Erklärung des Zulaufs von Terrororganisationen anhand des Modells soziologischer Erklärung von Hartmut Esser


Hausarbeit, 2019

15 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Fragestellung

3 Terrorismus als theoretische Herausforderung

4 Das Modell soziologischer Erklärung von Hartmut Esser

5 Analyse terroristischer Gruppierungen

6 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Spätestens seit dem 11. September 2001 ist Terror ein zentrales Thema in der öffentlichen Debatte. Dabei sind Terroranschläge nicht länger Phänomene, die national begrenzt und in der Ferne stattfinden. Paris, Nizza, Berlin, London, Manchester, Barcelona – immer öfter werden europäische Metropolen das Ziel von terroristischen Angriffen. Gleichzeitig ist Europa nicht nur Ziel von Angriffen sondern auch Ursprung einiger der Täter. Dies wird aktuell in der Debatte darum deutlich, ob und unter welchen Bedingungen Großbritannien, Frankreich aber auch Deutschland und andere europäische Staaten die sogenannten Rückkehrer aus dem Dschihad in Syrien zurücknehmen und in ihren Heimatländern vor Gericht stellen sollen. 2017 registrierten die deutschen Sicherheitsbehörden insgesamt 910 Deutsche, welche als Kämpfer nach Syrien und in den Irak zogen (vgl. Heinke 2017). In diesem Zusammenhang stellt sich folgende Arbeit der Frage, warum sich Menschen organisieren und terroristische Gewalt einsetzen, um ihre Interessen, politischen Ziele oder Ideologien durchzusetzen, anstatt nichts zu tun oder die Veränderungen mit legalen und friedlichen Mitteln durchzusetzen.

Nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Wissenschaft herrscht mitunter die Meinung, bei heutigen Terroristen handle es sich um irrationale Fanatiker, die von religiösen Heilsversprechen getrieben sind (vgl. Witte 2007: 17). Hartmut Esser widerspricht dieser eindimensionalen Ansichtsweise und stellt ihr sein Modell der soziologischen Erklärung gegenüber, welches sowohl die sozialen Strukturen, in denen ein Individuum handelt, berücksichtigt, als auch die rationalen Intentionen und Vorstellungen des Einzelnen und die aus dieser Interdependenz entstehenden kollektiven Effekte, welche neue, soziale Phänomene hervorbringen (vgl. Esser 1999: 258). Erst durch eine solch verstehende und erklärende Soziologie wird es möglich, das Wissen über die Mechanismen von Terrorismus systematisch zu verbessern und im Austausch mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen adäquate Modelle zu erarbeiten.

Es ist nicht Anspruch der Arbeit, eine universelle Erklärung für das Phänomen Terrorismus und terroristische Gewaltakte vorzulegen. Geprüft werden soll stattdessen, ob einzelne Akteure, welche sich Terrororganisationen anschließen und für deren Zulauf sorgen, einer rationalen Handlungsstrategie folgen.

2 Fragestellung

Warum schließen sich Akteure zusammen und erwarten, mit Mitteln der Gewalt die herrschenden Machtverhältnisse verändern und ihre Interessen, politischen Ziele oder Ideologien durchsetzen zu können? Diese Frage steht im Mittelpunkt der folgenden Arbeit und soll mit Hilfe des Modells der soziologischen Erklärung von Hartmut Esser beleuchtet werden. Ziel der Arbeit ist demnach die rationale Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Entstehung von Terrorgruppen zum besseren Verständnis ihrer Struktur und Arbeitsweise.

Zunächst wird hierfür das Phänomen Terrorismus definiert. Dies erfolgt zum einen durch eine Einordnung des Themenfeldes im Kanon der Wissenschaften. Zum anderen soll eingegrenzt werden, was die soziologische Forschung unter dem Begriff Terrorismus versteht. Der Hauptteil der Arbeit widmet sich dem Modell soziologischer Erklärung von Hartmut Esser. Dabei soll der Terrorismus als organisiertes Handeln rationaler Akteure erklärt werden, wobei zur Erklärung Essers integrative Sozialtheorie angewandt wird. Darauf aufbauend wird gezeigt, wie terroristische Organisationen aufgrund von bewussten, rationalen und situationsgebundenen Handlungen zustande kommen. Abgeschlossen wird die Arbeit mit einem Ausblick auf weitere Forschungsansätze.

3 Terrorismus als theoretische Herausforderung

Bis Anfang der Nuller Jahre waren es vor allem die Politik-, Kultur, Religions- und Geschichtswissenschaften sowie die Philosophie, die sich mit dem Thema Terrorismus befasst und seine Ausprägungen analysiert haben (vgl. Kron, Reddig 2007: 8). Spätestens seit dem 11. September 2001 sind Terrorgruppen und -akte jedoch auch in der Soziologie ein zentrales Thema (vgl. Maurer 2008: 161).1 Dem komplexen Phänomen des Terrorismus ist es geschuldet, dass Erklärungsmodelle oft interdisziplinär ausgerichtet sind. Darüber hinaus wird versucht, der Komplexität des Themas durch Typologisieren und Kategorisieren gerecht zu werden. Einzelne Ansätze grenzen das Thema Terrorismus also durch den Fokus auf bestimmte Gruppen, Regionen oder Unterthemen wie der Radikalisierung ein (vgl. Hegemann, Kahl 2018: 191). Des Weiteren wird in der Literatur oft zwischen altem und neuem Terrorismus unterschieden. Für folgende Arbeit soll diese Unterscheidung jedoch nicht weiter relevant sein2.

Was eine Definition und Begriffsklärung von Terrorismus betrifft, gilt: „Der Streit darüber, was unter ‚Terrorismus‘ eigentlich genau zu verstehen sei, ist so alt wie das Wort selbst.“ (Riegler 2009: 11) Sowohl im internationalen Recht als auch in der Politik, der medialen Öffentlichkeit oder in akademischen Diskussionen gibt es bislang keinen Konsens darüber, was Terrorismus begrifflich konkret umfasst (vgl. Riegler 2009: 14). Ersichtlich wird die Kontroverse, wenn sich Akteure selbst nicht als Terroristen, sondern Freiheitskämpfer bezeichnen (vgl Kron 2007: 84). Dies zeigt, dass Terrorismus nie von einem neutralen Standpunkt aus beschrieben werden kann, sondern immer aus einer bestimmten politisch-moralischen Position heraus, also wertend, verwendet wird (vgl. Riegler 2009: 14). In der Sozialwissenschaft wird mit Terrorismus eine Gewaltstrategie bezeichnet. Auch diese lässt sich jedoch nicht immer präzise von anderen Gewaltformen abgrenzen, so dass sich Überlappungen und Uneindeutigkeiten mit anderen Gewaltformen ergeben können (vgl. Hegemann, Kahl 2018: 27). Deshalb soll für die vorliegende Arbeit folgende von Holger Kaschner entwickelte Definition von Terrorismus gelten3:

Terrorismus ist die von Opfern oder Unbeteiligten gebrauchte Bezeichnung für aus sozialen Gegenbewegungen entstehende, objektiv illegale aber subjektiv legitime, von nichtstaatlichen Akteuren angedrohte oder praktizierte Gewalt gegen staatliche und nichtstaatliche Ziele zum Zwecke der Kommunikation politischer antisystemischer Anliegen (Kaschner 2008: 29).

4 Das Modell soziologischer Erklärung von Hartmut Esser

Von Anbeginn an wird in der Soziologie diskutiert, in welchem Verhältnis Struktur, also soziale Ordnung, und individuelle Handlungen zueinanderstehen. Dieser Mikro-Makro Problematik widmet sich Hartmut Esser, der mit seiner integrativen Sozialtheorie erklären möchte, dass Handlungsentscheidungen einzelner Akteure gewisse Dynamiken in der Gesellschaft hervorbringen und durch solche gleichzeitig bedingt werden. Ein solch multikausaler Ansatz findet auch in der Terrorismus Forschung Anwendung: Erst das Zusammenspiel aus subjektiven Motiven Einzelner oder Gruppen sowie der Berücksichtigung von politischen, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen liefert überzeugende Erklärungen für die Ursachen und den Zulauf von Terrorismus (vgl. Riegler 2009: 203).

Das von Esser vorgelegte Modell ist eine soziologische Erklärung, die „aus der Modellierung der jeweiligen Logik der Situation, der Anwendung einer (nomologischen) Handlungstheorie zur Erklärung des situationsorientierten Handelns (bzw. des Framings) der Akteure und aus einer aggregierenden Ableitung gewisser struktureller Effekte besteht“ (Esser 1999: 252). Dabei räumt Esser selbst ein, dass dieses Dreier-Schritt Modell eine idealtypische Vereinfachung darstellt. Allgemein gilt: „Soziologische Analysen und Erklärungen laufen immer (auch) auf die Konstruktion von vereinfachenden und typisierenden Modellen hinaus.“ (Esser 1993: 119) Ziel seines Modells ist es, den bestehenden Rational Choice Ansatz zu erweitern und damit dessen Schwächen und Einschränkungen4 zu überwinden. Auf diese Weise möchte Esser soziales Geschehen erklären und auf seine jeweiligen Ursachen zurückführen. Er geht davon aus, dass das sinnhafte Handeln von Individuen ursächlich für soziale Prozesse im gesellschaftlichen Geschehen ist. Dabei sind die einzelnen Handlungen nur insofern interessant, als sie Phänomene der Makroebene erklären können. Bedingt durch Transformationsprozesse gilt dabei für Essers Modell ebenso wie für alle anderen Varianten des Rational-Choice Ansatzes, dass aus rationalen Handlungen nicht zwangsmäßig rationale Situationen und Phänomene folgen:

Der RC-Ansatz bzw. das Modell der soziologischen Erklärung waren von Beginn an ein Unternehmen, bei dem gerade die aggregierten, von den Motiven der Akteure unabhängigen eigendynamischen strukturellen Effekte im Mittelpunkt des Erklärungsinteresses und der vorgelegten Erklärungen standen. […] Das systematische Auseinanderfallen der - kurzfristigen, situationsorientierten subjektiven - Rationalität des Handelns in einer Situation und mancherlei ungeplanter kollektiv irrationaler struktureller Folgen ist das gemeinsame Thema aller dieser Varianten des RC-Ansatzes immer gewesen (Esser 1999: 258).

Essers Grundmodell soziologischer Erklärung besteht aus drei Logiken, die aufeinander aufbauen. Die erste beschreibt die Logik der Situation, welche von den spezifischen Randbedingungen ausgeht, in welcher sich die Akteure befinden:

Mit der Logik der Situation wird eine Verbindung zwischen der Makro-Ebene der jeweiligen speziellen sozialen Situation und der Mikro-Ebene der Akteure hergestellt. Es ist die 'vertiefende' Makro-Mikro-Verbindung der gesamten Erklärung. In der Logik der Situation ist festgelegt, welche Bedingungen in der Situation gegeben sind und welche Alternativen die Akteure haben. Die Logik der Situation verknüpft die Erwartungen und die Bewertungen des Akteurs mit den Alternativen und Bedingungen in der Situation. Diese Verbindung zwischen sozialer Situation und Akteur erfolgt bei der jeweiligen Erklärung über Beschreibungen, über die sog. Brückenhypothesen (Esser 1993: 94).

Ausgangspunkt Essers Erklärung (und Endpunkt, wie sich später zeigen wird) ist somit die soziale Situation. Die Verbindung der jeweiligen sozialen Situation auf der Makroebene zu den individuellen Handlungen der Mikroebene wird mit Brückenhypothesen hergestellt. Diese beschreiben, wie objektive situative Umstände von den Akteuren subjektiv gedeutet werden. Im zweiten Schritt erklärt Esser das konkrete Handeln der Akteure mit Hilfe der Logik der Selektion:

Die Logik der Selektion verbindet zwei Elemente auf der Mikro-Ebene: die Akteure und das soziale Handeln. Es ist die Mikro-Mikro-Verbindung zwischen den Eigenschaften der Akteure in der Situation und der Selektion einer bestimmten Alternative (Esser 1993: 95).

Nach den Regeln der rationalen Nutzenmaximierung wählen Akteure im zweiten Schritt eine Handlungsmöglichkeit. Das heißt, sie selektieren aufgrund gewisser Regeln und ihrer zur Verfügung stehenden Mittel und entscheiden sich für eine Handlungsmöglichkeit. Esser schließt mit dieser Überlegung an die Wert-Erwartungs-Theorie5 an, der zufolge sich Akteure für jenes Handeln entscheiden, welches den größten vermuteten Nutzen verspricht. Mit der Logik der Aggregation überführt Esser im dritten und letzten Schritt die individuellen Effekte zurück zum zu erklärenden Phänomen auf der Makroebene:

Mit der Logik der Aggregation wird die Mikro-Makro-Verbindung des Modells zurück auf die Ebene der kollektiven Phänomene hergestellt. […] Diese aggregierenden Verknüpfungen der Mikro- mit der Makroebene werden auch Transformationsregeln genannt. Transformationsregeln beinhalten sowohl spezielle und inhaltliche Informationen über den jeweiligen Fall, wie allgemeine und formale Regeln und Ableitungen (Esser 1993: 97).

Die Konsequenzen der individuellen Handlung haben einen Effekt auf die Struktur der sozialen Situation, wobei Transformationsregeln und -bedingungen erfüllt sein müssen, um aus der Handlung tatsächlich ein kollektives Phänomen zu generieren.

Mit seinem Modell soziologischer Erklärung unterstreicht Esser, dass soziale Phänomene nur indirekt über Prozesse auf der Makroebene erklärt werden können. Er spricht sich für den "umständlichen [...] Umweg über Situationen, Akteure, Handeln und aggregierte Wirkungen" (Esser 1993: 101) aus, um eine vollständige und lückenlose Logik generieren zu können.

[...]


1 So fanden 2006 gleich zwei Tagungen diesbezüglich statt: Die Philipps Universität Marburg lud zum Thema „Problembezogener Vergleich sozialtheoretischer Ansätze: Terrorismus als soziales Gebilde“ ein, wobei der Terrorismus der IRA als Basis-Problem diente (vgl. Bonacker 2008). Die Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf befasste sich mit der Frage, wie mit Hilfe soziologischer Theorien der transnationale Terrorismus analysiert und erklärt werden könne (vgl. Kron, Reddig 2007).

2 Tatsächlich hat sich die Organisation terroristischer Gewalt in den letzten Jahren gewandelt: Von hierarchisch organisierten Zusammenschlüssen mit meist nationalem Wirkungsfeld, einer klar definierten Mitgliedschaft und zentral strukturierter Führung hin zu dezentralen Netzwerken, die transnational auftreten und sich in ihrer Machtstruktur und ihrem Aufbau nur schwer umfassend darstellen lassen (vgl. Hegemann, Kahl 2018: 60; Maurer 2008: 163). Das Aufkommen dieses sogenannten ‚neuen Terrorismus‘ wird auf die 1990er Jahre zurückgeführt, als unter anderem al-Qaida anfing, sich zu etablierte. Kennzeichnend für diese neue Form des Terrorismus ist die religiöse Ausrichtung von Ideologie und Zielen, drastische Gewaltmittel mit zum Teil hohen Opferzahlen und die Organisation in einem transnationalen Netzwerk (vgl. Hegemann, Kahl 2018: 49 f.). Manche Wissenschaftler plädieren jedoch dafür, dass die Unterscheidung ‚alt‘ und ‚neu‘ nicht differenziert zu treffen sei. Stattdessen findet eine graduelle Bedeutungsverlagerung gewisser Elemente statt, so dass beispielsweise die Organisationsform von al-Qaida als hybrid bezeichnet werden kann: sie vereint hierarchische (Aufbau und Organisation) mit netzwerktypischen (dezentrale Detailsteuerung) Strukturen (vgl. Aderhold :427 f.).

3 Weitere Informationen zu Terrorismus und seine Definition gibt es unter anderem bei Louise Richardson im Kapitel ‚Was ist Terrorismus?‘ (vgl. Richardson 2007: 27-47).

4 Beispielsweise den gegen die RC-Theorie angebrachte Einwand, es würde sich mit ihr kein affektuelles oder wertgeleitetes Handeln erklären lassen (vgl. Esser 1999: 252).

5 Der Begriff ‚Wert-Erwartungstheorie‘ wird allgemein v.a. in der Psychologie verwendet. Weitere Bezeichnungen sind ‚Nutzentheorie‘ (v.a. in der Ökonomie), Rational-Choice-Theorie oder SEU-Theorie, wobei das Kürzel SEU für subjectiv expected utility steht (vgl. Hill 2002: 47).

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Erklärung des Zulaufs von Terrororganisationen anhand des Modells soziologischer Erklärung von Hartmut Esser
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Soziologie)
Veranstaltung
Einführung in den B.A. Soziologie/Einführung in das Wissenschaftliche Arbeiten
Note
1,7
Autor
Jahr
2019
Seiten
15
Katalognummer
V508675
ISBN (eBook)
9783346067883
ISBN (Buch)
9783346067890
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Terrorgruppen, Hartmut Esser, Modell soziologischer Erklärung, Terrorismus, Analyse terroristischer Gruppierungen
Arbeit zitieren
Isabel Thoma (Autor:in), 2019, Erklärung des Zulaufs von Terrororganisationen anhand des Modells soziologischer Erklärung von Hartmut Esser, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/508675

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