Hilsenrath, Edgar - Nacht - Vergleichende Analyse der Romane "Nacht" und "Der Nazi & der Frisör" von Edgar Hilsenrath


Facharbeit (Schule), 2001

21 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. „Nacht“

1) Strukturanalyse

a) Zeitlicher Ablauf

b) Sprachverwendung

c) Erzählperspektive und -haltung

2) Handlung

a) Aufbau der Rahmenhandlung

b) Funktion der Religion

c) Frauenbild

d) Rolle des Helden

III. „Der Nazi und der Friseur“

1) Strukturanalyse

a) Zeitlicher Ablauf

b) Sprachverwendung

c) Erzählperspektive und -haltung

2) Handlung

a) Aufbau der Rahmenhandlung

b) Funktion der Religion

c) Frauenbild

d) Rolle des Helden

IV. Auswertung

V. Schluss

VII. Verzeichnis der verwendeten Literatur

VIII. Erklärung

I. Einleitung

Noch immer beschäftigt sich die deutsche Öffentlichkeit mit dem Komplex „Hitler- Zweiter Weltkrieg-Judenverfolgung und -vernichtung“. Wie bei der Diskussion um die Entschädigung tschechischer Überlebender des Holocaust durch Deutschland in diesem Sommer zu sehen war, ist diese Thematik keineswegs aufgearbeitet und noch lange sind nicht alle Fakten, diese Zeit betreffend, auf dem Tisch. Aber es gibt vor allem in der Literatur Ansätze dieses Sujet besser zu durchleuchten. Weil Hitler in seine Konzentrationslager auch Schriftsteller deportieren ließ, können wir als heutige Leser der in dieser Umgebung entstandenen Literatur vielleicht erahnen, wie und was damals vorging und an Einzelschicksalen ansatzweise nachvollziehen, welche Leiden von den Betroffenen durchlebt werden mußten, vorausgesetzt sie überlebten die Tötungsmaschinerien der Nationalsozialisten. Zu den Überlebenden gehört auch Edgar Hilsenrath, im folgenden EH genannt, dessen erste zwei Büchern diese Zeit zum Thema haben.

Der Ausspruch „Es [„Nacht“] ist der erste Roman, der mit der scheinheiligen philosemi-tischen Tradition bricht“1von ihm selbst und das Resümee „Mir scheint es fast undenkbar, daß der Schriftsteller Hilsenrath ohne die Traumata seiner Jugend auskommen kann“2, machen auf nachvollziehbare Weise deutlich, was der Autor mit seinen beiden ersten Büchern bewirken wollte und bewirkt hat: Zum einen möchte er der pauschalierenden Schwarz-Weiß-Malerei über die Juden in der bloßen Opferrolle entgegentreten, zum anderen versucht er mit dem Roman „Der Nazi und der Friseur“ (im folgenden immer „Nazi“ genannt) sowohl die eigene Odyssee nach dem zweiten Welt-krieg zu verarbeiten als auch die Oberflächlichkeit und Naivität der Menschen zu beleuchten. Man bemerkt schon hier, dass beide Romane in wesentlichen Teilen autobiographische Züge besitzen: In „Nacht“ behandelt EH die Zeit seiner Internierung in dem Ghetto von Moghilew-Podolsk in Rumänien und mit „Nazi“ beschreibt er im übertragenen Sinn seine eigene Irrfahrt aus dem zerstörten Mitteleuropa nach Israel. Auch seine darauf folgenden Erlebnisse verarbeitete Hilsenrath in seinen Büchern, z.B.: „Gib acht, Genosse Mandelbaum“ oder „Bronskys Geständnis“.

II. „Nacht“

1) Strukturanalyse

a) Zeitlicher Ablauf

Der Roman „Nacht“ ist in vier Teile untergliedert, wobei das allererste Kapitel ohne Zeitangabe mitten in der Handlung beginnt. Nach und nach aber wird deutlich, dass der Erzähler streng chronologisch Aussagen über die Zeit des Geschehens einfliessen lässt: z.B.: „gegen Mitternacht“1oder „am Nachmittag“2. Der zweite Teil beginnt mit der Feststellung, dass mittlerweile ca. „...drei Wochen verstrichen seien...“3und verlässt damit das Schema der nacheinander erzählten Tagesabläufe, in dem er 28 Tage einfach zusammenfasst. Doch nach dieser Straffung kehrt der Erzähler wieder zu seinem vertrauten Muster zurück. Nun wird erneut Tag um Tag geschildert und wenn es die Handlung erfordert, werden Angaben zum Zeitpunkt gemacht. („Gestern abend“4) Aber er geht noch weiter und schildert den Plot in manchen Teilen fast minutiös: Vgl. z.B. „Sie warteten einige Minuten [...]“5. Diese detaillierten Darstellungen und die Straffungen treten auch im dritten Teil auf. An seinem Anfang steht zum zweiten Mal in dem Roman ein exaktes Datum, das die Handlung sofort in einen Realitätszusammen-hang bringt. Nachdem der Erzähler in einer Rückblende nüchtern berichtet, dass Fred, der Bruder der Hauptperson Ranek, schon zwei Monate tot sei, gibt er mit Hilfe einer Ellipse den präzisen Zeitpunkt an: „August 1942.“6. Damit sind nach der ersten Zeitangabe insgesamt fünf Monate vergangen. In den folgenden Kapiteln verwendet der Erzähler wieder die chronologische Berichterstattung der Tages- und Nachtgeschehnisse. Im vierten und letzten Teil beginnt der erste Abschnitt wiederum mit einer Rückblende, nämlich auf den angeblichen Tod Raneks, der jedoch schon im dritten Kapitel zusammen mit einer Zeitangabe als Irrtum entlarvt wird: Der Erzähler lässt Ranek anfang November wieder auftauchen7. Bis zum Ende des Werkes verfährt der Erzähler dann wie in dem gesamten Roman und rafft einmal mehrere Wochen zusammen oder erzählt minutiös, was genau passiert. Daraus lässt sich folgern, dass EH in „Nacht“ die Zeit der Handlung unterordnet und ihr nur sekundäre Bedeutung zuweist.

b) Sprachverwendung

Für die Analyse der Sprachverwendung und der Erzählperspektive soll das erste Kapitel des dritten Teils als exemplarisch für den Roman untersucht werden. Zuerst wird der Schreibstil des Autors analysiert:

Mit der lakonischen Aussage „Fred ist gestorben.“1beginnt dieses Kapitel, das in der Bedeutung für die Handlung bzw. Charakterisierung Raneks äußerst bezeichnend ist. Zwar ist der Leser mittlerweile „gewohnt“ solche Aussagen über das Hinsiechen von Personen zu hören, aber der Tote steht mit Ranek in enger Beziehung. Und trotz dieser Blutsverwandtschaft lässt der Erzähler den Protagonisten Grausiges tun: Er schlägt Fred mit einem Hammer einen Goldzahn aus. Passagen wie z.B.: „[...] und anfing, die wider-spenstigen Lippen mit dem Hammer aufzureißen, [...]“2oder „Freds aufgeplatzte Lippen wurden unter seinen Schlägen allmählich zu einem blutigen Brei.“3beweisen, dass die Sprache beinahe sachlich ist, was nur denkbar ist wenn der Erzähler „Distanz, [...] klare[n], nüchterne[n] und doch ungeheuer beteiligte[n] Abstand zu seinen Figuren und dem unfaßbaren Geschehen im »Nachtasyl«, im Bordell [und] auf den mit Leichen übersäten Straßen“4hat. Diese Distanz ermöglicht es völlig ohne Pathos die Schrecken in diesem Lager zu schildern und dabei keine emotionalen Verflechtungen zuzulassen.

Der „unbeteiligten [und] sparsamen Sprache“5sowie dem nötigen Abstand ist das gewählte Tempus ebenfalls zuträglich. Im gesamten Roman, wie auch in dem Beispiel-kapitel herrscht das Präteritum vor, gepaart mit Dialog-Passagen in direkter Rede. Im Anfang des vorliegenden Teilstücks tritt sogar das Präsens auf, was selten vorkommt, aber zumindest für kurze Zeit die starre Erzählweise lockert.

c) Erzählperspektive und -haltung

In „Nacht“ berichtet ein personaler Erzähler mit auktorialer Erzählhaltung. Zwar ist dieser allwissend, was Rückblenden, genaue Ortsbeschreibungen und Innensichten in diverse Personen beweist, aber er ist kein auktorialer Erzähler, weil er das Geschehen nicht kommentiert oder gar beeinflusst, sondern nur berichtet. Außerdem ist der olympische Erzähler stark an Ranek gebunden und folgt ihm auf seinen Wegen durchs Ghetto. Nur ab und zu löst er sich von seiner Hauptfigur und schildert in Episoden und kurzen Passagen das Leid anderer. Ebenso evident erweist sich das Verhalten des Erzählers nach dem Tod Raneks: Er konzentriert sich auf seine einzige „Lichtgestalt“ Debora. Der Erzähler löst sich einfach von der einen Person und geht ohne Umschweife zur nächsten über und behandelt so das Leben der einen Person als abgeschlossene Episode, nach der er einfach zum Bericht über die nächste weitergehen kann. Um so etwas zu ermöglichen muss der Erzähler über den Personen stehen und allwissend sein, da er aber in keinem Satz in das Geschilderte eingreift oder es nur kommentiert, ist der Erzähler nur in seiner Haltung auktorial.

2) Handlung

a) Aufbau der äußeren Handlung

Der Inhalt des Romans soll an dieser Stelle nicht komplett wiedergegeben werden, da dieser als bekannt voraussgesetzt werden kann, sondern es wird vielmehr auf den strukturellen Aufbau des Werkes eingegangen. Die Handlung in „Nacht“ ist eine Aneinanderreihung von Berichten über Menschenschicksale, die alle in irgendeiner Weise mit Ranek zusammen-hängen. Ob es um die Bewohner des „Nacht-Asyls“ geht, wo Ranek zeitweise ebenfalls schläft, oder um Frauen im Bordell, jedes Mal ist der Protagonist der rote Faden, der die Ereignisse verbindet. Zwar verschwindet er hin und wieder, doch das hat auf die Entwicklung der Handlung keinen Einfluss, da der Erzähler nicht nur auf Ranek fixiert ist, sondern darüberhinaus viele schreckliche Facetten in den Roman einbaut. Außerdem zeigt die äußere Handlung neben der Sprachverwendung am besten, dass man das Werk sehr wohl als Tatsachenroman bezeichnen kann: Der Erzähler versucht erst gar nicht einen gut ausgefeilten Handlungsstrang zu entwickeln, der dann am Ende in einer genialen Auflösung kulminiert, sondern berichtet in objektiver Sprache von den Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten, die die Gefangenen des Ghettos tagtäglich aushalten mussten. Zwar ist in den Roman viel Autobioraphisches eingeflossen, aber es handelt sich nicht um eine Dokumentation eines Ghettos in Rumänien; dazu ist der Roman viel zu subjektiv und beschränkt sich nur auf die Sichtweise einzelner Personen bzw. der Hauptperson Ranek. Außerdem fehlen weiterführende Fakten, genauere Zahlen und exaktere Daten. Deshalb kann man zwar von einem fiktiven Tatsachenroman sprechen, aber eine Dokumentation ist des epische Werk deswegen noch nicht.

b) Funktion der Religion

Mit dem Bibelauszug „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.“1zu Beginn des Romans bringt der Autor selbst das Thema Religion ein und deshalb stellt sich die Frage nach der Bedeutung für den gesamten Roman. Die Rolle der jüdischen Religion wird explizit gegen Ende des fünften Kapitels des ersten Teils erwähnt, als Ranek im Traum noch einmal in die zerstörte Bäckerei seiner Eltern geht und dort einen Sabbatleuchter2 auf einem Klavier stehen sieht. Er erinnert sich an seine Kindheit, in der die tägliche Ausübung der Religion Routine war. Dort trifft er auf die noch totgeglaubte Schwägerin Debora, die ihm mitteilt, dass Gott tot sei.3Deswegen „nutzt [Ranek] [...] den Augenblick des abwesenden Gottes aus, um zu überleben, ohne auf die [religiös-] moralischen Regeln und Traditionen zu achten, die noch vor zwei Jahren seinen täglichen Rhythmus bestimmt hatten“.4Dieser Umstand und seine Konsequenzen werden in „Nacht“ geschildert: Die vor der Internierung mindestens gemäßigt religiösen Menschen werden im Ghetto zu Bestien, die nur noch einzelne Züge von Menschen tragen. Nur das moralische Verhalten Deboras, welches sich z.

B. in der Annahme eines fremden Kindes äußert, macht dem Leser wenigstens in einigen Teilen des Romans noch Hoffnung, dass die Menschlichkeit in einer von Gott verlassenen Welt nicht total abhanden gekommen ist. EH selbst gibt zu, dass er nach den Erfahrungen im Ghetto Moghilew-Podolsk Gott ablehnt.5An dessen Stelle treten selbstgeschaffene moralische Werte, an die sich EH seit dem hält.6Es ist demnach schwer zu entscheiden, ob die im Roman ausgedrückten Gedanken über Gott und Religion, die des Autors sind, zumal er die Aussage über Gottes Tod in einem Traum machen lässt. Teilweise spiegeln sich in dieser Passage Überlegungen des Autors wieder, da es sich aber um eine fiktive Erzählung handelt, gibt es immer noch einen gravierenden Unterschied zwischen dem Schriftsteller und dem Erzähler. Deswegen denke ich, dass der Erzähler hier nur die für die handelnden Personen logischen Überlegungen anstellt und gleichzeitig versucht, die zum Teil übermäßig grausamen Taten der Ghettobewohner zu erklären, ohne diese aber zu legitimieren.

c) Frauenbild

Die Frauen in „Nacht“ werden zwar mit den Männern auf eine Stufe gestellt, aber da sie die körperlich Schwächeren sind, sind sie den männlichen Insassen in dem Bezug unterlegen. Ihre Überlegenheit spielen die Männer aus, wenn es um Sex geht und sie diesen erzwingen wollen. Im Roman werden Frauen häufig auf ihre Geschlechtlichkeit reduziert, z. B. als sich Ranek am Anfang des „Nazi“ eine Frau „nimmt“: „Die Frau war völlig stumpf. Vielleicht war sie immer so [...]. Er wußte es nicht; es kümmerte ihn auch nicht. Es war kein Widerstand vorhanden“1. Auch vor Vergewaltigungen sind die Frauen im Ghetto nicht gefeit und es ist bezeichnend für die Vielschichtigkeit des Charakters, dass gerade Ranek einen solchen Missbrauch vollzieht2, später aber alles mögliche für Debora tut. Eine Frau aber wird genauer charakterisiert und das ist eben Raneks Schwägerin Debora. Sie kommt zusammen mit ihrem todkranken Mann Fred im Ghetto an und trifft durch Zufall auf Ranek. Dieser hegte schon immer Gefühle für sie und kümmert sich dann auf ihr Bitten und Drängen um die beiden. Nach dem unvermeidlichen Tod Freds nimmt sie ein Waisenkind auf, das sonst keiner mehr haben will und behandelt es wie ihr eigenes Kind. Ranek missfällt das, weil er sich zum Beschützer und Ernährer Deboras erkoren hat und eigentlich nicht einmal genug Essen für zwei Menschen heranschaffen kann. Auch nach dem Tod Raneks versucht sie auf eigene Faust im Lager zu überleben: ob sie es schafft oder nicht, lässt, der Schluss offen. Ihre Funktion im Roman ist jedenfalls gut nachvollziehbar: Sie ist „eine Figur, die Helligkeit und Hoffnung verkörpert, die zeigt, dass der Abbau moralischer Grundwerte nicht das letzte zynische Wort hat.“3Dieses Zitat veranschaulicht gut, inwiefern die Figur der Debora auf den Leser wirkt. Ohne ihr Auftreten würde der Roman in düsterer Abstumpfung versinken, aber mit ihrer Nächstenliebe schafft sie es am Schluss eine Botschaft an die Leserschaft zu senden trotz aller Präsenz des Grauens. „Überlebt haben der Glaube an das Leben, an den Menschen. Nur das ist wichtig.“4Damit ist das allgemeine Bild der Frau in dem Roman nicht anders als das der Männer, nur mit der Ausnahme von Debora, die noch Hoffnung und Liebe in sich trägt. Alles in allem kann man feststellen, dass aufgrund der extremen Situation sich ein archaisches, patriarchales Gesellschaftsgefüge entwickelt hat, in dem die Frauen in die passive Rolle gezwängt werden. Deshalb ist es auch so außergewöhnlich, wie es Debora schafft zu überleben.

d) Rolle des Helden

Allgemein muss man mit der Aussage übereinstimmen, dass „eine klare Einteilung der Figuren in verschiedene Typen wie »Held«, »Opfer« oder »Täter« [...] in Hilsenraths Romanen nicht mehr [funktioniert].“1Es ist nämlich angesichts der Tatsache, dass „er seine Figuren mit positiven und negativen Zügen gleichermaßen ausstattet“2sehr schwer zu entscheiden, ob es sich um einen Helden oder einen Antihelden handelt. Da sich das nicht schlüssig nachweisen lässt, soll auch keine letztendlich gültige Aussage darüber getroffen, sondern vielmehr auf die Funktion Raneks eingegangen werden. Er steht stellvertretend für die meisten Bewohner, die täglich um ihr Überleben kämpfen müssen und an ihm zeigt der Erzähler über einen beschränkten Zeitraum hinweg, wie er dieses Leben gestaltet. Ranek ist zwar äußerlich mit all den negativen Eigenschaften aus-gestattet, die notwendig sind, um in einer solchen Hölle auf Erden zu überleben, aber innerlich ist er immer noch zu Gefühlen fähig, was besonders in seiner Beziehung zu Debora deutlich wird. Doch diese möchte er am liebsten unterdrücken, um sich nicht verletzlich erscheinen zu lassen, was ihn zu einem leichten Opfer machen könnte. Wie schon dargestellt, zeigen sich seine üblen Charaktereigenschaften häufig durch seine Handlungen, wenn er z. B. eine Frau vergewaltigt3oder seinem Bruder die Zähne einschlägt.4 Aber durch die vom allwissenden Erzähler ermöglichte Innensicht, wird dem Leser ebenso die andere, noch zu Gefühlen fähige Seite gezeigt: „...etwas wie Sehnsucht überkam ihn.“5Deshalb stimme ich folgender Aussage zu und nutze sie gleichzeitig als Abschluss der Behandlung dieses Romans: „Juden sind inNachteben nicht nur unschuldige oder heldenhafte Leidtragende, sondern haben tierische Instinkte für den Überlebenskampf entwickelt. Dennoch wird sichtbar, dass die Akzeptanz der Gesetze des Ghettos nicht sämtliche Gedanken an frühere Normen und Gefühle verdrängen kann. Dieses Schwanken zwischen Willen zum Überleben und einem Rest Menschlichkeit wird an vielen Figuren vorgeführt.“6

III. „Der Nazi und der Friseur“

1) Strukturanalyse

a) Zeitlicher Ablauf

Der „Nazi“ besteht aus sechs Büchern, die chronologisch die Lebensgeschichte des Max Schulz erzählen. Im ersten (1907-1941) schildert der Erzähler stark gerafft die Kindheit und Jugend der Hauptfigur und führt dessen, für die Handlung so wichtigen Freund Itzig Finkelstein ein, dessen Identität er im Laufe des Romans annehmen wird. Das Auf-wachsen ist vom ersten Weltkrieg sowie von der Weimarer Republik geprägt und endet mit dem Eingeständnis des Kriegsheimkeherers Max, an der Ermordung von 200.000 Juden im KZ Laubwalde beteiligt gewesen zu sein.1Das zweite Buch (1943-1945) beginnt im deutschen Warthenau und spielt bereits nach dem Krieg, aber Max berichtet darin seiner Geliebten Frau Holle über seine bizarre Gefangennahme durch ein ältliches „Hutzelweib“2und die anschließende Flucht samt einem Sack voller Goldzähne, aus Polen. Seine Verwandlung zum Juden durch die Tätowierung einer KZ-Nummer und die Beschneidung seines Gliedes wird im dritten Teil (1946/47) behandelt. Der Schauplatz ist Berlin und auch dort hat er eine Geliebte, Kriemhild Gräfin von Hohenhausen, eine Antisemitin, vor der er sein neu erworbenes „Judentum“ verteidigt. Der vierte Abschnitt (1947) tritt aus dem Schema der chronologischen Erzählung und ist in Briefform verfasst. Max Schulz richtet seine Briefe an Itzig Finkelstein, obwohl dieser samt seiner Familie vom Protagonisten selbst im KZ ermordet wurde. Inhalt dieser Schreiben ist die abenteuerliche Auswanderung Schulz’ alias Itzig Finkelstein auf dem Schiff Exitus nach Israel. Das fünfte (1947-1949) und das sechste (1950-1968) Roman erzählt vom wundersamen Aufstieg Itzigs: Er beginnt als Arbeiter in einem Kibbuz, wird israelischer Freiheitskämpfer, übernimmt zusammen mit seiner Frau einen Friseursalon und wird ein geachtetes und angesehenes Mitglied der jüdischen Gemeinde. Gegen Ende des letzten Romans ist das Gewissen des Max/Itzig so belastet, dass er einen ehemaligen Richter bittet, ihm eine Strafe für die Ermordung von 10.000 KZ-Insassen aufzuerlegen, aber er wird freigesprochen, da es keine irdische Strafe für ein solches Verbrechen gibt.1Schließlich stirbt Max/Itzig an einem Herzinfarkt, ohne für seine Grausamkeiten gesühnt zu haben.

b) Sprachverwendung

EH legt dem Erzähler in Person des Max Schulz/Itzig Finkelstein in dem Roman eine sehr direkte und plastische Sprache in den Mund, wenn es darum geht seine Erlebnisse zu schildern. Vor allem die Episode mit der alten Polin Veronja veranschaulicht gut mit welchen absurden Sprachbildern der Erzähler hier hantiert: Da „vergewaltigt“ die Greisin Max siebenmal in der Nacht und spielt ihre derben Spiele mit ihm.2Doch diese Anekdote verfügt noch über eine weitere Ebene, die sich leitmotivisch im ganzen Roman wiederfindet. Sie erinnert an ein Märchen, nämlich „Hänsel und Gretel“ der Gebrüder Grimm, und in dieser Episosode nimmt Veronja den Part der Hexe ein, Max den des Hänsel. Auch der Name Frau Holle stammt aus einer Legende.3Diese Anspielungen tragen dazu bei, die Figuren zu überzeichnen und verstärken so den satirischen Effekt des Romans; genauso die Namen der auftretenden Personen: Hans Müller oder Kriemhild von Hohenhausen sind „typisch“ deutsche Namen. In Israel wiederum begegnen dem Leser Menschen, die typisch jüdische Namen haben: Chaim, Sara oder Schmuel Schmulevitch. „Durch diese Überspitzung wirken die Figuren nicht als Individuen, sondern als Karikaturen.“4So tragen nicht nur die Ereignisse, sondern auch die Personennamen zum persiflagehaften Charakter des Romans bei. Das vorherrschende Tempus ist das Präteritum, das oft durch Dialoge unterbrochen wird. Manchmal schwenkt der Erzähler auch zum Präsens um, vor allem gegen Ende des 'Nazi'. Damit verwendet der Autor wie in „Nacht“ den Imperfekt und belebt ihn mit Präsenspassagen.

c) Erzählperspektive und -haltung

Im Roman herrscht ein Ich-Erzähler mit personaler Erzählhaltung vor. Mit einer Aus-nahme: Am Anfang des zweiten Buches schildert zwar immer noch ein Ich- Erzähler die Ereignisse, aber in seiner Haltung ist er auktorial.5Das bedeutet, dass er sowohl in die Gedankenwelt anderer Menschen Einsicht hat als auch eine Außenansicht des Ich-Erzählers erlaubt.1Ansonsten besteht „Nazi“ aus einem einzigen Monolog des Ich-Erzählers, der meistens in der Vergangenheit, manchmal aber auch im Präsens oder in Briefform seine Lebensgeschichte offenbart.

2) Handlung

a) Aufbau der äußeren Handlung

Das Antriebsmoment des Romans sind eindeutig die Ortswechsel: Jedes der einzelnen Bücher repräsentiert einen Schauplatzwechsel, ohne den der Autor nicht diese vielen Facetten der Metamorphose des Max Schulz hätte aufzeigen können. Durch die oben genannten verschiedenen schriftstellerischen Techniken und Methoden wird die Odyssee des Max/Itzig anschaulich dargestellt: angefangen von der Kindheit, die in einem asozialen Milieu stattfindet, über die Flucht aus Polen, die Stationen in Deutschland bis hin zur anschließenden Verwandlung zum Juden, die in Israel ihr Ende nimmt. Der Roman lebt von den Schauplatzwechseln, weil der Erzähler so die verschiedensten Seiten des Nachkriegsdeutschlands, bzw. des neugegründeten Staates Israel beleuchten kann. Sein Leben allerdings wird als so absurd geschildert, dass es nicht ein einfacher Nachkriegsroman ist, sondern der Gattung der Groteske zugeordnet werden kann. Laut Definition ist eine Groteske eine „Erzählform, die Widersprüchliches, z. B. Komisches und Grauenerregendes, verbindet.“2Genau eine solche Romanart liegt hier vor. Auf der einen Seite werden sadistische und grausame Schrecklichkeiten und auf der anderen Seite persiflagenhafte, komische Übertreibungen miteinander verbunden.

b) Funktion der Religion

Die alltägliche Ausübung der Religion spielt im „Nazi“ eine eher untergeordnete Rolle, ist nur insofern wichtig, als Max in seiner Jugend die jüdischen Riten im Haus der Finkelsteins gelernt hat und sie nach seiner Metamorphose anwendet, um sich zu tarnen. Weitmehr steht das Judentum als Gesamtes im Vordergrund, da die Siedler, die bei der Gründung des Staates Israel 1949 in Palästina zusammenkommen, aus der ganzen Welt stammen und viele Menschen verschiedener Nationalitäten gemeinsam versuchen einen religiösen Staat zu etablieren. Ihre gemeinsame Religions-zugehörigkeit bietet anfangs auch die einzige Basis, die alle miteinander verbindet. Indem Max/Itzig nun einen vorbildlichen Juden mimt, gewinnt er Vertrauen und Ansehen in der Gesellschaft. Er geht sogar so weit, dass er für die Befreiung Israels gegen die Engländer und Araber kämpft und im Salon zionistische Reden hält.1Die Religion dient ihm also dazu, seine Tarnung aufrechtzuerhalten.

c) Frauenbild

Alle Frauen in dem Roman sind gescheiterte Existenzen: Zu allererst erfährt der Leser näheres über Max' Mutter und ihre fünf Männer, von denen einer der Vater des Protagonisten ist. Minna Schulz ist „ein wandelndes Bierfass“2und stammt aus der proletarischen Gesellschaftsschicht. Sie ist ihrem Sohn keine gute Mutter und verhindert nicht einmal, dass er von einem seiner Väter vergewaltigt wird. Seine nächste „unvergessliche“ Erfahrung mit einer Frau findet in einem Wald in Polen statt: die Begegnung mit der alten Veronja. Diese wird derart übertrieben dargestellt, dass man mit ihr eine Art Horror-Hexe assoziiert. Nachdem Max sich aus ihrer sadistischen Umklammerung befreit hatt, flüchtet er sich ins deutsche Warthenau zu Frau Holle, die Ehefrau eines gefallenen Kameraden. Diese hat ein Holzbein und schläft für ihre Malzeiten mit einem amerikanischen Major. Als dieser stirbt, lässt sie ihn einfach hinterm Ofen liegen. Da sie von russischen Soldaten „genau 59 mal“ vergewaltigt wurde, hat sie ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität und spielt mit Max Schulz sadistische „Hündchenspiele“.3Dann trennt er sich von ihr und zieht nach Berlin, um als Schwarzmarkthändler zu arbeiten. Er geht dort außerdem eine Liaison mit der Gräfin Kriemhild von Hohenhausen ein. Sie als preußische Antisemitin wirft ihm täglich seine jüdische Identität vor und er muss sich von ihr auch immer wieder alle Vorurteile, die sie gegen Juden hat, anhören. Da er diesen Hetzreden nicht gewachsen ist und sich nicht eloquent und gebildet genug verteidigen kann, bildet er noch einen jüdischen Minderwertigkeitskomplex aus.4Bei seiner anschließenden Auswanderung nach Palästina, lernt er die „liebenswürdige aber gestörte Hanna Lewinsohn“5kennen, mit der ein platonisches Liebesverhältnis hat. Nach dieser Beziehung heiratet er Mira Schmulevitch, eine Nichte von Max/Itzigs Chef, kurz nachdem er sie kennen gelernt hat. Sie erinnert vom Körperbau her an Max' Mutter, weil sie so korpulent ist; dazu ist sie noch stumm . Ihre Stimme verlor sie, als sie als Kind Augenzeugin eines SS-Massakers an KZ-Häftlingen war. Seit diesem Erlebnis und der entbehrungsreichen Zeit im Konzentrationslager isst sie täglich eine ungeheure Menge in sich hinein und wird immer dicker. Wie die Figur der Mira sind alle Frauen, vielleicht bis auf Hanna, in einer Art und Weise übertrieben dargestellt, dass sie nicht mehr als Individuen erscheinen, sondern nur noch als stilisierte Überzeichnungen. Des Weiteren fällt auf, dass ausnahmslos alle Frauen, zu denen Max/Itzig eine Beziehung hatte, unmittelbar vom Krieg betroffen waren und, seelisch oder körperlich, versehrt wurden. So bekommt er indirekt, die Folgen der Greueltaten, die er selbst beging, zu spüren, was auch der Ich-Erzähler eingesteht: Als Max/Itzig mit Hanna zusammenliegt, spricht er von „Henker und Opfer“.1So spiegeln die Frauen im Roman einerseits die verkrüppelte Seele der Hauptfigur wieder, andererseits erinnern sie ihn bis zum Schluss an seine unsühnbaren Taten im KZ.

d) Rolle des Helden

Die gut inszenierte Verwandlung des Max zu Itzig wird durch das in der Einleitung des Romans beschriebene Aussehen von Max und Itzig vorbereitet. Da Max' Züge schon im Kindesalter denen „einer »Stürmer«-karikatur des vermeintlich[ ] typischen Juden“2gleichen, fällt ihm ein Identitätswechsel im Erwachsenenalter nicht schwer. Seine äußere Erscheinung macht das Aufwachsen in einem immer stärker werdenden Klima des Judenhasses sehr schwer. Deshalb ist er oft in dem Friseursalon des Vaters seines besten Freundes Itzig Finkelstein. Dort lernt er die jüdische Religion und ihre Riten kennen und bekommt gleichzeitig noch eine Ausbildung zum Friseur. Sein Eintritt erst in die SA und später der Wechsel zur SS, wo er sogar Oberscharführer wurde, entschuldigt der Ich-Erzähler, übrigens genauso wie seine Hinrichtungen, mit einem in der frühen Kindheit entstandenen „Dachschaden“3. Auch ist dieses Verhalten sicherlich einem gewissenlosen Opportunismus zuzuschreiben.4Es ist aber ebenso glaubhaft, dass die häufigen Misshandlungen und Vergewaltigungen durch seinen Stiefvater Slavitzki, einen bleibenden Defekt hinterlassen haben, aber psychische Instabilität kann solche Verbrechen nicht legitimieren. Das erkennt Max alias Itzig selbst auch, als er in Israel vollständig als Jude akzeptiert wird. Sukzessive wird Schulz/Finkelstein klar, dass er sein Gewissen von der Last der Morde befreien muss. Das lässt sich anhand von zwei Beispielen belegen: Zum einen am fiktiven Gespräch mit Bäumen aus dem „Wald der sechs Millionen“, wo ihm attestiert wird, dass er sich zu seiner Vergangenheit nicht bekennt, er sich verleugnet und versteckt. Zum anderen am sofort darauf folgenden, als er seinen neugeborenen Sohn zu Gesicht bekommt. Anstatt seines Nachkommen bringt Mira eine nicht lebensfähige Krüppelgeburt zur Welt, der sämtliche Extremitäten, sowie der Körper und das Gesicht fehlen. Nur zwei Froschaugen starren ihn an.1Diese Augen kommen in dem Roman häufig vor, aber immer als ein Merkmal von Max/Itzig. Schon der Knabe Max erkennt „das Gesicht eines Perversen [...] das Gesicht eines Normalen [...] das Gesicht eines Mörders“2, als er in den Taschenspiegel seiner Mutter blickt. Aber die Frage in dieser entscheidenden Spiegelszene, „wer er sei“, kann er nicht beantworten. „Die Möglichkeit zu Menschlichkeit wie zu Inhumanität sind angelegt, ohne daß das Ich eine verantwortliche Entscheidung fällt.“3So ist der Charakter des Max schon früh von Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstverachtung geprägt. Trotzdem ist er im Stande eine Wandlung zu vollziehen: Er verändert sich im Laufe des Romans von einem Judenvernichter zu einem „Muster-Juden“. Die zunehmende Annahme der jüdischen Identität lässt sich auch in der Verwendung der Namen ablesen, die der Ich-Erzähler für Max Schulz benutzt: Nennt er sich noch „Max Schulz, später Itzig Finkelstein“ zu Beginn des Romans, so spricht er am Anfang des dritten Buches schon davon, dass er Itzig Finkelstein sei und dass er früher einmal Max Schulz war.4Als Itzig wachsen die Schuldgefühle in ihm und er möchte eine gerechte Strafe dafür erhalten. Dieses Schuldeingeständnis wird aber erst möglich, als er zufällig aus einer Zeitung erfährt, dass Max Schulz 1947 in Polen gestorben sei.5Die Hauptfigur ist sich nun sicher, dass sie von offizieller Seite keine Verfolgung mehr zu befürchten hat und so wendet sie sich an den ehem. Amtsrichter Wolfgang Richter, um sich in einer fiktiven Gerichtsverhandlung ihren Sünden zu stellen. Dabei stellt sich aber heraus, dass es für die Taten des Max keine irdische Strafe gibt und so wird er von dem Amtsgerichtsrat freigesprochen, damit Max/Itzig seine gerechte Strafe von Gott erhält. Schließlich wird er mit Hilfe einer lyrischen Metapher ins Reich der Toten befördert: Der Wind aus dem Wald der sechs Millionen Toten trägt seine Seele hinfort.6

Angesichts dieser Wandlung ist es auch hier sehr schwer die traditionellen Begriffe Held oder Antiheld anzuwenden. Laut Definition ist ein Held eigentlich der Handlungs-mittelpunkt, meistens aber mit positiven Eigenschaften ausgestattet, und der Antiheld dagegen ein völlig passiver Betrachter, der auf die Ereignisse keinen Einfluss mehr hat und ihnen tatenlos beiseite steht.1Die Bezeichnung Antiheld, wie ein Kritiker Max Schulz nennt2, scheidet aus, da Max/Itzig aktiv die Handlungs- richtung bestimmt. Er ist aber auch kein Held, da er auf der einen Seite zu vielschichtig und der Begriff „Held“ zu einseitig in Bezug auf die Charaktermerkmale des Protagonisten ist und zum zweiten sind die Eigenschaften der Hauptfigur anfangs zu sehr ins Negative und im Gegensatz dazu am Schluss ins Positive übertrieben, dass die traditionelle Bezeichnung des „Helden“ in diesem Fall nicht greift. Aber es ist auch von geringerer Bedeutung, wie man die Hauptfigur nennt, sondern es geht darum ihre Funktion im Roman zu analysieren: Max/Itzig steht für den deutschen Spießbürger, der unter der Niederlage im ersten Weltkrieg zu leiden hatte und in der Machtübernahme Hitlers eine Chance auf eine bessere Zukunft sah. Mit einem grenzenlosen Opportunismus ausgestattet, schließt er sich der herrschenden Mehrheit an und diese ist zufällig antisemitisch. Also wird er erst zum Mitläufer und dann zum Täter, der ohne Nachdenken Tausende Menschen umbringt.3Befehl ist Befehl. EH zeigt an Max Schulz exemplarisch, wie ein solcher Aufstieg gelingen konnte; aber nur anfangs, denn die haarsträubende Metamorphose zum Juden soll auf zynische Weise auch aufzeigen, dass es Juden gibt, die an die Klischees der Antisemiten glauben, wie z. B. Frau Schmulevitch, die sowohl Hitler gewählt haben soll, als auch eine Rangordnung für Juden in ihrem Friseursalon eingeführt haben soll. Auch die harte, militärische Eroberung des „gelobten Landes“ will Hilsenrath mit der Satire anprangern.4Indem EH seine Hauptfigur das miterleben lässt, erscheint es in einem völlig verzerrten Zusammenhang und grotesk übertrieben. Zum einen kritisiert EH die gewissenlosen Mitläufer und Henker des Naziregimes, zum andern wirft er der nach dem Krieg entstandenen israelischen Gesellschaft vor, zu wenig reflektiert mit der Vergangenheit umzugehen.

IV. Vergleich der Romane

Wenn die beiden Werke nebeneinander gestellt werden fällt eines sofort auf: die unterschiedliche Wahl der Romanform. Bei „Nacht“ verwendet EH den sehr berührenden und zugleich nüchternen Tatsachenroman und beim „Nazi“ die verzerrende Groteske. Zu dem Unterschied kommt noch, dass der Autor - den Romanformen entsprechend - auch die jeweils passende Erzählperspektive gewählt hat. Während im „Nazi“ die satirische Aussage noch durch einen Ich-Erzähler verstärkt wird, macht der personale Erzähler in „Nacht“ die Distanz zwischen ihm und den handelnden Personen deutlich. In seinem Erstlingswerk ist die Handlung außerdem begrenzt: Zum einen hat das gesamte Roman eher Ausschnittcharakter, da es mitten im Ghettoleben des Ranek beginnt, und zum anderen ist es auf eben dieses Ghetto als Handlungsort beschränkt. Sein zweiter Roman hingegen handelt von dem gesamten Leben des Protagonisten, weil es bei dessen Geburt anfängt und mit seinem Tod endet. Das sind die Unterschiede zwischen den Werken. An den Hauptfiguren kann man aber auch die einzige inhaltliche Gemeinsamkeit ablesen: Beide sind männlich und müssen sich in extremen Situationen behaupten. Zunächst scheint es ebenfalls ein Kontrast zu sein, dass Ranek ein Opfer ist und Max den Tätern zugeordnet werden muss. Aber im Laufe beider Bücher erkennt der Leser, dass Ranek auch zum Kreis der Täter zu rechnen ist, wenn auch auf einer niedrigeren Ebene. Beim täglichen Kampf ums nackte Überleben zählt das Recht des Stärkeren und falls das Ranek ist, so nutzt er seine Überlegenheit aus, um Schwächere zu berauben oder zu erpressen. Max hingegen wandelt sich von einem Massenmörder zu einem angesehenen Juden und gehört dann damit der großen Opfergruppe an. Seine Tätigkeiten in Israel lassen ihn zu einem gleichberechtigten Mitglied der Gesellschaft werden.

Der eigentliche Zusammenhang zwischen beiden Büchern aber ist der autobiographische Einfluss des Autors. Mit dem Roman „Nacht“ verarbeitet er seine Zeit in einem rumänischen Ghetto und mit „Nazi“ seine darauf folgende Flucht nach Israel. Natürlich sind beide Romane reine Fiktion, biographische Tendenzen sind aber nicht von der Hand zu weisen. Dass es für EH schwierig war „Nacht“ zu schreiben und dass dabei der Aufarbeitungsgedanke im Mittelpunkt stand, lässt sich daraus ablesen, dass der Roman manchmal etwas holprig zu lesen ist und dass es praktisch nicht komponiert bzw. entworfen wurde, sondern geradlinig, ohne Spannungskurve oder abwechslungsreiche Handlungen, das Grauen eines solchen Ghettos einzufangen versucht. Der „Nazi“ hingegen ist mit Bedacht strukturiert worden und jedes seiner sechs Bücher hat eine zugedachte Bedeutung für den gesamten Roman. „Die sechs Bücher sind nämlich bezogen auf Handlungsorte und - zeit, symmetrisch angeordnet.“1EH ging es bei dem Schreiben des „Nazi“ also nicht im wesentlichen um Verarbeitung des Erlebten, sondern vielmehr um einen kritischen Blick auf die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg und die Gründung Israels. Als Fazit möchte ich zwar keines der beiden Bücher besser bewerten, weil sie von der Intention her zu unterschiedlich sind, aber der „Nazi“ ist um einiges leichter zu lesen,

- ohne dass ich mit dieser Aussage die absurde Komposition schmälern will - und vom literarischen Anspruch her gesehen ist er sicherlich höher einzustufen. Trotzdem ist der Roman „Nacht“ in seiner Darstellung des Ghettolebens, ohne sentimentale Verschleierung und Verklärung der Internierten zu reinen Opfern, ein wichtiges Werk um die Verhältnisse damals einschätzen zu können.

V. Schluss

Wenn man über EH schreibt, dann darf man das Kapitel „Verlagssuche“ nicht unter den Tisch kehren. Erst zehn Jahre nach Beendigung des Romans „Nacht“ wurde dieser von dem Kindler Verlag München verlegt: in einer verschwindend kleinen Auflage von 1250 Stück. Nicht einmal alle Exemplare dieses Drucks wurden verkauft, weil die Verleger fürchteten, dass der Inhalt des Romans in Deutschland falsch und damit antisemitisch aufgefasst werden könnte, obwohl fast alle Kritiker „Nacht“ lobten. Nach einer Irrfahrt durch alle namhaften Verlage Deutschlands, denen der Roman zu problematisch war, wurde „Nacht“ in einer grösseren Auflage im jungen Braun-Verlag gedruckt. Gleichzeitig war der Roman in den USA ein grosser Erfolg und wurde vom größten Verlag des Landes herausgegeben. Auch der „Nazi“ war ein solches „Stiefkind“ der deutschen Verleger, so dass er ebenfalls bis zu dessen Konkurs vom Braun-Verlag gedruckt wurde.1An der Weigerung der deutschen Verleger ein solches Roman zu protegieren, lässt sich ablesen, dass es von dem Ende des zweiten Weltkriegs bis weit in die siebziger Jahre dauerte, bis in Deutschland die Vergangenheit, besonders die Jahre zwischen 1933 und 1945, öffentlich diskutiert wurden. Das war schließlich auch eine Forderung der Studenten- proteste 1968. Vorher wollte nur wenige etwas von der Nazi-Zeit hören geschweige denn lesen, bis die nachwachsende Generation deutlich machte, dass die Vergangenheit nicht totgeschwiegen werden kann. Sicherlich haben Nachkriegsautoren, wie EH, mitgeholfen, sowohl Einblicke in die Zeit zu erhalten, als auch darüber sachlich zu informieren und wir müssen uns entgegen den „ewig Gestrigen“ darüber im Klaren sein, dass die Geschichte nicht veränderbar ist und wir daraus lernen müssen.

VII. Verzeichnis der verwendeten Literatur

Primärliteratur

Hilsenrath, Edgar: „Der Nazi und der Friseur“ Frankfurt am Main 1979 Hilsenrath, Edgar: „Nacht“ Frankfurt am Main 1979

Sekundärliteratur

Anders, Richard: „In extremen Situationen„. In: Neue Rundschau 1979. H. 1. S. 143- 145.

Anonym: „Max & Itzig“. In: Der Spiegel, Nr 35. 22. 8. 1977 S. 139-137.

Anonym: „Grauen im Ghetto“. In: Der Spiegel, Nr 36 4. 9. 1978 S. 205/206. Drosdowski, Günther (Hrsg.): „Fremdwörterbuch“. Mannheim 19923. Duden, Rechtschreibung der deutschen Sprache 199621

Gutzen, Dieter: „Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft: Ein Arbeitsbuch“. Berlin 19793.

Kindler Literaturlexikon München 1990

Kogon, Eugen: „Der SS-Staat: Das System der deutschen Konzentrationslager“. München 1977

Kraft, Thomas (Hrsg.): „Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen“. München 1996

Kritisches Lexikon zur deutschen Gegenwartsliteratur

Rieger, Manfred: „Edgar Hilsenrath: Nacht“. In: Neue Deutsche Hefte. 1978. H. 4. S. 819-822

Stanzel, Franz: „Typische Formen des Romans“. Göttingen 1974

Schachtsiek-Freitag, Norbert: „SS-Scherge nimmt die Identität eines seiner 10000 jüdischen Opfer an“. In: Tribüne. 1977. H. 64. S. 160-163

Wilpert, Gero von: „Sachwörterbuch der Literatur“. Stuttgart 19796.

VIII. Erklärung

Ich erkläre hiermit, dass ich die Facharbeit ohne fremde Hilfe angefertigt und nur die im Literaturverzeichnis angeführten Quellen und Hilfsmittel benutzt habe.

Ort, Datum Johannes Görg

[...]


1Anonym: „Grauen im Ghetto“. In: Der Spiegel, 4. 9. 1978 S. 205/206

2 Anders, Richard: „In extremen Situationen“. In: Neue Rundschau 1979. H. 1. S. 143-145

1Hilsenrath, Edgar: „Nacht“. Frankfurt a. M. S. 31

2Ebd. S. 71

3Ebd. S. 135

4Ebd. S. 155

5Ebd. S. 167

6Ebd. S. 294

7 Ebd. S. 392

1Hilsenrath, Edgar: „Nacht“. Frankfurt a. M. S. 294

2Ebd. S. 295

3Ebd. S. 295

4Kraft, Thomas (Hrsg.): „Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen“. München S. 65

5 Kindler Literaturlexikon München 1990 S. 872

1Hilsenrath, Edgar: „Nacht“. Frankfurt a. M. 1980

2Hilsenrath, Edgar: „Nacht“. Frankfurt a. M. 1980. S. 43

3Ebd. S. 44

4Kraft, Thomas (Hrsg.): „Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen“. München 1996 S. 181

5Ebd. S. 178

6 Ebd. S. 183

1Hilsenrath, Edgar: „Nacht“ Frankfurt a. M. 1980 S. 27

2Ebd. S. 185

3Anders, Richard: „In extremen Situationen“ . In: Neue Rundschau 1979. H. 1. S. 145

4 Rieger, Manfred : „Hilsenrath: Nacht“. In: Neue Deutsche Hefte. 1978. H.4. S. 821

1Kraft, Thomas (Hrsg.): „Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen“ München 1996 S. 134

2Ebd. S. 135

3Hilsenrath, Edgar: „Nacht“ Frankfurt a. M. 1980 S. 185

4Ebd. S. 295

5Ebd. S. 11

6 Kraft, Thomas (Hrsg.): „Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen“ München 1996 S. 132

1Hilsenrath, Edgar: „Der Nazi und der Friseur“. Frankfurt a. M. 1979 S. 56

2 Ebd. S. 101

1Hilsenrath, Edgar: „Der Nazi und der Friseur“. Frankfurt a. M. 1979 S. 313

2Hilsenrath, Edgar: „Der Nazi und der Friseur“. Frankfurt a. M. 1979 S. 109ff

3Kraft, Thomas (Hrsg.): „Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen München“. 1996 S. 143f

4Ebd. S. 133

5 Kraft, Thomas (Hrsg.): „Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen“. München 1996 S. 143

1Hilsenrath, Edgar: „Der Nazi und der Friseur“. Frankfurt a. M. 1979 S. 79

2 Drosdowski, Günther (Hrsg.): „Fremdwörterbuch“. Mannheim 19923 S. 173

1Hilsenrath, Edgar: „Der Nazi und der Friseur“. Frankfurt a. M. 1979 S. 220ff

2Hilsenrath, Edgar: „Der Nazi und der Friseur“. Frankfurt a. M. 1979 S. 13

3Ebd. S. 88

4Kindler Literaturlexikon München 1990

5 Kraft, Thomas (Hrsg.): „Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen“. München 1996 S. 78

1Hilsenrath, Edgar: „Der Nazi und der Friseur“. Frankfurt a. M. 1979 S. 221

2Schachtsiek-Freitag, Norbert: „SS-Scherge nimmt die Identität “. In: Tribüne 1977 H. 64. S. 160- 63

3Hilsenrath, Edgar: „Der Nazi und der Friseur“. Frankfurt a. M. 1979 S. 22

4 Kraft, Thomas (Hrsg.): „Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen“. München 1996 S. 132

2Schachtsiek-Freitag, Norbert: „SS-Scherge nimmt die Identität “. In: Tribüne 1977 H. 64. S. 160- 63

1Hilsenrath, Edgar: „Der Nazi und der Friseur“. Frankfurt a. M. 1979 S. 297f

2Hilsenrath, Edgar: „Der Nazi und der Friseur“. Frankfurt a. M. 1979 S. 30

3Kraft, Thomas (Hrsg.): „Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen“. München 1996 S. 146

4Ebd. S. 142

5Hilsenrath, Edgar: „Der Nazi und der Friseur“. Frankfurt a. M. 1979 S 304f

6 Ebd. S. 319

1Wilpert, Gero von: „Sachörterbuch der Literatur“. Stuttgart 19796

3Kraft, Thomas (Hrsg.): „Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen“. München 1996 S. 132f

4 Ebd. S. 134

1 Kraft, Thomas (Hrsg.): „Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen“. München 1996 S. 138

1 Kraft, Thomas (Hrsg.): „Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen“. München 1996 S. 103-115

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Hilsenrath, Edgar - Nacht - Vergleichende Analyse der Romane "Nacht" und "Der Nazi & der Frisör" von Edgar Hilsenrath
Autor
Jahr
2001
Seiten
21
Katalognummer
V105726
ISBN (eBook)
9783640040100
Dateigröße
445 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Edgar Hilsenrath, Nacht, Nazi, Juden, Literatur, Deutsch, Ghetto, Israel
Arbeit zitieren
Johannes Görg (Autor:in), 2001, Hilsenrath, Edgar - Nacht - Vergleichende Analyse der Romane "Nacht" und "Der Nazi & der Frisör" von Edgar Hilsenrath, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105726

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