Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Das mediale Paradigma, technische Speichermedien um 1900, Kafka
2. „Ein Bericht für eine Akademie“: Kafkas literarische Antwort auf das Grammophon
3. „Verkehr mit Gespenstern“. Körper, Zeichen, Distanz: Literatur und Liebe in den Zeiten der Medientechnik
4. Die Macht der Maschinen: Aspekte des Medialen in einer Passage aus Kafkas „Der Verschollene“
5. „Ein eigentümlicher Apparat“: Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“
6. Apparat defekt, Ausdruck intakt. Ein Resümee über Kafkas Erzählmaschine
7. Bibliographie
1. Einleitung: Das mediale Paradigma, technische Speichermedien um 1900, Kafka
„Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.“[1] Diesen Satz formuliert Friedrich Nietzsche 1882 in einem an der Schreibmaschine verfassten Brief. Damit ist das mediale Paradigma, die Einsicht in die Medialität und Materialität von Diskursen, zu Papier gebracht: Wie eine gegebene Kultur relevante Informationen speichert, hängt jeweils mit den historischen Bedingungen der Möglichkeit von „Datenverarbeitung“ zusammen.
Unter der Bedingung von Mündlichkeit, darauf haben Autoren der „Oral History“ überzeugend hingewiesen, gestaltet sich die Weitergabe von Wissen anders als unter Bedingungen von Literalität: So ist der Gehalt der Erinnerung in viel höherem Maße an den Körper als genuinen Träger des Gedächtnisses gebunden und hängt stärker von der unmittelbaren sozialen Bedeutung des Wissens ab.[2]
Die Medientechnik Schrift ermöglicht nicht nur die externe Speicherung von Wissen in Archiven, sie befähigt überdies zu neuen Abstraktionsleistungen und stellt deshalb die Bedingung für die zentrale Trennung zwischen Mythos und Logos dar. Die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert sowie die allgemeine Alphabetisierung um 1800 sind weitere für diesen Zusammenhang maßgebliche Ereignisse. Die Möglichkeit der Vervielfältigung und der erhöhten Reichweite von Schriftwerken stellt nicht nur die Voraussetzung für zentrale literaturwissenschaftliche Kategorien wie Autorschaft und Literaturkritik dar[3], sie hat die ernorme Steigerung schriftstellerischer Produktivität genauso zur Folge wie die Institutionalisierung von Dichtung und Philosophie in der Universität. Dies wiederum initialisiert die Entstehung ganzer Philosophien wie dem Klassischen Idealismus oder literarischen Genres wie dem Roman.[4]
Für das „Netzwerk von Techniken und Institutionen, die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben“ hat Friedrich Kittler den Begriff „Aufschreibesystem“ geprägt.[5] In mehreren Büchern hat sich der Literatur- und Medienwissenschaftler den einschneidenden medialen Veränderungen um 1900 und ihren Auswirkungen auf die Literatur gewidmet:
Was zwischen 1880 und 1920 über Grammophon, Film und Schreibmaschine, die ersten technischen Medien überhaupt, zum Papier der überraschten Schriftsteller kam, ergibt […] ein Geisterphoto unserer Gegenwart als Zukunft.[6]
Denn mit dem Aufkommen technischer Speichermedien vollzieht sich abermals ein grundlegender Wandel der Formation des kulturellen Gedächtnisses. 1877 stellt Edison seinen Phonographen vor, der lückenlos Geräusche aufzeichnen kann, 1887 erfindet Berliner durch eine Verbesserung des Aufzeichnungsverfahrens das Grammophon. Telephon, Diktiergerät und Rundfunk haben ihren Auftritt.[7] 1880 erscheint die erste Fotografie in der Zeitung[8], 1895 bringen die Gebrüder Lumière die erste Filmprojektion auf die Leinwand.[9] Die Auswirkungen solcher technischen Neuerungen können kaum überschätzt werden. Anhand der detailgetreuen Wiedergabe wahrgenommener Realität durch die Photographie entfacht sich schon im 19. Jahrhundert eine Diskussion über das Selbstverständnis von Kunst.[10] Der Spielfilm tritt zunehmend in ein kompetitives Verhältnis zum fiktionalen Text, schließlich schickt er sich an, „all das Phantastische oder Imaginäre, das ein Jahrhundert lang Dichtung geheißen hat“ zu übernehmen.[11]
Die mediale Revolution trifft diesmal die Buchstabenschrift selbst. Mit dem Aufkommen technischer Datenverarbeitung geht eine „Entprivilegisierung von Schriftsprachlichkeit“[12] einher: Schrift hat von nun an nicht mehr die wichtigste Definitionsmacht für Kultur.[13] Die Veränderungen jener Zeit betreffen jedoch nicht nur die Kulturproduktion, sondern mit ihr den größten Teil der Arbeitswelt. Mechanisierung, Serialisierung und Bürokratisierung der Arbeit stehen im Zeichen neuer technischer Übertragungsmöglichkeiten. Wo die Verarbeitung größter Datensätze von Verwaltungsmaschinen geleistet wird, die mit binären Codes statistische Diagramme erstellen können, treten Bücher „als Medien der Welterfassung und –beschreibung“[14] in den Hintergrund. Das Zählen leistet mehr als das Erzählen.[15]
Die Lebenszeit Franz Kafkas und somit die Zeit seiner literarischen Produktivität fällt mit der Zeit eines radikalen medialen Wandels zusammen. Kafka, davon zeugen Briefe, Tagebücher wie fiktionale Texte, ist sich der Tragweite dieses Wandels wie kein anderer bewusst. Schon während seines Studiums wird er mit den neuesten maschinellen Datenerhebungsverfahren der Statistik vertraut gemacht.[16] Als er 1907 die Karriere als Versicherungsjurist beginnt, sind die Büros bereits standardmäßig mit den modernen Apparaten wie Schreibmaschinen, Telephonen und Diktiergeräten ausgestattet.[17] Als Angestellter der Arbeiter-Unfallversicherung ist er schließlich damit beauftragt, Maschinenunfälle zu protokollieren und juristische Einwände zu erheben.[18]
Kafka aber hatte sein Leben ganz der Tätigkeit versprochen, die nun so grundsätzlich in Frage gestellt war: dem literarischen Schreiben. In einem Brief an Felice Bauer weist er geradezu empört Zuschreibungen an seine Person zurück, die ein Graphologe an seiner Handschrift herausgefunden zu haben meint:
Nicht einmal das ‚künstlerische Interesse’ ist wahr, es ist sogar die falscheste Aussage unter allen Falschheiten. Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.[19]
Diese existentielle Bindung an die Literatur wird auch durch den folgenden Tagebucheintrag des „Hungerkünstlers“ Kafka ersichtlich:
„In mir kann ganz gut eine Koncentration auf das Schreiben hin erkannt werden. Als es in meinem Organismus klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens der Musik zu allererst richteten. Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab.[20]
Was treibt also einen jungen Autor an, der sich in dieser Situation befindet? Auf der einen Seite der mediale Wandel, der nicht nur die Literatur – wie es sie bis dahin gab – in Frage stellt, sondern die ganze Lebens- und Erfahrungswelt der Menschen verändert, beides Folgen, die Kafka konkret betrafen. Auf der anderen Seite eine existenzialistische Bindung an die Literatur, das Schreiben. Der Frage, wie Kafka diese Spannung in seiner Literatur beantwortet, werde ich in mehreren Schritten nachgehen.
In der Tat sind Kafkas Schriften durchweg von jenem „unendlichen Verkehr“ geprägt, der über die Brücke geht, von der sich Georg Bendemann am Ende der Erzählung „Das Urteil“ hinunterstürzt.[21] Dieser Spur möchte ich anhand folgender Texte nachgehen: Die Erzählungen „Ein Bericht an eine Akademie“ und „Erstes Leid“ (2); die Erzählung „Ein Hungerkünstler“ sowie die Briefe an Felice Bauer und Milena Pollak (3); dem Romanfragment „Der Verschollene“ (4); sowie die Erzählung „In der Strafkolonie“ (5) . Dabei werden sich durchaus verschiedene Verarbeitungsweisen und Aspekte des Medialen herausstellen, die ich im Schlusskapitel in vier Thesen zusammenfassen werde. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich als Antworten auf die hier entwickelte Problematik verstehen lassen, und so einen Beitrag dazu leisten, die Originalität und Unvergleichbarkeit von Kafkas Werk besser zu verstehen.
2. „Ein Bericht für eine Akademie“: Kafkas literarische Antwort auf das Grammophon
„Hulloo!“ Mit diesem Ausruf Edisons beginnt 1877 die Geschichte des technischen Tonträgers. Es ist das erste Wort, das von einem Phonographen aufgezeichnet und wiedergegeben werden konnte.[22] Die menschliche Stimme wurde also unsterblich[23] - auch wenn es noch einige Jahrzehnte dauern sollte, bis das Aufschreibesystem so verbessert werden konnte, dass der Hund Nipper aus dem Phonographen „die Stimme seines [verstorbenen] Herrn“ vernehmen konnte, was dessen Bruder zu dem berühmt gewordenen Gemälde des Hundes vor dem Trichter inspirierte, das bis heute die music stores des Labels HMV („His Master’s Voice“) ziert. Man könnte das Bild ebenso mit dem Titel des Kafka-Fragments „Forschungen eines Hundes“ versehen.[24]
Zwar ist Kafkas Forscherhund durchaus musikbegeistert, eine Begegnung mit dem Grammophon macht jedoch nicht er, sondern der seltsame Affe namens Rotpeter aus der Erzählung „Ein Bericht für eine Akademie“. Und dies just in demselben Moment, als er sein erstes Wort über die Lippen bringt, ein Edison-Zitat: „Hallo!“:
Was für ein Sieg dann allerdings […], als ich eines Abends vor großem Zuschauerkreis – vielleicht war ein Fest, ein Grammophon spielte […] – als ich an diesem Abend, gerade unbeachtet, eine vor meinem Käfig versehentlich stehen gelassene Schnapsflasche ergriff, unter steigender Aufmerksamkeit der Gesellschaft sie schulgerecht entkorkte, an den Mund setzte und ohne Zögern, ohne Mundverziehn, als Trinker vom Fach […] wirklich und wahrhaftig leer trank; […] zwar vergaß den Bauch zu streichen; dafür aber, weil ich nicht anders konnte, weil es mich drängte, weil mir die Sinne rauschten, kurz und gut „Hallo!“ ausrief, in Menschenlaut ausbrach, mit diesem Ruf in die Menschengemeinschaft sprang und ihr Echo „Hört nur, er spricht!“ wie einen Kuß auf meinem ganzen schweißtriefenden Körper fühlte.[25]
„Hört nur, er spricht!“ Ganz ähnlich werden 1878 die Mitglieder der Pariser Académie Française reagiert haben, als Edison – statt selbst anzureisen – nur einen Apparat aufstellen ließ, der die Versammelten mit den Worten anspricht: „Der Phonograph fühlt sich sehr geehrt, der Akademie der Wissenschaften vorgeführt zu werden.“[26] Edison lässt sein Technikwunder also sprechen wie Kafka seinen mirakulösen Affen, der den Bericht an eine Akademie bekanntlich mit den Worten beginnt:
Hohe Herren von der Akademie!
Sie erweisen mir die Ehre, mich aufzufordern, der Akademie einen Bericht über mein äffisches Vorleben einzureichen.[27]
Kafka verschaltet den Spracherwerb eines Tieres, seinen Sprung „in die Menschengemeinschaft“, mit der Erfindung der Sprechmaschine.[28] Rotpeter ist aber nicht nur die „Reproduktion einer Reproduktionsmaschine“[29], er ist vielmehr ihre kreative Überschreibung. Denn Kafka fühlte sich durch das Grammophon durchaus bedroht. An Felice Bauer, die Schreibmaschinistin der Carl Lindström A.G. – einer der größten Hersteller und Vertreiber von Parlographen, Diktiergeräten und Grammophonen[30] –, schreibt er:
Euer Geschäft habe ich mir beiläufig richtig vorgestellt, daß aber von Euch täglich der ganze verfluchte Lärm von 1500 Grammophonen ausgeht, das hätte ich wirklich nicht gedacht. […] Ich, ich muß gar kein Grammophon hören, schon daß sie in der Welt sind, empfinde ich als Drohung.[31]
In einem weiteren Brief unterbreitet er Felice einige „geschäftlichen Einfälle“ und spielt dabei futuristisch Medienverbundschaltungen durch, in denen die neuen Kommunikationstechniken ganz unter sich bleiben:
Es wird eine Verbindung zwischen dem Telephon und dem Parlographen erfunden, was doch wirklich nicht so schwer sein kann. Gewiß meldest Du mir schon übermorgen, daß es gelungen ist. […] Schwerer, aber wohl auch möglich, wäre eine Verbindung zwischen Grammophon und Telephon. Schwerer deshalb, weil man ja das Grammophon überhaupt nicht versteht, und ein Parlograph nicht um deutliche Aussprache bitten kann. Eine Verbindung zwischen Grammoph. und Telephon hätte ja auch keine so große allgemeine Bedeutung, nur für Leute, die, wie ich, vor dem Telephon Angst haben, wäre es eine Erleichterung. Allerdings haben Leute wie ich auch vor dem Grammophon Angst, und es ist ihnen überhaupt nicht zu helfen. Übrigens ist die Vorstellung ganz hübsch, daß in Berlin ein Parlograph zum Telephon geht und in Prag ein Grammophon, und diese zwei eine kleine Unterhaltung miteinander führen.[32]
Schöne neue Welt der Medientechnik: Menschen kommen in ihr gar nicht mehr vor. Dass Menschen durch Maschinen ersetzt werden, dieses Phänomen hatte Kafka schon in mehreren Erzählungen aufgegriffen. Insbesondere verarbeitete er immer wieder die Krise des artistischen Genres, das sich mit dem Aufkommen der neuen Unterhaltungstechnik einer Konkurrenz ausgesetzt sieht, der es nichts mehr entgegenzusetzen hat.[33]
Paradigmatisch für dieses Thema ist der Gram des Trapezkünstlers in Erstes Leid.[34] Dieser entscheidet sich, jeden Bodenkontakt zu verweigern und ausschließlich im Trapez zu leben. Weil er ein „unersetzlicher Künstler“ ist, wird ihm der Wunsch gewährt. Probleme machen jedoch die „unvermeidlichen Reisen von Ort zu Ort“, die der Artist im Gepäcknetz des „Eisenbahnzugs“ verbringen muss. Auch die eigens zum Transport verwandten „Rennautomobile“ sind „zu langsam für des Trapezkünstlers Sehnsucht“. Schließlich drängt er auf ein zweites Trapez. Der Impresario zeigt sich sofort einverstanden und verspricht „gleich aus der nächsten Station an den nächsten Gastspielort wegen des zweiten Trapezes zu telegraphieren“. Doch der Artist ist nur scheinbar beruhigt: Auf seiner „glatten Kinderstirn“ zeigen sich die „ersten Falten“, die Sorgen des Künstlers scheinen dem Impresario „existenzbedrohend“.
Was die Existenz des „unersetzlichen Künstlers“ tatsächlich bedroht, ist jedoch offenbar der Telegraph. Dieses Gerät schafft, wonach sich der Artist sehnt: die unmittelbare Überbrückung einer Distanz.[35] Zwar möchte er dem durch die Einführung eines zweiten Trapezes nacheifern, dass es ihm aber auf Dauer gelingt, seine Unersetzbarkeit gegenüber dem technischen Fortschritt zu behaupten, scheint zweifelhaft.
Vor diesem Hintergrund der existenziellen Bedrohung des Künstlers durch eine Maschine, die ihn ersetzbar macht, kann nun der Auftritt des Grammophons im Bericht für eine Akademie noch einmal genauer angeschaut werden. Phonograph und Grammophon waren schließlich nicht einfach nur Medien der Lautspeicherung, sie waren auch Schreib-Maschinen, die Laute in Schrift und Schrift wieder in Laute transformieren konnten.[36] Kafka fühlte sich von ihnen bedroht, weil sie auf den Platz des Schriftstellers drängten, weil sie die literarischen Mitteilungsformen in Frage stellten: „Weil er verstand, was das Grammophon war, lehnte Kafka es ab.“[37]
So kann der Bericht als Überschreibung eines Substitutionsvorgangs gelesen werden: Der dressierte Affe, der dem verdrängten Varietégenre zuzuordnen ist, erkämpft sich seine Aufmerksamkeit zurück (die Gesellschaft beachtet nun ihn und das Grammophon gerät in Vergessenheit). Das neue Sprechwunder tritt an die Stelle des alten: „Was für ein Sieg“, heißt es dementsprechend. Dies alles vollzieht sich jedoch in der Schrift, jenem „Bericht“, den Rotpeter bei der Akademie „einreicht“. Kafkas verworfene Anfänge für die Erzählung zeugen davon, dass sie zuerst als mündliche Rede (einmal als Interview) geplant war und erst danach zur Schriftform umkonzipiert wurde.[38] Dies mag ein Hinweis dafür sein, dass die Erzählung auch für ihn als Schriftsteller ein kleiner „Sieg“ über das Grammophon darstellte. Indem er die Techniken der Überschreibung und Ersetzung, sowie der lückenlosen und wertungsfreien Aufzeichnung vom Grammophon übernahm und sie in der Literatur gegen es wandte. Dafür spricht auch die Aussage Rotpeters:
Im übrigen will ich keines Menschen Urteil, ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren von der Akademie, habe ich nur berichtet.[39]
Hier, im Schlusssatz des Textes, wird deutlich, wie Kafka die neuen Schreibtechniken der informationsverarbeitenden Apparate in die Literatur überträgt und sie so zu bewältigen sucht: Wie das Grammophon unterschiedslos aufzeichnet, was sich ihm darbietet, so ist Kafkas Literatur, sein protokollarischer Stil nicht mehr Ausdruck eines urteilenden Subjektes, sondern „nur Bericht“ oder, wie Deleuze und Guattari es nennen, „Ausdrucksmaschine“[40].
3. „Verkehr mit Gespenstern“. Körper, Zeichen, Distanz: Literatur und Liebe in den Zeiten der Medientechnik
Technische Medien wie das Grammophon sind für Kafka jedoch nicht nur Konkurrenten, derer er sich qua Literatur entledigen möchte. Sie stehen vielmehr für eine immer weiter fortschreitende Distanz in unserer Kultur, die spätestens mit der Schriftlichkeit beginnt und sich mit dem Aufkommen von Schreibmaschine, Telephon und Diktiergerät noch verschärft: die Trennung von Körper und Zeichen. Ließ sich in der Handschrift noch die Spur des Körpers finden, so hat die Schreibmaschine das Körperliche vom Schriftlichen getrennt, genauso wie die „Sprechmaschinen“ Phonograph oder Telephon die Stimme vom Körper entheben.
Diese Beobachtung ist deshalb wichtig, weil Kafka schon die Trennung von Schrift und Körper als große Bürde empfand, gegen die er anschrieb. In seiner Literatur lassen sich viele Beispiele finden, in denen der Versuch unternommen wird, beide wieder ineinander wachsen zu lassen. So schreibt etwa der Folterapparat in Kafkas Strafkolonie dem Verurteilten sein Urteil direkt in den Körper ein.[41] Auch in anderen Erzählungen, etwa in Ein Traum oder Der Bau [42] , nimmt das Schreiben eine ganz materielle Form an, es wird zu einem Ritzen, Gravieren, einem Graben.[43]
Besonders augenfällig wird eine solche Engführung von Kunst und Körper bei den zahlreichen Artisten der Erzählwelt Kafkas. Seine Literatur ist nicht ohne Grund auch als „Artistisches Schreiben“ bezeichnet worden.[44] Der Artist ist für Kafka eine so wichtige Figur, weil er mit seiner Kunst nur sich selbst bedeutet. Künstlerisches Zeichen und Körper sind bei ihm noch nicht in Signifikant und Signifikat auseinander gefallen. In diesem Sinne ist neben den zahlreichen Trapezkünstlern, Zirkusdompteuren und Kunstreitern aus Kafkas Kurzprosa der Hungerkünstler genauso Artist wie die piepsende Sängermaus Josefine.[45] Beide bedeuten in ihrer Kunst nichts als sich selbst, körperliche Existenz und Kunst fallen bei ihnen zusammen.
Beide sind deshalb auch als Gegenentwürfe zum Affen Rotpeter zu lesen: Während dieser durch Anpassungsleistung, durch den Erwerb von ihm fremden Zeichenkonventionen, Einlass in die soziale Kommunikation erhält, bestehen jene auf der Autonomie ihres Körpers, bleiben dadurch jedoch unverstanden und geraten ins gesellschaftliche Abseits, sie verschwinden oder werden vergessen.[46]
[...]
[1] Nietzsche Ende Februar 1882 in einem Brief an Heinrich Köselitz. In: Nietzsche 1981, 172.
[2] Vgl. Schütz/ Wegmann 1996, 54.
[3] Vgl. Schütz/ Wegmann 1996, 60.
[4] Vgl. F.Kittler 1985, 190-220.
[5] F.Kittler 1985, 519. Aufgeschrieben wurde das Wort jedoch zuerst von dem Juristen Daniel Paul Schreber. Vgl. F.Kittler 1985, 375.
[6] F.Kittler 1986, 4.
[7] Vgl. Schütz/ Wegmann 1996, 65f.
[8] Vgl. Schütz/ Wegmann 1996, 68.
[9] Vgl. Monaco 1977, 235f.
[10] Vgl. Kracauer 1960, 28.
[11] F.Kittler 1986, 231.
[12] Wende 2004, 28.
[13] Vgl. Wende 2004, 8.
[14] Wagner 2004, 349.
[15] Vgl. Wagner 2004, 338.
[16] Vgl. Wagner 2004, 337-348.
[17] Vgl. W.Kittler 1990a, 75.
[18] Vgl. Wagner 2004, 358f.
[19] Kafka am 14.8.1913. In: Kafka 1967: Briefe an Felice, 444.
[20] Kafka am 3.1.1912. In: Kafka 1990: Tagebücher, 341.
[21] Kafka 1916a: Das Urteil, 61.
[22] Vgl. F.Kittler 1986, 37.
[23] „Speech, as it were, has become immortal.“ Norbert Bolz, zit. in: F.Kittler 1986, 37.
[24] Der Titel stammt allerdings von Max Brod. Das Fragment befindet sich in: Kafka 1992: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, 421-482, bzw. 485-491.
[25] Kafka 1917: Ein Bericht für eine Akademie, 310f.
[26] Zit. in: W.Kittler 1990, 155.
[27] Kafka 1917: Ein Bericht für eine Akademie, 299.
[28] Der Alkoholkonsum darf als Element dieser Verschaltung freilich nicht verschwiegen werden, ist aber nicht Thema der hiesigen Erörterung.
[29] W.Kittler 1990, 156.
[30] Vgl. F.Kittler, 457.
[31] Kafka am 27.11.1912. In: Kafka 1967: Briefe an Felice, 134.
[32] Kafka vom 22. zum 23.1.1913. In: Kafka 1967: Briefe an Felice, 266.
[33] Vgl. Bauer-Wabnegg 1990, 342.
[34] Kafka 1923: Erstes Leid.
[35] Vgl. Bauer-Wabnegg 1990, 368.
[36] Vgl. Bauer-Wabnegg 1990, 366.
[37] Bauer-Wabnegg 1990, 367.
[38] Vgl. Kafka 1993: Nachgelassene Schriften und Fragmente I, 384-388.
[39] Kafka 1917: Ein Bericht für eine Akademie, 313.
[40] Deleuze/ Guattari 1975, 70.
[41] Kafka 1919: In der Strafkolonie. Siehe auch Kapitel 5 dieser Arbeit.
[42] Kafka 1916b: Ein Traum. Kafka: Der Bau, in: Kafka 1992: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, 576-632.
[43] Vgl. Samuel 1988, 72. Für den Bau gilt dasselbe freilich nur innerhalb einer allegorischen Lesart, etwa als „Allegorie der Unlesbarkeit“ (Menke 2000, 32-75).
[44] Vgl. Fromm 1998.
[45] Kafka 1922: Ein Hungerkünstler, Kafka 1924: Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse.
[46] Vgl. Neumann 1985, 82f.