Das Familienkonzept in 'Das Muschelessen' von Birgit Vanderbeke


Seminararbeit, 2008

19 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


Inhalt

o. Einleitung

1. Sachanalyse

2. Didaktische Analyse

3. Abschließende Betrachtungen

Literaturverzeichnis

o. Einleitung

Das Muschelessen von Birgit Vanderbeke beschreibt das Leben einer ostdeutschen Flüchtlingsfamilie im Westen und behandelt mit deren Umstellungs- und Anpassungsproblemen eine Lebenssituation, mit der sich (insbesondere) nach der Wende Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR konfrontiert sahen. Im Laufe der Romanhandlung tun sich menschliche Abgründe auf und das zerrüttete Verhältnis der Familie zu dem tyrannischen Vater wird schonungslos aufgedeckt. Dessen Verhalten nimmt in der Erinnerung der Erzählerin immer drastischere Formen an, in der Handlung selbst jedoch wird nur über ihn berichtet werden, zu Wort kommen lässt Vanderbeke den Vater nicht. Erinnerungen an den Abwesenden werden ausgetauscht, während die Mutter und die beiden Kinder ängstlich auf die Rückkehr des Familienoberhauptes warten, dessen Beförderung ansteht und dessen Erfolge mit einem Muschelessen gebührend gefeiert werden sollen.

Das Motiv des Wartens erinnert zunächst vielleicht an Samuel Becketts modernes Drama „Waiting for Godot“. Auch hier wird die Spannung des Wartens aufgebaut und stehen die handelnden Figuren vor der Frage, ob die Schlüsselfigur noch eintreffen oder das Warten sich schließlich als vergebens herausstellen wird. Das Ende bleibt in beiden Texten offen; doch während im Werk Becketts die Landstreicher Vladimir und Estragon nur sehr vage Vorstellungen von dem ihnen unbekannten Godot haben, ist der Abwesende den Familienmitgliedern in Birgit Vanderbekes Roman nur allzu gut vertraut. In der Familie laufen alle Fäden beim Vater zusammen, dessen Machtanspruch innerhalb der Familienhierarchie unangefochten ist und der, bis zu dem (möglicherweise) folgenschweren Abend, an dem die Romanhandlung einsetzt, niemals offenen Widerstand erfahren musste. Das asymmetrische Machtverhältnis und die emotionale Kälte, das gegenseitige Denunziantentum der Familienmitglieder sowie ihr langes Schweigen und die Angst, sich einander anzuvertrauen, der Leistungsdruck, der von außen wie von innen seine Kräfte entfaltet und auf die Familie einwirkt, weisen darauf hin, dass Vanderbeke eine zerrüttete, dysfunktionale Familie beschreiben möchte, die aufgehört hat, in der gewohnten Weise zu funktionieren.[1]

Die vorliegende Arbeit will sich daher mit dem Familienbild auseinandersetzen, das in Birgit Vanderbekes Roman Das Muschelessen beschrieben wird, und möchte insbesondere die sich daraus ergebenden Problemfelder und Möglichkeiten auf ihre Eignung für den Deutschunterricht überprüfen.

1. Sachanalyse

Die Auflösung der Deutschen Demokratischen Republik kündigte sich bereits im Mai des Jahres 1989 an, als Ungarn seine Grenzanlagen zu Österreich abbaute und hunderte von DDR-Bürgern die Botschaften der Bundesrepublik in Budapest, Prag, Warschau und Ost-Berlin aufsuchten, um dort neue Reisedokumente zu beantragen. Erst am 3. November 1989 schließlich fiel die Berliner Mauer, eine innerdeutsche Grenze, die mit der Zeit nicht nur zum Symbol der Trennung zwischen Ost- und Westdeutschland geworden war, sondern - in einem globaleren Sinne - auch immer deutlicher für den Gegensatz zwischen den kulturellen und politischen Hemisphären von West und Ost zu stehen kam. Mit der Wiedervereinigung trafen die Bürgerinnen und Bürger zweier Staaten zusammen, die nicht nur viele Gemeinsamkeiten, sondern eben aber auch sehr zahlreiche Unterschiede aufwiesen, so dass eine Zusammen-führung von vornherein mit Schwierigkeiten behaftet war. Nicht nur das politische System und die Rolle des Staates und der Öffentlichkeit hatten in der ehemaligen DDR einen anderen Stellenwert als in der BRD. Auch die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger war in der SED- Diktatur vor steuernden, die individuelle Freiheit des Einzelnen limitierenden Eingriffen nicht geschützt.[2] Obwohl große Teile der Bevölkerung der DDR mit ihrem Staat unzufrieden waren[3], fiel die Eingewöhnung in das neue System der westlich orientierten Bundesrepublik häufig nicht leicht: Die neuen Lebensumstände, in erster Linie aber die vielfach gnadenlose Leistungsorientiertheit im Beruf, die neuen sozialen und politischen Rahmenbedingungen und das nicht selten von Vorurteilen geprägte Verhältnis der Westdeutschen zu den Neuankömmlingen übten auf die Menschen einen erheblichen

Druck aus.[4]

Die mit feierlichen Worten umrissenen Idealvorstellungen, die man beispielhaft in der Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Lothar de Maizière vorfindet, mussten sich im Alltag erst bewähren. Insbesondere die Anerkennung des wechselseitigen Nutzens der Wiedervereinigung für die Bürgerinnen und Bürger dieses neuen Staates, der Bundesrepublik

mit ihren nunmehr sechzehn Bundesländern, verlief oftmals nicht so unproblematisch, wie dies bei Maizière klingen mag:

„Wir bringen ein unser Land und unsere Menschen, wir bringen geschaffene Werte und unseren Fleiß ein, unsere Ausbildung und unsere Improvisationsgabe. [...] Wir bringen unsere bitteren und stolzen Erfahrungen an der Schwelle zwischen Anpassung und Widerstand ein. Wir bringen unsere Identität ein und unsere Würde. Unsere Identität, das ist unsere Geschichte und unsere Kultur, unser Versagen und unsere Leistung, unsere Ideale und unser Leiden. Unsere Würde, das ist unsere Freiheit und unser Menschenrecht auf Selbstbestimmung.“[5]

In diesen Krisenzeiten des Neuanfangs, in denen so vieles unsicher erschien und eine Neuorientierung für den Einzelnen unvermeidlich war, bot die Familie einen geschützten Rückzugsraum an, in dem Entlastung und Austausch möglich waren, in dem Probleme angesprochen und gelöst werden konnten.

Eine solche Familie wird zunächst auch in Birgit Vanderbekes Roman Das Muschelessen eingeführt. Die Autorin lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass es ihr nicht um die literarische Ausgestaltung einer Familienidylle geht, in dem der Mensch vor einer sich rasch verändernden und verschärfenden Umwelt Zuflucht finden kann, sondern dass sie gerade die Dekonstruktion eines solchen Familienbildes beschreiben möchte. Zwar handelt es sich bei der dargestellten Familie um eine mononukleare Familie, die ihren Lebensmittelpunkt in einem gemeinsamen Haushalt hat[6], doch ist es gerade die Traditionalität dieser Familienauffassung und der damit verbundenen Rollenverteilung von Mann und Frau (und Kindern), welche die Probleme überhaupt erst hervorruft.

Das wesentliche Merkmal der Familien und Lebensgemeinschaften in den neuen Bundes-ländern bestand, auch Jahre nach der Wiedervereinigung, darin, dass häufig beide Partner berufstätig waren. Dabei galten Beruf und Familie grundsätzlich als miteinander vereinbar.[7] Das Modell der sukzessiven Wahrnehmung beider Aufgabenfelder, wie es in West-deutschland sehr verbreitet war (und auch im heutigen Deutschland weiterhin ist) - mit einem Lebensabschnitt, der weitgehend dem Beruf und einem weiteren Lebensabschnitt, der der Familie gewidmet ist – war in der ehemaligen DDR weniger stark verbreitet.[8] Hier ist dagegen häufig der Gedanke simultaner Vereinbarkeit anzutreffen, der - vor allem für die

Frauen - eine Doppelbelastung durch Erwerbs- und Familienleben bedeutet.[9] Auch in Birgit Vanderbekes Muschelessen nimmt die Mutter beide Aufgaben gleichzeitig wahr: Neben ihrer Berufstätigkeit als Lehrerin ist sie fürsorgliche Mutter und Ehefrau, kümmert sich nach ihrer Lehrerzulassung im Westen um Beruf, Haushalt und Ehe gleichermaßen.

Die Erzählerin bezeichnet dieses Hinüberwechseln von einer Rolle in die andere wiederholt mit dem Begriff der „Umstellung“ und weist darauf hin, dass der Rollenwechsel, insbesondere von Lehrerin zu Mutter, durchaus Widersprüche mit sich bringen kann.

Ist die Mutter tagsüber eine Respektperson, deren „Schulgesicht [...] wirklich furcht-einflößend war“[10], so beugt sie sich am Abend bedingungslos den Wünschen und Vorstellungen ihres Ehemanns und gibt ihre Autorität zu Gunsten der „heilen Familie“ auf. Dieses tägliche Ritual des sich Sich-Verstellens und Sich-Einstellens auf den Ehemann wird von den Kindern (einer Tochter und einem Sohn) mit Argwohn registriert. Von der Tochter, die auch gleichzeitig die Erzählerin der Romanhandlung ist, erfahren wir: „Ich mag es nicht, dass sie [die Mutter] sich immer umstellt.“[11] Obwohl die Frau wohl höher qualifiziert ist und möglicherweise ein höheres Einkommen hat als ihr Mann[12], haben sich in der Familie die überkommenen tradierten Geschlechterrollen durchgesetzt. Um den Ehemann nicht zu verärgern und den Familienfrieden zu wahren, verbirgt die Frau ihre Abgespanntheit hinter der Maske eines „Feierabendgesichts“[13]. Sie erzeugt damit eine oberflächliche Harmonie in der Familie, um dem heimkehrenden Mann ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit zu geben. Die Herstellung dieser Familienidylle bedeutet für die Mutter dabei eine Aufopferung der eigenen Interessen zugunsten der Interessen und Erwartungen ihres Mannes.[14] Auch das Muschelessen selbst wird letztlich nur arrangiert, um den beruflichen Erfolg des Vaters zu feiern und ihm jenes mit positiven Gefühlen besetzte Familienerlebnis zu geben, von dem er zwar „die genauesten Vorstellungen entwickelt hatte“[15], das er in seinem eigenen Elternhaus aber selbst nie kennen gelernt hatte.

Das Muschelgericht ist damit nur zu bezeichnend für die Situation, in der sich die Familie befindet: Während sich Mutter und Kinder nicht viel aus Muscheln machen, sind sie das

Lieblingsgericht des Vaters. Ob man sich der metaphorischen Einschätzung von Rolf Michaelis anschließen sollte, der in dem Gericht eine Leib- und Magenspeise zu erkennen glaubt, „mit der Insassen des Familiengefängnisses ihre Mithäftlinge foltern“[16], sei dahingestellt. Sicher ist jedenfalls, dass anhand der Muscheln nicht nur ein Unterschied der Geschmäcker aufgezeigt werden soll, sondern dass an dieser „Geschmacksfrage“ der Riss erkennbar wird, der sich durch die Familie zieht.

[...]


[1] Vgl. Lewis, Alison: “The Agonies of Choice: Gender, the Family, and Individualization in Birgit Vanderbeke’s Das Muschelessen.”; in: Journal of Germanic Studies 40 (3), New York 2004, S. 229

[2] Vgl. Bundesministerium für Familie und Senioren: Leitsätze und Empfehlungen zur Familienpolitik im vereinigten Deutschland. Stuttgart/ Berlin/ Köln 1991, S. 17

[3] Vgl. Bertram, Barbara, 1995, Die Wende, die erwerbstätigen Frauen und die Familien in den neuen Bundesländern, in: Nauck, Bernhard/Schneider, Norbert/Tölke, Angelika (Hrsg.): Familie und Lebensverlauf im gesellschaftlichen Umbruch. Stuttgart: Enke, S. 269

[4] Die Ergebnisse einer Europastudie zeigten, dass sich nur 11% der befragten Ostdeutschen durch die Behandlung ihrer westdeutschen Mitbürger nicht „betroffen oder belastet“ fühlten. Vgl. Bertram, Barbara, 1995, Die Wende, die erwerbstätigen Frauen und die Familien in den neuen Bundesländern, in: Nauck, Bernhard/Schneider, Norbert/Tölke, Angelika (Hrsg.): Familie und Lebensverlauf im gesellschaftlichen Umbruch. Stuttgart: Enke, S. 271

[5] „2 + 4 Chronik“. [online]. 02.09.2008. http://www.2plus4.de/chronik.php3?date_value=19.04.90&sort=003-002

[6] Vgl. Lewis, Alison: “The Agonies of Choice: Gender, the Family, and Individualization in Birgit Vanderbeke’s Das Muschelessen.”; in: Journal of Germanic Studies 40 (3), New York 2004. S. 224

[7] Vgl. Bertram, Barbara, 1995, Die Wende, die erwerbstätigen Frauen und die Familien in den neuen Bundesländern, in: Nauck, Bernhard/Schneider, Norbert/Tölke, Angelika (Hrsg.): Familie und Lebensverlauf im gesellschaftlichen Umbruch. Stuttgart: Enke, S. 265

[8] Vgl. Bundesministerium für Familie und Senioren: Leitsätze und Empfehlungen zur Familienpolitik im vereinigten Deutschland. Stuttgart/ Berlin/ Köln 1991, S. 18

[9] Vgl. Trappe, Heike: Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik. 1. Aufl., Berlin 1995, S. 20

[10] Vgl. Vanderbeke, Birgit: Das Muschelessen. 8. Aufl., Frankfurt / Main: Fischer 1999, S. 18

[11] Vgl. ebd., S. 19

[12] Vgl. Lewis, Alison: “The Agonies of Choice: Gender, the Family, and Individualization in Birgit Vanderbeke’s Das Muschelessen.”; in: Journal of Germanic Studies 40 (3), New York 2004, S. 226

[13] Vgl. Vanderbeke, Birgit: Das Muschelessen. 8. Aufl., Frankfurt / Main: Fischer 1999, S. 18

[14] Vgl. Huther, Christian: „Besichtigung einer Familie“; in: Wagner, Richard: „Ich hatte ein bißchen Kraft drüber.“ Materialien zum Werk von Birgit Vanderbeke. Frankfurt / Main: Fischer 2001, S. 201

[15] Vgl. Vanderbeke, Birgit: Das Muschelessen. 8. Aufl., Frankfurt / Main: Fischer 1999, S. 24

[16] Vgl. Michaelis, Rolf: „Altneudeutsche Wörtersuppe“; in: Wagner, Richard: „Ich hatte ein bißchen Kraft drüber.“ Materialien zum Werk von Birgit Vanderbeke. Frankfurt / Main: Fischer 2001, S. 207

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Das Familienkonzept in 'Das Muschelessen' von Birgit Vanderbeke
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Deutsches Seminar)
Veranstaltung
Fachdidaktik Deutsch
Note
1.0
Autor
Jahr
2008
Seiten
19
Katalognummer
V129264
ISBN (eBook)
9783640356393
ISBN (Buch)
9783640356751
Dateigröße
453 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Familienkonzept, Muschelessen, Birgit, Vanderbeke
Arbeit zitieren
Tobias Rösch (Autor:in), 2008, Das Familienkonzept in 'Das Muschelessen' von Birgit Vanderbeke, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/129264

Kommentare

  • Manuela Pfister am 13.6.2012

    Hallo!

    Ich finde das Buch sehr gut. Es hat mir sehr geholfen beim Verstehen des Buches von Birgit Vanderbeke.
    Vielen Dank und liebe Grüsse!

Blick ins Buch
Titel: Das Familienkonzept in 'Das Muschelessen' von Birgit Vanderbeke



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