Mediennutzung in der DDR - Ergebnisse eines biographischen Interviews


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

44 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1.) Medien und Mediennutzung in der DDR - eine Einführung
1.1) Politische und strukturelle Bedingungen
1.2) Mediennutzung der DDR-Bevölkerung

2.) Medienbiographische Forschung: Ziel und Methodik
2.1) Methodische Probleme und Fehlerquellen
2.2) Befragungsinstrumente

3.) Vorstellung des Befragten
3.1) Der Befragte in der DDR - eine Kurzbiographie
3.2) Vorgehen und methodische Erfahrungen im Interview
3.3) Methodisches Fazit

4.) Mediennutzung in der DDR - dargestellt und diskutiert anhand eines Beispielinterviews
4.1) Medienausstattung und Zugang zu Medienangeboten
4.2) Mediennutzung und Nutzungsmuster
4.3) Glaubwürdigkeit der DDR-Medien
4.4) Medienbewertung DDR - BRD, Mediennutzung und Lebenssituation heute
4.5) Mediennutzungstypologie: Einordnung des Gesprächspartners

5.) Zusammenfassung

6.) Anhang
6.1) Mediennutzungstypologie
6.2) Transkription des Interviews

7.) Literaturverzeichnis

Vorwort

Um Mediennutzungsverhalten in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) verstehen und erklären zu können, sind insbesondere die gesellschaftlichen Umstände und Bedingungen von entscheidender Bedeutung und dürfen in der Untersuchung keinesfalls ausgeblendet werden. Mediennutzung in der DDR heißt Mediennutzung in einem totalitären politischen System, das in seiner Gesamtkonstititution weder von der Bevölkerung getragen noch legitimiert wurde, sondern dieser durch die staatsbestimmende Partei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), und deren „Großen Bruder“, der Sowjetunion bzw. der KPdSU, aufgezwungen wurde.

In der Forschung existiert bisher kein theoretischer Ansatz, der alle Faktoren, die eine Mediennutzung beeinflussen, systematisch berücksichtigt1 - bei der Fülle bewusster als auch unbewusster Determinanten der Mediennutzung dürfte das auch fast unmöglich sein. Gravierender bzw. nachteilig für das Problem der Mediennutzung in der DDR ist der Umstand, dass die meisten Erklärungsansätze gesellschaftliche Ursachen der Mediennutzung ausblenden2: Beispielsweise die Ansätze, die sich der Uses-and-Gratification-Tradition entlehnen, oder auch Ansätze aus Psychologie und Soziologie, wie die Mood-Management-These, parasoziale Interaktion und soziales Vergleichen. Sie alle beschäftigen sich mit menschlichen Grundbedürfnissen, die von den Medien befriedigt werden sollen - gesellschaftliche Umstände bleiben jedoch größtenteils außen vor. Andere Modelle, die neben diesen menschlichen Grundbedürfnissen auch das soziale Umfeld und Medieninhalte berücksichtigen, orientieren sich meist an Einzelfällen, deren Ergebnisse nicht repräsentativ sind.

Einen methodologischen „Ausweg“ bietet die soziologische Lebenslauf- und Biographieforschung3. Sie beinhaltet unter anderem medienbiographische Arbeiten bzw. Interviews, die nach dem Ineinandergreifen von Medien- und Lebensgeschichten fragen und nach dem Stellenwert, den Medien in der Bildung einer eigenen Identität einnehmen. Dabei eingeschlossen sind die gesellschaftlichen Bedingungen, die eine Lebensgeschichte grundlegend mitbestimmen.

Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht ein solches biographisches Interview über die Mediennutzung in der ehemaligen DDR. Anhand der Aussagen und Erzählungen eines ehemaligen DDR-Bürgers werden verschiedene Thesen und Erklärungsansätze zur Mediennutzung in der DDR getestet und überprüft. Insbesondere wird dabei die Mediennutzung eines Bewohners aus dem „Tal der Ahnungslosen“ vor dem Hintergrund des fehlenden Westfernsehens dargestellt und diskutiert. Des weiteren erfolgt in der Arbeit eine Aus- und Bewertung der Befragungsmethode, des biographischen Interviews, infolge der eigenen Erfahrungen mit der Methode.

Zunächst soll es jedoch einen kurzen Einblick in politische und medienpolitische Verhältnisse der DDR geben, ohne den Mediennutzung in der DDR nicht verstanden oder erklärt werden kann.

(1.) Medien und Mediennutzung in der DDR - eine Einführung

1.1) Politische und strukturelle Bedingungen

Die Massenmedien in der DDR arbeiteten nach den Prinzipien der marxistisch-leninistischen Pressetheorie4. Karl Marx vertrat ursprünglich noch die Idee einer freien Volkspresse und wies dieser erst im Nachhinein die Aufgabe zu, „ alle Grundlagen des bestehenden Zustands zu unterwühlen “ 5. Lenin dagegen schuf eine neue Pressekonzeption im sozialistischen Sinne. Nach seiner klassischen Formulierung ist die Presse „kollektiver Propagandist“, „kollektiver Agitator“ und „kollektiver Organisator“. Als Propagandist solle die Presse die Prinzipien des Marxismus/Leninismus innerhalb der Bevölkerung verbreiten. Das langfristig angelegte Ziel ist eine politisch-ideologische Erziehung der Bevölkerung mittels einer ständigen Unterweisung in kommunistischen Überzeugungen und Theorien. Die Presse als Agitator in Lenins Pressekonzeption solle die aktuelle Politik der staatsbeherrschenden Partei unterstützen und die Bevölkerung des Staates zur Erfüllung der von der Regierung gestellten Aufgaben und Ziele aktivieren. Dieser Agitation der Bevölkerung dient vor allem die bewusste und parteiliche Auswahl von Ereignissen, Fakten und Tatsachen, die Gegenstand der Berichterstattung sind. In der Position als Organisator soll die Presse außerdem anleitend und kontrollierend in die geplante politische und kulturelle Entwicklung der Gesellschaft eingreifen und zu konkreten Ergebnissen im Sinne der staatsbeherrschenden Partei führen.

Innerhalb dieser leninistischen Pressekonzeption waren die Print- wie später auch die gesamten Massenmedien in der DDR keine unabhängigen Institutionen im Sinne einer „vierten Gewalt“ im Staat, die für eine unabhängige politische Meinungsbildung der Bevölkerung verantwortlich sein sollte, für ihre Aufklärung und Information. Die Medien der DDR wurden vom SED-Regime instrumentalisiert und waren einzig und allein dazu erkoren, als Instrument in der Hand der SED der Durchsetzung ihrer Politik zu dienen. Diese leninistischen Funktionsbestimmungen für die Presse wurden später im wesentlichen auch auf die anderen Massenmedien in Funk und Fernsehen übertragen.

Die Massenmedien der DDR unterstanden der Anleitung und Kontrolle durch den Staats- und Parteiapparat. Oberste Leitungsinstanz war die Abteilung „Agitation und Propaganda“ des Zentralkomitees der SED. Die Medienlenkung dieser Instanz reichte von langfristigen Planungen bis zu aktuellen und konkreten Argumentationsanweisungen. Darunter litten vor allem die Kirchenzeitungen in der DDR: Hier kam es zu zahlreichen Eingriffen in einzelne Artikel oder zu deren kompletter Streichung, so dass gelegentlich Kirchenzeitungen mit weißen Flecken erschienen sind. Oftmals durften auch komplette Ausgaben nicht ausgeliefert werden, 1988 beispielsweise allein 17 Stück6.

Praktisch ausgeübt wurde diese Pressekontrolle vor allem vom mit Weisungsbefugnis ausgestatteten Presseamt der DDR. Seine weitreichenden Befugnisse und Einflussmöglichkeiten reichten von Zensurmaßnahmen, Sprachregelungen und Vorschriften zur inhaltlichen Gestaltung und Aufmachung bis hin zur Lizenzverteilung und Papierkontigentierung und der Auswertung nicht SED-zugehöriger Presse und beinhaltete auch die staatliche Öffentlichkeitsarbeit sowie die Befassung mit „feindlichen“ Medien.

1.2) Mediennutzung der DDR-Bevölkerung

Diese derart instrumentalisierten Massenmedien versetzte die SED-Medienpolitik in ein grundsätzliches Dilemma7, das seit jeher in dem Widerstreit bzw. dem eklatanten Widerspruch zwischen ideologischer Ausrichtung und Lenkungsabsicht der Medien einerseits und den Publikumsbedürfnissen und der Breitenwirkung andererseits bestand. Kritik an einer zu schwachen Massenwirksamkeit zog sich auch durch offizielle medienpolitische Äußerungen der DDR-Führung. Erich Honecker beklagte beispielsweise auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971, dass die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen, zu langweilig gewesen seien8. Von den Journalisten verlangte er deshalb, stilistisch und sprachlich bessere und vor allem lebensnahe Beiträge zu gestalten. Dadurch hoffte Honecker, die Massenwirksamkeit und -Verbundenheit der DDR-Medien im Sinne ihrer sozialistischen Ausrichtung zu intensivieren.

Ein weiteres Problem für die DDR bestand von Anfang an darin, dass in weiten Teilen des Landes Hörfunk- und Fernsehprogramme aus der benachbarten Bundesrepublik Deutschland empfangen werden konnten. Rund 80 % der DDR-Bevölkerung hatten Zugang zu den Programmen von ARD und ZDF; im Hörfunk konnten vor allem Sendungen von RIAS Berlin und dem Sender Freies Berlin (SFB) empfangen werden, aber auch der Deutschlandfunk, NDR und Bayern 3 erfreuten sich einer ostdeutschen Hörerschaft9.

Doch nicht alle Regionen in der DDR konnten die Vorzüge des Westfernsehens genießen: Das als „Tal der Ahnungslosen“ bezeichnete Gebiet vor allem um Dresden aber auch Greifswald war eines mit fehlendem, eingeschränktem oder technisch schlechtem Empfang des Westfernsehens. Hier war es nicht möglich, ARD und ZDF zu sehen. Als „Ersatz“ diente größtenteils der Deutschlandfunk, obwohl auch der Radio- bzw. UKW-Empfang in diesem Gebiet weitaus schlechter war. Die Bevölkerung in diesen Regionen war also in erheblichem Maße an die einheimischen Medien und die Nutzung dieser gebunden. Zufrieden waren die DDR-Bürger mit den ostdeutschen Medien deshalb nicht, denn das Medienangebot richtete sich kaum nach ihren Bedürfnissen. Vor allem vom Fernsehen erwarteten alle sozialen Bevölkerungsschichten in erster Linie Unterhaltung, doch die Programme waren eher auf Belehrung, Erbauung und Erziehung der Massen ausgerichtet10 - der Widerspruch zwischen Rezipientenbedürfnis und Medienangebot war unübersehbar, da die Medien teilweise bewusst am tatsächlichen Bedarf vorbeiproduzierten im Sinne einer leninistischen Medienkonzeption. Fernsehen und Radio wurden deshalb oftmals als langweilig und trocken empfunden: Immer dasselbe, zuviel Gerede, zuviel erhobener Zeigefinger, langatmige Diskussionen und Vorträge, ständige Arbeits- und Produktionsberichte und viel zu wenig Unterhaltsames - so wurde das ostdeutsche Medienangebot von seinen Nutzern eingeschätzt11. Nachrichten- und Informationssendungen verzeichneten demzufolge nur geringe Einschaltquoten: Bis 1988 waren sie stark rückläufig; Prisma beispielsweise verzeichnet 1981 noch 19,7 % der Sehbeteiligung, 1988 sind es nur noch 8,4 %. Die Sendung Objektiv sinkt von 12 % auf 4 % und auch die Aktuelle Kamera baut von rund 14 % auf 9,5 % ab - womit nur einige Beispiele genannt seien12. Widersprüchlich scheint in Anbetracht dessen das Ergebnis einer 1970 durchgeführten Meinungsumfrage in der DDR: Hier wurde das Fernsehen deutlich als schnellstes, gründlichstes und überzeugendstes Medium bewertet13 - tatsächlich wird es Jahre später scheinbar kaum genutzt.

Dem gegenüber verzeichnen die Unterhaltungsformate des DDR-Fernsehens eine sehr hohe Sehbeteiligung: Ein Kessel Buntes beispielsweise sehen 1983 rund 46 % - eine Traumquote. 1988 sind es zwar nur noch knapp 33 %, aber immerhin. Auch die übrigen Unterhaltungssendungen verzeichnen relativ hohe Einschaltquoten, die trotzdem, ähnlich den Nachrichtensendungen, bis 1988 starke Rückgänge in der Sehbeteiligung einbüßen müssen. Denn: Die Bevölkerung der DDR guckt in den Westen. Die Westprogramme boten Abwechslung und somit definitiv das, was die Menschen in der DDR vom Medium Fernsehen überhaupt erwartet haben.

Gründe und Ursachen, nach „drüben“ zu schalten, gab es genügend: Die Mehrheit der DDR- Bürger nutzte die westdeutschen Programme vor allem als Kontrast zu ostdeutschen Informationen14. Man wollte Nachrichten der DDR-Medien überprüfen, vergleichen, die Westmedien hinzuziehen, weil die der DDR zu einem Thema keine Informationen verlauten ließen, vielleicht auch, um dem SED-Regime eins auszuwischen, weil es alle guckten, man mitreden wollte, nicht als „Regimefreund“ gehänselt werden wollte, vielleicht auch, weil die eigene Berichterstattung unglaubwürdig und propagandalastig war15. Jedoch war die Mehrheit der westfernsehensehenden DDR-Bevölkerung nicht hauptsächlich informations- und politikorientiert oder -interessiert: Die Mehrheit nahm die Nachrichten lediglich mit, da sie im Programm wegen ihrer Häufigkeit kaum übergangen werden konnten, weil das Radio sowieso nur als „Nebenbeimedium“ lief oder man nicht den Beginn des Abendfilmes verpassen wollte. Als bedeutender erwies sich die Eskapismusfunktion16 der Westmedien. Sie konnten am ehesten dem Wunsch der DDR-Bürger genüge leisten, ihnen zur medialen Flucht aus dem grauen und tristen Alltag der DDR zu verhelfen; mittels der Unterhaltungssendungen. Konnten die Heimatsender das Bedürfnis nach leichter Unterhaltung und Abwechslung nicht erfüllen, schalteten Zuschauer und Hörer zum Stammsender in den Westen, denn das Hauptmotiv für die Nutzung der Westmedien war der Wunsch nach einem Klimawechsel, nach Fröhlichkeit und einem ideologie- und propagandafreien Raum17.

Über die Mediennutzung in der DDR und die Auswirkungen der Nutzung des Westfernsehens auf die DDR-Medien und den Staat an sich, gibt es in der Forschung unterschiedliche Erklärungsansätze. Beispielsweise sei das Westfernsehen für die DDR-Bevölkerung das „Fenster zur Welt“18 gewesen, und hätte das Zusammengehörigkeitsgefühl der Ost- und Westdeutschen untereinander entscheidend gefördert19. Zusätzlich sei der DDR-Bevölkerung ständig ihre eigene miserable Lage unter der Herrschaft der SED vor Augen geführt worden; die Westmedien hätten sie zu Vergleichen des Lebensstandards zwischen Ost und West herausgefordert, die miserable wirtschaftliche Situation aufgedeckt - womit sie letztendlich den angeblich „real existierenden Sozialismus“ in der DDR demaskierten20. In dieser Weise hätten die Medien der BRD, insbesondere ARD und ZDF, langfristig betrachtet, zur Destabilisierung des DDR-Systems beigetragen und letztlich auch zum Zusammenbruch der DDR geführt21.

Auf der anderen Seite steht die Behauptung der Stabilisierung des SED-Regimes und der DDR durch die westlichen Medien. Genügte der DDR-Bevölkerung eine zeitweilige „geistige Ausreise“ mittels der westlichen Medienangebote? Bewirkte das Westfernsehen in der DDR eine Zufriedenstellung der Bevölkerung mittels einer Entspannungstherapie via Fernsehen? Unbestritten ist, dass der Konsum des Westfernsehens vom eigenen Alltag in der DDR ablenkte, zeitweilig die Zuschauer die Tristesse ihrer Umgebung durchaus vergessen lassen hat. Die per Knopfdruck Ausgereisten empfanden ihre Freiheitsberaubung als weniger schmerzhaft22. Solange man Westfernsehen gucken konnte, war man zufrieden, hat es ausgehalten in der DDR: Das jedenfalls scheint die Beobachtung zu bestätigen, dass es in der Region Dresden, die kein Westfernsehen empfangen konnte, die meisten Ausreiseanträge und politischen Vorkommnisse gab23 - so dass die Führung der SED 1988 tatsächlich erwog, des Bewohnern des „Tals der Ahnungslosen“ über Relaisstationen das fehlende Westfernsehen zugänglich zu machen.

Dieser Umstand weist auf eine dritte mögliche und in der Forschung diskutierte Auswirkung des Nutzung von Westfernsehen hin: Man vermutet, dass die Nutzung eine Art Abschreckung gegenüber dem Westen verursache im Sinne einer Videomalaise, wonach das Fernsehen durch seine Berichterstattung ein negatives Image des politischen Systems erzeuge24. Das heißt, die westlichen Medien berichten über die westliche Welt und schrecken die DDR-Bevölkerung gleichzeitig mit ihrer Berichterstattung vor dieser ab, weshalb ostdeutsche Politiker dazu übergingen, das Westfernsehen als „ systemstabilisierend “ 25 zu betrachten: „ Wenn unsere Leute täglich in eurem Fernsehen Massenarbeitslosigkeit und Massenelend, die neue Armut, Streiks, Schlägereien, Demonstrationen und Polizeieinsätze sehen, dann brauchen wir das im ‚ Neuen Deutschland ’ gar nicht mehr zu schreiben. Was wir im ‚ Neuen Deutschland ’ schreiben, glaubt sowieso keiner. Aber wenn sie es bei euch sehen, glauben sie es. “ 26 Dass diese Abschreckungshypothese historisch betrachtet nicht haltbar ist, beweist letztlich das Ende der DDR, der in der Wendezeit oft gehörte Ruf „Wir sind ein Volk!“ ebenso wie der heftig geäußerte Wunsch der DDR-Bevölkerung nach einer Wiedervereinigung mit dem Volk, das angeblich in Armut und Massenelend lebt.

2.) Medienbiographische Forschung: Ziel und Methodik

Innerhalb der Kommunikationsforschung ist die medienbiographische Methode bzw. Befragung den alltags- und lebensweltlich orientierten Ansätzen zuzuordnen. Medienbiographisch heißt, die Bedeutung der Medien wird in den unterschiedlichen Lebensphasen eines Individuums thematisiert. Sie entstammt der biographischen Methode qualitativer Sozialforschung, die individuelle und gesellschaftliche Biographie-Muster und die Strukturen des Lebenslaufes erforschen möchte. In Erweiterung der biographischen Methode untersucht der medienbiographische Ansatz den Zusammenhang von Alltag, Lebenslauf und Medien und die Bewertung dieser Zusammenhänge durch das Individuum. Am Ende einer solchen Studie stehen zwar verschiedene Mediennutzungstypen, sie sind jedoch nicht unbedingt das Ziel der Untersuchung, sondern vielmehr ihr Zustandekommen - wobei individuellen Ursachen besondere Beachtung geschenkt wird. Die medienbiographische Methode erhebt eine Art „Medien- Lebensläufe“: „ das Medienverhalten im Laufe der lebenszeitlichen Entwicklung “ 27 ; Prozesse werden aufgezeigt. Zentrale Fragestellungen dabei sind, welchen Einfluss die Medien überhaupt auf biographische Strukturen haben und ob es biographische Verläufe oder Muster gibt, die zu typischen Nutzungsgewohnheiten führen.

Im Vordergrund des Forschungsinteresses stehen somit die subjektiven Konstitutionsprozesse der Mediennutzung und deren Verflechtung mit alltäglicher, biographisch konstituierter Lebenswelt. Rein persönliche und nur individuell gültige Aussagen werden der Methode dennoch abgesprochen; die Lebenswelt, in der Menschen leben und handeln, wird als eine Art objektiver Rahmen für subjektives Handeln dargestellt: „ Lebenswelt ist der soziale Kontext, in dem objektive Bedingungen subjektiv bedeutsam werden. “ 28 Dabei thematisiert diese Form der mündlichen Befragung „ die Perspektive der handelnden Subjekte und legt ein Schwergewicht auf die Aufarbeitung lebensgeschichtlicher Prozessverläufe. In diesem Sinne ist sie in der Lage, Rituale und Ritualisierungsprozesse, wie sie auch im Bereich der Mediennutzung zu beobachten sind, aufzuzeigen und zu erklären. “ 29 An dieser Stelle tritt deutlich der Charakter qualitativer Sozialforschung ans Tageslicht: Qualitative Forschung ist im Gegensatz zur variablenorientierten quantitativen Forschung fallorientiert, d. h. sie versucht anhand von Fallbeispielen Verhalten - in diesem Falle Mediennutzungsverhalten - zu analysieren und zu verstehen. Ebenso wenig stehen Hypothesen am Beginn einer qualitativen (in diesem Falle medienbiographischen) Untersuchung: Qualitative Forschung prüft keine Hypothesen, sondern verfährt hypothesengenerierend, sie ist explorativen Charakters, das bedeutet: „ Hypothesen sollten allenfalls am Ende des Forschungsprozesses als Ergebnis formuliert werden. “ 30

Dies alles geschieht vor dem methodologischen Hintergrund, Mediennutzung in ihrer Gesamtheit nicht nur über Reichweiten- oder Konsumdaten erfassen zu können, oder sich in der Untersuchung nur auf ein einzelnes Medium zu beschränken; sondern auch die Lebenswelt der Mediennutzer mit einzubeziehen. Der Alltag und Lebenslauf, die Lebenswelt der Mediennutzer sind für mögliche Erklärungen des Nutzungsverhalten von zentraler Bedeutung, „ weil aktuelle, medienbezogene Handlungspotentiale auf bereits erworbenem Wissen und früheren Erfahrungen beruhen “ 31. Von Forschungsinteresse sind ebenfalls auch die Motive für das jeweilige Nutzungsverhalten und die Entstehung von Einstellungen gegenüber den Medien, wofür „ Kenntnisse von der Bedeutung und Nutzung einzelner Medien in den unterschiedlichen Phasen des Lebens notwendig sind “ 32 .

Die vorliegende Arbeit nun bzw. das zu behandelnde biographische Interview ist außerdem vor einem ganz besonderen historischen Hintergrund zu betrachten und auszuwerten. Zu den genannten Zielen und Vorgehensweisen der medienbiographischen Befragung kommt der Umstand hinzu, eben diese Ziele und Vorgehensweisen mit Blick auf die Existenz eines totalitären politischen Systems zu betrachten; der DDR. Das heißt, es sollen Medienlebensläufe von Mediennutzern in einem totalitären Staat erhoben werden, ihre Bewertung und Einstellung gegenüber den Medien in diesem Staat erforscht und auch Nutzungsmuster der Bevölkerung für diese von der Politik kontrollierten Medien aufgezeigt werden in Verbindung mit dem lebensweltlichen Alltag in der DDR - kurzum, es wird ein Zusammenhang gesucht zwischen Lebensläufen und Mediennutzung vor dem Hintergrund eines totalitären Staatsapparates. Dieser historische Hintergrund impliziert, dass keine das Leben eines einzelnen in seiner Gesamtheit thematisierenden medienbiographischen Interviews durchgeführt wurden, sondern die Methode sich auf einen einzelnen zeitlichen Ausschnitt der individuellen Biographie konzentriert.

2.1) Methodologische Probleme und Fehlerquellen

Insbesondere wenn es darum geht, nach Erklärungen für das Mediennutzungsverhalten der Menschen zu suchen, ist der Wissenschaftler beinahe gezwungen, sich auf Befragungen der Mediennutzer zu stützen. Sogenannte „ Medienerinnerungen spielen in niedergeschriebenem biographischen Material kaum eine Rolle, da sie nicht berichtenswert erscheinen “ 33. Mediennutzung gehört zum Alltag der Menschen, sie ist fest in den Alltag eingebunden, konstituiert ihn nahezu. Der Fernseher wird genauso gewohnheitsmäßig eingeschaltet wie der Kaffee zum Frühstück gekocht wird; „ Mediengebrauch verselbstständigt sichähnlich dem Berufstrott “ 34. Die persönliche Befragung erleichtert es nun dem Befragten, sich an konkretes Mediennutzungsverhalten zu erinnern, zum Beispiel mittels gezieltem Fragen des Interviewers nach Medienerfahrungen, Mediennutzung etc. - Fakten also, die er von selbst eventuell unter den Tisch gekehrt hätte, sei es, weil sie ihm nicht berichtenswert schienen aus den genannten Gründen oder weil er sie tatsächlich vergessen hat.

Ein weiteres Problem ist die Selektion der Erfahrungen durch den Befragten, die eine biographische Befragung unweigerlich bewirkt. Das heißt, der Befragte liefert dem Interviewer nur einen Ausschnitt seiner Erfahrungen und Erlebnisse, die er obendrein nach eigenem Gutdünken auswählt: Erfährt der Wissenschaftler nun tatsächlich das, was er wissen möchte oder wäre ein ganz anderes Ereignis im Leben des Befragten viel bedeutender als jenes, das er dem Interviewer tatsächlich mitteilt? Dieses Problem kann der Wissenschaftler jedoch zu seinen Gunsten etwas abschwächen: Indem er ein zweites oder drittes Interview durchführt nachdem er das erste bereits ausgewertet hat und sich zusätzliche (Nach-) Fragen ergeben haben35. Dann kann der Wissenschaftler nochmals auf Aspekte des Gesprächs eingehen, die nur kurz angeschnitten oder vernachlässigt wurden, knapp gegebene Antworten nochmals aufgreifen und den Befragten nochmals animieren, tiefer in seinen „Medienerinnerungen“ zu graben. Der Nachteil solcher Zweitinterviews liegt eventuell darin, dass die Glaubwürdigkeit des Interviewers verloren geht - „Was will der denn schon wieder? Ich hab’ doch schon alles gesagt!“ etc. Deshalb sollte ein erstes Interview nicht „beendet“ werden, sondern „suspendiert“: „ Der Punkt ist, dass ein Interview, das eher suspendiert als beendet worden ist, immer wieder bequem fortgeführt werden kann. “ 36

Nachteilige Konsequenzen kann auch der künstliche Charakter der biographischen Befragung nach sich ziehen: Das Interview ist ein künstlich herbeigeführtes Gespräch, eine Art Pseudogespräch, das nicht zur alltäglichen Kommunikation zählt und für den Befragten ungewohnt ist.

Nicht ohne Auswirkungen bleibt auch die Tatsache, dass biographische Forschung meist vor einem anonymen Publikum stattfindet; den künftigen Lesern der Forschungsergebnisse, eigentlich der gesamten Öffentlichkeit. Das berücksichtigt der Befragte meist in seinen Ausführungen. Die Zusicherungen von Anonymität wird ihm nicht genügen - die Scham, seine Äußerungen im öffentlichen Rampenlicht zu wissen, überwiegt bei den meisten Menschen und beeinflusst die Äußerungen des Befragten37.

Ein weiteres Problem der biographischen Forschung und konkret auch in Bezug auf das vorliegende Interview besteht darin, dass die untersuchten Phänomene bereits der Vergangenheit angehören, Geschichte sind, und nur über rückblickende Erzählungen rekonstruiert werden können. Wurde weiter oben schon das Problem des Erinnerungsvermögens an die damalige Mediennutzung (in der DDR) angesprochen, so kommt nun noch hinzu, dass dieses Erinnern eines nach einem Systemwechsel ist: „ Das kann dazu führen, dass sich die Wahrnehmungs- und Interessenstruktur der heutigen Lebenssituation von der damaligen erheblich unterscheidet, [...], dass die retrospektive Bewertung der DDR seit der Vereinigung Konjunkturen durchlaufen hat, von nostalgischen Zügen nicht frei ist und stark von der jeweiligen Lebenssituation abhängt. “ 38 Jemand, dem es heute - nach der Wiedervereinigung - eher schlecht geht, finanziell minder bemittelt ist oder eine eher niedere soziale Stellung einnimmt, sagt vielleicht: „Früher war alles besser!“ Jemand, der heute gut verdient, Karriere macht und eine hohe soziale Stellung inne hat, wird sicher sagen: „In der DDR wäre das nicht möglich gewesen“, oder ähnliches. Die jeweilige Lebenssituation beeinflusst also die Bewertung der DDR.

2.2) Befragungsinstrumente

Als Instrumente werden in der biographischen Befragung meist qualitative Befragungstechniken angewandt: Das narrative Interviews oder das Leitfadeninterview. In den folgenden Ausführungen möchte ich mich jedoch auf das Leitfadeninterview beschränken, da dieses auch im hier zu behandelnden Interview seine Anwendung fand.

Im Leitfadeninterview ist die Gesprächsführung im Gegensatz zum standardisierten Interview weitgehend offen gestaltet. Schon Lazarsfeld nannte das offene Interview eine Möglichkeit, motivationale Interpretationen zu ermöglichen39. Als weitere Anwendungsmöglichkeiten nennt er außerdem die Analyse komplexer Einstellungsmuster und auch die Chance, Einflüsse auf die Meinung(sbildung) einer Person / des Befragten herauszufinden. All das soll in dem vorliegenden Interview untersucht und analysiert werden, immer vor dem Hintergrund des DDR-Staates.

Das offene Interview arbeitet mit nicht-standardisierten Fragen und einem geringen Maßan Strukturierung. Auf diesem Wege können genauere und umfangreichere Informationen des Befragten erlangt werden unter Berücksichtigung seiner Perspektiven, Sprache und Bedürfnisse. Diese Form der Befragung möchte vor allem den Antwortspielraum des Befragten erweitern und eine auf seine spezifischen Probleme und Bedürfnisse angemessene Befragung ermöglichen. Das Interview wird deshalb nur anhand eines grob strukturierten Schemas durchgeführt - dem Leitfaden, durch den die weitgehende Offenheit des Leitfadeninterviews gewisse Einschränkungen erfährt.

Der Leitfaden ist eine Anzahl von Fragen oder Stichworten, die wenigstens ein Minimum an Vergleichbarkeit der Interviews gewähren sollen. Zusätzlich hat der Leitfaden die Funktion, Anregungen und neue Ideen zu bringen, wenn das Gespräch oder der Redefluss des Befragten stockt. Außerdem dient er als Orientierungsrahmen und Gedächtnisstütze für den Interviewer und vergrößert seinen Spielraum, Fragen zu formulieren, anzuordnen und Nachfragen zu stellen.

Dem stehen jedoch auch einige Nachteile gegenüber: Viele auch im standardisierten Interview auftauchenden Probleme erscheinen hier in verstärkter Form - beispielsweise der Einfluss des Interviewers in der Erhebungssituation, die Bereitschaft des Befragten zur Mitarbeit, die Dauer des Interviews, der zeitliche Aufwand der Auswertung und schließlich die geringe Vergleichbarkeit der Ergebnisse.

Doch nun etwas detaillierter: Fehlerquellen im Leitfadeninterview birgt die Befragungstechnik selbst und bestehen zudem beim Interviewer, beim Befragten und ihrem Verhältnis zueinander. Wird ein Leitfaden verwandt, gerät der Interviewer oftmals in ein Dilemma zwischen der „Breite“ und „Tiefe“ des Interviews: Das heißt, es tauchen Vermittlungsprobleme auf zwischen den Vorgaben des Leitfadens und der Zielsetzung der Fragestellung bzw. des Interviews auf der einen und den Darstellungen des Befragten auf der anderen Seite. Außerdem besteht die Gefahr, dass der Leitfaden eine gewisse „Leitfadenbürokratie“40 verursacht, das heißt, das Interview wird allein vom Leitfaden geleitet; der Interviewer „klebt“ starr am Leitfaden und seinen Vorgaben, er möchte alle Fragen abarbeiten, unterbricht den Befragten in seinen Ausführungen zu ganz anderen Dingen, er stellt Fragen zum falschen Zeitpunkt etc. - auf diesem Wege geht jedoch jegliche Offenheit verloren und mit ihr zahlreiche Kontextinformationen über den Befragten. In diesem Fall ist der Leitfaden von einem „ Mittel der Informationsgewinnung zu einem Mittel der Blockierung von Informationen “ 41 geworden; der Interviewer hält sich zu strikt an die Vorgaben des Leitfadens, fragt nicht ausreichend nach und übergeht vom Befragten vorgebrachte Themen.

Fehlerquellen der Methode liegen auch in der Beziehung des Interviewers zum Befragten bzw. im Verhältnis, das beide zueinander haben. Institutionelle Gegebenheiten des Interviews können sich durchaus auf die Datensammlung und deren Analyse auswirken42: Wird das Interview beispielsweise von einer beruflich-instituionellen Machtbeziehung beherrscht oder von einer Kontroll- und Machtsituation, die die Selbstdarstellung und lebensgeschichtliche Erinnerung des Befragten stark färben wird. Am sinnvollsten und zweckmäßigsten scheinen zwei Interviewpartner, die sich in ihren Beziehungen zueinander völlig neutral sind, d. h. keinerlei Verhältnis oder Beziehung zueinander haben; jedenfalls keines, das eine Macht- oder Kontrollbeziehung impliziert bzw. entstehen lässt.

Weitere Fehlerquellen sind natürlich auch beim Interviewer selbst und auch dem Befragten zu suchen: Der große Handlungsspielraum des Interviewers kann sich durchaus negativ auswirken, wozu auch die Prozesse gegenseitiger Wahrnehmung und wechselseitiger Erwartungen gehören: Lächeln, Kopfnicken und ähnliche entsprechende Gesten verstärken den Antwortstil des Befragten und erhöhen die Länge seiner Antworten. Stirnrunzeln, Kopfschütteln und ähnliches erhöhen dagegen die Ängstlichkeit des Befragten, auf Fragen zu antworten43. Auch das Frageverhalten des Interviewers beeinflusst den Befragten in seinen Antworten; die Frageformulierungen und -Anordnungen beispielsweise. Interpretiert der Interviewer den Befragten, korrigiert er dessen Aussagen oder blockiert und unterbricht er gar die Ausführungen seines Gegenüber. Weitere „Kunstfehler“44 sind unklare, schwer verständliche Fragen, zu lange oder thematisch überladene sowie suggestive Fragen. Derartige Interviewerfehler können die Qualität des erhobenen Datenmaterials massiv beeinflussen.

Aber auch der Befragte selbst birgt Fehlerquellen: Denn die biographische Befragung ist für ihn wegen ihres künstlichen Charakters äußerst ungewohnt - warum soll er einem ihm fremden Menschen etwas von sich und aus seiner Vergangenheit erzählen? Noch dazu ausführlich und detailliert. Warum interessiert sich jemand dafür? Viele der Befragten lassen sich auch durch die Anwesenheit des notwendigen Tonbandgeräts verunsichern. Ältere Befragte sind vor allem vom „Generationsmotiv“45 beherrscht und wollen nachfolgende Generationen mit ihren Ausführungen belehren; das Interview bietet ihnen ein geeignetes „Veröffentlichungspotential“. Andere versuchen, eigene Gesprächsregeln oder -Formen gegenüber dem Interviewer durchzusetzen und wollen sich nicht an die Rolle des auf Fragen reagierenden Befragten anpassen. Auswirkungen auf die Qualität des erhobenen Materials hat auch die Erzählbereitschaft des Befragten, die von Mensch zu Mensch bekanntlich verschieden ist. Auch Zeit und Ort und die Umstände der Befragung wirken sich auf den Befragten aus; weshalb es sinnvoll ist, dem Befragten den Heimvorteil zu gewähren und das Interview in seiner Wohnung durchzuführen46. Ein Nachteil biographischer Befragungen ist auch der Umstand, dass Befragte oftmals versuchen, ihre Vergangenheit zu retuschieren, schön zu reden und versuchen, widersprüchliche Erfahrungen und Widersprüche im eigenen Leben im Nachhinein zu korrigieren47 - denn der Interviewer soll kein schlechtes Bild vom Befragten bekommen.

3.) Vorstellung des Befragten

Innerhalb meiner Arbeitsgruppe im Seminar hatte ich folgende Quoten in Bezug auf den späteren Gesprächspartner zu erfüllen: Männlich, vor 1945 geboren, ohne Studium. Gefunden habe ich ihn in dem Vater einer Freundin. In den folgenden Ausführungen möchte ich ihn der Anonymität wegen nur als Herrn Grün bezeichnen, den ich bis zum Zeitpunkt des Interviews nur aus Erzählungen kannte, ihn bis dahin weder persönlich gegenübergestanden oder gesprochen habe. Mein Verhältnis zu Herrn Grün war deshalb von vornherein unbelastet und neutral, wir hatten nicht mal miteinander telefoniert wegen des Interviews; alle Terminabsprachen geschahen über seine Tochter. Diese Umstände haben jedoch keinesfalls negative Konsequenzen nach sich gezogen; Herr Grün hat sich als sehr aufgeschlossen, offen und interessiert erwiesen. Das Interview hat gezeigt, dass Herr Grün reich an Wissen ist, seine Umwelt aufmerksam beobachtet und bewertet, ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl für seine Familie besitzt und sehr gern mit Leuten zusammen ist und. Dem Interview gegenüber war er keinesfalls misstrauisch, sondern sehr neugierig, offen und um keine Antwort verlegen.

3.1) Der Befragte in der DDR - Kurzbiographie

48 Herr Grün wurde 1941 in Schlesien geboren und siedelte bereits 1946 mit seinen Eltern nach Deutschland um. Aufgewachsen ist er in einem Dorf in Sachsen. Sein Vater war zunächst Bauer gewesen, arbeitete in Deutschland aber als Industriearbeiter. Nach einer 8-Klassenausbildung absolvierte Herr Grün eine verkürzte Ausbildung zum Postfacharbeiter. Anschließend wollte er ein Studium beginnen, was ihm jedoch aufgrund einer fehlenden „ sozialistischen Vor- oder Grundausstattung im Sinne der DDR “ (Interview S. 2) verwehrt wurde. Herr Grün hatte an keiner Jugendweihe teilgenommen und wehrte sich gegen die zunächst freiwillige Teilnahme am militärischen Wehrdienst. Nachdem die Wehrpflicht eingeführt wurde, war er einer der ersten, der „ gezogen “ (Interview S. 1) wurde. Zwischenzeitlich arbeitete er als Hilfsarbeiter, da er der Post den Rücken gekehrt hatte.

Als Anhänger der katholischen Kirche war Herr Grün nicht geneigt, an der Jugendweihe der DDR teilzunehmen, denn die Jugendweihe richtete sich gegen den Glauben. Die katholischen Bischöfe äußerten sich in einem Hirtenwort an die Diözesanen am 26. Dezember 1954 folgendermaßen: „ Die Jugendweihe ist immer eine Sache jener gewesen, die den christlichen Glauben und die Kirche ablehnen. [...] Die jetzt geplanten Jugendweihen können für einen katholischen Christen niemals in Frage kommen; sie haben als Grundlage eine materialistische Weltanschauung und wollen die Belehrung im materialistischen Geist, die die religionslose Schule begonnen hat, fortsetzen und mit einer Feier krönen. [...] Kann man ein Bekenntnis zu Gott ablegen und zugleich auch ein Bekenntnis zur Gottlosigkeit? “ 49

Nach dem Wehrdienst fand er einen Montagebetrieb in Sachsen, der ihm auch zusätzliche Qualifikationsmöglichkeiten zusicherte. Über den Hilfsarbeiter arbeitete sich Herr Grün in der Folgezeit zum Facharbeiter hoch, wurde Brigadier, absolvierte eine Meisterausbildung und wurde letztendlich von der Firma auch zum Lehrmeister berufen und absolvierte eine zusätzliche Ausbildung in einer Ingenieurschule. Mittels diesen Posten arbeitete er auf verschiedenen Baustellen in der ganzen Republik und gelangte schließlich nach Dresden Hier heiratete er 1969 seine Frau, die eine Ausbildung zum Bauingenieur absolvierte, und von 1969 bis 1986 verteilt kamen ihre vier Kinder.

Aufgrund seiner beruflichen Position als Montagearbeiter war die Familie nach eigenen Angaben in einer außerordentlich vorteilhaften finanziellen Lage; Herr Grün bezeichnet sie als „ privilegiert “ (Interview S. 3) und gibt an, überdurchschnittlich gut verdient zu haben (Interview S. 2): „ Wo andere lange sparen mussten, konnte ich mir manchmal Industriegüter von einem Monatslohn kaufen. “ Herr Grün betrieb nebenbei „Schwarzarbeit“, d.h. die staatlichen Betriebe beschäftigten die Montagearbeiter neben ihren eigentlichen Arbeiten für das Dreifache des Lohnes (Interview S. 2).

Herr Grün und seine Familie hatten außerdem auch Westverwandtschaft und -Bekanntschaft: Seine Schwester war in den Westen gegangen und er hatte einen Schulfreund dort. Von ihnen sowohl als auch von einer Familie, die Familie Grün erst nach der Wende persönlich kennen lernte, erhielten die Grüns die sogenannten „Westpakete“. Da sich Herr Grün aktiv in der Kirche engagierte, hatte er auch regelmäßig Kontakt zu Leuten, die im Westen zu tun hatten. Herr Grün gibt an, nichts gegen die DDR gehabt zu haben (Interview S. 2), dennoch war es für ihn ein System, dass ihm seine Freiheiten verwehrte und für das er nicht stehen könne (Interview S. 3). Die Ursache für seine meiner Meinung nach recht positive und zufriedenstellende Existenz in der DDR, sieht Herr Grün in den „ Grundlagen des Glaubens “ (Interview S. 2) begründet. Herr Grün ist katholisch und ist seit jeher aktives Mitglied in der Kirche. Herr Grün sah es als Vorteil für sich anderen gegenüber, während der DDR-Herrschaft Halt in der Kirche gefunden zu haben und so überleben und durchhalten zu können. Die Freiheit, die ihm der Staat verwehrte, fand er in der Kirche: „ Viele hatten diesen Drang, oder die nicht diesen Halt in der Kirche haben, die haben dann natürlich versucht, diese Freiheit anderswie zu nutzen. “ (Interview S. 3) Herr Grün trennte eindeutig zwischen Kirche und Staat: „ Gib dem Staat, was dem Staat gehört, und Gott, was Gott gehört. “ (Interview S. 2) In dieser Weise hat er sich in dem System DDR arrangiert. Herr Grün selbst bezeichnet sich und die Kirchenmitglieder allgemein als „ treuere DDR-Bürger als man sich denken konnte “ (Interview S. 3), obgleich behauptet wird, die Kirchen hätten das einzige wirkliche „Feindgebiet“ innerhalb der DDR für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) dargestellt50.

3.2) Vorgehen und methodische Erfahrungen im Interview

Im folgenden Kapitel möchte ich meine Vorgehensweise im Interview beschreiben und auf die im Vorfeld genannten Probleme der biographischen Befragung und ihre Bedeutsamkeit im eigenen Interview eingehen.

Vor dem Interview habe ich zunächst einen Leitfaden vorbereitet, der sowohl ausformulierte Fragen als auch einzelne Stichworte enthielt. Zusätzlich habe ich nochmals alle Texte aus dem Seminar überflogen und mich inhaltlich auf das Interview vorbereitet. Dennoch hatte ich stets das Gefühl, nicht genug Wissen über die behandelte Zeit zu besitzen und kam mir gegenüber Herrn Grün manchmal eher unwissend vor - auch wenn der Zweck des Interviews darin bestand, neue Dinge zu erfahren.

Das Interview fand in der Wohnung des Befragten statt; mir und Herrn Grün erschien das am vorteilhaftesten. Seine Tochter war ebenfalls da und zusammen haben wir noch über andere Dinge geplaudert bevor wir uns ins Wohnzimmer zurückzogen und das Interview ungestört durchführen konnten. Auf diesem Wege hat sich auch die Unsicherheit meinerseits gelegt und Hemmungen auf beiden Seiten vor dem unbekannten Gegenüber wurden abgebaut.

Im Interview habe ich gemerkt, dass ein Leitfaden unerlässlich ist; Herr Grün erwartete regelrecht, dass ich ihn „ausfragen“ würde. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass er auch von mir Antworten erwartete, dass ich nicht nur Fragen stelle, sondern mit ihm diskutiere. Der Verlauf des Interviews wird den Befragten/hat ihn vielleicht enttäuscht, da er bei dem Begriff „Interview“ an ihm geläufige Gesprächsformen und Frage-Antwort-Schemata möglicherweise aus dem Fernsehen oder Illustrierten denkt51 - solche Gesprächsformen wecken jedoch ganz andere Assoziationen, als sie tatsächlich in der biographischen Befragung zum Tragen kommen. Genau an diesen Stellen kam ich mir jedoch zu unwissend vor, um eine Diskussion zu beginnen. Jedoch habe ich gemerkt, dass auf dem Wege der Diskussion mehr, ausführlicheres und detaillierteres Datenmaterial erhoben werden kann, als wenn der Interviewer nur die Position des Zuhörers einnimmt und ab und zu eine Frage vom Leitfaden stellt.

Gleichzeitig ist ein Leitfaden unerlässlich, um Antworten des Interviewten zu vertiefen und nachzuhaken, eigentlich auch, um sie überhaupt richtig zu verstehen. Das impliziert eine intensive Vorbereitung des Interviewers auf die Befragung, insbesondere inhaltlicher Art. Nichts scheint schlimmer zu sein, als ein unwissender bzw. unvorbereiteter Interviewer. Nach dem Interview habe auch ich bereut, mich nicht intensiver vorbereitet zu haben, mir zu wenige mögliche Fragen und Stichwörter überlegt zu haben. Meiner Meinung nach kann der Leitfaden durchaus sehr umfangreich sein, denn am Ende werden sowieso nicht alle Fragen gestellt; viele beantworten sich von selbst, fallen von vornherein weg oder werden spontan weggelassen, andere ergeben sich während des Interview. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es vorteilhaft ist, eher zu viele Fragen auf dem Zettel stehen zu haben - es genügen auch Schlagwörter oder Oberbegriffe - als plötzlich in die Verlegenheit zu geraten, sich noch schnell welche ausdenken zu müssen - bei dem Befragten hinterlässt das keinen guten Eindruck. In einer solchen Situation entstehen meist schwer verständliche und überlange Fragen, die auch von der Unsicherheit des Interviewers zeugen. Meiner Meinung nach entsteht die Gefahr der sogenannten „Leitfadenbürokratie“ nicht zwingend mit einem umfangreichen Leitfaden; es kommt ganz auf den Interviewer an und wie er sich dem Befragten und seinen Erzählungen anpasst.

Zieht man die weiter oben behandelten Fehlerquellen und methodischen Probleme der biographischen Befragung und des Leitfadeninterviews heran, machte ich während meines Interviews die folgenden Erfahrungen:

Es wurde beispielsweise erläutert, dass sich zu Befragende eher misstrauisch gegenüber dem Interview und dem Interviewer verhalten, da es für sie eine ungewohnte Situation ist. Diese Befürchtungen haben sich nicht befürwortet. Herr Grün erwies sich als äußerst kooperativ, neugierig, interessiert und erzählbereit. Sicher ist das von Mensch zu Mensch verschieden, da sich die Erzählbereitschaft von Mensch zu Mensch unterscheidet. Es ist meiner Meinung nach jedoch anzunehmen, dass Menschen, die eher „mundfaul“ sind, von vornherein die Teilnahme an einer biographischen Befragung ablehnen.

Außerdem bestände die Gefahr, dass sich die Befragten oftmals schlecht erinnern könnten, insbesondere an ihre Mediennutzung. Diesen Eindruck hatte ich nicht; Herr Grün erzählte sehr bereitwillig aus seiner Vergangenheit, hatte stets alles im Kopf, nur einige wenige Male konnte er sich nicht mehr genau erinnern, es handelte sich dabei jedoch nicht um entscheidende Fakten.

Das Interview wurde auch nicht von einer möglichen Macht- oder Kontrollbeziehung beherrscht, die das Interview negativ beeinflusst hätte. Das Verhältnis war unbelastet und neutral, da weder ich Herrn Grün persönlich kannte, noch er mich. Zudem hatte ich viel zu wenig von ihm gehört, als dass ich mir tatsächlich ein Bild von ihm hätte machen können. Allerdings weißich nicht, was ihm seine Tochter über mich als ihre Freundin möglicherweise erzählt hat. Mögliche Auswirkungen spürte ich jedoch nicht; Herr Grün gab sich mir gegenüber sehr freundlich, zuvorkommend und offen.

Das „Generationsmotiv“ spielte während des Interviews ebenfalls keine Rolle. Genauso wenig wie mich belehren, wollte Herr Grün andere Gesprächsregeln oder -Formen durchsetzen. Ich hatte lediglich den Eindruck, dass er von meiner Seite her mehr „Antworten“ und Diskussionsstoff erwartet hätte und ich mich nicht nur auf das Fragen beschränkt hätte. Demzufolge kann ich auf eine normale bis gemäßigte Erzählbereitschaft bei Herrn Grün schließen; von allein und ohne inhaltliche Reize hätte er sicher nicht in dem Umfang erzählt und berichtet.

3.3) Methodisches Fazit

Die biographische Befragung erweist sich durchaus als geeignete Methode, um Mediennutzung der Rezipienten aufzudecken, zu analysieren und zu bewerten. Aus meiner Erfahrung - die zwar nur aus einem Interview besteht - behaupte ich jedoch zu sagen, dass mindestens ein Leitfadeninterview als Befragungsinstrument verwendet werden sollte. Der Befragte erwartet Fragen und auch Diskussionsanreize vom Interviewer; vor allem auch, um sich selbst erinnern zu können oder Hinweise, was er überhaupt erzählen soll. Ich hatte das Gefühl, ohne einen Hinweis, eine Frage von mir, wusste Herr Grün nicht genau, was er erzählen sollte.

Aus diesem Grund kann der Leitfaden durchaus umfangreich gestaltet sein - womit die Quantität als auch Qualität der Fragen gemeint ist. Außerdem könnte man die Befragung nicht nur auf das Stellen von Fragen beschränken, sondern auch eine Diskussion zwischen Interviewer und Befragten miteinbeziehen. Aus dieser heraus, erzählt der Befragte mehr aus seiner Vergangenheit und wesentlich detaillierter und vertiefend.

4.) Mediennutzung in der DDR - dargestellt und diskutiert anhand eines Beispielinterviews

4.1) Medienausstattung und Zugang zu Medienangeboten

Mit der gemeinsamen Wohnung besaßen die Grüns auch ein Radio; in den Achtzigern erwarben sie ein Fernsehgerät, „ nicht mal das billigste “ (Interview S. 3), erzählt Herr Grün, was er mit seinen finanziellen Möglichkeiten begründet.

Mit der Versetzung nach Dresden lebte Herr Grün mit seiner Familie im „Tal der Ahnungslosen“: In Dresden; was bedeutete, kein Westprogramm empfangen zu können. Empfangbar war das DDR-Fernseh- und Radioangebot. Als eine Art Ersatz für das fehlende Westfernsehen schaute sich Herr Grün die Tschechensender an. Sein Fernsehgerät hatte er eigens dafür umgebaut. Von den tschechischen Sendern behauptet er, dass sie viel mehr Programme aus Westdeutschland und dem westlichen Ausland überhaupt übernommen hätten als das DDR-Fernsehen; die Tschechen „ waren da viel offener “ (Interview S. 3).

Vielmehr als die DDR- und auch Tschechenprogramme nutzte Herr Grün jedoch den Deutschlandfunk; er bezeichnet ihn als „ Standard- und Heimatsender “ (Interview S. 3) für die ganze Familie. Der Sender war nach seinen Angaben ständig eingestellt und „ eigentlich die Verbindung direkt, ja ins westliche Ausland “ (Interview S. 3).

Dass Herr Grün kein Westfernsehen empfangen konnte, hat ihn keineswegs gestört, er hat diesen Umstand auch nicht als Mangel empfunden (Interview S. 3), nur die unzureichenden, ideologisch gefärbten oder gar fehlenden Informationen im DDR-Fernsehen und -Radio ließen ihn ein objektives Informationsmedium vermissen, das ihm jedoch auch nicht die Programme Westdeutschlands bieten konnten, denn denen stand Herr Grün auch nicht unbedingt wohlgesonnen oder begeistert gegenüber, jedoch lehnte er sie auch nicht vollkommen ab; die Programme waren lediglich nicht nach seinem Geschmack und die Freiheit, die er wohl in Westdeutschland vermutete, bringe nicht immer nur Gutes (Interview S. 3). Selbst wenn Herr Grün seine Schwester im Westen besuchte oder auch seine andere Schwester in Leipzig, verspürte er kein Verlangen, unbedingt Westfernsehen sehen zu müssen: „ Wir haben wie Au ßenseiter geguckt. Das war nicht so unsere Welt ... ja, ungewohnt, weil, die das immer kannten, die konnten lachenüber Dinge, die wir gar nicht verstanden haben. “ (Interview S. 6) Herr Grün hatte demzufolge überhaupt keine Beziehung zum Westfernsehen, es war etwas gänzlich unbekanntes für ihn, von dem er auch nicht behaupten konnte, es unbedingt kennen lernen zu wollen. Vielleicht empfand er auch eine gewisse Angst oder Unsicherheit vor diesen unbekannten Medien, wusste nicht, wie er mit ihnen umgehen und was er von ihnen halten und sich von ihnen versprechen konnte: „ Denn alles was da drüben ist, wird auch nicht den Menschen glücklicher machen. “ (Interview S. 10) Herr Grün hegt ein gewisses Misstrauen gegenüber den westlichen Medien. Selbst wenn er die Chance hatte, Westfernsehen zu nutzen, war er nicht sonderlich beeindruckt, stellte weder Vergleiche zwischen beiden deutschen Staaten an oder war enttäuscht, selbst kein Westfernsehen nutzen zu können; das hätte ihn „ nicht so berührt “ (Interview S. 6). Obwohl in der Forschung behauptet wird, dass die Programme des Westfernsehens „ in vielfältiger Weise zu einem Vergleich zwischen Lebensstandard und Lebensweise in der Bundesrepublik und in der DDR herausgefordert “ 52 hätten - Herr Grün nahm daran keinen Anteil.

Hans-Jörg Stiehler führte im Raum Dresden zahlreiche biographische Interviews durch und teilte die Befragten in Bezug auf ihr Mangelbewusstsein in zwei größere Gruppen53: Auf der einen Seite steht ein relativ großer Teil, der keinen Mangel empfand, die Situation als gegeben hinnahm, nicht großartig darüber nachdachte oder einfach mit diesem Mangel gelebt hatte, der für diese Gruppe eigentlich keiner war. Auf der anderen Seite steht die Gruppe, die den Mangel tatsächlich als solchen und damit als Nachteil empfunden hat. Einige wenige empfanden diesen Mangel, der sich in erster Linie auf den Informationsbereich bezieht, sogar als einen permanenten „Leidensdruck“.

Nach Auswertung des Interviews zählt Herr Grün meiner Meinung nach weder in die erste noch in die zweite Gruppe; er vereinigt Elemente aus beiden Gruppen. Für die erste spricht, dass Herr Grün eigentlich keinen Mangel empfunden hat, was er explizit bestätigt (Interview S. 39), ferner, dass er durchaus mit diesem Mangel gelebt und sich mit ihm arrangiert hat. Dennoch hat er sich mit diesem Umstand auseinandergesetzt und nach Alternativen (Tschechensender, Deutschlandfunk) gesucht, da er das DDR-Programm nicht anerkannt hat und sich mit ihm zufrieden geben wollte.

Für die zweite Gruppe spricht, dass Herr Grün vor allem im Informationsbereich von den DDR- Medien unzureichend befriedigte Informationsbedürfnisse hatte. Beispielsweise kritisiert Herr Grün, dass die DDR-Medien nichts über die Tschernobyl-Katastrophe 1986 berichteten: „ Ja, Tschernobyl, kann ich Ihnen sagen, da haben wir ja gar nichts gesehen. Denn da wurde ja hier nichts berichtet. “ (Interview S. 7) Um an die Informationen zu gelangen, die Herr Grün wissen wollte, nutzte er die Tschechensender und den Deutschlandfunk, als Nachteil hat er die Situation jedoch nicht explizit empfunden, auch einen Leidensdruck hat er nicht verspürt; der Deutschlandfunk hat für das, was er wissen wollte durchaus genügt. Herr Grün hat das Westfernsehen weder vermisst noch das dringende Bedürfnis gehabt, es unbedingt sehen zu müssen.

Familie Grün nutzte auch die Printmedien: Abonniert hatten sie die Union, eine CDU-nahe Tageszeitung für den Bereich Dresden. Auch den heutigen Nachfolger, die Dresdner Neuesten Nachrichten (DNN), haben Grüns abonniert. Trotzdem die Zeitung der CDU nahe stand, bemerkte und kritisierte Herr Grün den unübersehbaren Einfluss der SED: „ Die hatten wir abonniert, aber wie eben alles von der SED regiert war, so waren auch diese Zeitungen eigentlich, ... , man sah schon, dass es nicht unbeeinflusst war. “ (Interview S. 3) Das war unvermeidlich, denn mit der ZENTRAG (Zentrale Druckerei-, Einkaufs- und Revisionsgesellschaft), die direkt dem SED-Zentralkomitee unterstellt war, kontrollierte die Partei über 90 % der gesamten Druckkapazitäten in der DDR54, zudem unterlagen die Publikationsorgane der Blockparteien den Anleitungen des Presseamtes55. Außerdem waren die Blockparteien CDU und LDPD lediglich „Transmissionsriemen“ der SED, deren Mitgliederschaft durch gezielte Unterwanderung von SED-Anhängern beherrscht wurde, und deren führende Funktionäre sich uneingeschränkt zum Marxismus/Leninismus bekannten56.

Die fast identische Anzahl von SED-Zeitungen (infolge der Länderauflösung 1952 15 Stück, ab 1963 14 Stück) und Blockparteienzeitungen (vier Zentralorgane und 14 Regionalblätter) bedeutete indes zu keinem Zeitpunkt eine Parität oder einen vergleichbaren politischen Einfluss der SED und der Blockparteien, außerdem sank gleichzeitig der prozentuale Anteil der Blockparteienpresse an der Gesamtauflage bis 1988 von zirka 20 auf nur noch 8,6 % - obwohl die Gesamtauflage aller Tageszeitungen seit Mitte der fünfziger Jahre von zirka vier Millionen bis 1988 auf 9,7 Millionen angestiegen war57.

Neben der Union hatten die Grüns die Junge Welt abonniert, jedoch nur in den letzten Jahren der DDR, weil die Zeitung Pflichtlektüre für die Kinder war (Interview S. 4). Auch die ABC-Zeitung für die Kinder wurde abonniert - weil sie Pflichtlektüre war, „ sonst hätte ich das nicht gekauft “ (Interview S. 4). Nicht regelmäßig bezogen aber gelesen hat Herr Grün die NBI, die sein Schwiegervater abonniert hatte. Zudem brachte der manchmal das Neue Deutschland (ND) mit, das dann auch von Herrn Grün gelesen wurde. Diesen Umstand begründet er vor allem damit, dass er in seiner beruflichen Stellung gezwungen sei, das ND zu lesen. Im Betrieb mussten führende Kräfte Parteilehrgänge absolvieren und sich monatlich „ rot berieseln lassen “ (Interview S. 7): „ Da waren wir fast gezwungen, manchmal auch in die Zeitung zu gucken. “ (Interview S. 7) Abonniert hätte Herr Grün das ND nicht: „ Nein, nein, nein, also das hätte es nie gegeben. “ (Interview S. 7) Parteireden wurden in solchen Sitzungen ausgewertet und jeder musste laut Herrn Grün Stellung nehmen. Gegen die DDR rebelliert hat in solchen Sitzungen niemand, auch nicht Herr Grün, obwohl er mit dem System DDR nicht einverstanden war. Wahrscheinlich hatte er sich auch keine Chance ausgerechnet: „ In dieser Weise hatten wir, glaube ich, keine Chance. Wer dort ... oder er begab sich dann in diese Gefahr, dass er auch verhaftet wurde. Denn in dieser Weise durfte man nicht offen reden. Und, ich würde sagen, das wäre ne törichte Handlung gewesen, weil man nichts hätte ausrichten können “ (Interview S. 9) In diesem Sinne arrangierte sich Herr Grün gewissermaßen mit dem System DDR, versuchte in ihm und natürlich mit Hilfe der Kirche, seine eigene Freiheit zu finden - wollte und konnte nicht offensiv gegen das System vorgehen. Abgesehen von den monatlichen „Berieselungen“ war Herr Grün auch auf seiner Arbeitsstelle „ relativ frei von politischer Beeinflussung “ (Interview S. 5). Er hätte sich nicht verstecken müssen, genoss mit seinen Kollegen relative Freiheit: „ Und Monteure, die haben also wirklich eine Freiheit genossen. “ (Interview S. 5)

Gelesen wurde außerdem auch der Sputnik, den ebenfalls der Schwiegervater regelmäßig bis zum Verbot 1988 bezog. Das Verbot akzeptierte Herr Grün; „ man hatte ja keine Möglichkeit... “ (Interview S. 8). Dennoch hätte das Verbot eine für die DDR negative Wirkung erzielt: „ Man hat sich nämlich ganz bewusst dann viel mehr die Sender herangenommen, die darüber berichtet haben. “ (Interview S. 8)

Regelmäßig gelesen hat Herr Grün auch die Kirchenzeitung, deren Namen ich jedoch nicht in Erfahrung gebracht hatte, die es aber laut Herrn Grün auch heute noch zu kaufen gibt.

4.2) Mediennutzung und Nutzungsmuster

Herr Grün gibt an, in seinem Alltag nicht viel Zeit für Fernsehen gehabt zu haben (Interview S. 4). Noch mit 35 Jahren befand er sich in der Aus- bzw. Weiterbildung und absolvierte ständig weitere berufliche Qualifikationen. Nebenbei engagierte er sich in der Kirche und in der Nachbarschaftshilfe und auch am Wochenende ging er manchmal zusätzlich arbeiten - viel Zeit um fernzusehen, blieb ihm nicht - ein regelmäßiges Nutzungsmuster ist nicht erkennbar. Die Kinder haben zwar meist das Sandmännchen geschaut, Herr Grün danach ab und zu die Aktuelle Kamera. Andere politische Sendungen interessierten ihn nicht, auch beim S chwarzen Kanal schaltete er weg - „ Das hat mich gestört, weil im Gro ßen und Ganzen das auf Lügen aufgebaut war und soviel Übersicht hatte ich und konnte dasüberschauen. “ (Interview S. 4) - beispielsweise Nachrichtensendungen: „ Wenn ich mal was geguckt habe, dann aber durch meine Brille, und dann konnte ich wirklich auch unterscheiden. “ (Interview S. 4) Intensiv gesehen hat Herr Grün dagegen Sportsendungen, da er selbst sehr sportbegeistert ist, und Märchen zusammen mit den Kindern: „ Also da, das waren oft Dinge, wo man sagen konnte, was besseres konnte der Westen auch nicht bieten. Weil das im Gro ßen und Ganzen eigentlich politisch frei war. “ (Interview S. 4) Hauptmotiv für die Nutzung von Westprogrammen sei der Wunsch nach einem Klimawechsel gewesen, nach Fröhlichkeit und einem propagandafreien Raum58. Herr Grün findet diese propagandafreien Räume auch im DDR-Fernsehen; eben im Sport und in den Märchen. Die Sport-Übertragungen waren zudem für Herrn Grün eine weitere Möglichkeit, nach Westdeutschland zu schauen: „ Ja, das haben wir immer mal geguckt. Ja ja, denn da konnten wir ja nach dem Westen gucken. “ (Interview S. 7) Über Sport hätte das DDR-Fernsehen sehr viel und ausführlich berichtet; „ Wir hatten manchmal den Eindruck, die berichten besser und mehr als zum Beispiel die Westsender “, erinnert sich Herr Grün (Interview S. 7). Er betont allerdings, dass sich dies nur auf den Sport beziehe: „ Da haben sie sich was kosten lassen. Wollten ja was darstellen und dann haben sie eigentlich auch ganz gut berichtet. “ (Interview S. 7)

Dennoch nutzte Herr Grün auch andere Sendungen des DDR-Fernsehens. Er kennt alle Sendungen des ostdeutschen Fernsehprogramms (Liste mit ausgewählten Fernsehformaten) und wusste zu jedem, etwas zu sagen oder gab Urteile ab. Deutschlandfunk und Tschechensender waren für ihn demzufolge zwar bedeutsame und gewichtige Alternativen zum DDR-Programm, auf die nicht verzichtet werden wollte, aber keine expliziten oder allein genutzten Ersatzmedien.

Das DDR-Fernsehen gehörte durchaus zu den genutzten Programmen. Trotzdem schaute Herr Grün nicht regelmäßig in den Fernseher, er hatte weder Lieblingsserien oder -Programme (Interview S. 4). Das Fernsehen war auch nichts, das den Alltag der Familie bestimmt oder geprägt hätte, oder an dem sie ihren Alltag (Hausarbeit, etc.) orientiert hätte. Mal haben die Kinder geguckt, mal die Eltern, dann wieder alle zusammen, doch niemand hat ständig davor gesessen - das Fernsehen hatte keine Funktion, die Familie beispielsweise zum allabendlichen Fernsehfilm vor dem Fernsehgerät zu vereinigen; der Fernseher war kein gemeinsamer Treffpunkt für die Familie. Aus dem Interview heraus würde ich auch behaupten, dass Herr Grün niemals zugelassen hätte, dem Medium Fernsehen eine solche Funktion zu übertragen. Obwohl Herr Grüns zeitaufwendige Beschäftigung, die großen Belastungen im Alltag mit mehreren Kindern und die unzureichende Freizeitalternativen59, auf einen ausgeprägten Unterhaltungsbedarf deuten lassen. Diese Deutung bestätigt Herr Grün jedoch nicht, Wirklichkeitsflucht mittels dem Fernsehen ist Herrn Grün fremd; die Eskapismus-These findet keine Anwendung, obwohl sie eigentlich nie fehlt, wenn es darum geht, Mediennutzung zu erklären60. Herr Grün äußert sich auch in keinster Weise, irgendwelche Unterhaltungssendungen regelmäßig gesehen zu haben, er vermisste sie auch nicht. Selbst den Kessel Buntes, die Wetten, dass - Show der DDR, reizte ihn nicht. Lediglich als er noch keine eigene Familie hatte, schaute er sich die Sendung öfters an (Interview S. 5/6) - wahrscheinlich hat er sich in dieser Zeit eher isoliert gefühlt und verspürte den Wunsch nach Ablenkung und Geselligkeit, den eine Unterhaltungssendung durchaus befriedigen kann. Mit der eigenen Familie verschwand dieses Bedürfnis wohl.

Das meist genutzte und für Herrn Grün wichtigste Medium war das Radio, der meist genutzte Sender der Deutschlandfunk (siehe oben). Das Radio nutzte Herr Grün auch zum Abschalten, die Musik auch zur Berieselung (Interview S. 5), aber auch bewusst zur Informationssuche. „ Denn, wenn ich Nachrichten hören wollte, dann wollte ich mich informieren. Oder bestimmte politische Sendungen im Deutschlandfunk, da habe ich dann schon ganz bewusst eingestellt. “ (Interview S. 5) Den Westsender nutzte Herr Grün ganz bewusst zur Informationssuche, die DDR-Programme weniger: „ Dann nurüber Lokales “ (Interview S. 5) Die DDR-Programme genügten also für lokale Informationen, die Westsender zog Herr Grün vor allem für deutschlandweite und internationale Informationen heran.

Wie oben schon erwähnt, kannte Herr Grün alle Sendungen des DDR-Fernsehens (Liste mit ausgewählten Programmformaten), kennt zum Teil sogar Moderatoren und kann Urteile über Inhalt und Ausrichtung der jeweiligen Sendung abgeben - obwohl er angibt, selten das Fernsehen zu nutzen. Etwas positiv hervorgehoben hat Herr Grün die Sendung Prisma, „ weil dort manchmal kritische Dinge kamen. “ (Interview S. 6) Die Sendung wurde auch oft im Betrieb ausgewertet oder die Kollegen diskutierten über die behandelten Themen. Herr Grün bestätigt, dass die Sendung durchaus auch gesehen wurde, um sich mit den Kollegen am nächsten Tag darüber zu unterhalten; „ weil das Dinge waren, die irgendwelche negativen Erscheinungen in der Gesellschaft aufgegriffen haben und da wurde es als Diskussionsgrundlage dann immer benutzt “ (Interview S. 6). Genau wie das ND nutzte Herr Grün also auch Prisma, um mitdiskutieren und mitreden zu können. Bezogen auf das Gesamtprogramm des DDR-Fernsehens handelte es sich bei Prisma jedoch nur um „ Spurenelemente journalistischer Spitzen “ 61. Die kamen zum Teil jedoch auch von Künstlern aus der DDR, die in verschiedenen Sendungen oftmals versteckt Partei gegen die DDR ergriffen. „ Und wir haben eigentlich mit auch mit dem Emmerlich manchmal mitgefiebert, wenn der seine Klappe zu gro ßaufmachte und dann auch mal so ne Spitze losgelassen hat. “ Das Publikum und die Fernsehzuschauer, so Herr Grün, hätte solche Spitzen stets dankbar angenommen.

Programmformate aus dem Westfernsehen waren Herrn Grün gänzlich unbekannt: „ Das kannte ich alles absolut nicht. “ (Interview S. 6) Er hat demzufolge auch keinerlei Informationen über das Westfernsehen erhalten oder hatte Zugang zu Informationen bzw. hat diesen nicht genutzt. Auch aus den Zeitungen hat sich Herr Grün immer das herausgenommen, was ihm persönlich wichtig war, er war versucht, sich von politischer Propaganda nicht beeinflussen zu lassen. Seine Tageszeitung, die Union, hat er vor allem gelesen, um über lokale Geschehnisse in Ort und Umgebung informiert zu sein. Grüns waren außerdem große Kulturfans: „ Kulturleben, das war bei uns ganz gro ß“ (Interview S. 7) Einzelne Artikel wurden ausgeschnitten und abgeheftet, Fortsetzungsromane komplett gesammelt und aufbewahrt, ebenso wurden Vorschläge aus den Wochenendbeilagen für eigene Unternehmungen genutzt (Interview S. 7).

Auf Arbeit lasen er und seine Kollegen als erstes meist die Todesanzeigen, „ Auf der ersten Seite, das waren die interessantesten. “ (Interview S. 7) Berichte aus dem Inland hat Herr Grün meist nur überflogen. Berichte aus dem sozialistischen Ausland haben ihn nur interessiert, wenn er Neues dabei kennen lernen konnte. Ansonsten hat er sie auch nur überflogen, sich dabei aber „ das Richtige rausgenommen “ (Interview S. 7). Leitartikel oder Kommentare beachtete Herr Grün nicht. Die Wirtschaftsnachrichten wurden oft gelesen, „ denn ich war ja in die Wirtschaft miteingebunden. “ Viele Dinge wurden auch gebraucht, um mit den Kollegen drüber reden zu können (Interview S. 7). Die berufliche Position und Stellung beeinflusste demzufolge auch die Mediennutzung und die Auswahl an Medieninhalten von Herrn Grün. Seine individuellen Medienpräferenzen verweisen somit auf seinen Standort in der Gesellschaft, im sozialen Raum. Zudem zwingen die gesellschaftlichen Umstände Herrn Grün, bestimmte Medienangebote zu nutzen, obwohl sie seinen Ansichten und Meinungen zuwider laufen: Er muss das ND lesen, um in den Parteischulungen mitreden zu können und seinen Posten zu behalten. Er liest und sieht Wirtschaftsnachrichten, um mit seinen Kollegen drüber diskutieren zu können. Der schwedische Kommunikationswissenschaftler Karl Erik Rosengren erweiterte das Lebensstil-Konzept und bestätigt, dass die individuelle Position eines Menschen, wozu neben Geschlecht und Alter auch der Beruf und die Stellung in diesem zählt, Handlungsmuster des Menschen bestimmen, und damit auch die Mediennutzung62 - Das ND liest Herr Grün also vor allem der beruflichen Stellung wegen. ABC-Zeitung und Junge Welt werden für die Kinder nicht aus Interesse abonniert, sondern weil es Pflichtlektüre ist, sonst hätte Familie Grün darauf verzichtet. Die Theorie der kognitiven Dissonanz greift hier also nicht: Sie besagt, dass Dissonanzen mit dem eigenen Wissen, den eigenen Überzeugungen und Einstellungen vermieden werden, d.h. es wird nichts aus den Medien rezipiert, was der eigenen Auffassung zuwider laufen könnte. Doch genau das macht Herr Grün, bzw. ist er gezwungen zu rezipieren - denn die Entscheidung darüber liegt nicht allein in seiner Hand, sondern in der des Systems DDR. Entscheidend sind also die gesellschaftlichen Umstände der Mediennutzung - in diesem Fall die totalitäre Herrschaft der SED in der DDR. Deshalb steht die Mediennutzung in der DDR unter einem ganz besonderen Licht. Um Mediennutzung in der DDR zu erklären, dürfen die gesellschaftlichen Bedingungen keinesfalls außenvorgelassen werden.

In der Forschung wird unter anderem behauptet, dass sich die Dresdner - da sie kein Westfernsehen hatten - von einem Teil der Welt abgeschnitten fühlten und mit ihren Lebensverhältnissen unzufriedener waren als der Rest der DDR-Bevölkerung63. Das Interview mit Herrn Grün bestätigt diese These nicht. Er betont stattdessen, dass es ihm und seiner Familie recht gut ging, vor allem finanziell waren sie anderen Familien gegenüber bevorteilt, natürlich bedingt auch durch seine berufliche Position. Herr Grün bestätigt dagegen die These, dass sich die Dresdner schlecht informiert fühlten; er kritisiert die falsche, verzerrte, ideologisierte oder auch fehlende Information der DDR-Medien, die zudem mit Propaganda durchtränkt war.

4.3) Glaubwürdigkeit der DDR-Medien

Das System DDR war keines, welches tatsächlich von seiner Bevölkerung getragen und legitimiert wurde - wenigstens nicht von der Mehrheit; die DDR war ein oktroyiertes System, welches sich nur durch die frühere Besatzungsmacht der SU trug. Einer der auffälligsten Hinweise für die Kluft zwischen der DDR-Regierung und der Bevölkerung der DDR war die Ablehnung, die den instrumentalisierten DDR-Medien insbesondere im Informationsbereich zuteil wurde64. Die Bevölkerungsteile der DDR, die Westfernsehen empfangen konnten, haben sich über das internationale Weltgeschehen im wesentlichen anhand westlicher Nachrichtensendungen informiert, beispielsweise Tagesschau oder heute; selbst für nationale Informationen aus der DDR waren die Westmedien oftmals die erste und einzige Adresse65. Im Raum Dresden hatte die Bevölkerung jedoch keinerlei Möglichkeit, Informationen aus dem Westfernsehen zu erhalten. Lediglich der Deutschlandfunk diente als partieller Ersatz für den fehlenden Westempfang. Und obwohl ohne großartige mediale Vergleichsmöglichkeiten, schenkte auch im Raum Dresden niemand den ostdeutschen Medien großes Vertrauen oder betrachtete sie als zuverlässige und wahrheitsgetreue Informationsquellen. Auch Herr Grün wirft den DDR-Medien unglaubwürdige und falsche Berichterstattung vor, er bemerkte die Widersprüche zwischen der Berichterstattung der DDR-Medien und den tatsächlichen Gegebenheiten in Wirtschaft und Gesellschaft. „ Das waren eben schon für mich nicht nur Widersprüche, das war eindeutig Lüge. “ (Interview S. 9) Zudem war das DDR-Fernsehen stark propagandalastig, wie Herr Grün kritisiert. Er hat zwar durchaus die eine oder andere Sendung geguckt, aber „ die Wertung haben wir dann schon immer gemacht “ (Interview S. 9). Ideologische Parolen und Propaganda blieben bei Familie Grün nicht unbemerkt und wurden meist sofort ausgewertet: „ Ja, auch mit der Frau, vielleicht auch mit den Kindern [...] wahrscheinlich haben wir das immer gleich ausgewertet. [...] Mit den Gro ßen auf jeden Fall. “ (Interview S. 9) Herr Grün betont ausdrücklich, dass die DDR-Medien keine große Glaubwürdigkeit besessen hätten (Interview S. 9). Dennoch räumt er ein, dass die DDR-Medien durchaus zu einer Art „Gehirnwäsche“ in der Lage waren: „ Es könnte natürlich trotzdem bei allem passieren, man immer wieder das gleiche hört, dass so ne Art Gehirnwäsche passiert,..., da lässt man sich eben doch schon beeinflussen. “ (Interview S. 5) Herr Grün betont, „ die einfachen Leute haben sich davon beeinflussen lassen. Ich sag, die einfachen. “ (Interview S. 5) Herr Grün unterscheidet hier zwischen verschiedenen Bevölkerungsteilen der DDR; zum einen die einfachen Leute, die den Medien Glauben schenken, und auf der anderen Seite diejenigen, die das nicht tun - wozu er auch sich selbst und seine Familie zählt. Gleichzeitig kritisiert er die „einfachen Menschen“, denn „ wer aufmerksam gewesen ist, der hat ja gesehen, wie kaputt alles war “ (Interview S. 9) und auch diejenigen, die Westfernsehen hatten: „ Die waren so glücklich, dass sie nach dem Westen gucken konnten. “ (Interview S. 10) Unterstützt hat diese Unaufmerksamkeit der DDR-Bürger gegenüber dem System DDR der „ Geheimhaltungswahn der Diktatur “ 66, der eine kritische Selbsterforschung oder -Betrachtung der Gesellschaft verhinderte, so dass die Bevölkerung blind wurde gegenüber Problemen, die an der Existenz des Staates nagten. Herr Grün jedoch war selbst in der Wirtschaft beschäftigt und sah die Widersprüche zwischen Berichterstattung und dem tatsächlichem Stand der Dinge. Er benötigte nicht das Westfernsehen, um die Realitätsverzerrung in den DDR-Medien zu entlarven. Herr Grün könne sich durchaus vorstellen, dass das Westfernsehen im Gegenteil viele DDR-Bürger zufrieden stellte - „ Die waren so glücklich, dass sie nach dem Westen gucken konnten. “ Eine Art „geistige Ausreise“ hätte jenen tatsächlich genügt; Westfernsehen drängte jenen also keine Vergleiche mit der eigenen qualitativ schlechteren Lage auf, mahnte nicht die wirtschaftliche Misere an, Versorgungsengpässe und minderwertige Produkte67 - laut Herrn Grüns Äußerungen machte Westfernsehen glücklich und forderte weniger zu Vergleichen des Lebensstandards zwischen BRD und DDR auf68. Sicherlich trifft das nicht auf die gesamte westfernsehensehende DDR-Bevölkerung zu; die Mehrheit hat die westdeutschen Programme vor allem als Kontrast genutzt, um Nachrichten des DDR-Fernsehens überprüfen zu können oder weil sie zu manchem Themen einfach schwiegen69.

Jedoch widersprechen Herr Grüns Äußerungen der Behauptung in der Forschung, die Westmedien, insbesondere ARD und ZDF, hätte langfristig zur Destabilisierung des DDR- Systems beigetragen70. Denn eigentlich, so Herr Grün, wäre die DDR schon „ eher zusammengebrochen, wenn nicht soviel Unterstützung von drüben gekommen wäre “ (Interview S. 9). Diesen Fakt bezieht Herr Grün zwar nicht allein auf die Medien der BRD und ihre Berichterstattung, auch auf Wirtschaft und Politik, dennoch wirft er der BRD vor, das System DDR länger am Leben erhalten zu haben: „ Und da haben wir eigentlich dem Westen teilweise schon Vorwürfe gemacht,..., dann solln se aufhören mit den Krediten, dann bricht das eher zusammen.[...] Aber für uns war das eigentlich ein Schmerz, das dann zu hören, Mensch, die haben wieder einen Kredit gegeben, die können weiterwirtschaften. “ (Interview S. 9)

Herr Grün sah sich zudem in der Lage und durchaus befähigt, anhand seines Wissens, das Mediensystem der DDR realistisch einschätzen zu können, um zwischen tatsächlichen Informationen und ideologischer Propaganda unterscheiden zu können. Während seiner Ausbildung hatte er die Möglichkeit, einen Abteilungsleiter der Nachrichtenagentur ADN zu sprechen, „ dem wir auch sehr viele Fragen stellen durften und er sehr offen auch darüber berichtet hat “ (Interview S. 8). Herr Grün sah sich in seinen Ansichten bestätigt, als er erfuhr, dass Meldungen und Nachrichten im Sinne der Ideologie manipuliert werden: „ Wenn was in der westlichen Welt passierte, da wurde die Meldung dann schon gro ßaufgemacht. Aber wenn es hier im sozialistischen Lager war, da war das ja ne kleine Meldung.[...] So wie es die Arbeiterklasse oder wie es für die Arbeiterklasse gut ist, so wird es auch gebracht. “ (Interview S. 8) Auf diesem Wissen und seinen täglichen Erfahrungen mit der tatsächlichen Situation in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik und der verzerrten Berichterstattung darüber, basieren Herr Grüns Misstrauen und Zweifel gegenüber den DDR-Medien, eigentlich nimmt er sie als Informationsquelle überhaupt nicht ernst, insbesondere in bezug auf politische Informationen.

4.4) Medienbewertung DDR - BRD, Mediennutzung und Lebenssituation heute

Herr Grün schreibt den Medien insgesamt eine große Bedeutung zu, insbesondere bei der Konstituierung der Gesellschaft; „ viele Dinge, die ne Gesellschaft heute ausmachen, haben die Medien zu verantworten “ (Interview S. 5). Herr Grün erklärt, dass „früher“ vor allem die Kirchen Normen für die Gesellschaft vorgegeben haben, heute haben diese Aufgabe die Medien übernommen, heutzutage seien sie im größeren Maße für die Bildung und Konstituierung der Gesellschaft verantwortlich. Diese Funktion der Medien und damit ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, spielte die SED in ihrem Sinne aus: „ Von den Medien geschickt eingesetzt “ (Interview S. 5), hätte sich so mancher in der DDR von der ostdeutschen Berichterstattung beeinflussen lassen (Interview S. 5).

Heute gibt es im deutschen Fernsehen keine ideologischen Manipulationsversuche, dennoch akzeptiert und nutzt Herr Grün die Medien nicht ohne Vorbehalt: Auch heute muss sich jeder Mediennutzer die Frage stellen, „ wer hält die Medien in der Hand “ (Interview S. 11) und durchaus beachten, dass „ Meldungen zweckm äßig eingesetzt “ (Interview S. 11) werden, denn „ selbst ein Staat hat Einfluss, was man nicht rausgeben will, gibt man nicht raus... “ (Interview S. 11). Sein früheres Misstrauen und die Zweifel gegenüber dem westlichen Fernsehen hegt Herr Grün also noch heute - obwohl politische Propaganda und Zensur aus den Medien verschwunden sind und Herr Grün ungehinderten Zugang zu aller Art von Information genießen kann. Heute dominieren jedoch ganz andere Interessengruppen und Konflikte zwischen ihnen die Medien, als Stichworte seien hier nur „Amerikanisierung“ und „instrumentelle Aktualisierung“ genannt.

Herr Grün beschreibt sich und seine Familie heute, über zehn Jahre nach dem Ende der DDR als „ normale Konsumenten “ (Interview S. 11) von Medienprodukten. Die Grüns haben weiterhin die DNN abonniert, die Nachfolgezeitung der Union und lesen auch noch die Kirchenzeitung. Andere Zeitungen oder Zeitschriften werden nur gelegentlich bei besonderen Themen gekauft. In punkto Fernsehen bevorzugt Herr Grün die öffentlich-rechtlichen Sender, insbesondere für Nachrichten und Informationen. Zusätzlich nutzt er private Nachrichtensender, beispielsweise NTV, um besonders schnell an Informationen zu gelangen, „ da muss ich nicht warten auf die Sendung oder so “ (Interview S. 11). Für lokale Informationen nutzt Herr Grün die Tageszeitung DNN und lokale Radiosender.

Im Vergleich zur DDR beschreibt Herr Grün die heutige Medienlandschaft als ein „Überangebot “ mit einer „ Flut von Informationen “, das „ die Leute insgesamtüberfordert “ (Interview S. 11). Dieses Überangebot beobachtet Herr Grün jedoch nicht nur in den Medien, auch in der Wirtschaft, der Werbung und der möglichen Produktauswahl. Doch vor allem in bezug auf die Medien sei das eine „ Verschwendung, die nicht sein müsste “ (Interview S. 11).

Was sich Herr Grün unter dem SED-Regime nicht hätte vorstellen können, heute nach der Wende aber praktiziert, ist die Zusammenarbeit mit den Medien. Herr Grün ist im Rahmen einer ABM- Maßnahme für die Öffentlichkeitsarbeit einer Kirche in Dresden zuständig, organisiert Führungen, Turmbesteigungen und Vorträge. In der DDR hätte er sich eine Zusammenarbeit von Kirche und Medien nicht vorstellen können, da diese vom Staat kontrolliert wurden; „ die Einstufung von der DDR wäre so gewesen, Kirche ist religiös und Schluss, da wär ’ kein Zugang gefunden worden “ (Interview S. 12).

4.5) Mediennutzungstypologie: Einordnung des Gesprächspartners

In Anlehnung an die im Seminar aufgestellte Mediennutzungstypologie, möchte ich Herrn Grün im folgenden Kapitel mit den aufgestellten Typen vergleichen und eine mögliche Einordnung vornehmen.

Die Typologie umfasst folgende Mediennutzungstypen in der DDR71:

1. Die Zufriedene (unterhaltungsorientiert, geringe Westorientierung),
2. die Überzeugte (sehr unterhaltungsorientiert, keine Westorientierung),
3. der Engagierte (stark informationsorientiert, geringe Westorientierung),
4. der Souveräne (stark informationsorientiert, Westorientierung),
5. der Frustrierte (mehr Informationen, weniger Unterhaltung, starke Westorientierung)
6. und der Distanzierte (mehr Information, weniger Unterhaltung, ausgeprägte Westorientierung).

Mit den Typen 1-3 kann Herr Grün keinesfalls identifiziert oder verglichen werden; sie zeichnen sich durch eine aktive Parteimitgliedschaft in der SED aus und durch eine moralische Unterstützung ihrer politischen Herrschaft.

Herr Grün kann jedoch keinem der drei anderen Typen eindeutig zugeordnet werden; er vereinigt Elemente des Souveränen, des Frustrierten und auch des Distanzierten in seiner Person, widerlegt aber auch einzelne Elemente dieser drei Typen. Für die Zugehörigkeit zum „souveränen“ Mediennutzungstyp spricht Grüns Kultur-, Bildungs- und Informationsorientierung: Er nutzt intensiv den Deutschlandfunk zur Informationssuche, aber auch die Aktuelle Kamera oder Prisma. Teilweise muss er diese Informationsquellen nutzen, seiner beruflichen Stellung wegen, andererseits geschieht das aus persönlichem Interesse. Weiterhin lehnt Herr Grün die SED- Medienpolitik zwar ab („ alles Lüge “), nutzt dennoch die angebotenen Programme des DDR- Fernsehens, ist dabei aber bemüht, sich von Propaganda nicht beeinflussen zu lassen. Für die Souveränität seiner Mediennutzung spricht zudem die Kirchenmitgliedschaft Grüns; er ist überzeugter Anhänger der katholischen Kirche, und damit eher ein Nischentyp in der damaligen DDR.

Für die Zugehörigkeit zum Frustrierten spricht bei Herrn Grün nur sein anfangs gescheiterter beruflicher Aufstieg: Herr Grün wollte studieren; ein Studium wurde ihm jedoch auch nach drei Anläufen verweigert aufgrund fehlender sozialistischer Haltung: Als Kirchemitglied nahm er nicht an der Jugendweihe teil und den freiwilligen Wehrdienst verweigerte er. Zu diesem Zeitpunkt ist Herr Grün also in seinem beruflichen Weiterkommen gebremst worden, was den Frustrierten vor allem zum Frustrierten macht. In der Folgezeit war es Herrn Grün dennoch möglich, sich durchaus weiter zu qualifizieren, so dass er am Ende eine hohe berufliche Position inne hatte und finanziell sehr gut ausgestattet war - was dem Typ des Frustrierten nicht entspricht, der den Lohn eines einfachen Arbeiters verdient bei besserer und qualifizierterer Ausbildung. Für den Frustrierten spricht jedoch noch die spezifische Mediennutzung: Er und auch Herr Grün stillen ihr Informationsbedürfnis eher bei den Westmedien, glauben ihnen viel her als den DDR-Medien, lehnen die SED-Medienpolitik vollständig ab und sind mit dem DDR- Programm eher unzufrieden. Für die Zugehörigkeit Herrn Grüns zum distanzierten Mediennutzungstyp spricht vor allem seine Kirchenmitgliedschaft. Die Kirche bildete eine Nische in der DDR, war ein im System DDR bestehendes Milieu, in dem sich die Mitglieder gegenseitig unterstützten und engagierten. Innerhalb dieser Nische waren die Menschen durchaus zufrieden mit ihrem Leben; auch Herr Grün gibt an, seinen Halt in der Kirche gefunden zu haben (Interview S. 3). Für ihn war die Kirche durchaus eine Möglichkeit, Freiheit zu finden (Interview S. 3), so dass er zwar schon gegen das Regime der SED war, „ aber, nicht jetzt, dass wir rebelliert hätten “ (Interview S. 3). Daraus lässt sich schließen, dass Herr Grün nur aufgrund seiner Kirchenmitgliedschaft in der DDR „überlebt“ hat, sie hat ihm und seiner Familie den nötigen Halt und Durchblick gegeben. Was den Distanzierten weiterhin auszeichnet, auf Herrn Grün jedoch nicht zutrifft, ist die vollständige Ablehnung der DDR-Medien, die auch in keinster Weise genutzt werden. Alles, was die DDR-Medien an Informationen lieferte, wurde angezweifelt, der Distanzierte orientierte sich primär an den Westmedien - was Herrn Grün aufgrund fehlenden Empfangs gar nicht möglich war.

5.) Zusammenfassung

Herr Grün erwies sich als ausgemachter „Nischentyp“ in der DDR, da er sich aktiv in der Kirche engagierte und noch engagiert. Er war kein Systembefürworter, hat die DDR aber auch nicht vollkommen abgelehnt; er hat sich mit dem Staat arrangiert, indem er strikt zwischen Staat und Kirche trennte und seine Freiheit innerhalb der Nische „Kirche“ fand - das hat ihm zur Existenz in der DDR genügt.

Die Medien nutzte er im ähnlichen Sinne: Er lehnte die DDR-Medien zwar nicht vollkommen ab, kritisierte aber ihre Berichterstattung in bezug auf Propaganda, Ideologie, unwahre oder fehlende Informationen, etc. Zudem stempelt er die Berichterstattung des DDR-Fernsehens als „Lüge“ ab. Dennoch nutzt er die DDR-Programme, jedoch immer darauf bedacht, sich keiner „Gehirnwäsche“ zu unterziehen und für sich das „Richtige“ an Informationen herauszufiltern.

Herr Grün stellt einen Sonderfall in der Mediennutzung der DDR dar: Zum einen, weil er sich in der Kirche und damit in einer Nische der DDR-Gesellschaft engagierte und zum anderen, da aus dem „Tal der Ahnungslosen“ kommt, das kein Westfernsehen empfangen konnte wie der Rest der Republik. Allgemeine Erklärungsansätze über Mediennutzung und Funktion der Medien in der DDR können hier deshalb nicht generell angewandt werden, weil eben diese zwei Besonderheiten auftreten und berücksichtigt werden müssen. Beispielsweise stellt sich die Frage nach der Stabilisierung oder Nichtstabilisierung der DDR durch die Westmedien nur indirekt, da diese nur partiell, d. h. nur der Deutschlandfunk im Falle von Herrn Grün, empfangen werden konnten. Bemerkenswert ist jedoch, dass Herr Grün, obwohl er kein Westfernsehen nutzen kann, dieses nicht vermisst, sogar Misstrauen und Zweifel gegenüber den westlichen Medien hegt - woher kommt das, wenn er diese Medien nicht nutzt? Es scheint, als würden diese Zweifel auch in der Kirche begründet liegen, die vor der angeblichen Freiheit im Westen warnt (Interview S. 10). Herrn Grün kann auch kein eindeutiger Mediennutzungstyp zugeordnet werden - auch wenn die angewandte Typologie den Empfang von Westfernsehen voraussetzt, den er ja nicht hat. Für das „Tal der Ahnungslosen“ müsste fast eine eigene Typologie aufgestellt werden. Hans-Jörg Stiehler hat das ansatzweise versucht, und die Bevölkerung in zwei Gruppen geteilt, die das Fehlen des Westfernsehens jeweils unterschiedlich bewerten. Diese Unterscheidung bezieht sich jedoch nur auf das Mangelbewusstsein; individuelle Aspekte bleiben unberücksichtigt.

Herr Grün bestätigt außerdem eine Erscheinung, die bei vielen der ehemaligen DDR-Bürger zu beobachten ist: Sie werden nostalgisch, schwelgen geradezu in ihren Erinnerungen an den untergegangenen Staat- was in der Forschung auch als ein Nachteil biographischer Befragungen genannt wird72. Herr Grün nennt sich zwar einen Realisten und wolle Nostalgie bei sich nicht aufkommen lassen, hat aber „ manche Dinge im Zusammenleben der Menschen für besser empfunden “ (Interview S. 10). In der DDR hätte es eine Menschlichkeit gegeben, „ die man heute vermisst “ (Interview S. 10). „ Die Ellebogengesellschaft breitet sich aus und der Egoismus, der gewinnt die Überhand. “ (Interview S. 10) Er bezieht das zwar nicht allein auf die Medien, sondern die gesamte Gesellschaft und kritisiert damit die heutige Gesellschaft. Dennoch schätzt er die erlangte Freiheit, „ das gehtüber alles “ (Interview S. 10) und ist wichtiger als jedes Fernsehprogramm.

Die biographische Befragung hat sich als Methode recht geeignet und ergiebig erwiesen (siehe dazu auch Kapitel 3.3). Ergänzend möchte ich noch bemerken, eine solche medienbiographische Befragung möglicherweise in einer Gruppendiskussion durchzuführen - wobei man sich jedoch nur auf konkrete Aspekte der Mediennutzung beschränken sollte, zum Beispiel, in welcher Weise sich das fehlende Westfernsehen auf den Einzelnen ausgewirkt hat. Ein ganzer Medienlebenslauf kann in einer solchen Gruppendiskussion sicher nicht erhoben werden, jedoch bietet sich die Methode vor allem an - bei allen Nachteilen, die die Methode birgt73 - um eine erste Übersicht über Art und Ausmaßder unterschiedlichen Meinungen, Werte und Auffassungen der Teilnehmer zu erhalten.

6.) Anhang

6.1) Mediennutzungstypologie

74 „Die Zufriedene“

- zeitintensiver Alltag, wenig Freiräume: Kinder, Haushalt, Eltern versorgen
- Medien meist zur Entspannung am Abend genutzt: wenig Politik, eher Unterhaltung zur Ablenkung
- wenig Zeitung
- sieht Propaganda in den Medien „nicht so tragisch“
- zu den „Zufriedenen“ zählten sehr viele DDR-Bürger
- verteidigen heute die DDR, nehmen sie in Schutz, um die eigene Existenz zu verteidigen und zu legitimieren - sie darf nicht umsonst gewesen sein

„Die Überzeugte“

- durch den Alltag voll ausgelastet; Haushalt, Kinder, etc.
- die „Wahrheit“ eher im Osten gesucht, im Zweifelsfall auch eher dem Osten geglaubt
- Westfernsehen teilweise vollkommen abgelehnt; auch die Kinder wurden vom Westfernsehen abgehalten
- Wenig Kontakt zur Praxis der DDR
- Keinen Kontakt zur Kirche, keine Westverwandtschaft
- SED-Mitglied oder „Kommunist ohne Parteibuch“

„Der Engagierte“

- stark infoorientiert in der Mediennutzung, wenig Unterhaltung (bedingt auch durch höhere berufliche Position)
- engagiert sich in der Partei, SED-Mitglied
- aufgestiegen in der DDR-Hierarchie
- durch höhere Bildung nicht kritiklos
- sah Ideologie in beiden (Medien-) Systemen
- großes Interessenspektrum: Bücher, Theater, Kultur etc.

„Der Souveräne“

- bildungs- und informationsorientiert
- lehnt SED-Medienpolitik zwar ab, nutzt dennoch DDR-Medien, um originale Sicht der Macht zu erhalten
- war selbstständig gewesen
- Kirchenmitglieder, Ärzte > Nischentyp

„Der Frustrierte“

- eigene Lebenssituation macht ihn zum Frustrierten; ist in seinem Weiterkommen gebremst worden, leiden dennoch nicht unter Repressalien
- vollständige Ablehnung der SED-Medienpolitik
- Informationsbedürfnis eher durch Westmedien befriedigt
- Technische Intelligenz; jedoch genauso viel verdient wie einfacher Arbeiter > Frust darüber; am Aufstieg gehindert
- glaubt im Zweifelsfall eher den Westmedien

„Der Distanzierte“

- lehnte DDR-Medien vollständig ab und nutzte sie auch nicht
- Nischentyp: Ärzte, Kirche, Künstler
- hatte Milieu, in dem man sich gegenseitig unterstützte
- DDR-Medien wurden grundlegend angezweifelt
- starke Westorientierung
- war zufrieden innerhalb der Nische, in der er sich engagierte, z. B. in der Kirche

6.2) Transkription des Interviews

Seite 1 - 12

7.) Literaturverzeichnis

- Friedrichs, Jürgen. (1990). Methoden empirischer Sozialforschung. 14. Auflage. Opladen: Westdeutscher Verlag.
- Fuchs, Werner. (1984). Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Opladen: Westdeutscher Verlag.
- Geschichte der DDR. (1991). Informationen zur politischen Bildung; Heft 213. München: Franzis-Verlag GmbH.
- Hesse, Kurt R. (1990). Fernsehen und Revolution. Zum Einfluss der Westmedien auf die politische Wende in der DDR. In: Rundfunk und Fernsehen, 38. Jg., Nr. 3. S. 328 - 342.
- Holzweißig, Gunter. Massenmedien in der DDR. In: Wilke, Jürgen. (Hrsg.). (1999). Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
- Lazarsfeld, Paul. (1944). The controversy over detailed interviews - an offer for negotiation. POQ 8/1944, p. 38 - 60.
- Meyen, Michael. Haben die Westmedien die DDR stabilisiert? Aufsatz.
- Niethammer, Lutz. Erfahrungen und Strukturen.: Prolegomena zu einer Geschichte der Gesellschaft der DDR. In: Kaelbe, Hartmut, Kocka, Jürgen, Zwahr, Hartmut. (Hrsg.). (1994). Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 95 - 115.
- Röttger, Ulrike. (1994). Medienbiographien von jungen Frauen. Medien- und Geschlechterforschung, Bd. 1. Hamburg.
- Stiehler, Hans-Jörg. Leben ohne Westfernsehen. Ergebnisse biographischer Interviews im Raum Dresden. In: Wilke, Jürgen. (Hrsg.). (1999). Massenmedien und Zeitgeschichte. Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft; Bd. 26. Konstanz: UVK Medien. S. 212 - 224.
- Vorderer, Peter. (1996). Rezeptionsmotivation: Warum nutzen Rezipienten mediale Unterhaltungsangebote? In: Publizistik, 41. Jg., Nr. 3. S. 310 - 326.
- Wagner, Hans. Verstehende Methoden in der Kommunikationswissenschaft. Kommunikation & Gesellschaft in Theorie und Praxis; Bd. 5. München: Verlag Reinhard Fischer.
- Wolle, Stefan. Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971 - 1989. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

[...]


1 Meyen, Michael. Haben die Westmedien die DDR stabilisiert? S. 119.

2 Meyen. DDR-Stabilisierung? S. 119.

3 Siehe dazu: Vorderer, Peter. (1996). Rezeptionsmotivation: Warum nutzen Rezipienten mediale Unterhaltungsangebote? In: Publizistik, 41. Jg., Nr.3, S. 310 - 326. S. 322 ff.

4 Siehe dazu: Wilke, Jürgen. Medien DDR. In: Noelle-Neumann, E., Schulz, W., Wilke, J. (Hrsg.). (1996). Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation. Frankfurt/Main. S. 219 ff.

5 Zitiert in: Wilke. DDR-Medien. Fischer Lexikon. S. 219.

6 Wilke. DDR-Medien. Fischer Lexikon. S. 222.

7 Siehe dazu: Wilke. DDR-Medien. Fischer Lexikon. S. 219.

8 In: Holzweißg, Gunter. Massenmedien in der DDR. In: Wilke, Jürgen. (Hrsg.). (1999). Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn. S. 589.

9 Wilke. DDR-Medien. Fischer Lexikon. S. 231.

10 Meyen. DDR-Stabilisierung? S. 125.

11 Meyen. DDR-Stabilisierung? S. 129.

12 Quelle: Seminar-Handout vom 06.12.2001. Fernsehen in der DDR: Sehbeteiligungen (Jahresdurchschnittswerte).

13 Quelle: Seminar-Handout. Medienbewertung in der DDR.

14 Meyen. DDR-Stabilisierung? S. 128.

15 Meyen. DDR-Stabilisierung. S. 129.

16 Siehe dazu: Vorderer. Rezeptionsmotivation. S. 311 ff.

17 Meyen. DDR-Stabilisierung? S. 128.

18 Hesse, Kurt. (1990). Fernsehen und Revolution. Zum Einfluss der Westmedien auf die politische Wende in der DDR. In: Rundfunk & Fernsehen, 38. Jg., Nr. 3, S. 328 - 342. S. 334.

19 Hesse. Fernsehen und Revolution. S. 334.

20 Hesse. Fernsehen und Revolution. S. 334.

21 Hesse. Fernsehen und Revolution. S. 334.

22 Wolle, Stefan. (1998). Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971 - 1989. Bonn. S. 71.

23 Wolle. Diktatur. S. 71.

24 Siehe dazu in: Hesse. Fernsehen und Revolution. S. 333.

25 Zitiert in: Hesse. Fernsehen und Revolution. S. 333.

26 Zitiert in: Hesse. Fernsehen und Revolution. S. 333.

27 Röttger, Ulrike. (1994). Medienbiographien von jungen Frauen. Hamburg. S. 96.

28 Röttger. Medienbiographien. S. 97.

29 Röttger. Medienbiographien. S. 94/95.

30 Nawratil, Ute. Die biographische Methode: Vom Wert der subjektiven Erfahrung. In: Wagner, Hans. (1999). Verstehende Methoden in der Kommunikationswissenschaft. Kommunikation & Gesellschaft in Theorie und Praxis, Bd. 5. München. S. 339.

31 Röttger. Medienbiographien. S. 93.

32 Röttger. Medienbiographien. S. 94.

33 Nawratil. Biographische Methode. S. 340.

34 Nawratil. Biographische Methode. S. 340.

35 Vgl. auch Fuchs, Werner. (1984). Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Opladen. S. 257.

36 Fuchs. Biographische Forschung. S. 257.

37 Vgl. auch Fuchs. Biographische Forschung. S. 243 ff.

38 Stiehler, Hans-Jörg. Leben ohne Westfernsehen. Ergebnisse biographischer Interviews im Raum Dresden. In: Wilke, Jürgen. (Hrsg.). (1999). Massenmedien und Zeitgeschichte. Konstanz. S. 215.

39 Lazarsfeld, Paul. (1944). The controversy over detailed interviews - an offer for negotiation. POQ 8/1944, p. 38 - 60.

40 Siehe auch: Nawratil. Biographische Forschung. S. 349. Und Fuchs. Biographische Forschung. S. 180/181.

41 Hopf, Christel. Zitiert in: Fuchs. Biographische Forschung. S. 180.

42 Siehe dazu auch: Fuchs. Biographische Forschung. S. 231 ff.

43 Friedrichs, Jürgen. (1990). Methoden empirischer Soziaöforschung. 14. Auflage. Opladen. S. 233.

44 Nawratil. Biographische Forschung. S. 349.

45 Fuchs. Biographische Forschung. S. 242.

46 Fuchs. Biographische Forschung. S. 237/238.

47 Fuchs. Biographische Forschung.

48 Der Anonymität wegen werden nur ungefähre Angaben in bezug auf geographische Daten, etc. gemacht.

49 Maser, Peter. (2000). Die Kirchen in der DDR. Bonn. S. 112.

50 Maser. Kirchen in der DDR. S. 120.

51 Fuchs. Biographische Forschung. S. 239.

52 Hesse. Fernsehen und Revolution. S. 336.

53 Stiehler. Leben ohne Westfernsehen. S. 218 ff.

54 Holzweißig, Gunter. Massenmedien in der DDR. In: Wilke, Jürgen. (Hrsg.) (1999). Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn. S. 573 - 601.

55 Holzweißig. Massenmedien der DDR. S. 579.

56 Geschichte der DDR. Informationen zur politischen Bildung, Heft 231, 1991. München.

57 Holzweißig. Massenmedien in der DDR. S. 579.

58 Meyen. DDR-Stabilisierung? S. 128.

59 Siehe dazu: Meyen. DDR-Stabilisierung. S. 124.

60 Meyen. DDR-Stabilisierung? S. 119.

61 Hesse. Fernsehen und Revolution. S. 330.

62 Rosengren, Karl Erik. In: Meyen. DDR-Stabilisierung? S. 120. Außerdem nennt Rosengren als Determinanten der menschlichen Handlungsmuster noch die gesellschaftliche Struktur und individuelle Merkmale des Menschen.

63 Hesse. Fernsehen und Revolution. S. 335.

64 Hesse. Fernsehen und Revolution. S. 331.

65 Hesse. Fernsehen und Revolution. S. 330.

66 Niethammer, Lutz. Erfahrungen und Strukturen: Prolegomena zu einer Geschichte der Gesellschaft der DDR. In: Kaelble, H., Kocka, J., Zwahr, H. (1994). Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart. S. 96.

67 Siehe dazu: Hesse. Fernsehen und Revolution. S. 336.

68 Siehe dazu: Hesse. Fernsehen und Revolution. S. 336.

69 Meyen, Michael. Haben die Westmedien die DDR stabilisiert? S. 128.

70 Hesse. Fernsehen und Revolution. S. 336.

71 Zur näheren Beschreibung der einzelnen Typen siehe auch: Anhang S. 41.

72 Siehe auch Fuchs. Biographische Forschung.

73 Siehe dazu: Friedrichs. Empirische Sozialforschung. S. 246 ff.

74 Mediennutzungstypologie laut Seminar am 24. Januar 2002.

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Mediennutzung in der DDR - Ergebnisse eines biographischen Interviews
Hochschule
Technische Universität Dresden
Veranstaltung
Hauptseminar "Mediennutzung in der DDR"
Note
1
Autor
Jahr
2002
Seiten
44
Katalognummer
V106924
ISBN (eBook)
9783640051991
Dateigröße
542 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Anhand eines biographischen Interviews mit einem Dresdner aus dem "tal der ahnungslosen" wird die Mediennutzung in der DDR veranschaulicht und mit kontroversen Thesen aus Forschung und Literatur in Beziehung gesetzt.
Schlagworte
Mediennutzung, Ergebnisse, Interviews, Hauptseminar, Mediennutzung
Arbeit zitieren
Alexandra Zielinski (Autor:in), 2002, Mediennutzung in der DDR - Ergebnisse eines biographischen Interviews, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106924

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