Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
1.1. Vorwort
1.2 Platon und sein Athen
1.3 Begriffe
2. Die Polis bei Platon
2.1 Die „natürliche Polis“
2.2 Die „üppige Polis“
2.3 Die „gereinigte Polis“
3. Zusammenfassung, Schlussfolgerungen, Kommentar.
4. Quellen und Literatur
4.1. Quellen
4.2. Literatur (Auswahl)
1. Einleitung
1.1. Vorwort
In einer Zeit politischer Ratlosigkeit, in der der Mangel an Ideen und Idealen durch das Propagieren konsequentester „Laisser-faire Politik“[1] überspielt wird und das Wort Utopie im Volksmund fast gleichbedeutend mit Spinnerei/ Träumerei ist, scheint die Beschäftigung mit fast 2500 Jahre alten Gesellschaftsidealen Vielen als überflüssig. Nach der vorzeitigen Beerdigung des siechen Kommunismus scheint die Erde leer von unrealistischen Gedankenwerken über das perfekte Zusammenleben der Menschen. Vielen Zeitgenossen erscheint das auch als gut. Fast allen Utopien von Platon bis Marx[2] haftet der Geruch des Totalitären an. Die Menschen, so die Vorwürfe, seien in den Utopien nur unmündige Rädchen in einer zwangsharmonischen Planwirtschaft. Die Vorwürfe gegen den Kommunismus oder viel mehr den zu seiner Zeit realexistierenden Sozialismus sind weithin bekannt. Thomas Mores Utopia wurde vielmals einer kommunistischen Lesart unterzogen und in entsprechender Weise kritisiert. Platon wurde von Karl Popper als Wegbereiter des modernen Totalitarismus diffamiert. Ein weiterer elementarer Vorwurf, der auf alle Utopien anwendbar ist, ist folgender: In ihrem gut gemeinten Idealismus denken sie vorbei am wahren Wesen des Menschen. Der Mensch sei von Natur aus egoistisch und habsüchtig, daher müsse die natürliche Gesellschaftsform auf Konkurrenz um Materie und gesellschaftliches Ansehen beruhen. Eine menschliche Eigenschaft, die von fast allen großen Weltreligionen verdammt und von vielen rationalen Denkern verachtet wurde, wird zum beherrschenden Prinzip erhoben. Eines der Dogmen im Politikunterricht an deutschen Schulen lautet zum Beispiel: Kommunismus: zu positives Menschenbild; deswegen gescheitert. Das gleiche Dogma würde wohl auch auf More und Platons Politeia angewendet werden, würden sie noch öffentlich diskutiert werden. Der moderne Mensch resigniert vor den seit Urzeiten ungelösten Problemen menschlichen Zusammenlebens, verleugnet die Errungenschaften von Generationen von Denkern und Mystikern und stiehlt sich letztlich auf diese Weise aus der Verantwortung, an sich selbst das eigene Menschenbild zu reflektieren und den Menschen zu verbessern. Die Schuld für das Scheitern von Idealen wird den Idealisten zugeschoben: zu positives Menschenbild, zu totalitär, Beschneidung der Freiheit etc.
Auch dem Ideal, das Platon in seiner Politeia von der Form der Organisation des Zusammenlebens zeichnet, können entsprechende Vorwürfe gemacht werden. Platons Ansätze, die für den modernen Leser nach Klassengesellschaft, Zensur, Gehirnwäsche, Eugenik, Freiheitsbeschneidung und überhaupt nach Zwangsmaßnahme klingen, machen in der Tat hellhörig. Sie machen auch die Empörung Karl Poppers verständlich, wenn sie auch nicht vollständig zu rechtfertigen ist. Weder Platon noch die meisten anderen Utopisten haben je dafür plädiert, ihre ideale Gesellschaft mit vorgehaltener Waffe zu erzwingen. Platons Staatsutopie ist ein Teil seiner philosophischen Ansichten über Harmonie und Gerechtigkeit in der menschlichen Seele und in der Gesellschaft. Platons Werk kann daher nicht wie ein politisches Programm behandelt werden. Im Gegenteil: Es ist im Charakter apolitisch, so wie Platons Leben bewusst unpolitisch war. Das heißt nicht, wie wir noch sehen werden, dass Platon sich nicht auf seine Weise einmischen wollte und dies auch tat. Die Politeia kann als kritischer Spiegel der athenischen Gesellschaft im 4. und 5. Jahrhundert gelesen werden. Platon handelt darin viele der Aspekte ab, die nach seiner Auffassung zum Niedergang Athens im Peloponnesischen Krieg und zum Verfall von Moral und Sitten geführt haben. Das Werk ist entschieden demokratiekritisch, weswegen es von Popper zum Feind der offenen Gesellschaft erklärt worden ist[3]. Platons Kritikpunkte sowie seine Ideen sind nicht immer absolut neu und bahnbrechend gewesen. Andere Philosophen und Denker vor ihm, zu denen er teilweise im Gegensatz stand, hatten bereits ähnliche Gedanken und Ansichten, die er übernahm und weiterentwickelte. Platon selbst hat also nicht direkt in die Sonne geblickt, sondern viele Ideen nur weiterentwickelt.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Platons Idealpolis von ihrer Gründung bis zur Beschreibung der regierenden Wächter[4] zu skizzieren und zu zeigen, wo in der geistigen und physischen Welt des damaligen Athens seine Gedanken ihren Ursprung haben. Nebenbei soll ein, wenn auch nur rudimentärer, Einblick in das öffentliche und private Leben in der Polis Athen entstehen. Ein weiteres Ziel ist es, zu verdeutlichen, wie schwierig es ist, Platon wegen eines „politischen Programms“[5] festzunageln. Moses I. Finley schrieb in den 70 er Jahren des vergangenen Jahrhunderts: „Diejenigen, die Platons Metaphysik nicht akzeptieren, haben nicht das Recht, seine Urteile über Athen nachzuplappern.“[6] Dieser enorme Anspruch würde freilich den Rahmen sprengen. Er soll dennoch nicht gänzlich aus dem Auge verloren werden.
Die Fülle der verfügbaren Literatur über Platons Politeia birgt ein gewisses Frustpotential. Es scheint unmöglich, etwas über Platon zu sagen, das nicht bereits zehn andere gesagt haben. Schon allein deshalb ist es notwendig, vor allem im Bereich der einführenden Werke, nach etwas Ermutigendem zu suchen. Einen gewissen Lichtblick bildet in dieser Hinsicht Sean Sayers Werk „Plato’s Republic; an Introduction“. Es hat den Vorzug der angelsächsischen, eleganten Kürze, während es nicht versagt, die wichtigsten Gesichtspunkte ausreichend zu behandeln. Kritik und Verteidigung von Platons Ideen werden gleichberechtigt dargestellt. Sayers hat Platon noch nicht für tot erklärt und versucht sein Werk aus den ideologischen Trümmern des kalten Krieges zu bergen. Eher pathologisch in der Vorgehensweise, aber dennoch von großem Wert ist die von Otfried Höffe herausgegebene Aufsatzsammlung „Platon; Politeia.“ Die für diese Arbeit relevanten Beiträge von Höffe und Canto-Sperber/ Bresson liefern Ansätze zur Strukturierung der Politeia, denen diese Arbeit auch gefolgt ist. Canto-Sperber und Bresson stellen den revolutionären Charakter von Platons Philosophie in den Vordergrund, während Sayers behauptet, Platon sei ein konservativer Denker gewesen. Beide Hinweise sind auf ihre Weise gerechtfertigt. Auch diesem Verhältnis soll auf die Spur gegangen werden. Karl- Wilhelm Welwei verfasste ein einführendes Werk, in dem die wichtigsten allgemeinen Thesen über „Die griechische Polis“ dargestellt und anhand der Fallbeispiele Athen und Sparta vertieft werden. Ebenfalls von einführendem Charakter ist Robert Garlands „Daily Life of the Ancient Greeks“, das einen ersten Überblick über Einzelthemen wie Musik, Totenkult, Kriegswesen und vieles mehr bietet. Weiterführende und speziellere Literatur zu den einzelnen Themen ist der Literaturliste zu entnehmen. Die Informationen zur Person Platons, und damit zu folgendem Abschnitt wurden hauptsächlich aus Michael Bordts „Platon“ entnommen.
1.2 Platon und sein Athen
„Wenn man an der Biographie eines Menschen interessiert ist, der vor über 2400 Jahren geboren worden ist, dann wird man sehr schnell mit der Tatsache konfrontiert, dass es kaum möglich ist, ein auch nur annährend vollständiges Bild über sein Leben, geschweige denn seinen Charakter und seine Persönlichkeit, zu gewinnen. Das ist auch im Falle Platons nicht anders“[7]. Michael Bordt schätzt im Wesentlichen zwei Quellen als verlässlich ein. Zum einen den so genannten siebten Brief, der möglicherweise von Platon selbst, auf jeden Fall aber von einem Kenner Platons verfasst wurde. In ihm erfährt der Leser „einiges über Platons Motivation, sein Leben der Philosophie zu widmen, sowie über drei Reisen, die ihn nach Sizilien geführt haben“[8]. Zum Anderen wären da die Platonbiographien, „die teilweise schon unmittelbar nach Platons Tod geschrieben worden sind.“[9] Man weiß zum Beispiel, dass Aristoteles eine solche verfasst hat. Keine der Biographien sind aber im Original erhalten und so muss man sich auf Werke aus späterer Zeit stützen, in denen eine Originalbiographie zitiert wird[10]. Sie geben Aufschluss über Platons Familie und einen „Einblick in die philosophische Schule, die Platon gegründet hat“[11]. Die meisten Platonbiographien sind von Freunden oder späteren Bewunderern Platons verfasst worden, weshalb sie mit quellenkritischer Vorsicht zu genießen sind. Einiges kann aber mit relativ großer Sicherheit über sein Leben gesagt werden.
Beginnen wir mit den Lebensdaten. Platon wurde wahrscheinlich zwischen dem Sommer 428[12] und dem Sommer 427 entweder in einem reichen Athener Stadtviertel oder auf der Insel Ägina[13] geboren[14] und starb im Jahre 347 womöglich bei einem Hochzeitsmahl. Er war „der jüngste Sohn einer bekannten und reichen Familie der Athener Oberschicht“[15]. Er hatte neben einer jüngeren Schwester zwei ältere Brüder, Glaukon und Adeimantos. Beide finden sich als fiktive Gesprächspartner des Sokrates in Platons Politeia wieder. Über die Familie seines Vaters Ariston ist wenig bekannt. Einige Mitglieder der Familie seiner Mutter allerdings könnten für Platons Lebensweg und Gedankenwelt von größerer Bedeutung gewesen sein. Platons Onkel mütterlicherseits, Charmides, und der Cousin seiner Mutter, Kritias, spielten in der athenischen Politik zeitweise eine führende Rolle. Dazu aber später mehr. Von seinen aristokratischen Eltern hatte Platon umfangreiches Wissen über das öffentliche Leben, die Institutionen und die kultischen Feste der Polis Athen. Ab dem Alter von sieben Jahren wurde er gemäß den Gebräuchen von Lehrern in grammatikē, gymnastikē und mousikē ausgebildet. Ab dem Alter von 20 Jahren (ca. 407) hat er sich einer Gruppe von jungen Männern um Sokrates angeschlossen, der damals durch Athen zog und Bürger in philosophische Gespräche verwickelte. Der Einfluss dieses berühmtesten Lehrers auf Platon muss enorm gewesen sein. Michael Bordt behauptet, man könne „Platons eigene Philosophie als den Versuch verstehen, den Fragen und Problemen, die Sokrates aufgeworfen hat, philosophisch konsequent nachzugehen“[16]. Im Jahre 399 wurde Sokrates hingerichtet. In der Zeit danach hat Platon möglicherweise Militärdienst geleistet. In den Jahren 389-387 tätigte er seine erste Sizilienreise, bei der er einige einflussreiche Pythagoräer kennen lernte, deren Gedanken über die menschliche Seele ihn beeinflusst haben. Auch schloss er Freundschaft mit Dion, dem jungen Schwager des Tyrannen Dionysios I. von Syrakus. Platons Einfluss auf die Gesinnung Dions beunruhigte den Tyrannen so sehr, dass Platon die Insel unter wohl dramatischen Umständen verlassen musste. Seine zweite Sizilienreise[17] fand eventuell mit der Motivation statt, über seinen Freund Dion Einfluss auf den Nachfolger Dionisyos I., Dionysios II. zu nehmen. Michael Bordt weist aber auf Platons im 7. Brief geäußerten Zweifel an einem solchen Erfolg hin und vermutet, dass Platon eher aus Solidarität zu seinem Freund Dion erschienen ist. Auf jeden Fall wurde Platon im Laufe der beiden späteren Sizilienreisen faktisch[18] gefangen gesetzt und konnte nur durch die Hilfe einflussreicher Freunde, darunter besagte Pythagoräer, entkommen. Da Platon immer wieder Bezug nimmt auf die seiner Meinung nach korrumpierten Verhältnisse in Syrakus, kann man fast von Platons Syrakus-Trauma sprechen. Der Mut und die Hoffnung, die Platon in seine Syrakusaffäre investiert hat und die Erlebnisse und Enttäuschungen, mit denen er sich aus ihr zurückziehen musste, rechtfertigen diesen Ausdruck. Kurz nach der ersten Sizilienreise setzte Platon sein großes Vermögen ein, um seine eigene Schule, die Akademie, aufzubauen. Sie ist Ausdruck seiner eigenen Art, auf die Gesellschaft Einfluss zu nehmen, nämlich durch Lehren und Unterrichten und, nicht zuletzt, durch Philosophieren. Das Beispiel des Aristoteles, dessen Ansichten teilweise stark von denen Platons abwichen, zeigt, dass es in der Akademie nicht darum ging, „die Schüler dogmatisch auf ein bestimmtes System festzulegen, sondern philosophische Probleme durchaus auch kontrovers zu diskutieren“[19]. Platon, der im Alter von 81 Jahren in Athen starb, wurde auf dem Gelände seiner Schule beerdigt. Wahrscheinlich hatte er keine eigene Familie gegründet und hinterließ keine Nachkommen.
Kenntnisse über die Verhältnisse in Athen um Platons Lebenszeit sind notwendig, um seine Philosophie zu verstehen, da vieles auf einer Kritik an diesen Verhältnissen beruht. Im Text wird immer wieder auf einzelne Aspekte eingegangen werden. Deshalb folgt an dieser Stelle nur eine Einführung. In dem halben Jahrhundert vor Platons Geburt hatte die athenische Demokratie unter Perikles ihren Höhepunkt erreicht. Die Entscheidungsgewalt des Demos galt nahezu unangefochten im Bereich von Politik und Rechtsprechung[20]. Es gab kaum noch Zensusbestimmungen für die Ämter, die größtenteils durch das Losverfahren verteilt wurden. Welwei schätzt, dass von den 40.000 bis 50.000 athenischen Vollbürgern etwa 5000-6000 regelmäßig an den Volksversammlungen teilnahmen[21]. Das Perikleische Zeitalter brachte einen massiven Ausbau der demokratischen Institutionen. Zu jener Zeit gelang es Athen, neben Sparta, zur führenden Macht im Hellenischen Raum aufzusteigen. Ein großer Teil der Prunkbauten auf der Akropolis entstammt dieser Zeit. Auch die Befestigung Athens und des Peiraieus sowie der Bau der langen Mauer wurden vorangetrieben. Wirtschaftliche Kontakte bestanden fast zum gesamten Mittel- und Schwarzmeerraum und ermöglichten Athen eine vollständige Güterversorgung über die See. Der Niedergang begann sich bereits abzuzeichnen, als Athen im Jahre 431, also etwa vier Jahre vor Platons Geburt, endgültig mit Sparta aneinander geriet, und der Peloponnesische Krieg ausbrach. Nach der ersten großen Katastrophe für Athen, der großen Pest im Jahre 430, der ein Drittel der Athener Bevölkerung zum Opfer fiel, und Perikles’ Tod ein Jahr später ging es mit der Demokratie bergab. Verleumderische Prozesse, um politische Gegner kaltzustellen, wurden immer mehr zum gängigen Mittel der Politik. Noch bevor Platon 25 Jahre alt war, hatte er vier Regime- und Systemwechsel erlebt. Der dritte davon fand im Jahre 404 kurz nach der Kapitulation Athens statt. Die „30 Tyrannen“ brachten mit Hilfe Spartas und brutaler Methoden die Macht an sich. An der Spitze der 30 stand Kritias, Onkel von Platon, „Schüler des Sokrates und zugleich skrupelloser Adept sophistischer Lehren vom Recht des Stärkeren“[22]. Man schätzt, dass allein während des Umsturzes der 30 Tyrannen etwa 1500 Bürger Todesopfer von politischen Prozessen wurden[23]. Und das alles während Platon mit seinem geschätzten Lehrer Sokrates durch die Straßen Athens tingelte und über das wahre, gute und gerechte Leben philosophierte.
Es sollte nun verständlich sein, warum Platon zögerte, als Kritias ihn 404 aufforderte, an der Regierung der 30 teilzunehmen. Stattdessen widmete Platon sein Leben dem Philosophieren. Er hatte das Scheitern aller bekannten politischen Systeme beobachtet und musste nach neuen Wegen suchen, um der Gesellschaft zu helfen. Die Hinrichtung des Mannes, der für Platon höchste moralische Integrität verkörperte, muss für ihn das Fass zum Überlaufen gebracht haben. Die Niederlage Athens gegen Sparta spielte ebenfalls eine Rolle. Obwohl Platon Sparta gleichfalls verachtete, muss ihn die scheinbare[24] Stabilität des Staates und die legendäre Genügsamkeit, Abhärtung und Professionalität der Spartanischen Krieger beeindruckt haben.
1.3 Begriffe
Nachdem der persönliche und gesellschaftliche Hintergrund Platons in seinen Umrissen beleuchtet wurde, ist es nun an der Zeit, einige Begrifflichkeiten zu klären, die für die nachfolgende Untersuchung von größerer Bedeutung sind:
Polis: Da dieser Begriff ein Teil des Titels und Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist, wird er als erstes und am ausführlichsten kommentiert: Die geläufigsten Übersetzungen für diesen Begriff lauten Stadt und Stadtstaat. Aber weder der Begriff Stadt noch der Begriff Stadtstaat im heutigen Sinne sind auf die antiken Verhältnisse anwendbar. Am besten ist es, sich zu verdeutlichen, wofür die Griechen den Begriff benutzten. Während das Wort ursprünglich die befestigte Höhensiedlung bezeichnete, wurde er bereits seit dem 8. Jahrhundert auf urbane oder präurbane Siedlungen angewandt, die meistens im Schutz eines Burgberges lagen[25]. „Solche Orte entwickelten sich in großer Zahl zu selbständigen staatlichen Einheiten, auf die dann der Polisbegriff im klassischen Sinne angewendet wurde“[26]. Man kann also sagen, dass die Polis zunächst aus dem militärischen Schutzbedürfnis einer Gemeinschaft entsteht. Im hellenischen Raum existierten einige hundert Gemeinwesen, die mit dem Begriff Polis bezeichnet wurden. Orte des gleichen Siedlungstyps, die nicht den inneren Aufbau der griechischen Variante besaßen, wurden allerdings nicht als Polis bezeichnet. Für die Definition der Polis müssen also der physische Aspekt von Siedlungstyp und -ort und der politische Aspekt der spezifischen Organisation des Gemeinwesens gleichsam miteinbezogen werden. Die politische Organisation beruhte auf dem Nomos, den Welwei als „Norm der Tradition, ergänzt durch Beschlüsse der Bürgergemeinschaft“[27] und „Inbegriff der gesamten geschriebenen und ungeschriebenen Rechts- und Ordnungsvorstellungen“[28] definiert. Als Herrschaftsträger der Polis galten jeweils die vollberechtigten Bürger[29]. Oligarchie und Demokratie waren zunächst nur verschiedene Ausprägungen der gleichen Verfassungsform, die sich im Wesentlichen darin unterschieden, welche Personengruppen als Vollbürger an den politischen Entscheidungen teilnehmen durften[30]. Die meisten Poleis waren nicht mehr als 1000 Bürger groß und umfassten „häufig nicht einmal 100 km²“[31]. Athen und Sparta waren die großen Ausnahmen. Athen umfasste vor Ausbruch des Peloponnesischen Krieges 2650 km² und 40.000- 50.000 Vollbürger, während Sparta etwa 8400 km² und 4000 Vollbürger besaß[32]. Die Zahl der Einwohner inklusive Sklaven, Frauen, Freie ohne Bürgerrecht und Fremde mit ständigem Wohnsitz war natürlich wesentlich, im Falle Athens, fünfmal höher. Die Tatsache, dass sich die Athener hoi Athenoi (die Athener) und beispielsweise die Korinther hoi Korinthioi (die Korinther) und nicht abstrakt Athen oder Korinth nannten, zeigt, dass eine Vorstellung von einem abstrakten Gebilde, einer Institution, die man Staat oder Stadtstaat nennen könnte, in der Antike fehlte. Es ist also wenig sinnvoll, den Begriff Polis überhaupt zu übersetzen. An Stellen im Text, wo aus einer deutschen Politeia- Ausgabe zitiert wurde, wird der Begriff aber stets mit „Stadt“ wiedergegeben.
Politeia: Bedeutet allgemein ausgedrückt das Verhältnis des Bürgers zur Gemeinschaft. Das Wort ist von Polites (Bürger) abgeleitet und bedeutete ursprünglich Bürgerrecht. Ab etwa 430 wurde der Begriff für die eigentliche institutionelle Organisation der Polis verwendet.[33] Aber auch die Gesamtheit der mit politischen Rechten ausgestatteten Bürger konnte mit Politeia bezeichnet werden. Der Titel von Platons Werk Politeia wurde ins Deutsche meist mit „Der Staat“ oder „Vom Staate“ übersetzt. Im Englischen wird meist „the Republic“ verwendet. Die modernen Vorstellungen vom Staat sind allerdings so weit entfernt von den griechischen Verhältnissen, dass eine Übersetzung nicht statthaft ist. Eine Übersetzung des Begriffs Politeia soll deshalb durchweg vermieden werden. Sayers mutmaßt, dass, wenn Platon in unserer Zeit geschrieben hätte, er sein Werk society (Gesellschaft) genannt hätte[34].
Gerechtigkeit: Um der Gerechtigkeit auf die Spur zu kommen, beginnt Sokrates in der Politeia erst mit der Beschreibung seiner Polis. Im korrumpiertesten Sinne wird Gerechtigkeit heutzutage oft als Euphemismus für Rache verwendet. Im Altgriechischen umfasst das Wort das gesamte Spektrum moralischer Verhaltens- und Denkweisen.
Utopie: Platons Politeia wird heute als Idealstaatsutopie bezeichnet. Der Begriff Utopie bedient sich zwar der griechischen Sprache, wurde aber erst zu Beginn der Neuzeit geprägt. Der Begriff ist heutzutage total korrumpiert. So trägt er im zur Zeit gängigen Sprachgebrauch Implikationen von Träumerei und Spinnerei in sich. Karl Marx und George W. Bush werden gleichermaßen als Utopisten bezeichnet. Das Stigma der Undurchführbarkeit sogar des Wahnes lastet auf dem Begriff Utopie. Der Satz: „Das ist doch utopisch!“, wird als Totschlagargument für politische Gegner verwendet. Im Englischen kam noch eine sprachliche Verwechslung hinzu, um das Chaos um den Begriff zu erweitern: Wegen der ähnlichen Aussprache wurde Utopia („kein Ort“) mit Eutopia (guter Ort) verwechselt. In der Folge entstand in der Moderne die Literaturgattung der Dystopias (negativer Ort) als Kontrast zu den scheinbar als totalitär entlarvten Utopias. Um den Knoten zu entwirren, ist es notwendig, an den Anfang des Fadens zu gehen. Diesen findet man natürlich bei Thomas Morus, einem hohen Staatsbeamter unter den englischen Königen Heinrich VII. und VIII.[35]. Auf sein Werk Utopia[36] geht der Begriff zurück und wurde rückdatiert auf die Werke anderer mehr und weniger berühmter Staats- und Gesellschaftsdenker, die bis zu 2000 Jahre vor Morus gelebt und gewirkt haben. Thomas Mores Werk ist die literarische Erzählung einer angeblich realen Insel mit dem Namen Utopia. Nach einer strengeren Definition wäre Platons Werk eigentlich keine Utopie, da es keine Erzählung ist, die auf romanhafte Weise von einem „realen“ Ort berichtet. Platon geht wesentlich abstrakter vor. Seine ideale Gesellschaft hat keinen physischen Ort. Es ist allerdings gängig, die Definition ein wenig aufzuweichen, sodass sogar Marx und Bush in ihr Platz haben. Platon gilt nun als wichtigster Vorreiter aller Utopien.
[...]
[1] Ein Widerspruch in sich.
[2] Marx hätte sich gegen die Bezeichnung Utopie wahrscheinlich auf gewohnt polemische Weise gewehrt.
[3] Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1) 7.Aufl. Tübingen 1992.
[4] Platon Politeia 2,369b – 3, 412a.
[5] Vgl. Popper.
[6] Finley, Moses I.: Antike und moderne Demokratie, 2. Auflage Stuttgart 1987, S.100.
[7] Bordt, Michael: Platon, Freiburg; Basel; Wien 1999. S.11.
[8] Bordt. S.12.
[9] Bordt. S.12.
[10] Darunter der so genannte Academicorum Index des Epikureers Philodemos aus dem 1. Jhd. V. Chr. Und ein Platonkapitel Leben und Meinungen berühmter Philosophen des Diogenes Laertios. Vgl. Bordt, Michael: Platon, Freiburg 1999. S.12.
[11] Bordt, Michael: Platon, Freiburg; Basel; Wien 1999. S.12.
[12] Alle Jahreszahlen in dieser Arbeit sind v. Chr.
[13] Die Insel Ägina gehörte zu Athen. Sie befindet sich südlich der Stadt.
[14] Bordt, Michael: Platon, Freiburg; Basel; Wien 1999. S.13.
[15] Bordt, S.13.
[16] Bordt, S.18.
[17] Platon war zu diesem Zeitpunkt fast sechzig Jahre alt.
[18] Offiziell wurde er „eingeladen“ zu bleiben. Die Details sind dem 7.Brief zu entnehmen.
[19] Bordt, Michael: Platon. Freiburg; Basel; Wien 1999. S. 31
[20] Welwei, Karl- Wilhelm: Die griechische Polis. 2.Aufl. Stuttgart 1998.
[21] Eine große, Zahl bedenkt man die Schwierigkeiten. Nicht jeder Bürger war von seiner Arbeit abkömmlich und die Reise zu den Versammlungsorten war oft beschwerlich. Dies ist einer der Gründe, warum die meisten Poleis nur ein relativ kleines Territorium besaßen.
[22] Welwei, Karl- Wilhelm: Die griechische Polis. 2. Auflage Stuttgart 1998. S.241.
[23] Finley, Moses I.: Antike und moderne Demokratie. 2. Aufl. Stuttgart 1987. S.93.
[24] In der Realität lebten die Spartaner unter dauernder Angst vor Helotenaufständen.
[25] Welwei, Karl- Wilhelm: Die griechische Polis. 2. Aufl. Stuttgart 1998. S.9.
[26] Welwei S. 9.
[27] Welwei S.11.
[28] Welwei S.11.
[29] ebenda.
[30] ebenda.
[31] Welwei S.10.
[32] Zu Beginn der Perserkriege waren es noch etwa 8000 Vollbürger gewesen.
[33] Welwei. S.11
[34] Sayers, Sean. S. ix.
[35] Heinrcih VIII. ließ More aus politischen Gründen hinrichten.
[36] Der volle Titel lautet: Ein wahrhaft goldenes Büchlein von der besten Staatsverfassung und von der neuen Insel Utopia.