Berücksichtigung kultureller Differenzen im Strafrecht


Seminararbeit, 2009

28 Seiten, Note: D


Leseprobe


Inhalt

I. EINFÜHRUNG

II. WAS IST DIE KULTUR?

III. DIE ROLLE DER KULTUR IM GERICHTSAAL

IV. DIE „KULTURELLE DIFFERENZ“ IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN RECHTSWISSENSCHAFT

V. DEUTSCHE RECHTSSPRECHUNG ZU KULTURELLEN HINTERGRÜNDEN
V.1 Strafrechtliche Bewertung in Deutschland
V.2 Der Fall von Hatun Sürücü
V.3 Verstehen wir, was man unter „Ehre“ meint?
V.4 Gibt es wirklich keinen Zusammenhang zwischen Ehrenmorden und Islam?

LITERATURVERZEICHNIS:

I. Einführung

Der Begriff der „kulturellen Verteügung" (Cultural Defense) tauchte in amerikanischen Zeitschriften Mitte der 80-er Jahre des 20. Jahrhunderts auf, im Zusammenhang mit der steigenden Anzahl von Fällen, bei denen man sich vor Gericht auf kulturelle Tradüonen berufen hatte.

Viel Aufmerksamkeit wurde zum Beispiel dem Fall People v. Dong Lu Chen geschenkt.1 Bei der Beurteilung des Sachverhalts akzeptierte der Richter die Verteügung durch kulturelle Hintergründe (was bis dahin nicht sehr üblich war). Die Kontroverse dieser Entscheidung konnte vielleicht guter Reiz für weitere Uberlegungen im Rahmen unseres Themas werden.

Die Geschichte fängt an im Jahre 1986. Dong Lu Chen war zusammen mit seiner Frau Jian Wan Chen und drei Kindern aus China in die USA emigriert. Dong Lu war damals 53 Jahre alt, ursprünglich hatte er in China als Farmer gearbeitet. In USA konnte er aber nur Arbeit als Geschirrspüler in Maryland finden. Seine Frau und Kinder haben in New York gelebt, wo Jian Wan in einer Fabrik gearbeitet hat. Wenn Dong Lu einen freien Tag hatte, ist er nach New York gefahren, um zusammen mit seiner Frau und Kinder zu sein. Bei einer solchen Gelegenheit weigerte sich Jian Wan mit ihm Sex zu haben. Von diesem Moment an hatte Dong Lu sie verdächtigt, dass sie eine Affäre hat.

Im 1987 entschied sich Dong Lu zurück nach New York zu ziehen, um mit der Famüe zusammen zu sein. Er bemerkte, dass seine Frau kalt und abweisend war. Also verdächtigte er sie weiterhin untreu zu sein. Schlieglich hat er sie am 25. August konfrontiert, ob sie sich mit einem anderen Mann trifft. Sie bejahte. Dong Lu ist ohne einziges Wort weggegangen. Zwei Wochen später versuchte er mit ihr Sex zu haben. Nach dem, was er später aussagte, hat sich Jian Wan geweigert und sagte zu ihm: „Ich lasse dich mich nicht anfassen, ich habe dafür andere Männer, die das machen werden." Diese scharfe Erwiderung machte Dong Lu schwindlig. Er hat sie geschnappt und nach unten gepresst. „Wie lange ist es schon her?" schrie er auf Chinesisch. Jian Wan, die kaum atmen konnte, japste: „Drei Monate." Ihre Ehrlichkeit verwirrte Dong Lu noch mehr. Er ist ins andere Zimmer gegangen und kam mit einem Hammer zuriick, mit dem er sie achtmal in dem Kopf geschlagen hat.

Dong Lu war wegen Mord zweiten Grades angeklagt. Im Prozess hat sein Anwalt argumentiert, dass Dong Lu nicht als schuldig angesehen sein kann, weil er zu Zeit der Tat vorläufig schuldunfähig wegen seelischen Störungen war. Weiter hat er die kulturellen Hintergriinde von Dong Lu erhoben, die ihn seiner Meinung nach in zwei Wegen entschuldigen. Erstens, jeder durchschnittlich und normal gesinnte chinesische Mann wiirde in einer solchen Situation, wenn er iiber die Untreue seiner Frau erfahren hätte, ähnlich reagieren. Zweitens, wenn Chen in China sein wiirde und iiber die Untreue seiner Frau erfahren wiirde, wiirde seine Famüe ihn hindern sie zu töten. Da er jedoch in Amerika war, ohne die gewohnte Förderung seiner Famüe, hatte er niemanden, der ihn von der Tat zuriickhielt.

Chen's Anwalt beriicksichtigte vor allem das Zeugnis von Burton Pasternak, einem amerikanischen Anthropologen, der ein Spezialist fiir China war und diese Thesen aufgestellt hatte. Er sagte, dass in der chinesischen Kultur augerehelicher Geschlechtsverkehr der Ehefrau den guten Ruf des Mannes beschmutzt und indüert, dass er nur geringe Kontrolle iiber seine Frau hat. Pasternak sagte iiber Chen's Verhalten:

„would not be unusual at all for [a] Chinese in that situation, for a normal Chinese in that situation. ... If it [sic] was a normal person, it's not the United States, they would react very violently. ... I've witnessed such situations myself." Und weiter: „In general terms, I think that one could expect a Chinese [man] to react in a much more volatile way, violent way to those circumstances than someone from our own society. I think there's no doubt about it."

Obwohl Pasternak bei der Einvernahme behauptete, dass er die Erfahrung mit ähnlichen Situationen in China gehabt hatte, konnte er sich später bei der Konfrontation] an keinen derartigen Fall erinnern, der innerhalb seines 6-jahrigen Aufenthaltes in China passiert ware.

Der Richter Edward Pincus hatte Chen für schuldig befunden wegen Totschlag (manslaughter) zweiten Grades (also nicht Mord) und verurteilte ihn auf 5 Jahre Probation ohne weitere Freiheitsstrafe. In seiner Darlegung hat er geschrieben:

„Were this crime committed by the defendant as someone who was born and raised in America, or born elsewhere but primarily raised in America, even in the Chinese American community, the court would have been constrained to find the defendant guilty of manslaughter in the first degree. But, this court cannot ignore ... the very cogent forceful testimony of Doctor Pasternak, who is, perhaps, the greatest expert in America on China and interfamüal relationships. ... [Dong Lu Chen] was the product of his culture. ... The culture was never an excuse, but it is something that made him crack more easily. That was the factor, the cracking factor."

Frauenrechts-Organisationen, asiatisch-amerikanische Gruppen und Elizabeth Holtzman (damals eine demokratische Abgeordnete) haben sich gegen das Urteil gestellt. Sie reichten sogar bei der State of New York Commission on Judüal Conduct eine Forderung ein, um das Urteil zu überprüfen.2

II. Was ist die Kultur?

Fer die weitere Analyse ist es nötig die Frage „Was ist die Kultur?" zu beantworten. Im Jahre 1871 defüerte sie der brüsche Anthropologe Edward Burnett Tylor (1832 — 1917) als:

„that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom and any other capabüties and habits acquired by man as a member of society."3

Diese Defütion ist wahrscheinlich die bei englischen und amerikanischen Anthropologen am meisten züerte und man benutzt sie als Ausgangspunkt f¾r weitere Defütionsversuche.4

Alison Dundes Renteln züert die Defütion der Kultur der Canadian UNESCO Commission:

„Culture is a dynamic value system of learned elements, with assumptions, conventions, beliefs and rules permitting members of a group to relate to each other and to the world, to communicate and to develop their creative potential."5

Wir wollen hier keine neue Defütion suchen, deshalb verzichten wir auf die mögliche Krük. Eins muss man aber sagen: viele Leute denken, die Repräsentation der Kultur sei, was die anderen machen. Dabei vermisst man die Tatsache, dass jeder Mensch „Produkt" einer eigenen Kultur ist, der Richter, wie auch der Angeklagte. Leti Volpp schreibt dazu:

„... [B]ehaviour that we might find troubling is more often causally attributed to a group-defined culture when the actor is perceived to ,have` culture. Because we tend to perceive white Americans as "people without culture", when white people engage in certain practices we do not associate their behavior with a racialized conception of culture, but rather construct other non-cultural explanations. ... Thus, we consider early marriage by a Mexican immigrant to reflect "Mexican culture." In contrast, when a white person commits a sülar act, we view it as an isolated instance of aberrant behavior, and not as reflective of a racialized culture. Under this schema, white people are indüdual actors; people of color are members of groups."6

Darüber sollten wir mehr nachdenken, auch was unseren Fall betrifft. Der Einspruch von Dong Lu Chen, dass er nur so gehandelt habe, wie jeder andere Chinese in seiner Situation, ist für viele Amerikaner (aber auch Europäer) glaubwürdig. Sie betrachten China noch immer als eine patriarchalische Gesellschaft, in welcher Männer fast alles tun können und die Frauen auch für kleinste Uberschreitungen bestraft werden.7

Tilman Spengler schreibt dazu: „So sehr das Bild einer ganz entrechteten, der Willkür ihrer männlicher Umwelt ausgelieferten Frau in den Grundzügen mit der damaligen chinesischen Wirklichkeit übereinstimmt, so sehr bedarf es aber auch der historischen und der sozialen Modükation.

Denn es fällt schwer zu glauben, dass etwa ein chinesischer Landarbeiter sich den Luxus konfuzianischer Etikette im Verhältnis gegenüber seiner Frau leisten konnte, schwer zu glauben, dass also nicht eine gemeinsame Not im Umgang mit der Natur auch eine gewisse Egalität der sozialen Umgangsformen geschaffen hätte."8

Für den Fall People v. Dong Lu Chen ist eine Analyse der Vergangenheit vielleicht nicht so wichtig, weil man im Jahr 1927 das hierarchisch angelegte Beziehungsgefüge zwischen Mann und Frau im China niedergerissen hat und so könnte (zumindest formal) eine Gleichheit erfolgen.9

Im Spiegel dieser neueren Ausgestaltung sieht die „kulturelle Verteügung" von Dong Lu Chen eher als unakzeptabel aus. Trotzdem können wir darüber nicht vergessen, dass Dong Lu im ländlichen Gebiet lebte, das noch heute viel mehr tradüonell geprägt ist. Dieser Moment konnte zusammen mit vermutlichen seelischen Störungen ausreichen, um seine Handlung zu entschuldigen. Uber viele Tatsachen des Falles berichtet die Literatur leider nichts und es gibt auch keinen direkten Zugriff zum Denkvermögen und Sinneseindruck des Richters. Deshalb bleibt nichts anderes als im Schluss sehr achtsam zu sein.

[...]


1 Die Wiedergabe des Falles basiert auf dem Aufsatz Volpp, L.: (Mis)identifying Culture – Asian Women and the „Cultural Defense“. In: Wu, J. S. S. – Song, M. (ed.): Asian American Studies. A Reader. Rutgers University Press, 2000, S. 391 ff.

2 Dundes Renteln, A.: The Cultural Defense. Oxford University Press, 2004, S. 34.

3 Züert nach Fikentscher, W.: Modes of Thought. 2nd edüon. Mohr Siebeck, 2004, S. 95.

4 Krük und weitere Versuche der Defütion Fikentscher, opus cit. S. 95 ff.

5 Canadian Commission for UNESCO, „A Working Defütion of 'Culture'“ 83. Nach Dundes Renteln, opus cit., S. 10

6 Volpp, L.: Blaming Culture for Bad Behavior. In: Yale Journal of Law and the Humanües, Vol. 12, 2000, S. 89-90.

7 In wieweit diese Vorstellungen der Realität entsprochen haben, ist noch nicht vollständig geklärt.
Sicherlich stimmen die Umrisse: im tradüonellen China herrschte ein strenges Patriarchat, in dem Frauen in aller Regel nur fiber die Rolle der Mfitter von Söhnen Anerkennung finden konnten. Der konfuzianische Sittenkodex legte die weiblichen Verhaltensweisen fest, er zielte auf Keuschheit, Unterwfirfigkeit und Dummheit. Nach einer im 17. Jahrhundert besonders populären Maxime konnte „nur der tugendhafte Mann talentiert und nur die untalentierte Frau tugendhaft“ sein. Bauer, W. (hrsg.): China und die Fremden. C. H. Beck, 1980, S. 223.
Hugh Baker beschreibt die Vorstellungen fiber die Rolle von Männer und Frauen auf folgender Weise: „[T]he Chinese kinship system heavily stressed the importance of the male and of relationships traced through the male. Women are theoretically of little import. They were necessary for the reproduction of the species, and in most cases for their labour in the home, but in both ways they were considered to be there to serve the male and the male principle.“ Baker, H. D. R.: Chinese Family and Kinship. Macmillan Press, 1979, S. 21.

8 In: Bauer, W. (hrsg.): China und die Fremden. C. H. Beck, 1980, S. 224.

9 „In family law, the tradüonal kinship system was replaced by a classücation of relations by blood and relation by marriage, and the authority of the father was weakened. With the equality of the sexes, the husband´s superiority was no longer recognized.” Han-Pao Ma, H.: Law and Tradüons in Contemporary Chinese Society. National Taiwan University, 1999, S. 37.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Berücksichtigung kultureller Differenzen im Strafrecht
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie)
Veranstaltung
Logik und Methoden des Rechts
Note
D
Autor
Jahr
2009
Seiten
28
Katalognummer
V143857
ISBN (eBook)
9783640533749
ISBN (Buch)
9783640533961
Dateigröße
909 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Berücksichtigung, Differenzen, Strafrecht
Arbeit zitieren
Daniel Krošlák (Autor:in), 2009, Berücksichtigung kultureller Differenzen im Strafrecht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/143857

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