Phänomen: Türkische Street Gang

Szene, Abgrenzung und Gruppenbildung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I Darstellung der Szene
1.1 Vorbemerkung
1.2 Struktur Daten
1.3 Erlebnis Elemente

II Soziostrukturelle Hintergrundfaktoren
2.1 Vorbemerkung
2.2 Das Migrationsdillemma
2.3 Probleme der türkischen Jugendlichen

III Theoretische Erklärung
3.1 Vorbemerkung
3.2 Ethnische Grenzen und Kulturelle Konflikte
3.3 Soziale Herkunft und Migrantenstatus
3.4 Räumliche Segregation

IV Radikalität und Gewalt
4.1 Vorbemerkung
4.2 Mehrfachmarginalisierung
4.3 Reduzierte Außenbeziehung

Schluss

Einleitung

Jugendgruppierungen mit „delinquentem“ und „abweichendem“ Verhalten sind in der Bundesrepublik keine Seltenheit. Mindestens genauso häufig findet man in der Soziologischen Literatur die verschiedensten Erklärungsmodelle zu diesem Phänomen. Dabei taucht immer wieder die Frage auf, warum gerade immer mehr Migrantenjugendliche der zweiten oder dritten Generation, die zum größten Teil ihren Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik haben, hier geboren und aufgewachsen sind, sich über ihre ethnische Wurzeln abgrenzen und gewalttätige Gruppen bilden1. Vordergründig scheint der Zusammenschluss der türkischen Jugendlichen zunächst eine Reaktion auf ausländerfeindliche und rassistische Anschläge Anfang der neunziger Jahre zu sein. Auch Hermann Tertilt erklärt das Zustandekommen derartiger ethnischer Gruppierungen mit der „Missachtung“ und „Demütigung“, wie sie türkische Jugendliche aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit erfahren (Vgl. Tertilt 1996).

Beim genaueren Betrachten fällt auf, dass die türkischen Jugendlichen in den Gangs eine eigenständige Subkultur aufgebaut haben mit welcher sie sich ganz bewusst von der Mehrheitsgesellschaft abschotten. Das bedeutet, dass wir es vielmehr mit einem komplexen Phänomen zu tun haben, welches keineswegs allein über die Diskriminierungstheorie erklärt werden kann. Dieses Phänomen versuche ich in meiner Hausarbeit auf unterschiedlicher Weise zu ergründen. Zunächst werde ich die Inhalte ihrer Subkultur vorstellen über die sie ihre Abgrenzung realisieren. Dann werde ich die lebensweltlichen Hintergründe ihrer Abgrenzung aufzeigen, um in einem dritten Schritt beide Punkte auf theoretischer Ebene zu verbinden. Ein Augenmerk der Hausarbeit gilt auch dem Stellenwert den Gewaltdrohung und Gewaltausübung für die Gruppe und ihre Mitglieder hat.

I Darstellung der Szene

1.1 Vorbemerkung

Die „Türkische Street Gang“ kann als eine Sozialformation betrachtet werden, welche der einer Szene sehr ähnelt. Auch wenn wir es in diesem Fall prinzipiell mit lokalen Gruppierungen zu tun haben, lassen sich bei allen Gangs gruppenübergreifende ästhetisch stilistische Gemeinsamkeiten festmachen auf denen sie ihren thematischen Fokus beziehen. Diese szenetypischen Gemeinsamkeiten versuche ich im Folgenden herauszuarbeiten und werde dabei meinen Schwerpunkt auf die „Erlebnis-Elemente“ richten, an denen die jeweils typischen Möglichkeiten, Formen und Inhalte von Kommunikation erfahrbar werden. Dieser Teil soll zum einen eine grobe „Kartographie“ der Türkischen Street Gangs beschreiben und zum anderen ihre Gruppenkultur als szenentypisch begründen.

1.2 Struktur Daten

Türkische Gangs mit eigenständiger Subkultur bildeten sich zunächst in Berlin und verbreiteten sich seit Mitte der 80ger Jahre, erst nur in den deutschen Großstädten, dann auch in kleineren Ortschaften aus. In Frankfurt zählte die Polizei im Herbst 1984 etwa dreißig Gruppierungen. Und es kamen immer mehr Banden hinzu. In Berlin waren es die Simsekler, Belalilar, Earthquakes und Vulkanler, welche sich einen Namen prügelten. In der Hamburger Vorortstadt Billstedt machten die Camps von sich reden, in Wandsbek die Nameless und in Harburg die Rebels (Farin/Seidel-Pielen 1991: 26ff.). Kein mir vorliegendes Buch konnte Angaben über die aktuelle Anzahl, der in Gangs organisierten türkischen Jugendlichen machen, jedoch sind nach Hitzler mittlerweile in jeder Ortschaft bzw. Stadtteil mit einem „hohen“ Anteil an türkischer Wohnbevölkerung solche Gruppierungen zu finden. Die Gangs umfassen im Durchschnitt 10-15 Mitglieder und bestimmen in ihrem Stadtteil meist eine Straße als ihr eigenes Revier (Hitzler 2001, S. 139). Sie setzen sich aus türkischen Jugendlichen zusammen, welche aus unteren sozialen Verhältnissen stammen und in einem Spannungsverhältnis zwischen deutscher und türkischer Kultur aufgewachsen sind. Den Einstieg finden viele mit etwa 14 Jahren. Sie bleiben so lange in der Gang verwurzelt bis andere Lebensaufgaben, wie Beruf und Familiegründen, die identitätsstiftende Funktion der Gang ablösen (Tertilt 1996, S. 79 ff.). Deshalb können wir diese Gruppen auch als relativ altershomogene, zeitlich befristete Zusammenschlüsse definieren. Doch über diese Gruppierungen hinaus hat sich eine eigenständige Subkultur entwickelt, deren Einfluss auf die deutsche Jugendkultur-Landschaft unter anderem in den Medien zum Ausdruck kommt. Als beste Beispiele dafür dienen deutsch-türkische Hip-Hop Videos oder Comedysendungen in denen die Elemente der türkischen Gangkultur, teils in positiver, teils in negative Form immer häufiger zum Thema gemacht werden.

1.3 Erlebnis Elemente

Als Erlebnis Elemente bezeichnet Ronald Hitzler den thematischen Fokus, die Einstellung und Motive, den Lebensstil, die Treffpunkte, die Kleidung und die Musik einer Szene. Eine Szene konstituiert ihren Zusammenhalt immer durch Interaktion und Kommunikation ihrer Mitglieder entlang eines gemeinsamen zentralen Themas. Über dieses Thema werden nicht nur Handlungen legitimiert, sondern auch deren Bedeutung hergestellt (Hitzler 2001, S 33). Die türkische Gang bezieht ihren thematischen Fokus hauptsächlich auf den Aufbau von Dominanz im eigenen Stadtteil. Dieses Ziel ergibt sich aus einem Verhaltenscodex, welcher Ehre und Annerkennung in den Mittelpunkt rückt und einem ritualisierten Muster folgt. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen, die von außen allzu leicht als irrational und nicht nachvollziehbar erscheinen, gehorchen einer eigentümlichen Logik. Jede Auseinandersetzung besteht aus einer bestimmten Abfolge von Angriff, Erwiderung, Gegenerwiderung etc. Zum Ehrenkodex der Akteure gehört es, den Gegner zunächst zum Kampf herauszufordern, bevor sie ihn direkt angreifen. Der Beleidigte muss reagieren um nicht seine Ehre zu verlieren. Nur wer seine Ehre verteidigt gilt als männlich (Tertilt 1969, S 198ff. ). Diese Spielregeln dienen der Gruppe einerseits zur Abgrenzung nach außen und andererseits zur Festlegung der internen Struktur. Durch das Verteidigen der eigenen Ehre nach Außen, kann das Mitglied auch in den eigenen Reihen Annerkennung erlangen und in der internen Hierarchie aufsteigen. Aber auch intern liefern sich die Jugendliche sogenannte Rededuelle, welche einem festgelegten Reimschema folgen und die Rangordnung der Mitglieder immer wieder neu sortieren. An diesen Spielchen lernen sie sich intern als Männer zu behaupten um im Ernstfall ihre erworbene Männerehre nach außen verteidigen zu können.

Als ein unabdingbares Element einer Szene gilt der Treffpunkt an dem sich die anfangs unübersichtlichen Netzwerke von Gleichgesinnten lokal verdichten können. Nur an solchen fest ausgemachten Orten kann, durch die ständige kommunikative Erzeugung gemeinsamer Interessen seitens der Mitglieder, eine eigene Subkultur gedeihen. Die Mitglieder der türkischen Gang funktionieren sich meistens öffentliche Plätze wie Straßenecken oder Parkanlagen zu ihren eigenen Revierstützpunkten um, an denen sie ihre Dominanz und Männlichkeit zur Schau tragen können. Dies folgt nicht nur dem Ziel, sich vor anderen türkischen Jugendgruppen Respekt zu verschaffen, sondern auch sich im „Zur-Schau-Stellen“ der eigenen subkulturellen Elementen als eigenständige Szene von anderen abzugrenzen. So kommen Szenen nicht ohne „Publikum“ und allgemeine Wahrnehmung aus. Gerade türkische Gangs leben von ihren „Poser-Auftritten“ mit denen sie sich immer wieder von Neuem in Szene setzen. Sei es mit der Präsentation ihrer getunten Autos, der Stereobeschallung öffentlicher Plätze mit deutsch-türkischer Hip-Hopmusik oder dem Provozieren von vorbeilaufenden Passanten2. Denn das was sie letztendlich zu einer Szene werden lässt, ist nicht nur ihre Selbstdefinition, als vielmehr die Resonanz der Gesellschaft auf ihre bewusst nach Außen getragenen Merkmale. Insofern ermöglicht auch die türkische Street Gang, aufgrund ihrer typische Symbole, Sprache, Klamotten und Musik die soziale Verortung, „die sozusagen kategorische Zu- und Einordnung von durch sie assoziierten Individuen“ (Hitzler 2001, S. 22).

So ist der Kleidungsstil immer ein ganz bewusst eingesetztes Erkennungsmerkmal einer Szene. Türkische Street Gangs erkennt man zumeist an ihrem auffällig gepflegten Auftreten. Auch wenn eine eindeutige Kategorisierung ihres Stils schwer fällt, lässt sich jedoch in ihrer visuellen Selbstpräsentation immer das Aufzeigen von Status und Macht feststellen. Markenklamotten, gegelte Haare und Goldkettchen gehören dabei zur Grundausstattung. Beobachtungen zufolge scheinen Schuhe von Adidas, Jacken von Pro-Line oder Blue System und Trainingshosen mit Seitenstreifen unter den Mitgliedern sehr beliebt zu sein. Ihre Selbstdefinition als stark und gefährlich kommt unter anderem auch in ihren schwarz gewählten Klamotten und ihrem betont athletischen Gang zum Ausdruck. Ein anderes wichtiges Element ihres Selbstverständnisses ist das Gemeinsame Interesse am Gangsta Rap. Das damit verbundene Lebensgefühl hängt eng mit dem durch die Medien verbreitete Getto- Image amerikanischer Vorstätte zusammen wo der Rap in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ursprünglich auch entstanden ist3. Als der Gangsta Rap Anfang der 90ger auch in Deutschland populär wurde übernahmen die hier lebenden türkischen Jugendlichen schnell die Elemente der „Gangsta-Kultur“, da sie sich mit dem verbalen Kampf um Annerkennung identifizieren konnten. Doch auch wenn ihrer Szene der Einwand entgegengebracht wird, dass sie in ihrer Musik und den dazugehörigen „Posen“ nur eine Kopie ausleben, liegt in der Art wie sie damit umgehen der authentische Ausdruck des Lebensgefühls ihrer Szene begründet. „Authentizität ist nicht das, was sich als authentisch gibt, sondern das, was für das eigene Lebensgefühl in der Rezeption und Aneignung der populären Texte als authentisch erachtet wird“ (Mikos 2000, S.118). So lässt sich erkennen, dass die türkischen Jugendlichen nur die, aus ihrer Perspektive wichtig erscheinenden Elemente, herausgepickt haben, um sie für sich mit neuen und sinnvollen Inhalten zu füllen. Daraus entwickelte sich ein deutsch-türkischer Hip-Hop-Stil mit welchem sie ihre Probleme als Minderheit kommentieren und lautstark ihre Szene bekunden. Bands wie Cartel, Sultan Tunc oder Nefret singen über ein neues türkisches Selbstbewusstsein in Deutschland, über Diskriminierung, Angst und Widerstand, erzählen ihren jugendlichen Zuhörern Geschichten über das große Geld, die Straße und das Rauschgift, Gewalt und Visionen eines solidarischen Miteinander. Als ein weiteres besonderes Distinktionsmerkmal und Zeichen ihrer Subkultur kann man, im Gegensatz zu rein deutschen Szenen, ihre charakteristische deutsch-türkische Mischsprache bezeichnen, welche auch als „Türkendeutsch“ "Türkenslang", "Kanak-Sprak" oder auch "Ghettosprache“ bekannt ist. Es handelt sich nicht um eine Lernersprache mit grammatischen Unsicherheiten, Fehlern und Interferenzen, sondern um eine ethnisch verwurzelte Gruppensprache, eine „ethnolektale Varietät“. Ihre deutschsprachigen Anteile haben besondere grammatische und lexikalische Eigenschaften: Präpositionen und Artikel fallen aus und das neutrale grammatische Geschlecht wird generalisiert. Durch die Übernahme prosodischer und phonetischer Eigenschaften aus dem Türkischen wird das Deutsche verfremdet. Der Sprechrhythmus ist durch einen Wechsel von Hebungen und Senkungen charakterisiert, was ihm einen "stampfenden" Charakter verleiht. In türkische Satzkonstruktionen werden deutsche Wörter und Phrasen übernommen und türkischsprachige Satzteile werden mit deutschen zu einer syntaktischen Einheit verbunden (Vgl. Feridum Zaimoglu Frankfurt 2001).

II Soziostrukturelle Hintergrundfaktoren

2.1 Vorbemerkung

Mir ist es wichtig an dieser Stelle zu erwähnen, dass ich hier nur von einer bestimmten Sorte türkischer Jugendlicher spreche, die sich von Gangs eine identitätsstiftende Funktion versprechen. Es sind darüber hinaus auch andere türkische Jugendliche zu beobachten, die es schaffen, sich ihr eigenes Wertesystem zu konstruieren und somit auch kaum in anderen Szenen verwurzelt sind. Bei der türkischen Street Gang haben wir es also mit einem Phänomen zu tun, welches sich von deutschen Szenen mit oft unabhängig gewählten Zusammenschlüssen, stark unterscheidet, da sich szenenanfällige Jugendliche türkischer Herkunft vor allem von den Gangs positive soziale Anerkennung erhoffen. Dieses Phänomen steht unter anderem in einem wesentlichen Zusammenhang mit ihren gemeinsamen Ausgangsbedingungen, welche vor allem von der Migrationsehrfahrung geprägt sind. Deshalb möchte ich zunächst auf das allgemeine Migrationsdilemma türkischer Familien in der Bundesrepublik eingehen, um dann zu erörtern mit welchen besonderen Schwierigkeiten viele türkische Jugendliche der zweiten und dritten Generation zu kämpfen haben.

[...]


1 Vgl. Deutsche Shell (Hrsg.), Jugend 2000, Band 1, Opladen 2000, S. 221 ff.

2 Diese Verhaltensmuster konnte ich in gleicher Weise bei der Gang Tuksun und Artakan in Ravensburg, wie bei der Gang Kanakster in Biberach und den Streetboys in Friedrichshafen beobachten.

3 Der Rap galt zu seiner Gründerzeit als Sprachrohr der afroamerikanischen Minderheit in den USA und entwickelte sich langsam zu einem Kommerziellen Musikstil, welcher sich heutzutage wiederum in unterschiedliche Stilrichtungen aufspalten lässt. Eine Stilrichtung, die dem ursprünglichen Sinn noch am ehesten treu blieb, wurde Ende der 80ger unter dem Namen Gangsta Rap zu einem populären Produkt der Unterhaltungsindustrie. Der Gangsta Rap sollte von der Getto-Realität erzählen und brachte letztendlich die gut zu vermarktenden Geschichten von Gewalt, Sex und Drogen in kommerzialisierter Form in deutsche Jugendzimmer. Das was von der bösen Realität in den gezeigten Videoclips übrig blieb, war eine erfundene Gettoromantik von brennenden Mülltonnen und unheimlich coolen, gefährlich-anmutenden, maskulinen Typen, welche Elemente von den hier lebenden Türken übernommen wurde.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Phänomen: Türkische Street Gang
Untertitel
Szene, Abgrenzung und Gruppenbildung
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Jugend im Umbruch
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
21
Katalognummer
V114107
ISBN (eBook)
9783640151981
ISBN (Buch)
9783656082026
Dateigröße
454 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Phänomen, Türkische, Street, Gang, Jugend, Umbruch
Arbeit zitieren
Dipl. Soz. Tobias Lohmann (Autor:in), 2004, Phänomen: Türkische Street Gang, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114107

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