Kinderarmut in Deutschland - Ursachen, Formen und Folgen für die kindliche Entwicklung

Eine empirische Untersuchung von Grundschulkindern in Kölner Horteinrichtungen


Diplomarbeit, 2008

144 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einführung

I. Kinderarmut in Deutschland – eine Bestandsaufnahme
1 Wandel der Armut in Deutschland
2 Der Armutsbegriff
2.1 Definitionsansätze – Methoden der Armutsmessung
2.1.1 Einkommensarmut
2.1.2 Das Sozialhilfekonzept – politisch normative Armut
2.1.3 Das Unterversorgungskonzept
2.1.4 Das Deprivationskonzept
2.2 Ein kindgerechter Armutsbegriff
2.2.1 Das Deprivationskonzept nach Andreß
2.2.2 Erweitertes Lebenslagemodell nach Chassé/Zander/Rasch
2.2.3 Das Zusammenwirken von vier Lebenslagen nach Hock/Holz
3 Ursachen von Kinderarmut
3.1 Wirtschaftlicher Strukturwandel
3.2 Demografische Entwicklung
4 Formen von Kinderarmut: Das Zusammenwirken von Risiko- und Schutzfaktoren
4.1 Die Elternebene
4.2 Die Kindebene
4.3 Außerfamiliäre Systeme
5 Zwischenfazit

II. Untersuchung der Folgen von Armut für die Entwicklung von Kindern im Grundschulalter
1 Aktueller Forschungsstand zu den Folgen von Kinderarmut
1.1 Materielle Versorgung
1.2 Gesundheit
1.3 Soziale Lage
1.4 Kulturelle Lage
2 Darstellung der Untersuchung
2.1 Motivation
2.2 Fragestellung und Hypothesen
2.3 Untersuchungsmethode
2.4 Untersuchungskriterien
2.4.1 Stichprobe
2.4.2 ExpertInnen
2.4.3 Untersuchungsorte
2.5 Der Untersuchungsverlauf
2.5.1 Fragebogenkonstruktion
2.5.2 Rahmenbedingungen und Rekrutierung
2.6 Problematik: Stichprobenverzerrung
2.7 Datenauswertung
3 Darstellung der Ergebnisse
3.1 Einrichtungen und befragte Personen
3.2 Stichprobenbeschreibung
3.3 Ergebnisse der Hypothesentests
3.3.1 Materielle Versorgung
3.3.2 Physische und psychische Gesundheit
3.3.3 Soziale Lage
3.3.4 Kulturelle Lage
3.3.5 Bildungschancen und Bildungsmilieu
3.4 Lebenslagenvergleich anhand des sozioökonomischen Status
3.5 Weitere Ergebnisse
3.5.1 Wechselwirkung der Lebenslagebereiche
3.5.2 Persönlichkeitsprofile im Gruppenvergleich
4 Zentrale Ergebnisse im Spiegel des aktuellen Forschungsstandes

III. Rollenverständnis und Handlungsansätze der Sozialen Arbeit im Kontext von Kinderarmut
Schlusswort
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Materialband

Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Das Unterversorgungskonzept

Tab. 2: Befragte und deren Qualifikation (n=18)

Tab. 3: Haushaltsformen im Gruppenvergleich (n=128)

Tab. 4: Durchschnittliche Anzahl der Geschwister im Gruppenvergleich unter Berücksichtigung des Migrationshintergrundes (n=125)

Tab. 5: Materielle Versorgung der Kinder im Gruppenvergleich (n=128)

Tab. 6: Auftreten von Stresssymptomatik im Gruppenvergleich (n=128)

Tab. 7: Umgang mit Gleichaltrigen im Gruppenvergleich (n=128)

Tab. 8: Emotionale Kompetenz im Gruppenvergleich (n=128)

Tab. 9: Kognitive Kompetenz im Gruppenvergleich (n=128)

Tab. 10: Weiterführende Schulform im Gruppenvergleich (n=114)

Tab. 11: Ausbildungsgrad der Eltern im Gruppenvergleich (n=128)

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Entwicklung der Armutsraten bei unter 15-Jährigen (1984-2003; %)

Abb. 2: Entwicklung der Sozialhilfequoten nach Altersgruppen (2000-2004; %)

Abb. 3: Haushaltsbezogene EmpfängerInnenquote von Sozialhilfe Ende 2004.

Abb. 4: Wohnort und sozioökonomischer Status (n=128; %)

Abb. 5: Haushaltsform nach sozioökonomischem Status (n=128; %)

Abb. 6: Allgemeiner Entwicklungsstand des Kindes und sozioökonomischer Status der Familie (n=128; %)

Abb. 7: Unterschiedliche Lebenslagen im Gruppenvergleich (n=128; %)

Abb. 8: Ausreichende Versorgung der Kinder in den vier Lebenslagebereichen (n=128; %)

Einführung

Armut und insbesondere Kinderarmut in einer führenden Industrienation wie Deutschland ist längst kein Tabuthema mehr. Laut einer aktuellen Studie der UNICEF wachsen heute deutschlandweit mehr als 1,5 Millionen Kinder und Ju- gendliche unter 18 Jahren in relativer Einkommensarmut auf – das bedeutet je- de/r zehnte Minderjährige ist betroffen.1 Erschreckendes Ergebnis der Studie ist insbesondere die Entwicklung in Deutschland: Wuchsen 1989 noch 4,5% der Kinder und Jugendlichen in Familien auf, die mit weniger als 50% des Durch- schnittseinkommens auskommen mussten und somit als arm gelten, waren dies im Jahr 2001 bereits 9,8%, also mehr als doppelt so viele.2 Noch vor 30 Jahren waren überwiegend alte Menschen von Armut betroffen – heute sind es erwiese- nermaßen häufiger Kinder, die in armen Familien heranwachsen. Nicht nur Sozi- alwissenschaftlerInnen3 sprechen aufgrund dessen seit einigen Jahren von einer „Infantilisierung der Armut“, auch die bundesdeutsche Politik widmet sich seit einiger Zeit verstärkt dem Thema Kinderarmut.

Dies war jedoch nicht immer so: Bis Ende der neunziger Jahre wurde seitens der Bundesregierung vehement bestritten, dass Menschen und insbesondere Kinder in diesem Land unter Armut leiden, obwohl SozialwissenschaftlerInnen und Wohlfahrtsverbände immer wieder auf den Tatbestand sozialer Ungleichheit aufmerksam machten – von Arbeitslosigkeit und prekären Beschäftigungsver- hältnissen waren bereits immer mehr Menschen betroffen und mit ihnen ihre Fa- milien.4 Im Jahr 2000 beauftragte schließlich der Deutsche Bundestag die Bun- desregierung, regelmäßig über Armut und Reichtum in Deutschland Bericht zu erstatten.5 Seither zeichnet sich eine Veränderung im Umgang mit dem „Mythos“ Armut ab und es ist ein gesteigertes öffentliches Interesse zu konstatieren, was an der stetig wachsenden Zahl der Publikationen und einer regen medialen Be- richterstattung zum Thema Kinderarmut ersichtlich wird. Im April 2005 ist bereits der zweite „Armuts- und Reichtumsbericht“ der Bundesregierung erschienen.

Die Armut von Kindern ist ein komplexes und vielschichtiges Thema, denn sie umfasst multiple und von der Erwachsenenarmut zu differenzierende Dimensio- nen. Dessen ungeachtet wird Kinderarmut insbesondere von Seiten der Regie- rung in erster Linie am Einkommen der Eltern gemessen, wobei diese eindimen- sionale Sichtweise vehement kritisiert wird.6 Es wird einstimmig gefordert, die Armutslage aus Sicht der Kinder zu definieren, da nur auf diese Weise genaue Einblicke in kindliches Erleben von Armut und dessen materielle, gesundheitli- che, sozialisatorische und kulturelle Folgen gewonnen werden können. In einer Stellungnahme des Bundesministeriums formulierten die AutorInnen diesen Sachverhalt einst sehr prägnant:

„[...] Obwohl Kinderarmut eng mit Elternarmut verknüpft ist, ist sie ein eigenes Phänomen. Sie unterscheidet sich [...] von der Eltern- und Erwachsenenarmut erheblich sowohl in Ausmaß als auch in der Qualität, da Kinder besondere Be- dürfnisse und Handlungsziele haben.“7

Ausmaß und Qualität von Kinderarmut – diese beiden Perspektiven möchte ich im Rahmen dieser Arbeit sowohl theoretisch als auch mittels einer selbständig durchgeführten, quantitativen Untersuchung beleuchten. Die alles leitende und zu diesem Zweck sehr allgemeine Frage ist: Wie gestaltet sich Kinderarmut in Deutschland? Eine detaillierte und vielseitige Analyse dessen umfasst ebenso die Erörterung von historischen Entwicklungen, Ursachen und Formen sowie die daraus hervorgehenden individuellen Folgen für die Entwicklung der Kinder.

Das Ausmaß von Kinderarmut in Deutschland wird im ersten Teil der Arbeit in Form einer Bestandsaufnahme theoretisch erarbeitet und bildet nicht nur die Voraussetzung für meine empirische Untersuchung der Folgen von Kinderarmut im zweiten Teil, sondern soll in erster Linie zum Verständnis dieses komplexen und vielschichtigen Phänomens beitragen. Es wird dargestellt, wie und weshalb sich das Bild der deutschen Armut über Jahrzehnte hinweg verändert hat, um schließlich eine solch starke Betroffenheit von Kindern hervorzurufen. Es werden unterschiedliche Konzepte zur Definition von Armut im Allgemeinen kritisch dar- gestellt, um darauf aufbauend einige Ansätze für einen kindgerechten Armutsbe- griff zu erläutern. Weiterführend sollen die wirtschafts- sowie gesellschaftsstruk- turellen Ursachen auf der Makroebene beleuchtet werden. Um des Weiteren auf die Folgen von Armutslagen für die kindliche Entwicklung im zweiten Teil einge- hen zu können, müssen zuvor die Bedingungen und Kriterien geklärt werden, welche die Form der Armutslage bestimmen. In Anlehnung an die Resilienzfor- schung werden Risiko- und Schutzfaktoren im Kontext familiärer Armut auf der Mikroebene erörtert, welche für die jeweiligen Auswirkungen einer Kindheit in Armut ursächlich sind und woraus die individuelle Erscheinungsform hervorgeht. Ein Aufwachsen in Armut bedeutet nicht zwangsläufig, dass dadurch Benachtei- ligungen für die Entwicklungschancen der Kinder entstehen.

Die Qualität oder auch die Dimensionen eines Heranwachsens in Armut werden im zweiten Teil dieser Arbeit anhand der Ergebnisse meiner ExpertInnenbefra- gung vertiefend dargestellt. Insgesamt wurden 130 Kinder im Grundschulalter von Fachkräften nach unterschiedlichen Kriterien beurteilt. Das Ziel der empiri- schen Untersuchung war, herauszuarbeiten, welche Folgen ein Aufwachsen in Armut für die Kinder in den Bereichen der Grundversorgung, Gesundheit, sozia- len und kulturellen Lage haben kann und des Weiteren, ob die Bildungs- und somit Zukunftschancen der untersuchten Kinder ungleich verteilt sind. Eingangs wird der aktuelle Forschungsstand dargestellt, der die wissenschaftliche Basis für meine eigene Untersuchung und deren Inhalte bildet. Darauf aufbauend erfolgen die Darstellung des Untersuchungsdesigns und dessen praktische Durchführung. Im weiteren Verlauf werden detailliert die Ergebnisse dargestellt und schließlich im Kontext aktueller Forschungserkenntnisse interpretiert.

Im dritten Teil der Arbeit erfolgt eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Rollenverständnis Sozialer Arbeit und den sich daraus ergebenden Handlungs- ansätzen in Bezug auf die multiplen Dimensionen von Kinderarmut. In diesem Kapitel sollen der Diskurs in der Praxis verdeutlicht und zugleich Perspektiven für Handlungsmaximen in der Sozialen Arbeit aufgezeigt werden.

Im Schlusswort möchte ich aufzeigen, welche Antworten auf die Fragestellungen gefunden wurden und die wichtigsten Erkenntnisse diesbezüglich sollen noch einmal zusammengefasst werden. Es soll ein Fazit die gesamte Arbeit betreffend gezogen werden und eine zukunftsweisende Perspektive wird den Diskurs er- gänzend abschließen.

I. Kinderarmut in Deutschland – eine Be- standsaufnahme

1 Wandel der Armut in Deutschland

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Bild der Armut in Deutschland grundlegend verändert und im Zuge dessen auch der wissenschaftliche, öffentli- che und politische Umgang mit diesem Thema. Der folgende Abschnitt soll einen Einblick über die wichtigsten Veränderungen geben.

Nachdem die sozioökonomische Krise des zweiten Weltkrieges überstanden worden war, begannen SozialforscherInnen erstmals wieder in den 80er Jahren, sich mit dem Thema Armut in Deutschland auseinander zu setzen.8 Heiner Geiß- ler, ehemaliger Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, verwies mit der Veröffentlichung seines Buches „Die Neue Soziale Frage“ bereits 1976 auf die Verschärfung und Veränderung der innerdeutschen Armutslage aufgrund von steigender Arbeitslosigkeit. Doch erst Jahre später wurde das Phänomen der „neuen Armut“ rege diskutiert. Im Mittelpunkt standen insbesondere die Zunahme der Arbeitslosigkeit und deren Folgen für die materielle und psycho-soziale Lage der Erwachsenen, weniger derer Kinder.9 Man konstatierte eine Veränderung in der Struktur der Betroffenen – stellten bislang marginalisierte Randgruppen wie Obdachlose, SozialhilfeempfängerInnen, MigrantInnen10 und alte Menschen die so genannten „traditionellen Armen“ dar, sind mit Beginn der frühen neunziger Jahre an deren Stelle besonders Alleinerziehende und kinderreiche Familien ei- nem höheren Armutsrisiko als andere Bevölkerungsgruppen ausgesetzt.11 Im Zuge dessen betrifft Armut heute in hohem Maße Kinder und Jugendliche.

Das Risiko arm zu werden ist bereits in die Mitte der Gesellschaft vorgestoßen, da Armut nicht mehr nur Randgruppen, sondern eine breite und in wachsender Zahl der (ehemaligen) Mittelschicht angehörende Bevölkerungsschicht bedroht. Arbeitslosigkeit stellt nach wie vor das größte Armutsrisiko dar, doch sind immer häufiger auch (kinderreiche) ArbeitnehmerInnenhaushalte betroffen.12 Die als „working poor“ bezeichneten BezieherInnen von Niedrigeinkommen (weniger als 60% des nationalen Durchschnittseinkommens) machen nach Angaben des Sta- tistischen Bundesamtes 14% der in Deutschland Vollzeit Erwerbstätigen aus – jede/r siebte ArbeitnehmerIn ist demnach von Armut bedroht und mit ihnen ihre Familien.13 In unabhängigen Studien ist sogar von jedem/jeder Fünften die Re- de.14

Das Bild der Armut hat sich nicht nur hinsichtlich der Betroffenen verändert. Fer- ner vollzieht sich eine immer stärkere Polarisierung zwischen arm und reich – nie zuvor gab es so viele arme und zugleich reiche Menschen in Deutschland, und diese „Schere“ öffnet sich Prognosen zufolge immer weiter.15 Dies trifft beson- ders Kinder und Jugendliche, die in einkommensschwachen Familien aufwach- sen. Während Erwachsene materielle Defizite mit bewusstem und frei gewähltem Verzicht kaschieren können, werden Kinder und Jugendliche deutlich schneller sozial ausgegrenzt, wenn sie den gängigen Peergroup16-Maßstäben hinsichtlich Kleidung, Freizeitgestaltung oder moderner Medien nicht gerecht werden.17 Seit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Jahr 2005 hat sich insbesondere die Lage von bedürftigen Familien zunehmend verschlechtert. In Deutschland leben heute nach Angaben des Deutschen Kinderschutzbundes etwa 2,7 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren von Sozialhilfe, also jede/r siebte Minderjährige.18 Der Regelsatz pro Kind unter 14 Jahren beträgt 207 Euro monatlich und 6,70 Euro pro Tag – neben Kleidung und Nahrung müssen hiervon auch Schulmittel, eine kindgerechte Zimmerausstattung (Spiele etc.) und Freizeitaktivitäten (Vereinssport, Kindergeburtstage etc.) bestritten werden.19 Laut ExpertInnenmeinung ist dies nicht möglich, selbst wenn sich Eltern in stren- gem Verzicht üben. Infolge dessen werden die Forderungen nach einer Erhö- hung der Regelsätze für Kinder und der Zahlung von bedarfsorientierten Zusatz- leistungen immer lauter.

Festgehalten werden kann an dieser Stelle, dass sich das Armutsbild in der Bun- desrepublik grundlegend verändert hat. Immer mehr Kinder sind betroffen, wes- wegen der Begriff der „Infantilisierung der Armut“ im wissenschaftlichen und poli- tischen Sprachgebrauch zunehmend Verwendung findet.20

Im Fokus dieser Arbeit stehen insbesondere das Ausmaß von Kinderarmut und die Folgen für die individuelle kindliche Entwicklung. Von großer Bedeutung ist hierbei ein kindgerechter Armutsbegriff, der alle Dimensionen des (Er-)Lebens von Kindern berücksichtigt. Im folgenden Kapitel soll anhand unterschiedlicher Armutstheorien und Definitionsansätze schließlich ein umfassender, kindgerech- ter Armutsbegriff erläutert werden.

2 Der Armutsbegriff

Eine einheitliche Definition von Armut existiert in der deutschsprachigen Literatur nicht. Die Ansichten darüber, wer als arm zu bezeichnen ist und welche Dimen- sionen besonders in Hinblick auf Kinderarmut berücksichtigt werden müssen, variieren in Abhängigkeit von der Perspektive des Betrachters sowie vom Erle- ben der Betroffenen selbst, wie in diesem Kapitel herausgestellt werden soll.

Primär muss zwischen absoluter und relativer Armut differenziert werden. Abso- lute Armut liegt dann vor, wenn das physische Existenzminimum unterschritten wird, also eine lebensnotwendige Grundversorgung mit Nahrung, Gesundheit und Wohnraum nicht gewährleistet ist.21 Man denke dabei an Hungersnöte, Epi- demien und Massenvertreibungen in den Entwicklungsländern dieser Welt, aber auch an die geschätzten 900.000 Obdachlosen und etwa 50.000 Straßenkinder in Deutschland, die faktisch in absoluter (und häufig verdeckter) Armut leben.22

In Deutschland jedoch dominiert die Ansicht, dass kein Bürger hungern muss, das Gesundheitssystem allen eine Behandlung im Krankheitsfall garantiert und niemand gezwungen ist, auf der Straße zu leben. Der durchschnittliche Wohl- stand liegt über dem physischen Existenzminimum, weshalb in diesem Zusam- menhang von relativer Armut gesprochen wird. Relative Armut wurde bislang von Staatsseite als „auf einen mittleren Lebensstandard bezogene Benachteiligung aufgefasst“23, die den Betroffenen ein menschenwürdiges Leben und eine Teil- habe an der vorherrschenden Lebensweise in materieller, kultureller und sozialer Hinsicht nicht ermöglicht.

Soweit eine erste Differenzierung des Armutsbegriffs. Im folgenden Abschnitt sollen die unterschiedlichen Ansätze zur Definition von Armut genauer erläutert und Vor- und Nachteile herausgestellt werden. Abschließend erfolgt darauf auf- bauend die Erläuterung eines kindgerechten Armutsbegriffs anhand aktueller Studien aus dem Bereich der Kinderarmutsforschung.

2.1 Definitionsansätze – Methoden der Armutsmessung

Um Armut messen bzw. empirisch erfassen zu können, bedarf es einer klaren Definition dessen, was unter Armut verstanden wird. Generell finden in Studien zu diesem Thema zwei Definitionsansätze Anwendung – der Ressourcen- und der Lebenslageansatz.

Der Ressourcenansatz stützt sich bei der Messung von Armut auf monetäre und nichtmonetäre Güter.24 Eine Grenze zwischen Armut und Wohlstand wird anhand von Richtwerten in Bezug auf Einkommen, Vermögen, öffentliche und private Leistungen oder Produkte aus hauswirtschaftlicher Arbeit (z.B. Ernte) gezogen. Jede Nation hat diesbezüglich in Anlehnung an das jeweilige Durchschnittsein- kommen der Bevölkerung ihre eigenen Richtlinien, die sich jedoch primär auf monetäre Güter und insbesondere das jeweilige Erwerbseinkommen stützen.

Das Lebenslagekonzept wiederum nimmt subjektive Aspekte der von Armut Be- troffenen und weitere Lebensbereiche auf, wodurch die Möglichkeit besteht, mehrere Dimensionen von Armut zu erfassen.25 Dieser komplexe und mehrdi- mensionale Ansatz wurde in den neunziger Jahren entwickelt und geht über die „Triade sozialer Ungleichheit“ hinaus – Einkommen, Bildung und Beruf werden durch weitere Lebensbereiche wie z.B. Wohnen, Gesundheit, Sozialbeziehungen etc. erweitert.26 Es wird davon ausgegangen, dass individuelle Handlungsspiel- räume in einer Gesellschaft nicht allein durch die finanzielle Situation bestimmt werden, sondern Armut auch dann existent sein kann, wenn eine Unterversor- gung in anderen Lebensbereichen besteht. Doch auch dieser Ansatz kann in seiner ursprünglichen Form die Armutslagen von Kindern nicht umfassend be- schreiben, weshalb einige SozialwissenschaftlerInnen in den späten neunziger Jahren eine kindgerechte Modifizierung des Konzeptes vornahmen (siehe I, 2.2).

Im Folgenden sollen zu beiden Ansätzen der Armutsmessung Methoden vorges- tellt werden, die in der Praxis Anwendung finden. Zwei ressourcenbezogene Me- thoden sind der Einkommens- und der Sozialhilfeansatz, das Unterversorgungs- sowie das Deprivationskonzept dagegen stellen lebenslageorientierte Ansätze dar. Im Anschluss daran erfolgt die Darstellung eines kindgerechten, lebenslage- orientierten Armutsbegriffs.

2.1.1 Einkommensarmut

Bei diesem Definitionsansatz wird Armut in Relation zum durchschnittlichen Net- toeinkommen, genauer dem bedarfsgewichteten Nettoäquivalenzeinkommen einer Nation gesetzt.27 Bedarfsgewichtet bedeutet, dass den Mitgliedern eines Haushaltes unterschiedliche Bedarfsquoten zugewiesen werden. So erhalten erwachsene Haushaltsmitglieder den Gewichtungsfaktor 1, weitere Haushalts- mitglieder ab 14 Jahre den Faktor 0,5 und Kinder bzw. Jugendliche bis 14 Jahre den Faktor 0,3 in Bezug auf das durchschnittliche Nettoeinkommen.28 Um diffe- renzieren zu können, wurden zusätzlich so genannte Armutsrisikoquoten festge- legt. Demzufolge sind Personen, denen weniger als 40% des äquivalenzgewich- teten Durchschnittseinkommens zur Verfügung steht, von strenger Armut betrof- fen, bei weniger als 50% wird von Armut und 60% von Niedrigeinkommen oder prekärem Wohlstand (bis 75%) gesprochen.29 In Deutschland beläuft sich die Armutsgrenze auf 938 Euro monatlich für einen Haushaltsvorstand oder Alleins- tehenden.30

In welchem Ausmaß Kinder und Jugendliche von Einkommensarmut betroffen sind und wie sich das Risiko über die Jahre hinweg verändert hat, zeigt die fol- gende Abbildung. Ausgegangen wird von einem Einkommen von weniger als 60% des Medians der Gesamtbevölkerung.

Abb. 1: Entwicklung der Armutsraten bei unter 15-Jährigen (1984-2003; %)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: BMFSFJ 2005: 78, Datenbasis SOEP 2003.

Im Jahr 2005 waren laut Angaben von UNICEF 16,9% aller Minderjährigen in Deutschland von relativer Einkommensarmut betroffen.31 Diese in der Fachlitera- tur als „eindimensionaler Ansatz“ bezeichnete Fokussierung auf in erster Linie monetäre Ressourcen lässt subjektive Aspekte im Zusammenhang mit Armutsla- gen außen vor. Insbesondere mit Blick auf die Lebenslagen der Kinder wird die- ser Ansatz einstimmig als unzureichend und wenig lösungsorientiert bezeichnet. Kinderarmut ist aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Niedrigeinkommen eine Folge familiärer Armut, jedoch ist der alleinige Fokus auf die Einkommenssituation der Eltern nicht ausreichend. Monetäre Defizite können eine Ursache für weitere Probleme bezüglich der Zukunftschancen der Kinder darstellen. Aufgrund dessen wurde diese Methode der Armutsmessung bereits früh in der sozialwissenschaft- lichen Literatur kritisiert.32

2.1.2 Das Sozialhilfekonzept – politisch normative Armut

Um die Entwicklung der Armut in Deutschland zu beschreiben, wird von Regie- rungsseite häufig der Sozialhilfebezug als Indikator für Bedürftigkeit und demzu- folge für Armut herangezogen. Das im Sozialhilferecht definierte soziokulturelle Existenzminimum als Armutsgrenze ist allgemein umstritten, da es sich hierbei um politisch-normative Vorgaben für eine „quasi“ offizielle Armutsgrenze handelt und der Mindestbedarf oftmals als nicht annähernd ausreichend beschrieben wird.33 Insbesondere die hohe Dunkelziffer unter den Sozialhilfeberechtigten ver- ursacht ein verzerrtes Bild der Armutslage in Deutschland – die Statistik der rela- tiven Einkommensarmut liefert erfahrungsgemäß weitaus höhere Zahlen als die der Sozialhilfe.34 Die Zahl der so genannten „verschämten Armen“, welche ihren Anspruch auf Sozialhilfe nicht geltend machen, wird mindestens auf das Doppel- te der registrierten SozialhilfeempfängerInnen geschätzt, deren Zahl sich im Jahr 2004 auf 2,9 Mio. Menschen, also 3,5% der Gesamtbevölkerung belief.35

Kinder und Jugendliche sind besonders häufig von Sozialhilfe bzw. laufender Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen abhängig. Im Jahr 2004 lebten 7,5% aller Minderjährigen in Haushalten mit Sozialhilfebezug bzw. bezo- gen selbst Sozialhilfe – das sind 1,1 Mio. Kinder und Jugendliche, prozentual also mehr als doppelt so viele wie der deutsche Gesamtdurchschnitt.

Die folgende Abbildung zeigt den Verlauf der Sozialhilfequote von Minderjährigen im Vergleich zur EmpfängerInnenquote in der Gesamtbevölkerung.

Abb. 2: Entwicklung der Sozialhilfequoten nach Altersgruppen (2000-2004; %)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Statistisches Bundesamt 14.12.2005: 39.

Während der Sozialhilfebezug sich innerhalb der bundesdeutschen Bevölkerung nur gering verändert hat (von 3,3 zu 3,5%), sind die EmpfängerInnenzahlen von Kindern und Jugendlichen stetig angestiegen. 2004 lebte etwa jedes 10. Kind unter 7 Jahren in einer Familie mit Sozialhilfebezug.

Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ab dem Jahr 2005 erhöhte sich die Zahl der unter 15-Jährigen EmpfängerInnen auf 1,7 Mio. (13,1%).36 Insgesamt bezogen 6,8% der Deutschen Mitte des Jahres 2005 Sozi- al- oder Arbeitslosengeld (Alg) II.37 Bis Ende 2007 erhöhte sich die Zahl der min- derjährigen EmpfängerInnen auf 2,5 Mio. (14%).38 Kinder und Jugendliche sind demnach in der Sozialhilfestatistik immer noch überrepräsentiert und doppelt so häufig von staatlicher Unterstützung abhängig als der bundesdeutsche Durch- schnitt.

Hinzu kommt, je jünger ein Kind ist, desto größer ist das Risiko in einer Familie mit Sozialhilfebezug aufzuwachsen. Gründe hierfür sind insbesondere die in Deutschland vorherrschende Nichtvereinbarkeit von Familie und Beruf, was in- sbesondere Alleinerziehende betrifft. Auf die genauen Ursachen wird in Kapitel 3 eingegangen.

2.1.3 Das Unterversorgungskonzept

Das Unterversorgungskonzept stellt eines der beiden Armutskonzepte dar, wel- ches über monetäre Daten hinaus multiple Dimensionen von Lebenslagen er- fasst. Der Begründer Gerhard Weisser definierte als zentrale Kriterien eines so- ziokulturellen Mindeststandards die Bereiche Einkommen, Arbeit, Bildung und Wohnen.39 Als generell arm im Sinne des Unterversorgungskonzeptes gilt, wer in mindestens zwei dieser vier Bereiche eine Mangelversorgung erfährt. Die Richtli- nien hierfür sind in Anlehnung an den Armutsbericht des Deutschen Gewerk- schaftsbundes und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes aus dem Jahr 1994 in der folgenden Tabelle dargestellt:

Tab. 1: Das Unterversorgungskonzept

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Hanesch/Krause/Bäcker 1994 und Zimmermann 1998 in: Klocke 2000: 17

Die Unterversorgungsschwellen wurden anhand der Ergebnisse der jeweiligen Bereichsforschung festgelegt. Der Bereich Einkommen wird analog zur bereits erörterten Einkommensarmut definiert – wem weniger als 50% des Nettoäquiva- lenzeinkommens zur Verfügung steht, gilt in dieser Lebenslage als defizitär ver- sorgt. Unterversorgung im Bereich Arbeit wird dann konstatiert, wenn eine Per- son von Arbeitslosigkeit betroffen oder in einem subjektiv unsicheren Arbeitsver- hältnis beschäftigt ist. Ein fehlender Berufs- oder Bildungsabschluss wiederum steht für eine Unterversorgung im Bereich Bildung. Herrschen Wohnverhältnisse, die es nicht ermöglichen, dass jedes Familienmitglied einen eigenen Raum zur Verfügung hat, dann gilt eine Familie bzw. gelten deren einzelne Mitglieder als unterversorgt im Bereich Wohnen.

Diese vier Bereiche können ergänzt werden, indem weitere Dimensionen von Armutslagen abgeleitet werden. In materieller Hinsicht sind dies Nahrung, Klei- dung und medizinische Versorgung aber auch Transport-, Kommunikations- und Freizeitgestaltungsmöglichkeiten sowie die Beteiligung an kulturellen, gesell- schaftlichen und politischen Aktivitäten, welche unmittelbar die Partizipation ei- nes Menschen bewerkstelligen. Unklar ist jedoch, welche Werte für eine Unter- versorgungsschwelle festgelegt werden sollen.40 In einzelnen Studien wurde die- ser objektive Ansatz durch subjektive Dimensionen erweitert – Wohlbefinden und Zufriedenheit bspw. sollten von den Befragten nach eigenem Empfinden beurteilt werden. Dieses subjektive Armutsempfinden erhielt dieselbe Gewichtung wie die objektiven Lebenslagebereiche.41 Besonders in Zusammenhang mit der Armut von Kindern ist diese subjektive Dimension von großer Bedeutung – sie nehmen ihre persönliche Armutslage anders wahr als ihre Eltern und haben zumeist an- dere Vorstellungen hinsichtlich konventioneller Lebensstandards.

Klocke und Hurrelmann bezeichnen fast 10 Jahre nach der Modifizierung durch Hanesch, Krause und Bäcker dieses Konzept als den „umfassendste[n] und so- ziologisch gehaltvollste[n] Ansatz“.42 Ein Nachteil mit Blick auf das Phänomen der Kinderarmut ist jedoch, dass kaum ein Kind in den Lebenslagen Einkommen, Arbeit und Bildung (im Sinne von Bildungsabschluss) merkmalsfähig sein kann.43 Dies impliziert, dass Kinderarmut erneut als Folge von Familienarmut betrachtet wird, da die hierfür herangezogenen Dimensionen keine kindzentrierten Lebens- bereiche erfassen. Einige SozialforscherInnen haben in ihren Studien jedoch den Versuch unternommen, kindgerechte Dimensionen bzw. Lebenslagebereiche zu erörtern und die Armutslage dementsprechend aus Kindersicht zu definieren. In Kapitel 2.2 werde ich darauf näher eingehen.

2.1.4 Das Deprivationskonzept

Das Deprivationskonzept wurde Ende der neunziger Jahre von Hans-Jürgen Andreß entwickelt und ist auf Arbeiten aus England und den Niederlanden zu- rückzuführen. Deprivation beschreibt allgemein einen Zustand der Entbehrung bzw. des Verlustes. Das Besondere an diesem Ansatz zur Armutsdefinition ist der subjektive Blickwinkel. In erster Linie sollten Befragte in einer breit angeleg- ten Untersuchung selbst festlegen, was aus ihrer Sicht für einen „normalen, aus- reichend guten Lebensstandard“44 notwendig oder aber entbehrlich ist. Die Be- fragten sollten somit ein subjektives soziokulturelles Existenzminimum beschrei- ben. Die insgesamt 20 Standards beziehen sich jeweils auf einzelne Lebensbe- reiche wie bspw. Wohnen, Ernährung, Gesundheit oder soziale Kontakte in Form von Gütern bzw. Aktivitäten. Als arm gilt, wer sich eine bestimmte Anzahl dieser „als notwendig angesehenen Ausstattungsmerkmale“45 finanziell nicht leisten kann, also in mehreren Bereichen eine Deprivation erfährt. Personen, die be- wusst und nicht aus finanziellen Gründen auf Güter oder Aktivitäten verzichten, gelten in den jeweiligen Bereichen als nicht depriviert.46

Ergebnis der Untersuchung nach diesem Richtmaß für Armut ist, dass besonders kinderreiche Familien und Alleinerziehende von Armut betroffen sind, gleich den Ergebnissen der bereits erwähnten Methoden. Ein Unterschied ist jedoch darin zu sehen, dass Armut differenzierter betrachtet werden kann und Bereiche der Mangelversorgung klarer herausgestellt werden können. Besonders spannend ist die Tatsache, dass Andreß dieses Konzept auf die Lebenswelt von Kindern an- gepasst und modifiziert hat, wie im Folgenden erläutert wird.

2.2 Ein kindgerechter Armutsbegriff

Armut ist ein komplexes Phänomen, dem man sich im Forschungsalltag – wie soeben dargestellt – auf unterschiedliche Arten und mittels mannigfacher Metho- den nähern kann. Um einen kindgerechten Armutsbegriff zu entwickeln, greifen eindimensionale Konzepte wie jene des Ressourcenansatzes – und darin sind sich ArmutsforscherInnen einig – zu kurz.47 Ein mehrdimensionaler Ansatz wie- derum muss die Lebensbereiche von Kindern differenziert und umfassend be- schreiben und die kindliche Autonomie im Familienkontext fokussieren.

Kinderarmut im Sinne der EU-Kommission etwa bedeutet, dass Kinder dann als arm zu bezeichnen sind, wenn sie und ihre Familien „[...] über so geringe mate- rielle, kulturelle und soziale Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise und damit von den Sozialisationsbedingungen ausgeschlossen sind, die in dem Land, in dem sie leben, als Minimum angesehen werden.“48 Innerhalb der Europä- ischen Union liegen laut dem Aktionsprogramm zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung aus dem Jahr 2005 jedoch „kaum brauchbare und vergleichbare Daten über Kinderarmut vor“49 und die grundlegenden Kinderinteressen sind nicht im Detail erfasst.50 Einige SozialwissenschaftlerInnen haben sich jedoch dieser Problematik angenommen und in ihren Studien die Armut von Kindern nach kindgerechten Lebensstandards eruiert. Allen Untersuchungen ist die Grundannahme gemein, dass Kinder ihre Armutslage unabhängig von den Eltern wahrnehmen, da für ihr Leben andere Standards oder Spielräume von Bedeu- tung sind und sie aufgrund dessen Benachteiligung anders wahrnehmen. Drei Beispiele sollen dies im Folgenden näher erläutern.

2.2.1 Das Deprivationskonzept nach Andreß

Hans-Jürgen Andreß hat das Deprivationskonzept um vier aus Kindersicht not- wendige Items erweitert. Demnach empfinden Kinder die folgenden Güter bzw. Aktivitäten als notwendig für einen normalen und guten Lebensstandard:51

- Eine außerschulische Ausbildung (z.B. Musik-, Sport- und Sprachunter- richt)
- Kindergeburtstage mit vielen FreundInnen feiern
- Für jedes Kind über zehn Jahre ein eigenes Schlafzimmer
- Spielzeug und Freizeitartikel (z.B. ein Fahrrad, ein Computer oder ein Sportgerät)

Im Rahmen der in den neunziger Jahren durchgeführten Studie wurde heraus- gestellt, dass Kinder aus monetär armen Familien deutlich häufiger auf eines oder mehrere dieser Items aus finanziellen Gründen verzichten müssen. So war nur jedes zweite Kind, dessen Familie drei Merkmale des allgemein als gut erachteten Lebensstandards fehlten, frei von Benachteiligung in den vier ange- führten Bereichen.52 Erfuhr die Familie vier und mehr Entbehrungen der 20 Le- bensstandard-Merkmale, so hatten die Kinder nur in 38% der Fälle keine Be- nachteiligungen erfahren. War die Familie hingegen keiner Entbehrung aus fi- nanziellen Gründen ausgesetzt, waren fast 97% der Kinder in allen vier Berei- chen eines kindgerechten Lebensstandards ausreichend versorgt.

Andreß hat seine Methode zur Armutsanalyse durch kindliche Lebensbereiche erweitert – andere ForscherInnen sind hierbei weiter gegangen und haben eine qualitative Herangehensweise zur Erforschung der kindlichen Wahrnehmung von Armut favorisiert. Die Ergebnisse der beiden folgenden Studien fließen in das Kapitel 6 zu den Folgen von Kinderarmut ein und werden an dieser Stelle nicht vorweg genommen. Die mehrdimensionalen Ansätze zur Begriffsklärung sollen hier im Vordergrund stehen.

2.2.2 Erweitertes Lebenslagemodell nach Chassé/Zander/Rasch

Das Lebenslagemodell konzentriert sich – wie bereits in Kapitel I, 2.1 erläutert – auf individuelle, menschliche Grundanliegen und geht über den ökonomischen Blickwinkel hinaus. Lebenslage wird laut Nahnsen, welche das Prinzip von Ge- rhard Weisser weiter entwickelt hat, als „Lebensgesamtchance“53 verstanden. Armut steht somit in Wechselwirkung mit anderen Lebenslagen, so genannten Handlungsspielräumen. Die Lebenswelt von Kindern wird laut Chassé, Zander und Rasch durch folgende Spielräume bestimmt:54

- Einkommens- und Versorgungsspielraum (Ressourcenaufteilung in der Familie, Taschengeld für Kinder, kindliche Wahrnehmung des Einkom- mensspielraums der Familie)
- Lern- und Erfahrungsspielraum (Förderung der Kinder durch Eltern und Umfeld, außerschulische Freizeitaktivitäten, räumlicher Aktionsradius und sozialräumlicher Erfahrungsraum, Schule als Lern- und Erfahrungsfeld bzw. als sozialer Erfahrungsraum)
- Kontakt- und Kooperationsspielraum (familiäres soziales Netzwerk, kindli- ches Netzwerk wie z.B. Schulfreunde, soziale Teilhabemöglichkeiten wie
-.B. an Schulfahrten und Geburtstagen, Nutzungsmöglichkeiten von so- zialer Infrastruktur wie z.B. Vereine, Spiel- und Freizeitmöglichkeiten)
- Regenerations- und Mußespielraum (Wohnumfeld, Freizeitaktivitäten, All- tagsstrukturen in Bezug auf Belastungen und Entlastungen, familiäres Klima und Eltern-Kind-Beziehung, besondere familiäre Belastungen)
- Dispositions- und Entscheidungsspielraum (Beteiligung der Kinder an den sie betreffenden Lebenslagebereichen. Welche Wahlmöglichkeiten haben Kinder bezüglich ihrer persönlichen Lebensvorstellung?)

Nach diesem Konzept werden sowohl objektive und strukturelle Bedingungen des kindlichen Lebens erfasst als auch die subjektive Wahrnehmung der Kinder selbst und ihre Verarbeitung derer. Allerdings werden sowohl geschlechtsspezifi- sche Anteile als auch die Veränderung je nach Dauer der Armutslage vernach- lässigt, da es sich hierbei um eine Querschnittsanalyse handelt. Im Vergleich dazu steht die im Folgenden beschriebene Methode, die zusätzlich die Dauer von Armut in Betracht zieht.

2.2.3 Das Zusammenwirken von vier Lebenslagen nach Hock/Holz

Im Rahmen einer Längsschnittstudie (1997-2003) des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) und der Arbeiterwohlfahrt (AWO) wurde der mehrdi- mensionale Ansatz, wie ihn bereits Chassé et al. angewandt haben, um eine ob- jektive und strukturelle Kategorie erweitert.55 Die Tatsache, dass Kinder selbst keinen Einfluss auf ihre Situation ausüben können und somit ihre Armutslage nicht zu verändern vermögen, wird stärker betont. Eine zentrale Bedingung des kindgerechten Armutsbegriffs nach Hock und Holz ist die kindliche Autonomie in familiärem Kontext zu beachten, ohne die finanzielle Lage der Familie zu ver- nachlässigen. Von Armut wird nur dann gesprochen, wenn eine finanzielle Defi- zitlage der Familie im Sinne von Sozialhilfebezug vorliegt. Die zentrale Frage bei der Konzeptentwicklung lautet: „Was kommt beim Kind an?“56 . Um die Mehrdi- mensionalität von kindlicher Armut zu erfassen, gehen die WissenschaftlerInnen von den drei Kapitalbereichen Ökonomie, Soziales und Kulturelles nach Bour- dieu57 aus und ergänzen diese durch eine vierte Kategorie, die Gesundheit. Kin- derarmut umfasst demnach vier Dimensionen:58

- Materielle Grundversorgung (materielle Situation des Haushaltes, mate- rielle Versorgung des Kindes bezüglich Wohnen, Nahrung, Kleidung und materielle Partizipationsmöglichkeiten)
- Versorgung im kulturellen Bereich (kognitive Entwicklung, sprachliche und kulturelle Kompetenzen, Bildung)
- Versorgung im sozialen Bereich (soziale Kontakte und Kompetenzen)
- Physische und psychische Lage (Gesundheitszustand und körperliche Entwicklung)

Da dieses Konzept großen Anklang in der sozialwissenschaftlichen Forschung fand und sich speziell auf das frühe Grundschulalter bezieht, habe ich die vier Dimensionen der Lebenslage von Kindern in Armut auch für meine empirische Untersuchung im Rahmen dieser Arbeit herangezogen. Voraussetzung für die Bezeichnung „arm“ bzw. „nicht arm“ ist auch dort der Sozialhilfebezug. Nähere Erläuterungen hierzu folgen jedoch im zweiten Teil der Arbeit.

Nachdem an dieser Stelle die begriffliche Klärung abgeschlossen ist und einige bedeutende Ansätze der empirischen Sozialforschung vorgestellt wurden, gehe ich im folgenden Abschnitt näher auf die Ursachen von Kinderarmut ein. Welche strukturellen und demografischen Veränderungen werden von Politik und Wissenschaft als relevant für die Wandlung des Armutsbildes in Deutschland, also eine Infantilisierung der Armut, angesehen? Diese Frage steht im Fokus des folgenden Kapitels.

3 Ursachen von Kinderarmut

Wenn es um die Entstehung, Existenz und Dauer von Kinderarmut geht, steht – im Gegensatz zur Begriffsdefinition – die Erwerbssituation der Eltern an erster Stelle. Die Ursache dafür, weshalb Eltern und Alleinerziehende keiner Arbeit nachgehen können oder diese verlieren, sieht die Bundesregierung laut dem zweiten Armuts- und Reichtumsbericht primär in der schlechten wirtschaftlichen Lage Deutschlands und dem Mangel an Arbeitsplätzen.59 Einige weitere Verän- derungen müssen jedoch berücksichtigt werden, wenn man den Prozess der „Infantilisierung der Armut“ erklären will.

3.1 Wirtschaftlicher Strukturwandel

Laut Butterwegge wirkt...

„[...] der Globalisierungsprozess als ‚soziales Scheidewasser’, das die Bevölkerung der Bundesrepublik wie die anderer Länder in Gewinner und Verlierer/innen, diese jedoch wiederum in Marginalisierte (Dauerarbeitslose, Deprivierte und Langzeitarme) einerseits sowie Geringverdiener/innen (prekär Beschäftigte, von Überschuldung Bedrohte und Kurzzeitarme) andererseits spaltet.“60

Dieser Tatbestand wird deutlich, wenn man einen genaueren Blick auf die Zahl und vor allem die Struktur der Erwerbslosen und SozialhilfeempfängerInnen rich- tet.

Tatsache ist, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland steigt – die Quote jener, die laut SGB III keine Beschäftigung haben oder weniger als 15 Wochenstunden arbeiten, wuchs von 4,9% im Jahr 1991 auf aktuelle 8,4%.61 Die Arbeitslosenquo- te aller erwerbsfähigen Personen, die nach SGB II und III gemeldet sind, betrug im Jahresdurchschnitt 2006 10,8%. Die Bundesregierung begründet dies in ers- ter Linie mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel im Zuge der Globalisierung.62 Deutschland wandelt sich von einer Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissens- gesellschaft, was in erster Linie Nachteile für Beschäftigte des produzierenden und verarbeitenden Gewerbes bringt.63 ArbeitnehmerInnen müssen ein höheres Maß an Flexibilität und Mobilität aufbringen, um auf dem sich schnell verändern- den Arbeitsmarkt bestehen zu können, was jedoch besonders für Ein-Eltern- und kinderreiche Familien aufgrund von mangelnder Betreuungsangebote für Kinder schwierig zu bewerkstelligen ist.64 Die Arbeitslosenquote von Familien mit Kin- dern liegt im Bundesdurchschnitt bei etwa 7,6%.65

Im Zuge der Globalisierung wird neben Flexibilität und Mobilität auch ein immer höheres (Weiter-) Bildungsniveau der ArbeitnehmerInnen erforderlich. Beschäf- tigte müssen neben einer guten schulischen Bildung auch über eine qualifizie- rende Berufsausbildung verfügen. Die Zahl der bildungsfernen Personen (ohne abgeschlossene Berufsausbildung) unter den Arbeitslosen im Jahr 2006 beträgt immerhin 43%.66 Ein Wiedereinstieg dieser Personengruppe in den ersten Ar- beitsmarkt stellt sich aufgrund der beschriebenen Strukturveränderungen prob- lematisch dar. Insbesondere der Personenkreis der ausländischen MitbürgerIn- nen ist hiervon betroffen. Laut einer Studie der OECD zur Situation von Migran- tenkindern aus dem Jahr 2006 weisen besonders in Deutschland die nichtdeut- schen im Gegensatz zu den deutschen Eltern ein starkes Bildungsdefizit auf, wobei Sprachprobleme erschwerend hinzu kommen.67 Als Ursache hierfür sieht UNICEF eine Einwanderungspolitik, welche vor 30 Jahren das Ziel verfolgte, bil- dungsferne Arbeitskräfte für unattraktive Tätigkeiten für einen begrenzten Zeit- raum nach Deutschland zu holen. Mit ihnen kamen jedoch im Zuge der Familien- zusammenführung Frauen und Kinder, worauf die innerdeutsche Integrationspoli- tik nur unzureichende Antworten fand. Heute leben 10,4% aller nichtdeutschen MitbürgerInnen laut ILO-Statistik von Arbeitslosengeld I oder II68 und mit ihnen ihre Kinder – diese Familien haben erwiesenermaßen eine weitaus höhere Rep- roduktionsrate als Deutsche und häufig drei und mehr Kinder.69

Mit der steigenden Arbeitslosigkeit erhöhte sich auch die Zahl der Sozialhilfe- empfängerInnen. Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Rahmen der Hartz-Gesetze erreichte deren Quote 2005 die 6,8%-Marke. Im sel- ben Zuge jedoch sanken die monetären Leistungen drastisch.70 Am häufigsten von Sozialhilfe betroffen sind allein erziehende Frauen. Deren Risiko, auch dauerhaft von Sozialhilfe abhängig zu sein, steigt mit der Anzahl der Kinder im Haushalt. Auch Paare mit Kindern beziehen häufiger Sozialhilfe als Paare ohne Kinder (2,5% im Vergleich zu 0,8%). Die folgende Grafik veranschaulicht dies:

Abb. 3: Haushaltsbezogene EmpfängerInnenquote von Sozialhilfe Ende 2004

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Statistisches Bundesamt 2006 in Haustein/Dorn 2006: 379

Erwerbstätigkeit ist heute jedoch kein Garant mehr für die Sicherstellung des Existenzminimums. 53% aller SozialhilfeempfängerInnen sind nebenbei berufstä- tig und werden als „Aufstocker“ bezeichnet – Menschen, die trotz Erwerbsarbeit aufgrund von Niedriglöhnen oder Teilzeitbeschäftigungen unter die Armutsgrenze fallen und staatliche Unterstützung beziehen müssen.71 Kinderreiche Familien schaffen es häufig trotz Steuererleichterungen im Zuge des Familienlastenaus- gleichs nicht, ihr Existenzminimum durch Erwerbsarbeit zu sichern und müssen aufgrund dessen zusätzlich Sozialhilfe beziehen.72

Steigende Arbeitslosigkeit, die Zunahme von (überwiegend weiblicher) Teilzeit- sowie Niedriglohnbeschäftigung von in hohem Maße schlecht ausgebildeten Per- sonen sind jedoch nicht allein ausschlaggebend für eine gesteigerte Armutsbe- troffenheit von Kindern. So hat UNICEF in einer 2005 veröffentlichten Studie zu Kinderarmut in reichen Ländern herausgestellt, dass insbesondere die Verteilung der Sozialausgaben eines Landes ausschlaggebend für die jeweilige (Kinder-) Armutsrate ist.73 Deutschland verwendet einen Großteil dieser für die Alters- und Gesundheitssicherung und nur einen geringen Anteil für die Förderung von Fami- lien.

Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass Armut in engem Zusammen- hang mit dem Bezug von öffentlichen Transferleistungen wie Alg I und II, der Na- tionalität und der Bildung und Ausbildung steht.74 Die strukturellen Ursachen und die davon betroffenen Risikogruppen, d.h. Alleinerziehende und kinderreiche (ausländische) Familien, erklären die hohe Armutsbetroffenheit von Kindern in der Bundesrepublik. Im internationalen Vergleich wird deutlich, dass besonders jene Länder eine hohe Armutsrate bei Kindern aufweisen, welche nur einen ge- ringen Anteil ihrer Sozialbudgets in die Unterstützung von Familien investieren – so auch Deutschland. Verstärkend auf diese (wirtschafts-) strukturellen Einfluss- faktoren wirkt sich zudem der demografische und familienstrukturelle Wandel aus, der sich seit einigen Jahrzehnten in vielen wohlhabenden Ländern abzeich- net und nicht zuletzt auch eine Folge des wirtschaftlichen Strukturwandels ist.

3.2 Demografische Entwicklung

Bereits seit den siebziger Jahren vollzieht sich in Deutschland ein demografi- scher Wandel in Form einer Alterung oder auch „Vergreisung“ der Gesellschaft. Die Zahl der über 65-Jährigen nimmt aufgrund verbesserter Lebensbedingungen und moderner medizinischer Versorgung stetig zu, während die Zahl der unter 20-Jährigen Schätzungen zufolge bis 2050 von gegenwärtigen 20,6% auf 15,7% zurückgehen wird.75 Der Anteil der über 65-Jährigen wird sich dann auf 30,8% belaufen. Dies hat zur Folge, dass die Kosten für die Gesundheits- und Alterssi- cherung steigen, die Zahl der BeitragszahlerInnen jedoch immer weiter sinkt. Der Kinderanteil an der Bevölkerung ist seit Mitte der sechziger Jahre rückläufig, was auf die wachsende Zahl Kinderloser und eine geringe durchschnittliche Gebur- tenquote von 1,36 Kindern pro Frau zurückzuführen ist.76

Dies hängt auch damit zusammen, dass sich die familiären Lebensformen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend verändert haben. Das Bild der traditionellen Eltern-Kind-Familie überwiegt zwar nach wie vor in der deut- schen Gesellschaft (73%), jedoch wird es immer stärker ergänzt durch Alleiner- ziehenden-Haushalte (16,9%, davon 84% Mütter) und nichteheliche Gemein- schaften mit Kindern (7,4%).77 Es werden heute im Gegensatz zu den sechziger Jahren weitaus weniger Ehen geschlossen und mehr Scheidungen verzeichnet.78 Das traditionelle Rollenverhältnis zwischen dem Mann als Ernährer und der Frau als Erzieherin der gemeinsamen Kinder hat sich weitgehend verändert. Der in der Soziologie als Individualisierungsprozess bezeichnete Wandel der Lebens- führung und der Lebensformen ist weitgehend auf ein erhöhtes und in breiten Bevölkerungsschichten zu konstatierendes Bildungsniveau zurückzuführen.79 In diesem Zusammenhang spielt auch die Gleichberechtigung der Frau und eine damit verbundene Steigerung weiblicher Erwerbsbeteiligung eine Rolle. Die Ent- scheidung für bzw. gegen eine Mutterschaft hängt maßgeblich vom Bildungssta- tus der Frau ab und aufgrund des gesteigerten Bildungsniveaus entscheiden sich heute oftmals gut ausgebildete Frauen gegen ein Kind und für den Beruf. Denn im Vergleich zu anderen Industrieländern gibt es in Deutschland kein ausrei- chendes Angebot der ganztägigen Kinderbetreuung, mit deren Unterstützung die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewährleistet werden könnte.80 Besonders problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass Kinder infolgedessen häufiger in bildungsfernem als in bildungsnahem Kontext und häufiger in (stärker traditi- onsbewussten) ausländischen als in deutschen Familien geboren werden. Das Armutsrisiko ist für diese Gruppen – wie bereits erläutert – besonders hoch.

Zudem verändert sich die Bevölkerungsverteilung innerhalb von Ballungszentren. Wohlhabendere Familien wandern überwiegend in städtische Randlagen ab, während benachteiligte und häufig ausländische Familien und Alleinerziehende sich aufgrund von günstigeren Mietpreisen in so genannten Brennpunktvierteln der Städte niederlassen.81 Die räumliche Polarisierung birgt große Risiken für die Kinder armer Haushalte, da ihr Lebensumfeld oftmals stark problembehaftet ist und es sich aufgrund der meist schlechten Infrastruktur wenig regenerativ auf ihre Entwicklung auswirkt.

Die steigende Arbeitslosigkeit, der Bedeutungszuwachs von Bildung und Flexibilität im Zuge der wirtschaftlichen Veränderungen und die Tatsache, dass Kinder häufiger in bildungsfernen Familien und immer öfter bei Alleinerziehenden aufwachsen, macht sie zu den Hauptbetroffenen von (Einkommens-) Armut, wie in diesem Kapitel herausgestellt wurde. Aufgrund der Kumulation von strukturel- len Risikofaktoren greift eine einseitige Konzentration auf die Schaffung von Ar- beitsplätzen zur Reduzierung von Armut, wie sie die Bundesregierung zum Hauptziel ernannt hat82, zu kurz in Bezug auf die Armut von Kindern. Studien haben erwiesen, dass bereits kurzzeitige Armutsbetroffenheit von Kindern lang- fristige Folgen für ihre Entwicklung haben kann.83 Demzufolge müssen neben strukturellen Ursachen die multiplen Risikofaktoren, welchen Kinder in Armutsla- gen ausgesetzt sind, durch eine Stärkung unterschiedlicher Schutzfaktoren kom- pensiert werden. Denn das Zusammenwirken dieser Faktoren bestimmt maßgeb- lich die individuelle Erscheinungsform der kindlichen Armut, welche schließlich die kurz- und langfristigen Folgen für die Entwicklung des Kindes bestimmt. Das folgende Kapitel dient der Auseinandersetzung hiermit auf der Ebene der Eltern, des Kindes und den Systemen außerhalb der Familie.

4 Formen von Kinderarmut: Das Zusammenwirken von Risiko- und Schutzfaktoren

Wenn man von Kinderarmut spricht, muss man sich der großen Bandbreite an Erscheinungsformen gewahr sein. Eine einheitliche Typologisierung greift zu kurz, was auf der Basis von diversen Studien unter Beweis gestellt wurde.84 Es wurde beobachtet, dass Kinder bei ähnlicher sozioökonomischer Benachteiligung der Familie unterschiedlichen Entbehrungen ausgesetzt waren. Die Bandbreite reichte von multipler Deprivation über leichte Benachteiligung bis hin zu gänzli- chem Wohlergehen trotz eingeschränkter monetärer Ressourcen. Diese Tatsa- che führt zu der Schlussfolgerung, dass es unterschiedliche Formen von Kinder- armut gibt, die auf das Zusammenspiel von Belastungen und Ressourcen zu- rückzuführen sind. Hinter diesen Formen stehen unterschiedliche Ausgangsbe- dingungen bzw. -lagen der Kinder.

Um im zweiten Teil dieser Arbeit detailliert auf die Folgen von Armut für die kind- liche Entwicklung eingehen zu können, bedarf es einer genauen Eruierung der Belastungen und insbesondere der Ressourcen auf unterschiedlichen Ebenen, die maßgeblich das Bewältigungsverhalten der Kinder beeinflussen.85 Anhand vorwiegend amerikanischer Studien stellte Luthar86 die wichtigsten Ebenen in Bezug auf Einflussfaktoren heraus, welche im Folgenden durch die Befunde namhafter deutscher Studien ergänzt werden. Vorweg soll jedoch darauf verwie- sen werden, dass auch die Dauer der Armutslage beachtet werden muss, wenn man von den Erscheinungsformen von Kinderarmut spricht. Untersuchungen haben gezeigt, dass besonders kinderreiche Familien und Alleinerziehende über meist längere Zeit hinweg von Einkommensarmut betroffen sind – häufiger bzw. länger als Paare ohne Kinder oder Alleinstehende.87 Dauerhafte Armutsbetrof- fenheit führt oftmals zu einer Häufung von Problemen und kann sich auf die un- terschiedlichen, im Folgenden dargestellten Ressourcen auf verschiedenen Ebe- nen, negativ auswirken.

4.1 Die Elternebene

„Armut und finanzielle Verknappung bringen [...] nicht nur individuelle Belastungen für die Eltern mit sich, sondern erhöhen auf diesem Weg auch das Risiko für Konflikte in der Familie, tragen dazu bei, dass die Kinder weniger Zuneigung und Unterstützung durch die Eltern erfahren, lenken die Eltern von der Supervision ihrer Kinder ab und führen zu mehr willkürlicher, hart strafender Erziehung.“88

Das Familienklima und der Erziehungsstil der Eltern können je nach Ausprägung Risikofaktoren (wie dieses Zitat sehr eindrücklich verdeutlicht) aber auch Schutz- faktoren für eine positive Entwicklung des Kindes sein. Das Familienklima wird meist unmittelbar von der Paarbeziehung der Eltern beeinflusst, die durch finan- zielle Belastungen häufig Spannungen ausgesetzt ist. So hat die 1. World Vision Kinderstudie aus dem Jahr 2007 gezeigt, dass besonders Kinder aus den unte- ren Schichten89 häufig Streit und Unzufriedenheit in der Familie ausgesetzt sind.90 Ein Mangel an emotionaler Konstanz und Sicherheit im Familienkontext können Folgen sein, denn ein negatives Familienklima wirkt sich oftmals auf den Erziehungs- und insbesondere Kommunikationsstil in Bezug auf die Kinder aus.91 Die Untersuchung von Walper hat gezeigt, dass bei gleicher finanzieller Depriva- tion in Zwei-Eltern-Familien das Risiko negativer Kommunikation höher ist als bei Alleinerziehenden. Generell ist ein Zusammenhang zwischen sozialem Status und dem Bildungsniveau der Eltern einerseits und der Art der Kommunikation mit den Kindern andererseits zu konstatieren. In sozial schwachen Familien werden häufiger Entmutigungen in Form von Verboten und Missbilligungen als Ermuti- gungen bzw. Worte der Anerkennung ausgesprochen.92 Auch die Zuwendung der Eltern spielt eine große Rolle – Kindern von arbeitslosen Eltern und Alleinerzie- henden wird diese laut einer direkten Befragung durchschnittlich weniger häufig zuteil als bspw. Kindern von Erwerbstätigen.93 Zuwendung und der dadurch ver- mittelte Rückhalt in der Familie sind jedoch für eine gesunde Kindesentwicklung erforderlich, ebenso wie ein geregelter Tagesablauf, der Halt gibt und ein Gefühl von Sicherheit bzw. Geborgenheit vermittelt.94 Häufig fehlen Erziehungsberech- tigten, die mit der Armutssituation überfordert sind und oftmals resignieren, derlei Fähigkeiten. Allzu selten sprechen Eltern gemeinsam mit ihren Kindern über die Mangellage – Ursachen hierfür können Scham und ein Gefühl des Versagens sein.

Eltern üben jedoch in hohem Maße eine Vorbildrolle für ihre Kinder aus. Ihr Prob- lemlöseverhalten spiegelt sich unweigerlich im kindlichen Umgang mit problema- tischen Lebenssituationen auch außerhalb der Familie wider und beeinflusst de- ren Leistungs- und Kompetenzentwicklung in kultureller sowie sozialer Hinsicht.95

[...]


1 Vgl. UNICEF vom 1.03.2005

2 Vgl. UNICEF 2005: 25

3 Im weiteren Verlauf wird diese Form für die Kennzeichnung beider Geschlechter verwendet. Die männliche bzw. weibliche Form wird dann angeführt, wenn es sich ausschließlich um Personen des jeweiligen Geschlechts handelt.

4 Z.B. Lompe 1987, DGB/DPWV 1994, Hübinger 1996 (Vgl. Klocke/Hurrelmann (Hrsg.) 2001)

5 Vgl. BMGS 2005: XV

6 Vgl. z.B. Butterwegge (Hrsg.) 2000, Holz 2003, Lutz 2004, Chassé/Zander/Rasch (Hrsg.) 2005 u.a.m.

7 BMFSFJ 1998: 88

8 Vgl. Klocke/Hurrelmann (Hrsg.) 2001: 10

9 Vgl. Walper 1995: 186

10 Als MigrantInnen werden Personen bezeichnet, die entweder im Ausland geboren sind oder Eltern ausländischer Staatsbürgerschaft haben.

11 Vgl. Zimmermann 2001: 55

12 Vgl. Klocke/Hurrelmann (Hrsg.) 2001: 11

13 Vgl. Statistisches Bundesamt vom 31.08.2007

14 Vgl. Palentien 2005: 155

15 Vgl. Becker/Hauser 2003: 40 f und Klocke/Hurrelmann (Hrsg.) 2001: 9

16 Der Begriff „Peergroup“ kommt aus dem Englischen und bezeichnet die Gruppe der Gleichaltri- gen.

17 Vgl. Klocke/Hurrelmann (Hrsg.) 2001: 10

18 Vgl. Bauer im Auftrag des DPWV vom 15.11.2007 und BMFSFJ (Hrsg.) 2006: 59

19 Vgl. Bündnis 90/Die Grünen 11.06.2007 (Drucksache 14/4512)

20 Der Begriff wurde geprägt durch Richard Hauser (Hauser 1995: 9)

21 Vgl. BMGS (Hrsg.) 2005: 11

22 Vgl. Klocke/Hurrelmann (Hrsg.) 2001: 11 f

23 BMGS (Hrsg.) 2005: 11

24 Vgl. Zimmermann 2001: 57 f

25 Der Begriff „Lebenslage“ wurde 1953 von Gerhard Weisser geprägt und geht auf Otto Neurath (1931) zurück (Vgl. Zimmermann 2001: 57). Ingeborg Nahnsen hat das Konzept 1970 für die prak- tische Anwendung weiter entwickelt (Vgl. Chassé/Zander/Rasch (Hrsg.) 2005: 53).

26 Vgl. Zimmermann 2001: 59

27 Nettoäquivalenzeinkommen: „(...) das Markteinkommen, also das Bruttoeinkommen aus un- selbständiger Arbeit, aus selbstständiger Tätigkeit und aus Vermögen einschließlich des Mietwerts selbstgenutzten Wohneigentums, zuzüglich laufender Transfers und abzüglich der Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung und Steuern, das durch die Summe der bedarfsgewichteten Haushaltsmitg- lieder geteilt wird.“ (bpb 2005: 26)

28 Vgl. Klocke/Hurrelmann (Hrsg.) 2001: 12 (Neue OECD-Skala)

29 Vgl. Klocke 2000: 313 und Klocke/Hurrelmann (Hrsg.) 2001: 9

30 Vgl. BMGS (Hrsg.) 2005: 11 (Datenbasis EVS 2003)

31 Vgl. UNICEF 2005: 11 (basierend auf der 60% Armutsrisikoquote)

32 U.a. Zimmermann 1993, Hanesch 1994, Andreß 1995 (Vgl. Klocke 2000: 314)

33 Vgl. Rentzsch 2000: 136 und Walper 1995: 183

34 Vgl. Holz/Richter/Wüstendörfer/Giering 2005: 3

35 Vgl. Statistisches Bundesamt 2006: 213

36 Vgl. Bauer im Auftrag des DPWV vom 15.11.2007

37 Vgl. bpb 2005: 52 (Quelle: Agentur für Arbeit, Statistisches Bundesamt Stand 2005)

38 Vgl. Bauer im Auftrag des DPWV vom 15.11.2007

39 Vgl. Klocke 2000: 17

40 Vgl. Klocke/Hurrelmann (Hrsg.) 2001: 13

41 Vgl. Zimmermann 2001: 59

42 Klocke/Hurrelmann (Hrsg.) 2001: 13

43 Vgl. Klocke 2000: 17 und Zimmermann 2001: 60

44 Andreß/Lipsmeier 2001: 47

45 Klocke 2000: 18

46 Vgl. Andreß/Lipsmeier 2001: 48

47 Butterwegge 2000, Hock/Holz/Simmedinger/Wüstendörfer 2000, Chassé/Zander/Rasch (Hrsg.) 2005 u.a.m.

48 BMFSFJ (Hrsg.) 2006: 59

49 Europäische Kommission (Hrsg.) 2005: 1

50 Vgl. Lutz 2004: 43

51 Andreß/Lipsmeier 2001: 54 (Anhang)

52 Bundesdeutscher Durchschnitt errechnet nach Andreß/Lipsmeier 2001: 49

53 Nahnsen 1970 zit. n. Chassé/Zander/Rasch (Hrsg.) 2005: 53

54 Chassé/Zander/Rasch (Hrsg.) 2005: 62

55 Die Ersterhebung fand in der Zeit von 1997-2000 statt, in den Jahren 2003 und 2004 wurden Messwiederholungen durchgeführt.

56 Holz/Skoluda 2003: 7

57 Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag

58 Vgl. Holz/Skoluda 2003: 7

59 Vgl. BMGS (Hrsg.) 2005: 12

60 Butterwegge 2003: 228 f

61 Vgl. Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.) 2007: 8 (Das SGB III behandelt den Bereich „Arbeitsförde- rung“, das SGB II die „Grundsicherung für Arbeitssuchende“)

62 Vgl. BMGS (Hrsg.) 2005: 12

63 Vgl. Palentien 2005: 154

64 Vgl. BMFSFJ (Hrsg.) 2006: 61

65 Vgl. Bertram 2006: 33

66 Vgl. Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.) 2007a: 93

67 Vgl. Bertram 2006: 19

68 Vgl. Statistisches Bundesamt 2006: 80

69 Vgl. Boos-Nünning 2000: 151

70 Vgl. Palentien 2005: 154

71 Vgl. Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.) 2007: 10

* Die Zahl der „verdeckten Armen“ unter der ausländischen Bevölkerung liegt laut einer Untersu- chung der Caritas bei 22%. Die Werte in der hier dargestellten Grafik liegen demnach weit unter dem realen Sozialhilfebedarf. (Vgl. Boos-Nünning 2000: 154)

72 Vgl. Walper 1995: 191

73 Vgl. UNICEF 2005: 24

74 Vgl. Palentien 2005: 156

75 Vgl. BMGS (Hrsg.) 2005: 13

76 Vgl. BMFSFJ (Hrsg.) 2006a: 74 und BMGS (Hrsg.) 2005: 77 (Stand 2000)

77 Vgl. BMGS (Hrsg.) 2005: 75 f (Stand 2003). Am 12.05.2004 verkündete das Statistische Bun- desamt, dass 79% aller Kinder in einer Zwei-Eltern-Familie aufwachsen.

78 Vgl. Alt 2002: 142 f

79 Vgl. Kosmann/Neubauer/Schultz/Wunderlich 2003: 18

80 Vgl. Hurrelmann 2002: 145

81 Vgl. Bertram 2006: 20

82 Vgl. BMGS (Hrsg.) 2005: 12

83 Vgl. Walper 1995

84 Hock/Holz/Simmedinger/Wüstendörfer 2000, Holz/Skoluda 2003, Chassé/Zander/Rasch (Hrsg.) 2005, Bertram 2006 u.a.m.

85 Vgl. Holz/Skoluda 2003: 45

86 Luthar, Suniya (1999): Poverty and children's adjustment. Thousand Oaks: Sage

87 Walper 1995: 188

88 Walper 1999 zit. n. Holz/Skoluda 2003: 46

89 Der Schichtbegriff wird nur dann benutzt, wenn sich die Angaben auf die 1. World Vision Kinder- studie beziehen. In dieser werden Kinder anhand des elterlichen Einkommens in Schichten unter- teilt, obwohl dies heute stark kritisiert und anstelle dessen der Milieubegriff favorisiert wird. (Vgl.

Hradil 2006: 4)

90 Vgl. Hurrelmann/Andresen/Schneekloth 2007: 18

91 Vgl. Walper 2005: 180

92 Vgl. Brinck 3.05.2007: 7 (Die Grundlage für diesen Bericht bilden Forschungsergebnisse von Hart/ Risley (1995 ): Meaningful Differences in the Everyday Experience of Young American Child- ren. Baltimore)

93 Vgl. Hurrelmann/Andresen/Schneekloth 2007: 20

94 Vgl. Andrä 2000: 276 ff

95 Vgl. Grundmann 2001: 210 f

Ende der Leseprobe aus 144 Seiten

Details

Titel
Kinderarmut in Deutschland - Ursachen, Formen und Folgen für die kindliche Entwicklung
Untertitel
Eine empirische Untersuchung von Grundschulkindern in Kölner Horteinrichtungen
Hochschule
Fachhochschule Düsseldorf  (Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften)
Note
1,5
Autor
Jahr
2008
Seiten
144
Katalognummer
V131962
ISBN (eBook)
9783640376568
ISBN (Buch)
9783640376704
Dateigröße
1568 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kinderarmut, Deutschland, Ursachen, Formen, Folgen, Entwicklung, Eine, Untersuchung, Grundschulkindern, Kölner, Horteinrichtungen
Arbeit zitieren
Marion Rädler (Autor:in), 2008, Kinderarmut in Deutschland - Ursachen, Formen und Folgen für die kindliche Entwicklung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/131962

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