Zur Entwicklung und Popularität des Grimmschen Kinder- und Hausmärchens 'Rumpelstilzchen'


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Die Grimmschen Fassungen im Überblick
2.1 KHM 42 „Rumpenstünzchen“ (Fragmentfassung der KHM 1810)
2.2 KHM 55 „Rumpelstilzchen“ (1. Auflage der KHM 1812)
2.3 KHM 55 „Rumpelstilzchen“ (2. bis 7. Auflage der KHM 1819 bis 1857)

3 Das inhaltliche Potenzial der Vorlagen
3.1 Der volkstümliche Gehalt
3.2 Motivvorzüge

4 Der Grimmsche Stil im KHM 55
4.1 Der erste Einflussfaktor: sprachliche Orientierung am Volkston
4.2 Der zweite Einflussfaktor: Ausgleichstendenzen nach der 1. Auflage
4.3 Zur Popularität der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen

5 Abschließende Betrachtung

6 Literatur

7 Anhänge
7.1 AaTh
7.2 Rumpenstünzchen
7.3 Rumpelstilzchen (1812)
7.4 Rumpelstilzchen (1819/1857)
7.5 Namensvarianten

1 Einleitung

In den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm findet sich unter der Nummer 55 das sehr bekannte Märchen „Rumpelstilzchen“. Innerhalb dieser Sammlung erweist sich der Titel bereits als ungewöhnlich, denn die Figuren der Grimmschen Märchen, einschließlich ihrer Helden, sind zumeist anonymisiert und typenhaft. Dass in diesem Fall sogar der Name des Unholds, des dämonischen Antagonisten, den Titel bildet, verweist auf die ursprüngliche Gattungszugehörigkeit der Erzählung zur Sage.[1] In der Kategorisierung der Zaubermärchen von Antti Aarne und Stith Thompson ist der Motivkern unter der Nummer 500 eingeordnet.[2] In Mittel-, Nord- und Westeuropa, einschließlich der britischen Inseln und Irlands, dem Baltikum, Ungarn und Italien, den west- und südslawischen Sprachgebieten und sogar in China und Japan[3] existieren in Form der Zwergensage Variationen von AaTh500 und mit ihnen eine große Vielfalt klangverspielter Namen des übernatürlichen Wesens, die entweder erraten oder im Gedächtnis behalten werden müssen und das wichtigste Element der Geschichte darstellen.[4] Trotz dieser erstaunlichen Mannigfaltigkeit erfuhr sie den größten und verbreitetsten Grad der Bekanntheit als KHM 55 der Brüder Grimm.

Diese Hausarbeit untersucht die Frage, aufgrund welcher äußeren Bedingungen und welcher Eigenschaften der Grimmschen Fassung jene Popularität zu erklären ist. Kein anderes Kinder- und Hausmärchen der Grimms habe, schreibt der Märchenforscher Wilhelm Schoof, gegenüber seiner ersten Abschrift durch die Brüder, eine vergleichbar starke inhaltliche Umgestaltung erfahren.[5] Es soll in den Blick genommen werden, an welchen Kriterien sich die Grimmsche Gestaltung des Märchen- und Sagenstoffes ausrichtete. Nach welchem Vorsatz und in welcher Weise verliehen die Brüder der alten Geschichte ihre neue Form, die sie bis heute so berühmt macht?

2 Die Grimmschen Fassungen im Überblick

In diesem Kapitel soll zunächst ein Überblick gegeben werden, welche unterschiedlichen Fassungen des Märchens innerhalb des gesamten Korpus der Grimmschen Textsammlung existierten. Da es aus Platzgründen nicht möglich sein wird, detailliert auf alle der zahlreichen Unterschiede zwischen den Fassungen einzugehen, sei an dieser Stelle auf die Abschriften im Anhang verwiesen.

2.1 KHM 42 „Rumpenstünzchen“ (Fragmentfassung der KHM 1810)

Die erste den Grimms vorliegende Fassung des Märchens ist für das Jahr 1808 belegt, als Jacob Grimm eine eigenhändige Niederschrift unter dem Titel „Rumpenstünzchen“ an seinen ehemaligen Professor Savigny sandte.[6] Die Herkunft dieser Erzählung ist zwar auf die Region Hessen zurückzuführen, jedoch nicht näher zu bestimmen.[7] Unter der Nummer 42 gelangte sie in die Fragmentfassung der Kinder- u. Hausmärchen aus dem Jahr 1810. Im Anmerkungsband findet sich diese Version von den Brüdern Grimm als fünfte Erzählvariante vermerkt.[8] In dieser Arbeit soll der Einfachheit halber von ‚Fassung I’ die Rede sein, die im Folgenden (2.2.; 2.3) vorgestellten Fassungen werden von mir als ‚Fassung II’ und ‚Fassung III’ aufgeführt.

Gegenüber dem 1812 erstmals veröffentlichten Grimm-Märchen „Rumpelstilzchen“ lassen sich einige auffällige inhaltliche Unterschiede feststellen. Gänzlich abweichend ist die Ausgangssituation. Ein „kleines Mädchen“ erhält den Auftrag, Flachs zu spinnen, vermag allerdings in ihren dreitätigen Bemühungen nur Goldfäden zu produzieren. Für den Preis ihres erstgeborenen Kindes verspricht ein „kleines Männlein“, ihr aus ihrer „Not[h]“ zu helfen und bewirkt, dass ein junger Prinz des Weges kommt und das Mädchen zur Frau nimmt. Die zweite Hälfte ist der heute bekannten Fassung strukturell nahe. Um den Namen des Männleins zu erfahren, schickt die Königin in dieser Fassung jedoch ihre Dienerin aus, mit dem gezielten Auftrag, dem Zwerg nachzuspionieren. Das Männchen mit dem Namen Rumpenstünzchen, reitet hier noch auf einem Kochlöffel um sein Feuer und fliegt am Ende der Geschichte auf eben diesem besiegt zum Fenster hinaus.

Geringe Unterschiede innerhalb dieser Fassung lassen sich bereits zwischen der Aufzeichnung Jacobs und der Niederschrift Wilhelms auffinden. So enthält die Aufzeichnung Jacobs nur an einer einzelnen Stelle die Gegenwartsform, während sie von Wilhelm in der zweiten Hälfte durchgehend verwendet wurde. Während bei Wilhelm von „Prinz“ und „Prinzessin“ die Rede ist, bevorzugte Jacob die Begriffe „Königssohn“ und „Königin“. Einige Nebensätze aus der Fassung Wilhelms finden sind bei Jacob als Hauptsätze. Die im Zusammenhang des Namenratens stehende kurze Passage „[...]das Männchen sagte aber immer: nein, das ist der rechte nicht“ fehlt in der Niederschrift Wilhelms ganz.

In der Erstveröffentlichung der „Kinder- u. Hausmärchen“ erschien die Geschichte schließlich unter dem Titel „Rumpelstilzchen“ und der Nummer 55. Für diese Druckversion war das „Rumpenstünzchen“ der Fragmentfassung jedoch völlig unberücksichtigt geblieben, denn längst hatten sich neue Quellen aufgetan.

2.2 KHM 55 „Rumpelstilzchen“ (1. Auflage der KHM 1812)

Die hier abgedruckte Fassung basiert vollständig auf der Erzählung der damals siebzehnjährigen Kasseler Apothekertochter und späteren Ehefrau Wilhelm Grimms, Dorothea Wild. Sie ist den Brüdern Grimm am 10.3.1811 erzählt worden.[9] Erstmals erscheint in der Druckversion der Name „Rumpelstilzchen“, welchen die Grimms dem 25. Kapitel des moralsatirischen Romans „Geschichtsklitterung“ von Johann Fischart aus dem Jahr 1582 entnahmen, in dessen sogenanntem Kinderspielverzeichnis ein Spiel mit den Namen „Rumpelestilt“ oder „Poppart“ vermerkt ist.[10] Weshalb sich die Brüder für diesen Namen entschieden, und welchen alternativen Namen die mündliche Erzählung Dortchen Wilds enthielt, ist nicht bekannt.

Zu den auffälligsten inhaltlichen Unterschieden gegenüber der letztendlichen Fassung zählt der Verzicht auf das Spinnmotiv. Der genaue Wortlaut spricht einzig von der Verwandlung des Strohs in Gold. Zur Lösung des Rätsels um den Zwergennamen trägt hier der König bei, der das Männlein zufällig auf der Jagd belauschte. Die Geschichte endet ebenfalls mit der Nennung des Namens, woraufhin das Männlein „zornig“ fortläuft und „nimmermehr“ wiederkehrt.

2.3 KHM 55 „Rumpelstilzchen“ (2. bis 7. Auflage der KHM 1819 bis 1857)

Für die zweite Auflage der Kinder- u. Hausmärchen im Jahr 1819 wurde der Rumpelstilzchentext von 1812 nach drei weiteren Erzählungen ergänzt und wuchs so auf fast das Doppelte an. Zweimal muss den Grimms das Märchen in weitgehend übereinstimmenden Fassungen von den hessischen Geschwistern Hassenpflug erzählt worden sein.[11] Bekannt ist, dass der dramatische Schluss, in welchem sich das Männlein selbst zerreißt, einer Erzählvariante Lissette Wilds, der Schwester Dorotheas, entnommen wurde.

Neben den inhaltlichen Änderungen fällt gegenüber der Fassung von 1812 die nun klein-schrittigere Erzählweise auf; manch teilweise langer informationsreicher Satz, wurde in mehrere einzelne aufgeteilt. An beinahe allen Stellen, an denen ein Dialog zwischen Figuren stattfindet, wird dieser jetzt auch in wörtlicher Rede wiedergegeben. Eine auffällige Ergänzung, sind Hinweise auf die Motivationen der Figuren in einzelnen Situationen. Am zahlreichsten sind die Verweise darauf, dass der König „das Gold lieb hatte“. Über das in der ersten Nacht gesponnene Gold „erstaunt[e] der König und freut[e] sich“ nun. Auch nach der zweiten Nacht wird er nicht des „Goldes satt“, und sein Versprechen, die Müllertochter zu heiraten gründet sich auf den Gedanken: „eine reichere Frau kannst du auf der Welt nicht haben.“[12] Wurde bereits in der Erstauflage erklärt, dass die Müllertochter dem Männlein aufgrund der „Not[h]“ ihr erstes Kind verspricht, zeigt sie in der zweiten Auflage Vertrauen in weitere Hilfe des Schicksals, wenn sie dabei denkt: „wer weiß, wie das noch geht[?]“.Auch die erste Begegnung von Männlein und Königin im zweiten Teil der Geschichte wird verständlicher. Mitleid mit der Königin veranlasst das Männlein zum Setzen der Drei-Tages-Frist, nachdem es zuvor „alle Reichtümer des Königreichs“ abgelehnt hat, weil ihm etwas „Lebendiges“ lieber sei „als alle Schätze der Welt“. Entgegen der Version von 1812 zeigt sich die Königin im Angesicht der Frist nun wieder vergleichbar initiativ, wie in der Fassung „Rumpenstünzchen“ und sendet einen Boten aus, wenn auch nicht so gezielt, um dem Männlein nachzuspionieren, sondern um sich nach neuen Namen zu erkundigen.[13] Während die drei Tage in den bisherigen Fassungen ereignislos verstrichen, wurden sie nun von den Grimms gedehnt. Schließlich darf Rumpelstilzchen nicht mehr zornig davon laufen, sondern muss vor Wut mit dem rechten Fuß in die Erde stoßen und sich (möglicherweise bei dem Versuch, sich zu befreien) „mitten entzwei“ reißen.

Noch einige weitere kleine Änderungen wurden mit weiteren Auflagen vorgenommen. So steht ab Auflage 6 erstmals als Erklärung für die Lüge des Müllers, er tat es, „um sich ein Ansehen zu geben“. Abermals wurde wörtliche Rede ergänzt, so in der Ankündigung des Königs, das Mädchen auf die Probe stellen zu wollen und seiner Aufforderung an die Müllertochter mit der Arbeit zu beginnen. Ebenfalls erstmals betont wurde, dass der König selbst die Kammer verschließt.

Die geringen stilistischen Änderungen sind zahlreich und nicht allesamt noch erwähnenswert, bis auf eine. Ab der siebten Auflage werden die Zuhörer des Märchens direkt angesprochen. „Da war die Königin ganz froh“, hieß es zuvor, "da könnt ihr denken wie die Königin froh war", heißt es bis heute.

3 Das inhaltliche Potenzial der Vorlagen

Davon ausgehend, dass die Popularität zahlreicher Grimmscher Märchen einerseits auf die

stilistische Prägung jener Geschichten durch die Grimms aber auch bereits auf ihre Auswahl nach vorhandenen, einprägsamen Motiven zurückzuführen ist, soll nun zunächst betrachtet werden, welches inhaltliche Potential die Erzählung „Rumpenstünzchen“ und die Rumpelstilzchenvariante Dortchen Wilds aus dem Jahr 1811 schon mitbrachten. Was mag für einen Hörer der Geschichten reizvoll gewesen sein; was war für die Grimms ausschlaggebend und bewog sie dazu, eine der Fassungen der anderen vorzuziehen?

Hiefür gilt es zunächst kurz die Frage zu beantworten, wonach die Grimms eigentlich auf der Suche waren, als sie ihre Märchensammlung begannen.

3.1 Der volkstümliche Gehalt

Wesentlich war das Verständnis der gesammelten Märchen als Überreste ältester deutscher Volksdichtung, die sich nicht literarisch vollzogen, sondern durch mündliche Überlieferung die Jahrhunderte überdauerte habe. Der Märchenforscher Heinz Rölleke verweist zur Verdeutlichung des Suchschemas der Brüder auf die Anmerkungen Wilhelm Grimms zum KHM 146 „Die Rübe“, in welchen er sich als interessiert an Einschlägen „mündlicher Volkssagen“ und „Tierfabeln“ äußert und in diesem Zusammenhang die „mythische Wichtigkeit“ lobt, ein Stichwort, das, laut Rölleke, als entscheidendes Kriterium aller Sammeltätigkeit der Grimms galt.[14] Der Begriff des Mythischen knüpft hier an die Vorstellung einer genuin deutschen Naturpoesie[15] an, die angereichert durch als volkstümlich anerkannte Motive, der Grimmschen Theorie folgend, einen archaischen Wahrheitsgehalt in sich bergen, den die Brüder zu bewahren suchten. Es erklären sich die Ansprüche an das vermutete Alter der Geschichten. Jene als ursprünglich verstandenen Erzählgehalte hatten sich in der Theorie der Grimm Brüder jenseits literarischer Einflüsse bewahrt. Der Charakter des Mundartlichen und Volkstümlichen, der sich für sie im Schlichten und Unprätentiösen[16] offenbarte, bildete einen Gegenentwurf zu literarisch aufbereiteten Märchenstoffen, die hingegen angereichert sein konnten durch politische, zeitgenössische und sexuelle Bezüge. Als Grimm-typisches Element steht so die Vermeidung von Lokalisierungen und Temporalisierungen, zugunsten einer „zeitlosen Beispielhaftigkeit“[17].

Ihr stilistisches Vorbild fanden die Grimms in zwei Märchenaufzeichnungen des pommerschen Malers Philipp Otto Runge, auf welchen sie durch Vermittlung Achim von Arnims und Clemens Bretanos aufmerksam wurden. Runges Abschriften der Geschichten „Von dem Fischer un syner Fru“ und „Von dem Machandelboom“ galten den Grimms als ein Musterbeispiel hinsichtlich ihrer „mythischen Wichtigkeit“ und einem von alter Erzähltradition zeugendem Stil.[18] Im Gegensatz zu anderen bekannten Grimmschen Märchen, deren Überlieferungsgeschichte sich heute auch auf literarische Vorlagen außerhalb des von den Grimms so hochgeschätzten germanischen Kulturraums zurückführen lässt[19], scheint der als „Rumpelstilzchen“ populär gewordene Märchentypus AaTh 500 tatsächlich einer mündlichen Erzähltradition zu folgen, die ihre Wurzeln in Motiven nordischer Zwergensagen und dem damit einhergehenden Aberglauben hat. Teil dessen ist etwa die Eigentümlichkeit an den Namen der Unterirdischen.[20] Die Forderung des Kindes findet sich wieder im Aberglauben an Zwerge, die Menschensäuglinge rauben und gegen die eigenen hässlichen Kinder als Wechselbälge austauschen; und schließlich lässt sich auch das Sich-selbst-Verraten durch einen Vers, als charakteristisches Merkmal fast aller vergleichbarer Sagenvarianten feststellen.[21] Die hohe Bedeutung des Namensgeheimnisses und der um sein Wissen verbundenen Macht lässt sich nicht nur in vielen Sagen von Feen und anderen übernatürlichen Wesen wiederentdecken, sondern ebenso in zahllosen archaischen Mythen und Glaubensvorstellung aus aller Welt.[22]

Der Versuch, ein geschlossenes Konzept von volkstümlicher Dichtung und der entsprechenden Kriterien, wie sie die Grimms in ihrer Sammeltätigkeit verfolgten, zu rekonstruieren, stellt die Literaturwissenschaft vor eine Herausforderung, denn die KHM-Texte mischen sich zusammen aus „Stoff-, Motiv- und Stileigentümlichkeiten“ von Sage, Schwank, Legende, Fabel und Märchen.[23] Gibt man sich mit einer gröberen Unterteilung zufrieden, so lässt sich KHM 55 zu den sogenannten Zaubermärchen zählen, die zwar den kleineren Teil der Grimmschen Sammlung ausmachen, jedoch aufgrund ihrer typischen Merkmale wohl am stärksten zu ihrer Popularität beitrugen. Viele dieser Merkmale sind in den letztendlichen Kontaminationen gegenüber vorliegenden Einzelfassungen durch die Grimms verstärkt worden, dies auch in der Annahme, den Geschichten zu ihrer ursprünglichen Form zu verhelfen. Dergleichen ist auch in der Bearbeitung von KHM 55 zu beobachten. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Brüder im Laufe ihrer Sammeltätigkeit bereits einen geschärften Blick für jene typischen Elemente entwickelten und die Aufnahme entsprechender Erzählungen mit den gerngesehenen Stileigentümlichkeiten vorantrieben. Rölleke nennt einige solcher Merkmale, wie sie sich auch in der ersten aber auffällig stärker in der zweiten Fassung entdecken lassen, so etwa die „Freude an der Wiederholung“ , wie etwa die wiederkehrende Prüfung der Müllertochter in Fassung II, der „schlichgebaute Vers“ kurz vor Höhepunkt dieser Erzählung, die Präsenz der Zahl Drei (drei Kammern; dreimalige Hilfe, für dreimalige Entlohnung; drei Tage Bedenkzeit; dreimaliges Namenraten). Die typische „Mangellage“ der Heldin ist in Fassung II deutlicher greifbar als in Fassung I, so auch die Hilfe des übernatürlichen Wesens, das in Fassung I nur die Ankunft des Prinzen bewirkt, in Fassung II hingegen sogar mehrmals ein sichtbar magisches Werk verrichtet. Wenn in Fassung II die Müllertochter den gierigen, erpresserischen König gerne zum Mann hat, oder dieser davon ablässt, nach der Hochzeit weitere Goldherstellung zu fordern, kann auch dies als typische „Flächenhaftigkeit“ der Zaubermärchen gesehen werden.[24] Auch die „stereotype Isolation“ der Heldin, die in Fassung II allein in die Strohkammer geschlossen wird, führt Rölleke als ein Merkmal auf. In beiden Fassungen sticht die „Einbringung des Wunderbaren“ hervor, wenn Flachs oder Stroh zu Gold werden, oder ein Zwerg auf einem Kochlöffel fliegt.

Mit der Figur des Müllers, dem in der Volksliteratur ohnehin die Zuschreibung von Schwindelei und Betrug nachhängt, weist Fassung II ein noch klassischeres Märchenpersonal auf, als Fassung I, während diese wiederum mit dem Spinnmotiv um einen, zuweilen auch romantisierten, Bezug auf die unteren sozialen Schichten und ihre einfachen Tätigkeiten bereichert ist. Das Spinnen als Heiratsprobe entspricht der dörflichen Lebenswelt[25], es ist also eine für das Volksmärchen typische Milieuvermischung festzustellen. Die Perspektive der Zu-Kurz-Gekommenen, nach Winfried Freund eines der wesentlichen Elemente des volkstümlichen Märchens[26], offenbart sich in beiden Vorlagen, erscheint durch das Unvermögen des Mädchens, tatsächlich Gold zu spinnen, in der zweiten Fassung jedoch intensiver. Auch die Figur des übersinnlichen Helfers sowie Prüfungen und Bedingungen sind ein Charakteristikum des europäischen Volksmärchens und bezeugen die Lenkung des Geschehens von außen.[27]

[...]


[1] Enzyklopädie des Märchens. S. 1171 / vgl. Röhrich: „und weil sie nicht gestorben sind...“ [...] S. 294 ff.

[2] Bzgl. inhtl. Motive von AaTh500 siehe Anhang! Auf die Motivverwandtschaft zu AaTh501 (u.a. KHM 14 Die drei Spinnfrauen) wird in dieser Arbeit nicht eingegangen.

[3] Enzyklopädie des Märchens. S. 1166/ Bolte u. Polivka: Anmerkungen zu den Kinder- u. Hausmärchen der Brüder Grimm. S. 490 ff. / Scherf, Walter: Das Märchenlexikon.1003/ Röhrich: „und weil sie nicht gestorben sind...“ [...] 280ff.

[4] Zur Vielfalt der Namen siehe Anhang!

[5] Schoof: Zur Entstehungsgeschichte der Grimmschen Märchen. S. 161.

[6] Rölleke: Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm. S. 379.

[7] Als einziger Autor schreibt Schoof die Erzählung den Kasseler Schwestern Wild zu, wobei es sich jedoch um einen Irrtum Schoofs handeln könnte. Vgl. Schoof: Zur Entstehungsgeschichte der Grimmschen Märchen. S. 160.

[8] Die Grimms berücksichtigten in den Anmerkungen zuvor, die vier später aufgenommenen Erzählungen Dorothea Wilds, Lisette Wilds und zwei Versionen der Geschwister Hassenpflug, auf denen die 1812 u. 1819 als „Rumpelstilzchen“ veröffentlichten Märchen basieren.

[9] Bolte u. Polivka: Anmerkungen zu den Kinder- u. Hausmärchen der Brüder Grimm. S. 490 / Enzyklop. des Märchens. S. 1170 f.

[10] Röhrich: „und weil sie nicht gestorben sind...“.[...]. S. 293 / Rölleke: Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm. S. 241.

[11] Sie stammten mütterlicherseits von einer französischen Hugenottenfamilie ab. Siehe Rölleke: Grimms Märchen. S. 120 !

[12] Ab Auflage 7: "eine reichere Frau finde ich auf der ganzen Welt nicht".

[13] Die Eigeninitiative der Heldin stellt ein untypisches Merkmal innerhalb der sonst zumeist durch Außenlenkung vorangebrachten Märchenhandlung dar.

[14] Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. S. 55f. / Grimms: Kinder und Hausmärchen. Bd. 3 [...] Anm. KHM 146, (S. 241f.).

[15] Clausen-Stolzenburg: Märchen und mittelalterliche Literaturtradition. S. 41.

[16] Clausen-Stolzenburg: Märchen und mittelalterliche Literaturtradition. S. 42.

[17] Freund: Deutsche Märchen. S. 189f.

[18] Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. S. 58 ff.

[19] Zum Bsp. Dornrösschen; Rapunzel; Rotkäppchen.

[20] Auch der bei Dortchen Wild auftauchende Vers: „heut back ich, morgen brau ich“ verweist auf einen Zwerg, denen nach mancher Sage die Erfindung des Bierbrauens zugeschrieben wurde.

[21] Röhrich: Rumpelstilzchen. Vom Methodenpluralismus in der Erzählforschung. S. 285f.

[22] Enzyklopädie des Märchens S. 1166 f./ vgl. u.a. Rölleke: Grimms Märchen. S. 135.

[23] Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. S. 42.

[24] Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. S. 42.

[25] Röhrich: „und weil sie nicht gestorben sind...“ [...] 280f. / Röhrich: Märchen und Wirklichkeit. S. 106.

[26] Freund: Deutsche Märchen. S. 189f.

[27] Lüthi: Märchen. S. 29 f.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Zur Entwicklung und Popularität des Grimmschen Kinder- und Hausmärchens 'Rumpelstilzchen'
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Veranstaltung
Märchen – Märchenforschung - Märchendidaktik
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
23
Katalognummer
V137320
ISBN (eBook)
9783640459377
ISBN (Buch)
9783640459438
Dateigröße
500 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rumpelstilzchen, Rumpenstünzchen, Kinder- und Hausmärchen, Märchen, Brüder Grimm, AaTh500
Arbeit zitieren
Toni Ziemer (Autor:in), 2007, Zur Entwicklung und Popularität des Grimmschen Kinder- und Hausmärchens 'Rumpelstilzchen', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/137320

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