Das Motiv des Künstlichen Menschen in der Literatur


Referat / Aufsatz (Schule), 2000

12 Seiten


Leseprobe


1) Einleitung

Es gehörte schon immer zu den menschlichen Wunschträumen, einen Menschen auf künstlichem Weg herstellen zu können. Die Herausforderung an seinen Er-findungsgeist läßt den Menschen aber nur zu oft seine große Verantwortung ver-gessen. Er versucht zu beweisen, daß der Zeugungsakt nicht unbedingt zur Schaf-fung eines menschenähnlichen Wesens notwendig sei und man diesen durch einen rein intellektuellen und künstlerischen Vorgang ersetzen könne. Er befriedigt gleich-zeitig sein Machtstreben, indem er sich einen Untertan und Diener erschafft.

Doch das Motiv beinhaltet auch die Angst, das künstliche Geschöpf würde seinem Schöpfer überlegen werden und ihn schließlich überwältigen. Trotz anfänglicher Erfolge enden daher viele Erzählungen um die Herstellung eines künstlichen Menschen mit dem Tode. Meist sehen sich die Schöpfer gezwungen, ihr unkontrollierbares Werk zu zerstören, oder das erschaffene Wesen vernichtet sich selbst.

Helmut Swoboda1 unterteilt die Erschaffung eines künstlichen Menschen in drei Linien:

1) Die magisch-mythische Erschaffung, die direkt an die Schöpfungsmythen anknüpft. Die Schaffung des ersten Menschen, die meist durch göttliches Eingreifen zustande kommt, nachzuvollziehen, ist das Ziel der Hauptdarsteller in vielen Erzähl-ungen. Der Golem (hebräisch: ,,formlose Masse") beispielsweise besteht aus Ton und wird mittels mittelalterlicher Buchstabenmystik zum Leben erweckt.

2) Die biologische Linie vom Homunculus bis zum gentechnisch konstruierten oder vervielfältigten Menschen. Sie behandelt die Fragen nach dem ,,Geheimnis des Lebens" und damit auch die Fähigkeit des Empfindens, das Bewußtsein und die Seele.

3) Die technische Entwicklung vom mechanisch betriebenen Automaten bis zur computergestützten Künstlichen Intelligenz. Hier droht mit der mechanischen bzw. elektronischen Variante jeglicher transzendenter Rest getilgt zu werden.

2) Die klassische Antike

In der damaligen Literatur wird der künstliche Mensch meist als durch einen künstlerischen Akt einem natürlichen Vorbild nachgebildeten Androiden beschrieben, der aber erst von (Halb-) Göttern belebt werden kann. Die Mechanik wurde zu dieser Zeit nicht als auf Naturgesetzen beruhend angesehen, sondern stellte gewissermaßen einen ,,Trick" zur Überlistung derselben dar. Deshalb gerieten mechanische Darstellungen von Menschen, wie etwa das Automatentheater des Heron von Alexandrien, nie in den Verdacht, den Menschen an sich ersetzen zu wollen.

Nach Ovid2 formte der Titan Prometheus aus Lehm und Wasser Menschen und belebte sie. Der Ursprung dieses Mythos liegt wahrscheinlich in einer Epoche, in der das Töpfern eine wesentliche Kulturtechnik darstellte. Schon in dieser frühen Schöpfung eines Menschen kann man das Muster erkennen, nach dem die Erzähl-ungen von der Erschaffung eines künstlichen Menschen immer auf der am weitesten fortgeschrittenen und angesehensten Technik ihrer Zeit beruhen.

Als ältester Hersteller von Automaten in der abendländischen Literatur gilt Hephaistos, der hinkende Gott der Schmiede. Homer beschreibt die goldenen Dienerinnen, die den Krüppel stützen, so:

,,Er hinkte sodann aus der Tür und Jungfrauen stützten den Herrscher, goldene, Lebenden gleich, mit jugendlich reizender Bildung; diese haben Verstand in der Brust und redende Stimme, haben Kraft und lernten auch Kunstarbeit von den Göttern." 3

Beim Thema Sprache (sie haben redende Stimme) wird man nicht nur an die Gelehrten des Mittelalters, denen die Legende die Herstellung sprechender Köpfe zuschreibt, erinnert, sondern auch an die Bemühungen heutiger Wissenschaftler, eine sprachliche Kommunikation zwischen Computer und Mensch zu ermöglichen. Die Lernfähigkeit (lernten auch Kunstarbeit) wird in der Literatur nur äußerst selten angesprochen, so komplex ist das Problem, prinzipiell die Voraussetzungen für Lern-vorgänge zu schaffen, auch heute noch. Schließlich nennt der Dichter noch den Verstand (diese haben Verstand), also die Fähigkeit, Situationen einschätzen und angemessen darauf reagieren zu können. Die Schwierigkeit, Verstandesarbeit von technischen Systemen ausführen zu lassen, kann man deutlich in der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz erkennen.

In Ovids Metamorphosen scheint die Liebe als beseelende Macht auf. Dort ist die Rede von einem Künstler namens Pygmalion, der eine schöne Frauenstatue erschafft, in die er sich verliebt. Auf seine Bitte hin belebt die Göttin der Liebe, Aphrodite, die Statue.

Der erste Mensch, der Androiden hergestellt hat, soll Daidalos, der das menschliche Gegenstück zum Handwerkergott darstellt, gewesen sein. Dieser Übergang vom göttlichen zum menschlichen Schöpfer zeigt das wachsende Ver-trauen einer Kultur in die eigene technische Kompetenz und damit die Profanierung der Herstellung von Androiden. Die Schaffung von künstlichen Menschen ist jetzt nicht mehr allein den Göttern vorbehalten, sondern wird auch von gewöhnlichen Sterblichen praktiziert. Durch das Wegfallen des künstlerischen Schaffensvorganges - es sind nun Handwerker und keine Künstler, die Lebendes erzeugen - werden in der Spätantike unerklärliche Zauberkräfte wirksam.

3) Das Mittelalter

Im Mittelalter gab es drei gängige Vorstellungen, wie man Dinge oder Kunstwerke beleben könnte. Entweder wird die Belebung durch die dem Kunstwerk innewohnende eigene Lebenswahrheit möglich, oder durch Zauberkraft. Es gab auch eine Vorstellung, in der die Natur eine Rolle spielt: die Sage von der Alraun-Wurzel. Man glaubte, eine Wurzel beleben zu können, wenn man sie unter einem Galgen, wo ein ,,reiner" junger Mann gehenkt wurde, zu einer bestimmten Zeit ausgräbt. Dieses Motiv findet man in Achim von Arnims Werk ,,Isabella von Ägypten".

Vom 14. bis 17. Jahrhundert war in Deutschland die Golem-Sage als Erzählung von der Schaffung eines künstlichen Menschen weit verbreitet. Sie entstand vermutlich in den Jahren zwischen 200 und 500 nach Christus. Ein Rabbi belebt einen Lehmklumpen oder ein Stück Holz und schafft sich so einen Diener. Durch das Wort Anmanth (Wahrheit), das man auf seine Stirn schreibt, wird er zum Leben er-weckt. Doch der Golem wächst schnell und übertrifft bald seinen Meister an körperlicher Kraft. Man kann ihn nur vernichten, indem er die ersten zwei Buchstaben des Wortes Anmanth wieder löscht, sodaß nur die Silbe Manth (Tod) übrigbleibt.

Oft scheint auch das Motiv der sogenannten Statuenverlobung auf: Ein junger Mann ist von einer Venusstatue so fasziniert, daß er ihr seinen eigenen Ehering ansteckt und somit die Statue zum Leben erweckt.

In der Literatur des Mittelalters ist oftmals die Rede von ,,sprechenden Köpfen", und ihre Erbauer waren die gelehrtesten Männer dieser Zeit. Diese Köpfe hatten der Legende nach die Funktion von Beratern und standen diesbezüglich in der langen Tradition der Orakel in Form von Büsten und steinernen Standbildern. Sie wurden jedoch nicht mehr von Göttern belebt, sondern durch menschliche Willensäußer-ungen und Leidenschaften. Als Konstrukteure solcher Köpfe werden Albertus Magnus (um 1200 bis 1280) und Roger Bacon (um 1219 bis 1292) genannt.

Von Thomas von Aquin wird behauptet, daß er den Androiden von Magnus zerschlagen habe. Dies ist vielleicht der erste literarische Ausdruck für die Angst des Menschen vor einem künstlichen Abbild. Der Überlieferung nach sollen diese Köpfe unter Zuhilfenahme von magischen und astrologischen Praktiken hergestellt worden sein. Sie dokumentieren damit die Idee, daß das menschliche Schicksal eng mit der kosmischen Bewegung verbunden sei. Astrologie, Alchimie und Magie galten damals zwar als in gewisser Weise verwerflich, da der Mensch glaubte, damit über die Grenzen der Offenbarung hinaus forschen zu können, doch sie genossen als ernstzunehmende Wissenschaften ähnliches Ansehen wie heutzutage die Astronomie oder die Chemie. Im Motiv der sprechenden Köpfe stellte man sich zum ersten Mal die Möglichkeit vor, eine androide Mechanik zu konstruieren. Das ist die Basis für eine Entwicklung, die im Zusammenwirken von literarischer Phantasie und technischem Fortschritt eine wichtige Rolle für die Erklärung des Menschen spielt.

Im 16. Jahrhundert galt das Nachahmen des Schöpfers nicht mehr als verwerflich; Paracelsus rühmte sich sogar, Menschen aus Pferdedung und menschlichem Samen hergestellt zu haben. Hier kann man eine Parallele zu Goethes Faust II erkennen: Faust, der ein Art- und Zeitgenosse das Paracelsus ist, erschafft Homunculus, das Menschlein aus der Retorte.

4) Die Aufklärung

Eine Äußerung von René Descartes (1596 bis 1650) zeigt die Änderung der Einstellung zur Mechanik deutlich:

,,Und es ist sicher, daßalle Regeln der Mechanik zur Physik gehören, dergestalt, daßalle Dinge, die künstlich sind, damit natürlich sind."

Ganz im Gegensatz zur Antike zeigt sich hier die Auffassung der Mechanik als etwas Natürliches, da es auf den gleichen Prinzipien aufbaut, die auch der übrigen Natur zugrunde liegen. Die Konstrukteure werden nun als ,,imitator creatoris", als Nachahmer des Schöpfers, angesehen.

Die Automaten der damaligen Zeit waren meist so konstruiert, daß man auch einen Blick ins Innere der Maschine werfen und sich davon überzeugen konnte, daß sich hier nichts Unerklärliches oder gar Magisches abspielte, sondern daß der Androide auf nichts Anderem als dem Mechanismus von Zahnrädern basierte.

Descartes zum Beispiel stellte sich den Menschen als eine Kombination aus einem Automaten und einer ,,res cogitans" (,,denkende Sache") vor. Der Unterschied von einem Menschen und einem Automaten sei seine ,,ratio" und die Fähigkeit, anderen seine Gedanken mitzuteilen. Der französische Arzt Julien Offray de la Mettrie hingegen verwirft den Dualismus von Descartes und beschreibt den Menschen von Grund auf als Maschine, als ,,Uhr, die sich selbst aufzieht"4.

Im 18. Jahrhundert träumte man von einem geradlinigen Fortschritt, der es ermöglichen sollte, daß das Ideale und Schöne als bloße technische Verfeinerung des Materiellen zu betrachten wäre. Man glaubte, die ganze Welt mit den Prinzipien der Mechanik erklären zu können, die damals gerade zu einer mathematisch berechenbaren Wissenschaft geworden war. Es schien möglich, das Lebendige und das Mechanische einander anzunähern:

,,Das große Buch vom Menschen als Maschine wurde gleichzeitig auf zwei Registern geschrieben: auf dem anatomisch-metaphysischen Register, dessen erste Seiten von Descartes stammen und das von Medizinern und Philosophen fortgeschrieben wurde; und auf dem technisch-politischen Register, das sich aus der Masse von Militär-, Schul- und Spitalsreglements sowie aus empirischen und rationalen Prozeduren zur Kontrolle oder Korrektur der Körpertätigkeiten angehäuft hat." 5

E. T. A. Hoffmann: Die Automate

Der zentrale Android in dieser Erzählung Hoffmanns, die 1814 entstand, ist ein orakelnder, automatischer Türke. Zwei Freunde, Ludwig und Ferdinand, versuchen, hinter sein Geheimnis zu kommen. Der Automat antwortet auf Fragen der Besucher in einer Art, die von einem Einblick ,,in die Tiefe des Gemüts des Fragenden" zeugte. Doch die beiden Freunde glauben nicht, daß der Mechanismus der Grund für die Fähigkeiten der Figur sei und haben eine eigene Theorie. Sie spekulieren über die Möglichkeit, daß ein menschliches Wesen durch ,,verborgene und unbekannte akkustische und optische Vorrichtungen" mit dem Automaten verbunden sei.

Die Fähigkeit, in das Innere der Fragenden zu sehen, erklären sich die beiden so:

,,Wie, wenn es dem antwortenden Wesen möglich wäre, sich durch uns unbekannte Mittel einen psychischen Einflußauf uns zu verschaffen, ja sich mit uns in einen solchen geistigen Rapport zu setzen, daßes unsere Gemütsstimmung, ja unser ganzes inneres Wesen in sich auffasst..."

Es ist noch an mehreren anderen Stellen, auch in der Novelle ,,Der Magnetiseur", die Rede von dem ,,geistigen Rapport", wenn zwei Menschen seelisch miteinander in Kontakt treten. In Gotthilf Heinrich Schuberts ,,Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft" wird dieser Rapport beim ,,Magnetisieren", eine Art Hypnoseverfahren, als ,,tiefe Sympathie" bezeichnet:

,,Die magnetisch Schlafenden wissen, vermöge dieser Sympathie, um alle Bewegungen, welche der Magnetiseur selbst hinter ihren Rücken vornimmt, ja es scheint zuweilen, als ob sie die tiefsten Gedanken desselben errieten."

Diese außergewöhnlichen Fähigkeiten, die Magnetisierte zeigten, bestärkten die Romantiker in ihrem Glauben an eine über der normalen Erfahrungswelt liegende Realitätsebene.

Obwohl die Automaten in dieser Novelle unselbständig und an sich harmlos sind, werden sie durch die Kommunikation von Mensch zu Automat dem Bereich des Lebendigen angenähert. Mit der Äußerung Ludwigs, der den Türken als ,,wunderliche lebendigtote Figur" bezeichnet, zeigt Hoffmann nicht nur die Annäherung des Automaten an den Menschen, sondern auch die Annäherung des Menschen an den Automaten6. Die romantische Naturphilosophie versuchte, Physik und Metaphysik zu einer einzigen Wissenschaft zu verbinden. In Hoffmanns Werken verschmelzen die der Physik entsprechende Mechanik und die Metaphysik in Form von ,,magischen Praktiken" im Motiv des Künstlichen Menschen zu einer technisch-magischen Mischung. Hoffmann zeigt hier reale naturwissenschaftlich-technische Leistungen seiner Zeit und die Auswirkungen dieser fortgeschrittenen Technologie auf die mit ihr konfrontierten Menschen. Damit zeichnete er das Grundmuster für die spätere Science-Fiction-Literatur vor.

5) Die Romantik

Das Bürgertum der Romantik glaubte nicht mehr daran, daß die Mechanik menschenähnlich werden könnte. Diese Vorstellung erschien ihm eher als ein Alptraum und es legte Wert darauf, sich von den Maschinen zu unterscheiden. Die Technik rief in den Menschen nicht mehr Bewunderung, sondern Angst hervor. Auch der alte Topos vom ,,theatrum mundi", dem Leben als Theater, hatte sich verändert. Während er früher die Pflicht des Menschen ausdrücken sollte, seine ihm vom Schicksal zugedachte Rolle möglichst gut zu spielen, sah man es später als Zwang an und betrachtete sich selbst eher als Marionette denn als Schauspieler. Diese Überlegungen führten dazu, daß man begann, sich auch Gedanken über die Freiheit des künstlichen Menschen zu machen, den man als Pendant der eigenen Situation empfand.

J. W. von Goethe: Faust II

In J. W. von Goethes Werk, das 1832 entstand, läßt der Dichter Faust und Wagner auf alchimistischem Wege ein künstliches Männchen, den Homunculus, erschaffen. Mittels ,,lebendiger Kohle" (Vers 6825) - Kohlenstoff, das Grundelement für alle organischen Verbindungen - wird der künstliche Mensch belebt. Wagner behauptet, daß dieser nur durch reines Denken entstanden sei und daß der Zeugungsakt in Zukunft den Tieren vorbehalten sein werde. Man kann deutlich seine Aversion gegen das natürliche Entstehen und seine Idealisierung des Künstlichen erkennen.

Homunculus ist gleich nach seiner Erschaffung gebildet und erwachsen, aber er hat weder Leib noch Seele und kann nur in seiner Glasphiole existieren. Er sucht das ,,Tüpfchen auf das i" (Vers 6994), das Wagner bei seinem Experiment nicht gelungen ist: die Körperlichkeit, die Homunculus zum Menschen machen würde. Das heißt, er will von seinem rein intellektuellen Dasein loskommen und zu einem organischen Lebewesen werden. Doch damit würde er seine unbegrenzte Bildungsfähigkeit einbüßen und, sobald er auf der Stufe des Menschen steht, die Goethe als die höchste ansieht, nicht mehr wandlungsfähig sein.

Im antiken Griechenland sucht Homunculus den Rat der beiden Naturphilosophen Anaxagoras und Thales. Anaxagoras vertritt die vulkanistische Weltanschauung, die Feuer und gewaltsames, plötzliches Entstehen als Grundlage der Welt ansieht, wogegen Thales ein Vertreter der neptunistischen Theorie ist, nach der alles allmählich aus Wasser entstanden ist. Die Grundanschauung von Anaxagoras gefällt Homunculus jedoch nicht, also folgt er Thales zum Meer, aus dem angeblich alles entstanden sei. Dort stoßen sie auf Galatee, die Liebesgöttin, an deren Muschelthron Homunculus, von der Urliebe Eros getrieben, absichtlich zerschellt. Der feurige Inhalt der Glasphiole ergießt sich in das Meer und symbolisiert so die höchste Vereinigung von Feuer und Wasser, den Urstoffen des Lebens. Diese Selbstzerstörung bedeutet nicht Homunculus' Tod, sondern einen Neuanfang, da für ihn nun die Möglichkeit besteht, sich mit der Natur in Richtung Mensch weiterzuentwickeln. Das künstliche Menschlein vereinigt sich mit der Natur, um von ihr wirklich belebt zu werden.

Der Philosoph Baudrillard nennt den Automaten zur Zeit der Aufklärung ,,eine Untersuchung der Natur, eine Untersuchung über die geheimnisvolle Existenz oder Nicht-Existenz der Seele". Angesichts der vermuteten oder auch befürchteten Automatenhaftigkeit des Geistes erhält die Androidenthematik in der Romantik gegen die Sachlichkeit der mechanistisch geprägten Aufklärung ihr Gewicht. In dieser besonderen Situation fand der automatische Android als unheimlicher Künstlicher Mensch Eingang in die Motivgeschichte der Literatur.

E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann

Die Angst des Schöpfers vor der Überwältigung durch sein Geschöpf ist deutlich in E. T. A. Hoffmanns Novelle ,,Der Sandmann" (1813/14) zu erkennen. Der Student Nathanael verliebt sich in einen weiblichen Androiden, einen Automat namens Olimpia, den sein Professor Spalanzani für seine leibliche Tochter ausgibt. In Wirklichkeit hat Spalanzani diese Puppe in Zusammenarbeit mit dem Advokaten Coppelius hergestellt, mit dem auch Nathanaels Vater alchimistische Experimente durchführte. Doch Nathanael verbindet mit Coppelius traumatische Erinnerungen, da er bei den Versuchen von ihm mißhandelt wurde:

,,Und damit faßte er mich gewaltig, daßdie Gelenke knackten, und schrob mir die Hände ab und die F üß e und setzte sie bald hier, bald dort wieder ein."

Hoffmann stellt sich hier eine Art von Modulbauweise des Menschen vor, bei dem die Glieder beliebig untereinander austauschbar sind. Eine ähnliche Vorstellung findet sich auch in Hoffmanns Geschichte ,,Der Magnetiseur":

,,Hat nicht ein anderer anatomischer Satan mich einmal zu seiner Lust wie eine Gliederpuppe auseinandergenommen und nun allerlei teuflische Versuche angestellt?

- Zum Beispiel wie es wohl aussehen würde, wenn mir aus dem Nacken ein Fußwüchse oder der rechte Arm sich zum linken Bein gesellte."

Mit der Wissenschaft der Anatomie versuchte man damals, durch das Zergliedern von Leichen Kenntnis von Lage und Funktion diverser Organe zu erlangen. Auch die Angst vor einem derart analytischen Zugriff auf den menschlichen Körper ist eines der grundlegenden Motive im ,,Sandmann".

Nathanael kauft von dem ,,Wetterglashändler" Coppola ein Fernglas, das er auf das seinem Zimmer gegenüberliegende Fenster richtet und mit seinem Blick die Androide belebt, die bisher nur bewegungslos dagesessen hatte:

,,Nun erschaute Nathanael erst Olimpias wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen erschienen ihm gar seltsam starr und tot. Doch wie er immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpias Augen feuchte Mondstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer lebendiger und lebendiger entflammten die Blicke."

Es handelt sich hier nicht um eine durch die Technik hervorgerufene Täuschung Nathanaels, sondern um eine Manipulation des Betrachters, der mit seinem ,,aktiven Sehstrahl" Verbindung zur Außenwelt aufnimmt. Das von Coppola hergestellte Perspektiv stellt sozusagen ein Mittel zur technischen Ankoppelung an Nathanaels optische Energie dar, die Olimpia erst ,,lebendig" macht. Das Licht wird nicht nur von Hoffmann als Trägermedium für seelische Austauschprozesse angesehen.

Indem Hoffmann dem Konstrukteur von Olimpia den Namen des bedeutenden Experimentalbiologen Spallanzani gibt, weist er darauf hin, daß er in der Biologie einen wesentlichen Bestandteil der Androidenthematik sieht.

In dieser Erzählung wird auch Hoffmanns Aversion gegen von Automaten praktizierten Tanz und von ihnen produzierte Musik deutlich. Er lehnt gerade das mechanisch-taktmäßige als Bewegungsideal für den Menschen ab:

,,Nathanael glaubte, sonst recht taktm äß ig getanzt zu haben, aber an der ganzen eigenen rythmischen Festigkeit, womit Olimpia tanzte und die ihn oft ordentlich aus der Haltung brachte, merkte er bald, wie sehr ihm der Takt gemangelt."

Zu Hoffmanns Zeiten wurden die Künstler immer offener ihrer Rolle entkleidet, die gesellschaftlichen Ideale zu formulieren. Die soziale Entwicklung wurde nahezu gleichgesetzt mit dem technischen Fortschritt. Daraufhin zeigten die Schriftsteller, wie die Menschen ihren Automaten immer ähnlicher werden. Die Puppe Olimpia steht für die Bürgerin Clara und ersetzt sie teilweise schon.

6) Das zwanzigste Jahrhundert

Es sind vor allem drei außerliterarische Ereignisse, die den Themenkomplex des Künstlichen Menschen entscheidend prägten und neue Sichtweisen sowohl in Bezug auf den Menschen als auch in der Einschätzung, was Technik leisten kann, eröffneten:

- Norbert Wiener führt mit der Kybernetik 1948 eine Theorie ein, die Regel-prozesse indifferent gegen das untersuchte System beschreibt, sei es ein biologischer Vorgang, das menschliche Verhalten oder das Funktionieren einer Maschine.
- John B. Watsons Gründung der behavioristischen Schule im Jahre 1913, die das Ziel verfolgt, die Psychologie in eine Naturwissenschaft umzuwandeln und das Verhalten des Menschen unter mechanistischer Perspektive zu erforschen. Das Bewußtsein wird bestenfalls als ein Komplex von automatischen Informationsver-arbeitungsstrategien angesehen.
- Konrad Zuse entwickelte zwischen 1934 und 1941 auf der Basis elektromechanischer Relais den ersten programmgesteuerten Rechenautomaten und legt damit den Grundstein für die moderne Computertechnologie und das Gebiet der technikgestützten Künstlichen Intelligenz.

Diese Entwicklungen waren die Basis für unzählige weitere Erzählungen über künstliche Menschen, Androiden und Roboter, vor allem in der englischsprachlichen Literatur.

Im 20. Jahrhundert wurde oft der Hauptfaktor des Motivs des Künstlichen Menschen angesprochen: die Seele. Der seelenlose Automat bittet seinen Schöpfer, ihm eine Seele zu geben, um endlich ein Mensch zu werden.

Durch die Erfindung des Computers und insbesondere der Künstlichen Intelligenz nahm die Bedrohung der Menschheit durch die Roboter Gestalt an. Ursprünglich als billige Arbeitskraft konstruiert, werden die Androiden zum Feind des Arbeiters, da sie ihn von seinem Arbeitsplatz verdrängen.

Bei Isaac Asimov lehnen sich die gefühllosen Androiden gegen den Menschen auf und kehren die Beziehung zueinander um: Die Roboter machen sich selbst zu den Herren über die Menschen.

In der modernen Science-fiction-Literatur spielt der Roboter eine wichtige Rolle in utopischen Staatsgebilden, oft unter großem Einsatz technischer Mittel und Horror-effekten.

Der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson (geb. 1936), der sich in seinen Werken mit philosophischen und sprachtheoretischen Problemen auseinandersetzt, formulierte die Konsequenz kybernetischer Überlegungen so:

,,Der symbolische Wert der Maschinen liegt darin, daßsie uns daran erinnern, daßunser eigenes Leben in einemähnlichen Sinn etwas simuliertes sein könnte wie das ihrige." 7

Literaturnachweis:

F. Wittig: Maschinenmenschen, Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 1997

L. Wawrzyn: Der Automatenmensch, Wagenbach Verlag, Berlin 1994

E. Frenzel: Motive der Weltliteratur, Kröner Verlag, Stuttgart 1999

[...]


1 Vgl. H. Swoboda: Der künstliche Mensch, München 1967

2 Vgl. Ovid: Metamorphosen, 2-8 n. Chr.

3 Vgl. Homer: Ilias, 18.418

4 Vgl. J. O. de la Mettrie: L'homme machine, 1748

5 Vgl. M. Foucault: Ü berwachen und Strafen, 1976

6 Siehe auch: Der Sandmann, S 9/ Zeile 27-30

7 Vgl. L. Gustafsson: Die Maschinen, 1967

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Das Motiv des Künstlichen Menschen in der Literatur
Hochschule
Real Centro Universitario Maria Cristina
Autor
Jahr
2000
Seiten
12
Katalognummer
V97092
ISBN (eBook)
9783638097673
Dateigröße
434 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Motiv, Künstlichen, Menschen, Literatur
Arbeit zitieren
Sabine Grossbauer (Autor:in), 2000, Das Motiv des Künstlichen Menschen in der Literatur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97092

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