Inszenierung von Traumaüberwindung in "Closet Monster" von Stephen Dunn. Das Unaussprechliche sagen


Hausarbeit, 2020

34 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Über die Möglichkeiten von Sprache

2. Analyse der Zeitgestaltung einer Sequenz
2.1 Verunsicherungen im Zeitgefühl
2.2 Ablösen der diegetischen Zeit vom afilmischen Zeitgefühl
2.3 Auflösen der Linearität von Zeit

3. Der filmische Rhythmus

4. Bibliografie

5. Filmografie

6. Sequenzprotokoll

1. Über die Möglichkeiten von Sprache

Bereits Ludwig Wittgenstein erkannte das Potential von Sprache als Zugang zur Welt. Er gestand ihr die Fähigkeit zu, unser Denken zu strukturieren und damit auch die Art, wie wir unsere Welt wahrnehmen.1 Seine Überlegungen läuteten in der Phi­losophie ein Umdenken über sprachliche Vermittlungsformen ein, den sogenannten linguistic turn.

Heute ist man sich der Bedeutung von Sprache sehr wohl bewusst: Die Psychothe­rapie misst ihr sogar die Fähigkeit zu, seelische Wunden eines Menschen zu heilen. Durch Gesprächstherapie ist es Traumatisierten möglich, geistige Verletzungen in ihre individuelle, psychische Struktur zu integrieren und so zu überwinden. Bei schwerwiegenden Traumata sind Betroffene jedoch häufig gar nicht erst in der Lage, Worte für das Erlebte zu finden. Der Psychologe Barry Marc Cohen führt dies auf die andersartige Struktur traumatischer Erinnerungen zurück. So unterscheide sich die Realitätswahrnehmung in traumatischen Situationen so stark von unserer All­tagswahrnehmung, dass es den Traumatisierten im Nachhinein schwerfalle, ihr Trauma in Form von Sprache zu kommunizieren.2

Dort, wo das Sagen scheitert, gewinnt das Zeigen an Bedeutung. Denn woher weiß ein Kind zum Beispiel, was ein Bagger ist? Jemand zeigt auf ein motorisiertes Ge­fährt mit überdimensioniertem Greifarm und sagt das Wort „Bagger“. Es ist durch den bloßen Akt des Zeigens möglich, dem sprachlich Ohnmächtigen neues Vokabu­lar zu vermitteln und damit die simpelste Form der Sprachvermittlung.

Die wohl grundlegendste Eigenschaft des Films ist das Zeigen von Dingen. Durch das Aneinanderreihen von Gezeigtem in bildlicher Form ist es sogar möglich, Er­kenntnisse zu vermitteln.3 Es liegt also nahe, Film als Sprachersatz zur Vermittlung von Unaussprechlichem zu nutzen und so zu versuchen, Strukturen in der Welt auf­zuzeigen, die sich der Sprachlichkeit entziehen. Kurzum: Film kann eine Sprache für das Unaussprechliche finden, eine Sprache des Films.

Ein exemplarischer Versuch, mittels filmischer Sprache eine seelische Verletzung zu veräußerlichen, findet sich im Spielfilm CLOSET MONSTER.4 Der Protagonist Os­car hat in seiner Kindheit mitansehen müssen, wie ein angeblich schwuler Junge nahe seiner Schule mittels einer Eisenstange vergewaltigt wurde. Sein Vater, neben seinem Hamster Buffy Oscars einziger Vertrauter, rät ihm daraufhin, seine langen Haare abzuschneiden. Oscar lernt, seinem Vater und der Welt gegenüber zu verste­cken, dass er selbst schwul ist. Als Oscar älter wird, wirkt sich dieses gestörte Ver­hältnis zur Sexualität auf sein Liebesleben aus: In jedem Moment der Intimität rasen ihm Erinnerungen an die mitangesehene Vergewaltigung durch den Kopf, sein Bauch schmerzt fürchterlich. In einer Sequenz zum Ende des Films wird Oscar er­neut mit seinem Trauma konfrontiert. Sein Vater hat in einem Wutanfall Buffy ge­tötet. Während Oscar das Geschehene realisiert, überkommen ihn Flashbacks seines Traumas. Als er schließlich wieder Magenkrämpfe erleidet, blickt er zu seinem Bauch und stellt entsetzt fest, dass ihn eine Eisenstange durchbohrt. In einem Kraft­akt zieht sich Oscar diese Stange aus dem Körper und hebt zum Schlag auf seinen Vater Peter an. Während dieses Schlages durchlebt er nicht nur das Trauma erneut, auch Kindheitserinnerungen rasen durch seinen Kopf. Schließlich schlägt Oscar an seinem Vater vorbei und verwendet die Eisenstange stattdessen dazu, Peter in seinem Haus einzuschließen.

Die filmische Inszenierung dieser Retraumatisierung und der anschließenden Traumaüberwindung lässt Oscars Trauma für Dritte erfahrbar werden. Im Folgenden soll untersucht werden, wie filmische Mittel zur Affizierung der Zuschauenden ver­wendet werden.

2. Analyse der Zeitgestaltung einer Sequenz

Die zu analysierende Sequenz beginnt mit dem Frühstück von Oscar und seiner Mut­ter Brin und endet mit Oscars Ohnmacht nach dem Verriegeln der Haustür seines Vaters. Auf formalästhetischer Ebene ist die Abgeschlossenheit der Sequenz haupt­sächlich durch Montagetechniken begründet: Während innersequenziell auf Über­blendungen jeglicher Art verzichtet wird, grenzt sich die Sequenz durch einen j-cut5 auf auditiver Ebene zu Beginn ab, zum Ende hin geschieht dies durch einen Black­out6 in Verbindung mit einer schwarzen Aufblende auf visueller Ebene. Auch in puncto Handlung bildet die Sequenz eine Einheit: Oscars Blick fällt bei Brin auf den leeren Hamsterkäfig. Er möchte Buffy zu seiner Mutter holen. Mit diesem Ziel macht er sich auf den Weg zu Peter, steigt durch das Fenster und kommt nicht zur Ruhe, bis er schließlich seinen toten Hamster vor dem Haus entdeckt. Damit hat Oscar sein Ziel zwar final nicht erreicht, die Sequenz ist jedoch noch nicht vorbei. In derselben Einstellung, in der Oscar von Buffy und damit von seinem Ziel ablässt, entdeckt er den Holzpflock.7 Dieser triggert in einem nahtlosen Übergang die Retraumatisie­rung, welche wiederum erst zu einem Ende kommt, als Oscar zusammenbricht.

Um affiziert werden zu können, muss die Perspektive der Zuschauenden an die Per­spektive der Figur angeglichen werden. Die daraus resultierende Loyalität hat zur Folge, dass die Zuschauenden empfänglicher für etwaige Emotionalisierung wer­den.8 Dabei gelingt dem Film diese Perspektivangleichung hauptsächlich durch die schrittweise Externalisierung von Oscars veränderter Zeitwahrnehmung. Die fol­gende Analyse konzentriert sich hauptsächlich auf den Sequenzteil der R­etraumati­sierung und der Traumaüberwindung; eine Einordnung dieses Teils in den filmi­schen Rhythmus der gesamten Sequenz findet anschließend an die Analyse statt.

2.1 Verunsicherungen im Zeitgefühl

Zu Beginn der Sequenz entsprechen diegetische und filmophanische Zeit 9 einander noch, abgesehen von einigen elliptischen, zeitraffenden Momenten.10 Diese fallen jedoch nicht stärker ins Gewicht, da von den Zuschauenden als filmische Konvention akzeptiert wird, dass „alles Langweilige, Redundante“11 weggelassen wird. Eben­diese Konvention wird erstmalig gebrochen, als Oscars Blick auf den toten Buffy fällt. Während das Bild noch zeit deckend erzählt, verschwinden auf tongestalteri­scher Ebene die Pausen zum Luftholen zwischen Brins anklagenden Sätzen. „He’s a kid!“, „You killed the fucking hamster?“ und „He’s a child!“ folgen unmittelbar auf­einander, wodurch ein zeit raffender Eindruck entsteht.12 Hatte sich das Streitge­spräch zwischen Peter und Brin ohnehin bereits zu einem schnellen Schlagabtausch entwickelt, beginnen Peters und Brins Redeanteile nun, sich zu überlappen. Der el­terliche Streit wird zur kakophonischen Geräuschkulisse. So wird eine Parallele zu Oscars Kindheit gezogen: Zu Beginn des Films wird Hamster Buffy als Möglichkeit zum Ablenken vom Streit der Eltern etabliert.13 Dies wird nun, Jahre später, wieder aufgegriffen. Indem sich Oscar wie damals auf Buffy konzentriert, blendet er das Geschrei der Eltern aus, was durch miteinander verschmelzende Streitfetzen und ein­setzende Musik veräußerlicht wird.

In dieser für eine Retraumatisierung geradezu prädisponierten Situation triggert die Entdeckung des Holzpflocks ein Flashback zu seinem Kindheitstrauma. Durch einen match-cut14 auf diesen Pflock wird eine Brücke von der Gegenwart zum Moment der Vergewaltigung geschlagen. Bis zu diesem Punkt im Film wurde das Opfer der Ver­gewaltigung nie vollständig gezeigt, lediglich Details seines Körpers. Ausschließlich Oscars Reaktion auf den Anblick informierte die Zuschauenden darüber, wie scho­ckierend das Bild wohl war. Nun nährt sich Oscar seinem Trauma erneut an, gespie­gelt durch den sich vortastenden, jungen Oscar. Die Parallele zum ursprünglichen Trauma wird durch sehr ähnliche, fast identische Kameraeinstellungen gezogen.15 Im Gegensatz zur bereits gezeigten Einstellung jedoch, erfolgt nun kein Schnitt auf Oscars Reaktion, kurz bevor das Opfer in Gänze im Bild erscheint. Die Einstellung bricht nicht ab, sondern erzählt weiter. Ähnlich einem point of view shot nehmen die Zuschauenden Oscars Position ein und erblicken nun den reglosen Körper des Op­fers.

Diese leichte Variation von bereits im Film verwendeten Einstellungen ist ein Kunst­griff, der im weiteren Verlauf der Sequenz noch häufiger Anwendung findet. Durch dieses Stilmittel können Veränderungen und Weiterentwicklungen explizit ausge­drückt werden. Denn die Variation zeigt in Verbindung mit der Wiederholung eben nicht nur, was sich verändert hat; stattdessen zeigt sie erneut, was bereits war, ver­ändert aber einen entscheidenden Teil. Die Zuschauenden erkennen die Bezugnahme auf bereits Gesehenes und messen dem veränderten Teil in der Folge mehr Bedeu­tung bei. So können Variatio­nen und Wiederholungen „subjektive[] Erfahrungen von Zeit und Gefühl“16 verdeutlichen.

Verstärkt wird dieser Eindruck einer subjektivierten Zeitdarstellung durch Musik, die in sich ständig wiederholenden Schleifen (sog. Loops) das Geschehen untermalt und schließlich auch den Dialog von Peter und Brin verdrängt. In Form dieser Loops addieren sich immer mehr Tonspuren aufeinander, bis diese kontinuierliche Wieder­holung schließlich schlagartig in eine Variation übergeht: Als Oscar an der ihn durchbohrenden Eisenstange zu ziehen beginnt, werden einige Loops zeitgleich auf eine höhere Tonlage transponiert. 17 Zudem setzen nun mehrere neue Loops gleich­zeitig ein, während der Beginn eines neuen Loops zuvor immer zeitversetzt angelegt war.

Das Stilmittel der Wiederholung/Variation zeigt sich also auf der Handlungsebene (Eltern streiten sich wie in Oscars Kindheit), Montageebene (bereits bekannte Mo­mente werden erneut gezeigt) sowie auf musikalischer Ebene (durch sich addierende Loops). Alle diese Elemente widersprechen noch nicht der im filmischen Univer­sum18 etablierten Konvention über lineare Zeitgestaltung; sie ergeben eine Erzäh­lung, deren Einzelteile kausal aufeinander aufbauen. Allerdings werden die Zuschau­enden immer mehr in eine Position gedrängt, in der sie die Deckungsgleichheit von diegetischer und afilmischer Zeit 19 infrage stellen müssen. Auf diversen filmgestal­terischen Ebenen wird vermittelt, dass sich Dinge wiederholen, jedoch leicht variiert werden. Dies schafft Verunsicherung; in der afilmischen Realität gibt es selten etwas mit Wiederholungen Vergleichbares. Wenn etwas als eindeutige Wiederholung von bereits Erlebtem wahrgenommen wird, spricht man von einem Déjà-vu. Befindet man sich in einem Déjà-vu-Erlebnis und ist sich dessen bewusst, sorgt die gefühlte Auflösung zeitlicher Linearität und des Kausalprinzips für Verunsicherung. Diese Verunsicherung über das langsame Bröckeln der „realitätsgetreuen“ Darstellung von Zeit wird im weiteren Verlauf der Sequenz eine Gewissheit.

2.2 Ablösen der diegetischen Zeit vom afilmischen Zeitgefühl

Afilmische Zeit ist relativ, ebenso verhält es sich mit filmischer Zeit: Je nach Per­spektive schreitet die Zeit in verschiedenen filmischen Narrationen unterschiedlich schnell voran. Möchte man also Gleichzeitigkeit von Erzählebenen in einem Me­dium vermitteln, das sich zeitlicher Linearität unterwerfen muss, ist im Rahmen einer Parallelmontage folgender Kunstgriff möglich: Man dehnt die Zeit des Betrach­tungspunkts.

Was heißt das? Während Oscars „Befreiungsschlag“ überschwemmt ihn eine Bilder­flut, deren Inhalt im nächsten Kapitel analytisch betrachtet wird. Diese Flut ist in den erzählerischen Rahmen der Schlagbewegung integriert. Oscar lässt die Eisenstange niederfahren, sieben räumlich-zeitlich völlig unterschiedliche Bilder folgen in einer staccato-artigen Aneinanderreihung. Schnitt zurück auf den erzählerischen Rahmen. Peter weicht zurück, Oscar lässt die Stange weiter „herabsausen“, acht Bilder fluten Oscars Kopf. Oscar lässt die Stange immer noch herabfahren, zwei Bilder folgen. Peter weicht immer noch zurück, acht Bilder schließen sich an. Inhaltlich verändert sich kaum etwas im erzählerischen Rahmen, die Zeit wirkt eingefroren. Zwar bleibt sie nicht völlig stehen, jedoch findet eine so extreme Zeitdehnung statt, dass Rahmen und Bilderflut ausreichend kontrastieren. Es wird der Eindruck von Gleichzeitigkeit vermittelt durch die schier endlose Dehnung eines einzigen Moments.

Trotz dieser extremen Zeitdehnung bleibt jedoch eindeutig, dass die Zeit im erzäh­lerischen Rahmen weiter voranschreitet. Denn die unterschiedliche Länge der Ein­stellungen nimmt auch eine Hierarchisierung der verschiedenen Erzählebenen vor. Es ist klar, dass die Erzählung rund um den Schlag von Oscar linear fortläuft, da jeder Einstellung des erzählerischen Rahmens mehr leinwandliche20 Zeit gewidmet wird als den einzelnen Einstellungen der Bilderflut. Die Verknüpfung beider Erzähl­ebenen im Stil einer Parallelmontage ist nicht nur der Darstellung von Simultanität zuträglich. Hans Beller sieht in ihr die Möglichkeit „die darzustellenden starken Reize und Gewalttätigkeiten durch die Schnitte des Films methodisch verstärken“21 zu können. In anderen Worten: Die Zuschauenden werden zusätzlich zur subjekti­vierten Zeitdarstellung auch durch die Dynamik der Montagetechnik affiziert. Waren sie anfangs noch in ihrer Zeitwahrnehmung verunsichert, ist jetzt klar, dass sich die­getische Zeit und afilmisches Zeitgefühl unterscheiden.

Das Prinzip von linear fortschreitender Zeit wird auf formalästhetischer Ebene zwar nicht angetastet, dafür jedoch auf inhaltlicher Ebene.

2.3 Auflösen der Linearität von Zeit

Die Bilderflut lässt sich inhaltlich in vier Felder unterteilen: In allgemeine Kindheits­erinnerungen von Oscar mit seinem Vater,22 in den besonderen Moment eines Vam­pir-Spiels23, in Erinnerungen an die Vergewaltigung24 und in zeitlose Bilder.25 Im Folgenden sollen diese vier Felder danach befragt werden, in welchem narrativen Verhältnis sie zueinander stehen.

Die zu Beginn der Bilderflut relativ hohe Dichte der allgemeinen Kindheitserinne­rungen von Oscar mit seinem Vater beschreibt die Beziehung der beiden zueinander: Glückliche Erinnerungen der väterlichen Fürsorge und des Spielens eröffnen den Bilderstrom. Einen starken Kontrast dazu schafft der Schnitt zurück auf den ängst­lich zurückweichenden Peter und Oscar mit wutverzerrtem Gesicht. Was ist passiert? Im weiteren Verlauf der Flut durchmischen Bilder der Vergewaltigung die glückli­chen Kindheitserinnerungen; immer wieder wird Bezug auf einen konkreten Mo­ment in Oscars Kindheit genommen: Oscar und Peter raufen sich, Peter trägt Vam­pirzähne. Oscar hält den Holzpflock in der Hand, mit dem er als Kind auf die Ver­gewaltiger zugegangen ist und der auch maßgeblicher Trigger seiner Retraumatisie­rung war. Schnitt zurück auf Oscar, der die Eisenstange auf seinen Vater herabfahren lässt. Wie bei der Retraumatisierung geschieht durch einen match-cut ein Sprung in die Vergangenheit, dieses Mal jedoch in parallelisierender Funktion: Denn wieder im Moment des Vampir-Spiels angekommen, lässt Oscar den Pflock auf Peter nie­derfahren. Eine Anspielung auf den Mythos, man könne Vampire durch einen Holz­pflock töten, liegt nahe. Peter wirft daraufhin rote Blätter in die Luft, die Blut asso­ziieren lassen. Dass dieser Kindheitsmoment von großer Bedeutung ist, zeigt die Zeitgestaltung ebendieser Einstellung. Der Zeitablauf ist umgekehrt, die Blätter fal­len zurück auf Peter.26 Schnitt zurück zum ängstlichen Peter der Gegenwart. Ab die­sem Punkt sind die Bilder von Oscars Kindheit nicht länger durch Spiele und Für­sorge geprägt: Einstellungen, die bereits im Film verwendet wurden, werden wieder­holt und können so durch die Zuschauenden in einen Kontext gesetzt werden. Peter schlägt auf einen Nagel, Oscar schneidet sich die Haare ab. Diese Verknüpfung bei­der Einstellungen fand im Film Verwendung, kurz nachdem Peter Oscar zum An­passen an die gesellschaftliche Vorstellung von maskulinem Aussehen geraten hatte.

Die Einstellungen, die ein Ende der Bilderflut markieren, lassen sich keiner Zeit­ebene zuordnen. Wilders Gesicht in Großaufnahme, Milch läuft darüber. Im Film hat Milch nur ein einziges Mal eine Rolle gespielt, nämlich als Peter Oscar damit in einem Akt der Wut überschüttete.27 Anschließend sieht man Hamster Buffy fauchen. Er sitzt dabei auf dem Geschenkpapier, in das er eingewickelt war, als er zu Oscar kam.28 Doch diese Sequenz wurde zu Beginn des Films in voller Länge gezeigt, ein fauchender Buffy kam nicht vor. Im Gegenteil: Bis auf einen kurzen Streit, wurde die Beziehung von Oscar zu seinem Hamster als liebevoll und fürsorglich dargestellt.

Wurde zu Beginn der Bilderflut noch Oscars Kindheit in wenigen Bildern rekapitu­liert, die Traumatisierung und die abkühlende Vater-Sohn-Beziehung erzählt, lassen sich die letzten beiden Einstellungen im Verlauf der Narration überhaupt nicht ein­ordnen. Ohnehin wurde Oscars Kindheit nicht chronologisch wiedergegeben. Auf das Vampir-Spiel folgt beispielsweise eine Einstellung, in der Peter den neugebore­nen Oscar in den Händen hält.29 Zusätzlich zu dieser Montageentscheidung lösen letzten beiden Einstellungen, die sich jeglicher zeitlichen Einordnung entziehen, die Linearität der Erzählung somit vollends auf. Denn Elemente verschiedener Zeitebe­nen (Milch und Wilder sowie Buffy und Moment des Schenkens) werden zu zeitlo­sen Bildern zusammengefügt. Elemente, die damit teilweise sogar in einem Wider­spruch zur bisherigen Erzählung stehen.

„Aneinandergereihte Einzelbilder verschmelzen zu einem Gesamteindruck, der mehr ist als die Summe seiner Teile.“30 Dieses sogenannte Phi-Phänomen beschreibt zwar ursprünglich nur, warum für die Zuschauenden mehrere Einzelbilder zu einer Bewegung verschmelzen, begründet bei der Betrachtung der gesamten Bilderflut aber folgende Feststellung: Durch die staccato-artige Aneinanderreihung der Einzel­bilder mehrerer zeitlicher Ebenen wirken die einzelnen Einstellungen, die für sich allein keinerlei Aussagekraft besitzen, zusammengenommen sinnstiftend. In Form der Bildüberflutung gelangen von Oscars Ich abgespaltene Erinnerungen an die Oberfläche, ein innerer Staudamm bricht. Die Analogie des Vaters mit einem Vam­pir. Oscar als Zeuge einer Gewalttat mittels einer Eisenstange versus Oscar als Ge­walttäter, dessen Tatwaffe eine Eisenstange ist. Kontraste zwischen Fürsorge und Wut des Vaters, Liebe und Wut des Sohnes. Dazwischen eine lächelnde Mutter.

Die detailliertere Analyse von symbolischen Verbindungen zwischen den Einzeltei­len der Bilderflut erschöpft sich in der Vielzahl an Deutungsmöglichkeiten. Sicher lässt sich jedoch sagen, dass Oscars bisheriges Leben in komprimierter Form darge­stellt wird. Zudem wird veräußerlicht, wie Oscar versucht, die Dinge neu zusam­menzufügen, um sie in seine psychische Struktur zu integrieren. Er versucht, einen Sinn im Erlebten zu finden, ebenso versuchen es die Zuschauenden. Aufgrund der hohen Schnittfrequenz ist es letzteren jedoch nicht möglich, eindeutige Schlüsse zu ziehen, zurück bleibt ein diffuses Gefühl von Affizierung. Bei Oscar äußert sich diese in Form einer wortwörtlichen Affekt handlung, bei den Zuschauenden durch ein Mitempfinden der Affekte.

Die entstandene Anspannung löst sich mit der Vollendung von Oscars Schlag: Er lässt die Stange im letzten Moment neben Peter niederfahren und schlägt stattdessen auf ein Vogelhaus. Die Erwartung der Zuschauenden, dass Oscar auf seinen Vater schlägt, wird düpiert. Ähnlich dem Stilmittel der Variation wird so gezeigt, dass Os­car nun einen neuen Umgang mit seinen Erinnerungen gefunden hat. Die Erzählung nähert sich sowohl auf formalästhetischer als auch auf narrativer Ebene langsam wieder der Deckungsgleichheit von filmophanischer und diegetischer Zeit an, der Moment der Affizierung ist vorüber.

3. Der filmische Rhythmus

Die soeben betrachteten Sequenzteile der Retraumatisierung und der Traumaüber­windung Oscars reihen sich in die Sequenz als Ganzes ein. Dieser Kontext ist enorm wichtig für die Affizierung. Denn erst im Zusammenspiel dynamischer Unterschiede entsteht das, was allgemeinhin als filmischer Rhythmus bezeichnet wird. Auch Ba­kels sieht „die affektive Dimension der Rhythmuswahrnehmung an die zeitliche Er­fahrung von Phasen der Be- und Entschleunigung gebunden“.31

Ähnlich einem Musikstück gibt es kein Hoch, wo kein Tief war, kein Laut, wo nicht zuvor Leise war. So ist es der Kontrast von Oscars emotionalem Ausbruch im Di­rektvergleich zu seiner augenscheinlichen Ruhe zu Beginn der Sequenz, der die Zu­schauenden affiziert. Filmischer Rhythmus unterscheidet sich von musikalischem Rhythmus durch das Fehlen eines festen Metrums. Vielmehr charakterisiert er sich durch „die Relation der ‚Schlagfrequenzen‘ rhythmischer Muster auf Gestaltungs­ebenen wie beispielsweise Musik, Dialog, Schnittfrequenz oder Figurenchoreogra­fie“.32 Alle Kontraste, die in der Analyse der vorliegenden Sequenz aus CLOSET MONSTER betrachtet wurden, tragen neben ihrer affizierenden Wirkung durch Dy­namik auch zu einer veränderten Darstellung von Zeitlichkeit bei.

Genau darin liegt eine der Möglichkeiten des Films gegenüber dem Wort: Er kann zeigen, was nicht in Worten erklärt werden kann. Barry Marc Cohen sieht als Haupt­grund für die sprachliche Ohnmacht von Traumatisierten, dass die Struktur einer traumatischen Erinnerung nicht in sprachlicher Form zu veräußerlichen ist. Film kann es schaffen, diese andersartige Struktur aufzu zeigen. Fühlt sich ein Moment wie eine Ewigkeit an, in der Dinge gleichzeitig passieren, ist dies im Film kein Wi­derspruch. Gleichzeitigkeit und Ewigkeit sind vereinbar, das zeigt allein die Zeitge­staltung während Oscars Traumaüberwindung.

Dieser scheinbare Widerspruch wird von den Zuschauenden verstanden, da er nicht erklärt, sondern gezeigt wird. Indem die Zuschauenden affiziert werden, erleben sie das Trauma bzw. die Retraumatisierung mit und nähern sich daher der Narration nicht durch logisches Denken, sondern durch emotionales Miterleben an.

So wird in CLOSET MONSTER filmisch eine Sprache für das Unaussprechliche ge­funden, das Trauma kann vermittelt werden. In diesem Punkt geht Film sogar über die Überlegungen Wittgensteins hinaus. Dessen Dissertation endet mit dem berühm­ten Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“33 Es zeigt sich jedoch: Wovon man nicht sprechen kann, davon kann man vielleicht filmisch erzählen.

[...]


1 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1960. Abschnitt 5.6.

2 Barry Marc Cohen: Art and the Dissociative Paracosm. In: L.K. Michelson, W.J. Ray (Hrsg.): Handbook of Dissociation. Boston: Springer 1996. S.528.

3 Vgl. Sergej Eisenstein: Ausgewählte Aufsätze. Berlin (Ost): 1960. S.325. Zitiert nach: Hans Beller: Aspekte der Filmmontage. Eine Art Einführung. In: H. Beller (Hrsg.): Handbuch der Filmmontage. Praxis und Prinzipien des Filmschnitts. 3., durchgesehene Auflage, München: 1999. S. 9-32.

4 CLOSET MONSTER, R: Stephen Dunn, CAN 2015. DVD: PRO-FUN MEDIA

5 Beim j-cut setzt der Ton einer neuen Einstellung ein, bevor das dazugehörige Bild zu sehen ist.

6 Dieser dem Theater entlehnte Begriff beschreibt einen völlig schwarzen Bildschirm.

7 Vgl. Sequenzprotokoll Nr. 4.20.

8 Diese Position greift Jan-Hendrik Bakels unter Verweis auf Murray Smith auf. Vgl. Jan-Hendrik Bakels: Audiovisuelle Rhythmen. Filmmusik, Bewegungskomposition und die dynamische Affizierung des Zuschauers. In: H. Kappelhoff u.a. (Hrsg.): Cinepoetics. Poetologien audiovisueller Bilder. Band 3. Berlin: 2017. S.49.

9 Vgl. Etienne Sourieau: Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie. In: montage/av 6/2/1997. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation. 1951, S.140-157.

10 Vgl. Sequenzprotokoll Nr. 2.1-2.7, 2.11f, 4.1f.

11 Beller, Aspekte der Filmmontage. o.S.

12 Vgl. Sequenzprotokoll Nr. 4.9.

13 Vgl. CLOSET MONSTER . TC 00:03:40-00:05:05.

14 Vgl. Beller, Aspekte der Filmmontage. o.S.

15 Vgl. ebd. TC 00:09:44-00:00:49 und Sequenzprotokoll Nr. 4.23f.

16 Bakels: Audiovisuelle Rhythmen. S.102.

17 Die Transposition beschreibt die Veränderung von Tonhöhen im Rahmen eines Musikstücks. Da die individuellen jeweiligen Intervalle dieselben bleiben, handelt es sich hierbei um eine Variation.

18 Vgl. Etienne Sourieau: Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie. o.S.

19 Vgl. ebd.

20 Vgl. ebd.

21 Beller, Aspekte der Filmmontage. o.S.

22 Vgl. Sequenzprotokoll Nr. 4.46-4.50, 4.52, 4.55, 4.68ff.

23 Vgl. ebd. Nr. 4.51, 4.59, 4.62, 4.64f, 4.72.

24 Vgl. ebd. Nr. 4.56ff, 4.60f.

25 Vgl. ebd. Nr. 4.71, 4.73f.

26 Vgl. ebd. Nr. 4.65.

27 Vgl. CLOSET MONSTER . TC 00:30:55-00:31:15.

28 Vgl. ebd. TC 00:03:27-00:03:39.

29 Vgl. Sequenzprotokoll Nr. 4.51f.

30 Beller, Aspekte der Filmmontage. o.S.

31 Bakels, Audiovisuelle Rhythmen. S.99.

32 Ebd. S.98.

33 Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Abschnitt 7.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Inszenierung von Traumaüberwindung in "Closet Monster" von Stephen Dunn. Das Unaussprechliche sagen
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Theaterwissenschaft)
Veranstaltung
Filmanalyse
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
34
Katalognummer
V593915
ISBN (eBook)
9783346194428
ISBN (Buch)
9783346194435
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Filmanalyse, Closet Monster, Trauma, Traumaüberwindung, Inszenierung, Zeit, Sprache, Unaussprechlich, Wittgenstein, Psychotherapie, Zeitgestaltung, Nicht-Sprachlich, Film, Coming-Out
Arbeit zitieren
Felix Hertneck (Autor:in), 2020, Inszenierung von Traumaüberwindung in "Closet Monster" von Stephen Dunn. Das Unaussprechliche sagen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/593915

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