebd., S. 3.
26 Irwin, ebd., S. 1.
27 Vgl. Wolf (2007), ebd., S. 26: „Wenn Aristoteles kurz darauf das Wort „Gut“ durch „Ziel“ aufnimmt, dann würde der Ausdruck „ein Gut“ das Ziel einer jeweiligen Handlung oder den Gegenstand eines Strebens bezeichnen.“; Zum genaueren Verständnis, inwiefern der Begriff des Ziels eingeführt wird: Wolf (2007), ebd., S. 27.
28 Wolf (2007), ebd., S. 27.
29 J. L. Ackrill (1973): Aristotle’s Ethics. S. 241: „conceptual connection”. Da mehrere Werke von Ackrill zitiert werden, wird das Jahr der Publikation zur Unterscheidung verwendet.
30 Ross (1923), ebd., S. 196: „doing certain actions not because we see them to be right in themselves”.
31 Ross (1923), ebd., S. 196: because we see them to be such as will bring uns nearer to the “good for man” ”.
32 Ross (1923), ebd., S. 196: „from ist tendency to produce this it derives its value.”
33 Vgl. Wolf (2007), ebd., S. 27f.
34 Rowe & Broadie, ebd., S. 262: „is not to make a psychological claim about physicians’ motives for doing their work.”; Wolf (2007), ebd., S. 28: „Dass jede technē auf ein Gut ausgerichtet ist, sagt also vorläufig nichts über die Strebensziele der Person, die sie ausübt“.
35 Ackrill (1973), ebd., S. 13: „necessary connection”.
36 Rowe & Broadie, ebd., S. 262: „It means, rather, that as physicians they are judged successful or not by their success in promoting the good which is health.”
37 NE I, 1 1094a2; Wolf (2007), ebd., S. 24.
38 J. L. Ackrill (1985): Aristoteles. Eine Einführung in sein Philosophieren. S. 199; Vgl. Klaus Jacobi: „Aristoteles ’ Einführung des Begriffs ´eudaimonia´ im I. Buch der ´Nikomachischen Ethik´. Eine Antwort auf einige Inkonsistenzkritiken“, in: Philosophisches Jahrbuch 86. S. 305: „Die Ethik kann nicht als axiomatische, aus Theoremen Folgerungen ableitende Wissenschaft betrieben werden. Sie muß vielmehr bei dem „für uns Bekannten“ ansetzen, d. h. bei den explizit geäußerten oder im Handlungsbewußtsein implizierten Meinung“.
39 NE I, 1 1094a3f.
40 NE I, 1 1094a7: „Da es nun viele Arten des Handelns, Herstellungswissens und Wissenschaft gibt, gibt es auch viele Zeile“
41 Ackrill (1973), ebd., S. 241, weiter unten: „That every purposive activity aims at some end desired for its own sake does not imply that there is some end desired for its own sake at which every purposive activity aims.”; Vgl. Jacobi, ebd., S. 303: “Es scheint sprachlich kaum möglich, den so betonten Superlativ [...] abschwächend nur als relativen Superlativ zu interpretieren.“
42 Rowe & Broadie, ebd., S. 262.
43 Rowe & Broadie, ebd., S. 262. Hervorhebungen im Original.
44 Rowe & Broadie, ebd., S. 262.
45 NE I, 1 1094a14f.
46 NE I, 1 1941a11f.
47 NE I, 1 1964a12.
48 Vgl. Wolf (2007), ebd., S. 28.
49 NE I, 1 1094a15.
50 Jacobi, ebd., S. 307. Im darauffolgenden Kapitel 3 diskutiert Jacobi diesen Vorwurf ausführlich.
51 Rowe & Broadie, ebd., S. 263: „the general point that if expertise E1, is subordinate to expertise E2, this is because the former’s end is subordinate to the latter’s.”
52 NE I, 1 1094a18ff.
53 Jacobi, ebd., S. 302.
54 NE I, 1 1094b21.
55 Rowe & Broadie, ebd., S. 264 ergänzen die Möglichkeit eines Kreises.
56 NE I, 1 1094b 21.
57 Wolf (2007), ebd., S. 29.