Homosexualität und kognitive Beeinträchtigung

Mehrfache Stigmatisierung und doppeltes Coming-out bei Lesben und Schwulen mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung im jungen Erwachsenenalter


Bachelorarbeit, 2009

203 Seiten, Note: 2,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort (Oehrli R./Lulgjuraj N.) Abkürzungsverzeichnis Abstract (Oehrli R./Lulgjuraj N.)

1 Einleitung (Oehrli R./Lulgjuraj N.)
1.1 Vorverständnis
1.2 Gemeinsame Motivation
1.2.1 Motivation von Rahel Oehrli
1.2.2 Motivation von Nikol Lulgjuraj
1.3 Fragestellung und Thesen
1.4 Methode und Schwerpunkt
1.5 Aktueller kritischer Diskurs und Literatur
1.6 Aufbau

2 Begriffsklärung (Oehrli R./Lulgjuraj N.)
2.1 Kognitive Beeinträchtigung
2.1.1 Vorbemerkung und Begriffswahl
2.1.2 Psychologische, medizinische, soziologische und pädagogische Sichtweise
2.1.3 Zum Begriff leichte kognitive Beeinträchtigung
2.2 Junges Erwachsenenalter
2.2.1 Zum Begriff junge Erwachsene
2.2.2 Zum Begriff junge Erwachsene mit leichter kognitiver Beeinträchtigung
2.3 Homosexualität
2.3.1 Zum Begriff Homosexualität
2.3.2 Zum Begriff Lesbe
2.3.3 Zum Begriff Schwule
2.4 Doppeltes Coming-out
2.4.1 Zum Begriff Coming-out
2.4.2 Zum Begriff doppeltes Coming-out
2.5 Mehrfache Stigmatisierung
2.5.1 Zum Begriff Stigmatisierung
2.5.2 Zum Begriff mehrfache Stigmatisierung
2.6 Krise und Bewältigung
2.6.1 Zum Begriff Krise
2.6.2 Zum Begriff Bewältigung
2.7 Soziale Arbeit
2.7.1 Zum Begriff Soziale Arbeit
2.7.2 Zum Begriff Sonderpädagogik

3 Gesellschaft und Soziale Arbeit vs. Beeinträchtigung und (Homo-)Sexualität(Oehrli R./Lulgjuraj N.)
3.1 Soziale Probleme der Gesellschaft und der Sozialen Arbeit bezüglich Sexualität(Oehrli R.)
3.1.1 Gesellschaft in Verbindung mit kognitiver Beeinträchtigung und Sexualität
3.1.2 Soziale Arbeit in Verbindung mit kognitiver Beeinträchtigung und Sexualität
3.1.3 Befragung von sozialen Institutionen in Verbindung mit Sexualität
3.2 Gesellschaft in Verbindung mit weiblicher und männlicher Homosexualität(Lulgjuraj N.)
3.2.1 Historischer Abriss der Homosexualität aus gesellschaftlicher Perspektive
3.2.2 Befragung von Lesben und Schwulen mit kognitiver Beeinträchtigung
3.3 Fazit

4 Grundmodelle geschlechtstypischer Sozialisation und geschlechtstypischer Be-wältigung (Lulgjuraj N.)
4.1 Männliche und weibliche Sozialisation
4.1.1 Männliche Sozialisation
4.1.2 Weibliche Sozialisation
4.2 Männliche und weibliche Lebensbewältigung
4.2.1 Das Konzept der biografischen Lebensbewältigung
4.2.2 Das männliche Bewältigungsmodell
4.2.3 Das weibliche Bewältigungsmodell
4.3 Sozialisation und Bewältigung in Verbindung mit (Homo-)Sexualität und Beeinträchti-gung
4.3.1 (Homo-)Sexuelle Sozialisation und Bewältigung
4.3.2 Sozialisation und Bewältigung bei Menschen mit Beeinträchtigung
4.4 Fazit

5 Die menschliche Entwicklung (Oehrli R.)
5.1 Die Ökologie der menschlichen Entwicklung
5.2 Kognitive Entwicklung
5.3 Emotionale und soziale Entwicklung
5.4 Sexuelle Entwicklung
5.5 Geschlechtsspezifische Entwicklung
5.6 Fazit
Exkurs: Stigmatisierung in Verbindung mit Beeinträchtigung und Homosexualität
(Oehrli R./Lulgjuraj N.)

6 Homosexualität (Lulgjuraj N.)
6.1 Sexuelle Orientierung
6.2 Das innere und äußere Coming-out bei Lesben und Schwulen
6.2.1 Das Prä-Coming-out bei Lesben und Schwulen
6.2.2 Das eigentliche Coming-out bei Lesben und Schwulen
6.2.3 Die Integrationsphase bei Lesben und Schwulen
6.2.4 Unterschiede im Coming-out zwischen jungen Lesben und Schwulen
6.3 Stigmatisierung seitens der Gesellschaft
6.4 Empirischer Überblick zur Lebenssituation junger Lesben und Schwulen
6.5 Fazit

7 Kognitive Beeinträchtigung (Oehrli R.)
7.1 Geschlecht und kognitive Beeinträchtigung
7.2 Sexualität und kognitive Beeinträchtigung
7.3 Das innere und äußere Coming-out bei Menschen mit Beeinträchtigung
7.3.1 Das Prä-Coming-out bei Menschen mit Beeinträchtigung
7.3.2 Das eigentliche Coming-out bei Menschen mit Beeinträchtigung
7.3.3 Die Integrationsphase bei Menschen mit Beeinträchtigung
7.4 Stigmatisierung seitens der Gesellschaft und der Sozialen Arbeit
7.5 Bewältigung und kognititive Beeinträchtigung
7.6 Fazit

8 Junge Lesben und Schwule mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung(Oehrli R./Lulgjuraj N.)
8.1 Relevante Merkmale
8.1.1 Unterschiedliche Merkmale
8.1.2 Gemeinsame Merkmale
8.2 Das doppelte innere und äußere Coming-out bei jungen Lesben und Schwulen mit ko-gnitiver Beeinträchtigung
8.2.1 Das Prä-Coming-out bei jungen Lesben und Schwulen mit kognitiver Beeinträch-tigung
8.2.2 Das eigentliche Coming-out bei jungen Lesben und Schwulen mit kognitiver Be- einträchtigung .
8.2.3 Die Integrationsphase bei jungen Lesben und Schwulen mit kognitiver Beein-trächtigung
8.3 Mehrfache Stigmatisierung seitens der Gesellschaft und der Sozialen Arbeit betreffend Lesben und Schwulen mit kognitiver Beeinträchtigung
8.3.1 Mehrfache soziale Stigmatisierung
8.3.2 Mehrfache strukturelle Stigmatisierung
8.4 Mehrfache Krisen bei jungen Lesben und Schwulen mit einer leichten kognitiven Be-einträchtigung
8.4.1 Sozialisationskrisen
8.4.2 Entwicklungskrisen
8.4.3 Krisen des doppelten Coming-out
8.4.4 Krisen der mehrfachen Stigmatisierung
8.5 Geschlechtstypische Krisenbewältigung bei jungen Lesben und Schwulen mit einerleichten kognitiven Beeinträchtigung
8.5.1 Weibliche Bewältigungsstrategien
8.5.2 Männliche Bewältigungsstrategien
8.6 Eine Wirklichkeit des Themenkomplexes aus der gegenwärtigen Sicht
8.7 Fazit

9 Zusammenfassung und Erkenntnisse (Oehrli R./Lulgjuraj N.)
9.1 Kurzfassung
9.2 Beantwortung der Fragestellung
9.3 Verifizierung der Thesen

10 Kritische Diskussion und Reflexion (Oehrli R./Lulgjuraj N.)
10.1 Kritische Darlegung der Literatur
10.2 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit
10.3 Gemeinsame Reflexion
10.3.1 Selbstreflexion von Nikol Lulgjuraj
10.3.2 Selbstreflexion von Rahel Oehrli
10.4 Schlussfolgerungen

Schlusswort (Oehrli R./Lulgjuraj N.)

Literaturverzeichnis

Anhang

Vorwort

Vermögen dieses Wagnisses, zwei dichotome Themen, Homosexualität und kognitive Beein- trächtigung in einer Synthese zusammenzudichten, so haben wir ein Phänomen, das die Bewährung des Selbst erzwingt und aus sich entwickeln lässt. Wir zweifeln nicht, dass nebst dieser auch diverse andere Thematiken Relevanz beanspruchen würden, wir setzen jedoch bewusst den Schwerpunkt darauf an. Eine derartige Relativierung mag demzufolge ein un- vermeidlich subjektives Gesicht der Wirklichkeit erhalten, das wir jedoch wissenschaftlich untersuchen möchten. In dieser Thesis geht es schließlich um Menschen, ihre verfügbaren und nicht verfügbaren kognitiven Fähigkeiten, ihre sexuelle Orientierung, Entwicklung und geschlechtstypische Sozialisation sowie daraus resultierende Krisen und deren Bewältigung. Es handelt sich um normale Menschen, die aber anders als die Mehrheit sind, sprich eine kognitive Beeinträchtigung und eine homosexuelle Orientierung aufweisen. Eine Minorität, die von der Gesellschaft und der Sozialen Arbeit seit Jahrzehnten stigmatisiert wird. Wie sieht die Lebenssituation aus, wenn diese zwei Komponenten der Beeinträchtigung einer- seits und der Homosexualität andererseits sich in einem Menschen vereinigen? Eine Antwort auf diese und andere Fragen ist ein grundlegender Inhalt dieser vorliegenden Bachelor- Thesis.

An dieser Stelle erlauben wir uns, vorerst ein Abbild einer von uns konstruierten Wirklichkeit dieses Phänomens in Form eines metaphorischen Gedichtes zu widerspiegeln.

Ich rede mit dir meine Autonomie,

mit den etikettierten Bildern meiner Existenz, ich rufe deinen Namen

und mache dich aufmerksam auf die Distanz, die uns aufzuspalten versucht.

Ich suche nach dir meine Sexualität, die mir doppelt verwehrt wird,

und kämpfe im Vakuum mit meiner Identität; denke an das innere Coming-out, lebe jedoch das äußere Stigma der Umwelt. Diese unsterbliche Vergangenheit, du meine intersektionale Beeinträchtigung, die mein Dasein konstruiert,

meine Lebenswege hospitalisiert

und mein Anderssein definiert,

schweige in sich nicht das Wort,

das meine Kognition erschuf,

meinem Mund die Sprache weitergab, meine Motorik antreibt

und meine Bedürfnisse erfühlt.

Dich, meine Gegenwart, bringe ich inter muri und zwinge zum Denken;

in Schränken der Zukunft,

in Abrufung meiner Emotionen

und Interaktion meiner Normalität. Ich kommuniziere, aber

existiere in Territorien meines Selbst.

Wie es für einen Menschen ist, aus den Territorien des Selbst zu finden, weiß nur der betroffene Mensch selbst. Anstatt auf eine Antwort zu warten, begeben wir uns diesem Phänomen auf die Spur, indem wir eine Literaturarbeit mit einem kleinen Praxisbezug in Form zweier nicht repräsentativer Befragungen anbieten.

Homosexualität und kognitive Beeinträchtigung

Bache

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abstract

Das Thema dieser Bachelor-Thesis Homosexualität und kognitive Beeinträchtigung ist ein in der Sozialen Arbeit neu zu betrachtendes Phänomen, das wenig oder gar nicht im deutsch- sprachigen Raum wissenschaftlich und/oder empirisch erforscht wurde. Substanziell geht es hier um die Intersektionalität und das Zusammenwirken zwischen diesen zwei Kategorien von Differenzen. Präziser formuliert handelt es sich um Schwule und Lesben mit einer leich- ten kognitiven Beeinträchtigung im jungen Erwachsenenalter, um ihre vielfältigen Krisen, die infolge der Sozialisations-, Entwicklungs-, Stigmatisierungs- und Coming-out-Prozessen ge- schlechtstypisch bewältigt werden können. Explizit betrachtet repräsentiert diese Gruppe eine Minderheit innerhalb der Minderheit (Homosexualität), und demzufolge unterliegt sie diesen Prozessen multiperspektivisch. An dieses Erkenntnisinteresse ist unsere Fragestel- lung geknüpft:

Mit welchen Krisen setzen sich Lesben und Schwule mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung im jungen Erwachsenenalter auseinander, wie können sie diese geschlechterspezifisch bewältigen und welche Relevanz hat die Soziale Arbeit dafür?

In Anlehnung an die vorliegende differenzierte wissenschaftliche Analyse zu diesem The- menkomplex, sind wir zu einer für die Soziale Arbeit relevanten These gelangt, welche die Erkenntnisse repräsentiert. Sie besagt, dass junge Lesben und Schwule mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung infolge einer beschränkten Palette an Bewältigungsstrategien, einem geringeren sozialen Rückhalt und wegen psychosozialen Lebenskrisen, die durch das doppelte Coming-out und die mehrfache Stigmatisierung verstärkt werden, die Unterstützung bei der Krisenbewältigung von Angeboten und vor allem einer höheren Akzeptanz, Beach- tung und Verständnis seitens der Professionellen der Sozialen Arbeit bedürfen.

1 Einleitung

„Der moderne Mensch ist existentiell auf andere angewiesen und kann nur existieren, wenn er sozial irgendwie eingebunden ist“ konstatiert Lothar Böhnisch (2005: 29). Was aber ein homo sapiens in der Tat zu leisten oder zu tun bereit wäre, um sozial irgendwie eingebunden zu sein oder zu bleiben, damit er überhaupt zu existieren vermag, ist eine abstrahierende Philosophie eines Laien und keine genuine Wirklichkeit eines oder einer Professionellen. Das heißt, dass das Spannungsfeld, in dem sich das Individuum in die Richtung eines Be- wältigungshandelns bewegt, so dass es in unserer individualisierten und globalisierten Ge- sellschaft zurecht kommen kann, sehr divergente Prototypen mit sich bringt. Es lässt sich keine Formel entwerfen, die per se jeden Habitus nach den gleichen Prinzipien erklären oder lösen kann. Nun angenommen, dass das Existieren eine einfachere Version des Funktionie- rens bzw. der Lebensbewältigung repräsentiert, verlangt das Leben nach mehr als nur nach einem passiven Dasein. Die Welt und damit das Leben ist ein ewiger Konkurrenzkampf. Um diesen Kampf zu überstehen, muss der oder dem Schwächeren im besten Fall eine ange- messene soziale Lebenslage (soziale, kulturelle und materielle Spielräume) zur Verfügung gestellt werden, in der er oder sie sich positiv entfalten kann. Ansonsten sucht das Indivi- duum stets, wenn nicht auf Dauer dann wenigsten auf eine augenblickliche, sozusagen vir- tuelle Weise nach Lösungen, die ihr oder ihm zur Lebensbewältigung verhelfen sollen. Mit dem Ausdruck Schwächeren meinen wir die sich in einer kritischen Lebenssituation befin- denden Person, die eher in Gefahr läuft, diese schwierige Situation nicht bewältigen zu kön- nen. Dieses Scheitern kann deviantes Verhalten hervorrufen und im worst case gar Gewalt- verhalten auslösen, weil der Mensch permanent nach einem Ausweg sucht, um die Hand- lungsfähigkeit um jeden Preis zu erhalten.

Diese Bachelor-Thesis befasst sich mit einer Personengruppe, die mit einer mehrfachen Stigmatisierung, resp. Intersektionalität (siehe Kapitel 2.5) kontrastiert ist. Die Überkreuzung sozialer Kategorien und Marginalisierungen kann sowohl auf der gesellschaftlichen als auch auf der Ebene der Sozialen Arbeit den Verlauf nehmen. Abhängig davon, welche Kategorien von Differenzen sich jeweils kreuzen und wo sich dies abspielt, kann der Stigmatisierungsab- lauf demzufolge unterschiedliches Potenzial der Problematisierung erzeugen. Im Rahmen dieser Bachelor-Thesis limitieren wir uns auf den Schnittpunkt zweier Kategorien von Diffe- renzen, dessen die zu untersuchende Zielgruppe unterliegt: Auf der einen Seite wegen ihrer sexuellen Orientierung resp. Homosexualität und auf der anderen aufgrund ihrer begrenzten kognitiven Funktionsfähigkeit resp. kognitiven Beeinträchtigung. Damit diese Überkreuzung bewältigt werden kann, wird eine strategische Bewältigung erfordert und diese wiederum einer Palette an Copingstrategien (siehe Kapitel 4). Diese Personengruppe macht zwar eine Minderheit (Lesben und Schwule mit kognitiver Beeinträchtigung) in der Minderheit1 (Lesben und Schwule) aus, ist jedoch in den Augen der Sozialen Arbeit ein nicht zu ignorierendes Faktum. Darüber hinaus ist diese Gruppe mit einem doppelten inneren und äußeren Coming- out - einerseits wegen der kognitiven Beeinträchtigung und anderseits aufgrund der Homo- sexualität - gegenüber sich selbst und der Gesellschaft konfrontiert, was wiederum nach Be- wältigungsstrategien verlangt. Die Bewältigung von kritischen Lebenssituationen resp. Kri- sen, ist mit einer Vielfalt von Prozessen verbunden, die als Krisen und Chancen gesehen werden können. Das Thema Homosexualität und kognitive Beeinträchtigung ist als ein Phä-Bachelor-Thesis nomen auf dem Weg zur Normalität zu betrachten. Eine Wirklichkeit, die immer noch mit Tabus zu kämpfen hat. Unsere Motivation, die auf diversen Interessen der beruflichen, persönlichen, wissenschaftlichen und sozialpolitischen Hintergründen basiert, haben dieser Bachelor-Thesis ein Gesicht verliehen, das als Novum die geltenden Werte und Normen in der Gesellschaft und Sozialen Arbeit reformieren und sensibilisieren soll.

1.1 Vorverständnis

Es gibt divergente Welten, in welchen unterschiedlich lebende Menschen existieren können. Dazu gehören sowohl Menschen mit einer Beeinträchtigung als auch diejenigen, die ohne eine zumindest diagnostizierte Beeinträchtigung leben. Die Gefühls- oder Erlebniszustände dieser beiden Menschengruppen spiegeln ein kongruentes Bild der Lebensbewältigung wie- der. Das heißt, dass Angehörige der einen und der anderen Gruppe in die gleichen Problem- lagen geraten können, die diese dann entweder bewältigen oder sich in deren Gefäßen trei- ben lassen. Die Wirklichkeiten, in denen sich diese Subjekte befinden, unterscheiden sich nur im Punkt der verfügbaren oder nicht verfügbaren kognitiven, emotionalen und sozialen Ressourcen. Im Falle einer kognitiven Beeinträchtigung treten Defizite ein, die das Reper- toire der Problemlösungsstrategien einschränken können. Dies kann zur Folge haben, dass das Risiko bei der Bewältigung einer kritischen Lebenssituation größeren Umfang haben kann. Deshalb soll sich die Soziale Arbeit in verschiedenen Feldern wie auch mit dem ge- nannten Phänomen auseinandersetzen, um den Klientel die notwendigen Rahmenbedin- gungen und Unterstützungen bei der Lebensgestaltung sowie -bewältigung bieten zu kön- nen. Ein Ziel der Sonderpädagogik aufgrund der Einführung des Normalisierungsprinzips (siehe Kapitel 3.1.2) lautet, die Menschen, die eine Begleitung und/oder Unterstützung der Sozialen Arbeit beanspruchen, ihnen trotz Verhinderungen, sprich kognitiven, psychischen und/oder körperlichen Beeinträchtigungen, ein Leben zu ermöglichen, das demjenigen von Menschen ohne Beeinträchtigungen so weit wie möglich entspricht (vgl. Wendeler 1992: 9). In Bezug zu unserem Thema Homosexualität und kognitive Beeinträchtigung ist demzufolge die Professionalität der Sozialen Arbeit mehr als je gefragt. Die Sexualität von Menschen mit Beeinträchtigungen wird auch heutzutage noch teilweise untersagt. Wie man jedoch bereits weiß, gehört Sexualität zum Menschen. Sie bereitet Lust; sie kann eine Beziehung vertiefen und dem Ausdruck intimer Kommunikation dienen; sie spielt ebenfalls für die Identitätsent- wicklung eine wichtige Rolle, denn durch sexuelle Erfahrungen wird die Identität als Frau oder Mann bestätigt (vgl. Timmermanns 2008: 261). Es ist demnach relevant, dass den Men- schen mit kognitiver Beeinträchtigung solche vor allem für die Entwicklung bedeutende Er- lebnisse zugesichert werden. Diese Zusage muss immer noch erwähnt werden, denn auch heutzutage findet man Aussagen, dass „Sexualität und kognitive Beeinträchtigung nach wie vor unvereinbare Begriffe“ (Walter 1996: 32) sind. Das heißt, dass die Soziale Arbeit auf dem Weg zur Professionalisierung auch hier eine aufklärende und präventive Aufgabe weiterhin zu leisten hat. An diesem Punkt denke man nun hingegen an die Realität der Homosexuali- tät, die bis vor 22 Jahren als eine psychische Störung galt (siehe Kapitel 3.2.1). Eine Diag- nose, sprich eine Krankheit, die als heilbar aufgefasst wurde. Man sprach und spricht auch in der gegenwärtigen Zeit von Umpolung (von der Homosexualität zur Heterosexualität umpo- len), sogar in Ländern, in denen die Legalisierung stattgefunden hat und schon längst abge- schlossen sein sollte. Aber nein; es gibt Psychotherapeuten, die Schwule und Lesben mit gezielten Methoden heilen wollen - diese Meinung vertritt unter anderem Mike Haley (2006) in seinem Buch über Homosexualität. Er war selbst einst schwul und nun glaubt er, sich da- von geheilt zu haben. Oder denke man weiter an die nationalsozialistische Zeit in Deutsch- land, in der sowohl Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung als auch die mit homosexueller Orientierung bis zum Ende des Regimes systematisch abgesondert und ermordet wurden (siehe Kapitel 3.2). Weiter zu erwähnen ist auch die plakative Verbindung zwischen Homo-sexualität und die „seit den frühen 80er Jahren auch in Europa auftretende HIV-Infektionen (Human Immunodefiency Virus) und manifesten Erkrankungen an Aids (Acquired Immunode- fiency Syndrom)“ (Rauchfleisch et al. 2002: 215). Vor allem die Schwulen wurden für diese Krankheit, die anfänglich als Gay Related Immune Deficiency (GRID) bezeichnet wurde, ver- antwortlich gemacht. Man schrieb es ihnen wegen des monierten amoralischen Verhalten, was das auch immer zu bedeuten hat, zu - hauptsächlich von religiösen Gruppierungen aber auch von der Gesellschaft als Ganzes. (vgl. Büchler 2007: 28) Daraus entwickelten sich di- verse Tabus, die immer noch zu spüren sind, sei es in der Gesellschaft oder auch in der So- zialen Arbeit.

Die Modernisierung und Liberalisierung in Bezug auf Homosexualität und kognitive Beein- trächtigung hat auch Erfolge zu verbuchen. Ein Blick auf die Schweiz lässt einige positive Schritte festhalten: Am 1. Januar 2007 trat das Bundesgesetzt der eingetragenen Partner- schaft homosexueller Paare in Kraft, was den Schwulen und Lesben neu die Möglichkeit verschaffte, ihre Beziehungen rechtlich abzusichern (siehe Büchler 2007). Im Kampf um die rechtliche Anerkennung von Lesben und Schwulen spielten und spielen prominente Perso- nen wichtige Rollen, indem sie ihre homosexuelle Orientierung offen leben. Die Soziale Ar- beit soll auch hier ihre Aufgabe ablesen können, indem man Schwulen und Lesben mit kog- nitiver Beeinträchtigung den Zugang zu existierenden Angeboten ermöglicht und neue An- gebote realisiert, die ihnen den Umgang mit ihrer Homosexualität erleichtern könnten und sie dazu befähigen, sich selber die Unterstützung organisieren zu können.

Dieses heterogene Vorverständnis über Homosexualität und kognitive Beeinträchtigung so- wie das unten aufgeführte theoretische Wissen, sind einige maßgebliche Ressourcen, die uns dazu brachten, mit einer Lust die Realisierung und Verfassung der Bachelor-Thesis an- zugehen.

Das berufsbegleitende Studium der Sozialen Arbeit hat unseren professionellen Habitus ge- formt, indem die modulare Strukturierung divergenter theoretischer und empirischer Ausbil- dung den multiperspektivischen Charakter inkludierte. Somit erwarben wir das Wissen über das professionelle Denken und Handeln sowie das wissenschaftliche Schreiben, die durch verschiedene Arbeiten weiterentwickelt wurden - diese gelungenen Übungen haben uns den Weg zur Bachelor-Thesis eröffnet. Das Wissen über Menschen mit kognitiver Beeinträchti- gung haben wir uns während der Ausbildung aber auch in der Praxis im Bereich der Sonder- pädagogik angeeignet. Insbesondere wurde diese Bildung durch die zwei besuchten Module Psychische Störungen und Entwicklungsbeeinträchtigungen erweitert und professionalisiert. So haben wir unser Verständnis über Definitionen und Klassifikationen von diversen kogniti- ven und psychischen Beeinträchtigungen erweitert, aber auch zwei internationale Klassifika- tionen der WHO kennengelernt. Im Laufe der Ausbildung entdeckten wir ferner in diversen Modulen das Konzept der Lebensbewältigung sowie die Modelle geschlechtstypischer Sozia- lisation und Bewältigung nach Böhnisch. Außerdem haben wir uns in den Modulen Bildung und Erziehung sowie Sozialisation und Entwicklung mit zahlreichen Entwicklungs- und So- zialisationstheorien auseinandergesetzt. Das Wissen bezüglich Sexualität, aber auch zum Teil über Homosexualität, wurde durch das Modul Sexualpädagogik fundiert. Dieses ange- eignete Wissen fließt in unsere Bachelor-Thesis ein.

Dem gemäß wurde auch unser ethisches Bewusstsein während des Studiums geformt. Un- serer Meinung nach ist ethisches Bewusstsein ein grundlegender Teil der beruflichen Praxis aller Professionellen der Sozialen Arbeit: „Ihre Fähigkeit und Verpflichtung, ethisch zu han- deln, ist ein wesentlicher Aspekt der Qualität der Dienstleistung, die jenen angeboten wird, welche die Dienste Sozialer Arbeit in Anspruch nehmen“. (IFSW/IASSW 2004: 1) Die Klä- rung des Begriffs Soziale Arbeit, welche weiter unten folgt, zeigt den grundsätzlichen Auftrag dieses Feldes auf. Die Wegleitungen der Sozialen Arbeit basieren auf den Menschenrech-ten: Das Recht auf Selbstbestimmung achten, das Recht auf Beteiligung fördern, jede Per- son ganzheitlich behandeln, Stärken erkennen und entwickeln (vgl. ebd.: 2). Bezogen auf die Gesellschaft allgemein und in Bezug auf die Klientel, mit denen Professionelle der Sozialen Arbeit zusammenarbeiten, sind diese verpflichtet, soziale Gerechtigkeit zu fördern, indem sie Diskriminierung zurückweisen. Dazu gehört, dass sie Verschiedenheiten anerkennen, Res- sourcen gerecht verteilen, gegen ungerechte Politik und Praktiken abstimmen, solidarisch arbeiten, soziale Bedingungen ablehnen, die sozialen Ausschluss, Stigmatisierung oder Un- terdrückung begünstigen und auf eine integrierende Gesellschaft hinarbeiten. (vgl. ebd.: 3) Für das berufliche Verhalten braucht es demnach Richtlinien für eine ethische Praxis (bezo- gen auf den jeweiligen nationalen Kontext): Erforderliche Fertigkeiten und Fähigkeiten entwi- ckeln, aufrechterhalten und weiterbilden. Fertigkeiten der Sozialen Arbeit dürfen nicht für unmenschliche Zwecke benutzt werden. Professionelle der Sozialen Arbeit sind kongruent; die Vertrauensbeziehung zu den Menschen, die ihre Dienste nutzen, nicht missbrauchen, Grenze zwischen privatem und beruflichem Leben einhalten, eigene Position nicht für per- sönlichen Vorteil oder Gewinn ausnutzen. Interaktionen beruhen auf Respekt, Mitgefühl, Ein- fühlungsvermögen und Achtsamkeit. Bedürfnisse und/oder Interesse der Menschen, welche die Dienste der Sozialen Arbeit nutzen, dürfen nicht den Bedürfnissen und/oder Interessen der Professionellen der Sozialen Arbeit untergeordnet werden. (vgl. ebd.: 3f.)

Das oben aufgeführte Verständnis hat uns ebenso motiviert, diese Arbeit als eine Dokumen- tation für die Soziale Arbeit zu etablieren. Jeweils am Schluss jedes einzelnen Kapitels folgt in Form eines Fazits die Vernetzung des Inhalts mit der Sozialen Arbeit. Welche Motivation jedoch neben dem schon Gesagten uns weiter dazu bewegt hat, mit dem Thema Homose- xualität und kognitive Beeinträchtigung auseinanderzusetzen, wird im anschießenden Teil dargelegt.

1.2 Gemeinsame Motivation

Wie die Motivation auf das zu Erreichende auswirkt, ist verdienst der inneren Ziele, die den Menschen existentiell bereichern oder gar erhalten. Diese können in heterogenen Quellen ihren Ursprung haben, woher sie ausgeschöpft werden. Aus unserer Perspektive liegen die- se Quellen in einem persönlichen und in einem professionellen Ursprung. Die Idee, diese Bachelor-Thesis unter dem Thema Homosexualität und kognitive Beeinträchtigung zu erfas- sen, wurde aus einer allgemeinen Interaktion über dieses Thema vor etwa zwei Jahre entwi- ckelt. Aus dieser Idee bildete sich eine geschlechtstypische Diskussion und aus dieser keim- te der Entscheid auf, über dieses Thema eine gemeinsame Arbeit entstehen zu lassen. Ein relevanter Grund für die Zusammenschließung von einem männlichen Autor und einer weib- lichen Autorin, lag vor allem am Anspruch der Differenzierung der Männlichkeit und Weib- lichkeit. Es erschien uns wichtig, hierdurch eine Doppelperspektive des Frau- und Mannseins zusammenzubringen, die das Geschlechtsspezifische wiederum manifestieren lässt. Eine weitere wichtige Motivation war, Lesben und Schwulen mit kognitiver Beeinträchtigung, die eine Minderheit in der Gesellschaft sowie in der Sozialen Arbeit sind, eine Stimme zu verlei- hen, sie als existierende Gruppe der Gesellschaft und daraus resultierende Aufträge für die Soziale Arbeit darzustellen. Diese Bachelor-Thesis behandelt bewusst nicht, ob Homosexua- lität durch eine Veranlagung und/oder durch die Umwelt geformt wird, sondern wir gehen davon aus, dass Lesben und Schwule (mit kognitiver Beeinträchtigung) mit einer natürlichen Lebensorientierung und -gestaltung in unserer Gesellschaft leben.

Wir wählten zudem das spezifische Thema Homosexualität und kognitive Beeinträchtigung, da nicht nur in der Praxis der Sozialen Arbeit, sondern auch in der Fachliteratur und For- schung zu wenig Beachtung geschenkt wird. Doch die Realität zeigt, dass Schwule und Les- ben mit kognitiver Beeinträchtigung und Schwule und Lesben ohne kognitive Beeinträchti-gung zu unserer Gesellschaft gehören und ihre Rechte haben müssen, sei es auf Grund der Menschenrechte oder auf Grund der Menschlichkeit.

Die anschließenden Abschnitte beinhalten die individuellen Motivationen. Die Inhalte dessen werden narratorisch abgebildet, in der die/der Erzählende jeweils die Ich-Form verwendet. Zuerst wird die Motivation von Rahel Oehrli und anschließend die von Nikol Lulgjuraj darge- stellt.

1.2.1 Motivation von Rahel Oehrli

Ausgehend von der schon erwähnten Berufsethik und meiner Berufserfahrung (drei Jahre Zusammenarbeit mit Erwachsenen mit einer kognitiven Beeinträchtigung im stationären Be- reich der Sozialen Arbeit) ist es eine Notwendigkeit, das Thema Homosexualität und kogniti- ve Beeinträchtigung aufzuarbeiten, um die Komplexität und daraus folgende Aufträge an die Soziale Arbeit aufzuzeigen. Es erstaunt mich immer wieder, wie Mitmenschen auf das The- ma Homosexualität reagieren. Für mich ergibt sich keine Diskussion, ob Homosexualität an- geboren, sozialisiert oder unnatürlich ist. Sie gehört zur menschlichen Sexualität und zeigt die wunderbare Vielfalt dieses wichtigen Themas auf. Meine Erfahrungen im Freundeskreis und mit Angehörigen, die ihre homosexuelle Orientierung leben, zeigen auf, dass die sexuel- le Orientierung nicht relevant ist. Die Person mit all ihren Eigenschaften und die Beziehung zueinander stehen im Vordergrund. Die Liebe fällt dorthin, wo sie hinfällt, ohne zu fragen warum und weshalb. Mit dieser Einstellung begegne ich den Menschen - im Berufs- wie auch Privatleben. Der Unterschied zwischen diesen zwei Bereichen liegt darin, dass die Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, mit denen ich während drei Jahren zusammen gearbeitet hatte, oftmals abhängig sind von der Institution und den Mitarbeitenden. Das Leit- bild der Institution zeigt bspw. auf, nach welchen Grundprinzipien gearbeitet wird und welche Angebote darauf basieren. Die Mitarbeitenden können mitwirken und mitsteuern. In meiner dreijährigen Zusammenarbeit mit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung erlebte ich auf Grund der konservativen Heimleitung und tendenziell weniger kritischen, eher angepassten Mitarbeitenden eine hohe Anforderung an die Bewohnerinnen und Bewohner des sich An- passen müssen an den vorgegebenen Strukturen und Normen. Das Thema der Sexualität wurde während meiner Mitarbeit in dieser Institution nicht ein einziges Mal aufgegriffen, ob- wohl die Bewohnerinnen und Bewohner Bedürfnisse äußerten und auslebten. Meine Anfra- gen betreffend Rahmenbedingungen und Angebote schaffen für individuelle Bedürfnisse sowie Sexualität als offenes Thema zu diskutieren, wurden abgetan mit der Antwort, jeder und jede hat ein eigenes Zimmer, in dem sie oder er tun und machen kann, was sie oder er will. Und für weitere Bedürfnisse sind die Eltern und Angehörigen zuständig. Auf Grund mei- ner erfolglosen Ansprüche stellen für die Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und ihren Bedürfnissen, verließ ich die Institution. Doch der bittere Nachgeschmack bleibt bis heute beständig. Ich möchte mit dieser Bachelor-Thesis unter anderem aufzeigen, dass Wissen, Neugierde, Vernetzungen, Interesse und vieles mehr notwendig sind, um professionelles Denken und Handeln zu entwickeln und aufrecht zu erhalten.

1.2.2 Motivation von Nikol Lulgjuraj

Meinerseits liegen die grundlegenden Motive, die mich dazu bewegten, mich mit dieser Ar- beit zu befassen, in mir selbst und in meiner Erfahrung. Auf der einen Seite ist meine Bio- graphie geprägt mit einer Differenz, sprich Homosexualität und dem damit verbundenen in- neren und äußeren Coming-out, verwickelt in einer patriarchalischen und konservativen Kul- tur des Südwest-Balkans. Demzufolge war ich persönlich diesen Prozessen unterworfen. Das heißt, dass ich die Erfahrung der inneren Krisen im jungen Erwachsenenalter am eige- nen Leibe zu verspüren bekommen hatte. Es war eine schwierige Zeit: Ich fühlte mich vom Umfeld alleine gelassen und nicht verstanden. Eine Auseinandersetzung des Sich- Bekennens und Sich-Akzeptierens musste aus diesen Gründen in meinem Inneren alleine bewältigt werden. Auf der anderen Seite wurde und bin ich immer noch mit diversen Stigma- tisierungspaletten konfrontiert, die erst dann auftreten, wenn ich mich oute. Durch diese Be- einflussung und den daraus folgenden Krisen habe ich auch heute noch zu kämpfen, deren Prozesse mich vielleicht mein ganzes Leben lang begleiten werden. Alle diese Prämissen sind Motive, die mich initiiert haben, mich einerseits dem Thema Homosexualität und ander- seits dem Thema Beeinträchtigung zu widmen aufgrund der Zusammenarbeit mit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung (seit zwei Jahren). Bei der Arbeit stelle ich mir stets die Fra- ge, wie meine Klientel adäquat mit solchen Krisen umgehen können, wenn ich, ohne diag- nostizierte Beeinträchtigung, kaum zu recht gekommen bin. Durch meine Funktion als Co- Leiter des Treffs für Homosexuelle mit kognitivem und/oder psychischem Handicap (HHT) bekam ich zusätzlich die Chance, die verschiedenen Prozesse des Coming-out bis hin zu Ausgrenzungen zu beobachten (siehe Kapitel 3.2.2). In Kontakt mit ihnen und durch ihre Begleitung erfuhr ich erschreckende aber auch institutionelle Einzelheiten, die mich zum Denken und Reagieren (z.B. anhand dieser Arbeit) bewegten. Hier zu nennen sei nur eine Reaktion einer Bezugsperson (Professionelle der Sozialen Arbeit), mit der ich in Kontakt kam, weil sie einem Teilnehmer (ihr Bezugsbewohner) verbot, an einem von einer Rund- funksendung arrangierten und vom Treff aus organisierten anonymen Interview teilzuneh- men, mit der Begründung, dass dies der gesetzliche Vertreter vom Teilnehmer nicht erlau- ben würde, auch wenn dieser Klient unbedingt mitwirken wollte. Würde man hier das Thema Homosexualität auf die Seite legen, wäre in diesem Fall die Frage der Autonomie im Vorder- grund, die leider auch heutzutage nicht als selbstverständlich zu sein scheint.

Die aufgeführte Motivation und das spezifische Erkenntnisinteresse werden anhand des nachfolgenden Unterkapitels noch mal in eingegrenzter Form dargestellt.

1.3 Fragestellung und Thesen

Unsere Motivation und das daraus entstandene Erkenntnisinteresse führten zu der Fragestellung, die das, was wir herausfinden wollen, am nahesten illuminiert. Diese ist als Kern unserer Bachelor-Thesis zu betrachten, die wir in jeder Sequenz, sprich Kapitel, immer wieder aufgreifen werden. Das achte Kapitel dient zur differenzierten und vertieften Aufarbeitung unserer Fragestellung und ist somit das Hauptkapitel. Im neunten Kapitel folgt die Beantwortung. Damit diese Arbeit nicht den Rahmen einer Bachelor-Thesis sprengt, haben wir die Fragestellung auf den Grad der Beeinträchtigung sowie auf die Lebensphase eingegrenzt. Somit nimmt deren Inhalt die folgende für uns plausible Form an:

Mit welchen Krisen setzen sich Lesben und Schwule mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung im jungen Erwachsenenalter auseinander, wie können sie diese geschlechterspezifisch bewältigen und welche Relevanz hat die Soziale Arbeit dafür?

Nebst dieser zu erarbeitenden Fragestellung machten wir uns von Anfang an verschiedene Bilder davon, wie und womit sich Schwule und Lesben mit kognitiver Beeinträchtigung aus- einandersetzen müssen; z.B. wie ihre Lebenssituation ausschaut, wenn man anstatt mit ei- nem Stigma mit zwei konfrontiert ist sowie anstatt mit einem mit zwei Coming-out. Durch diese in unseren Köpfen entstandenen Bilder einer subjektiven Realität konstruierten wir die drei folgenden Thesen, die im neunten Kapitel entweder verifiziert oder falsifiziert werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

These 1: Lesben und Schwule mit einer kognitiven Beeinträchtigung werden von der Gesell- schaft und daher auch teilweise von der Sozialen Arbeit mehrfach stigmatisiert. Einerseits wegen ihrer homosexuellen Orientierung und andererseits wegen ihrer kognitiven Beeinträchtigung.

Wir sind überzeugt, dass einerseits die Gesellschaft und ihre Normvorstellungen die Soziale Arbeit beeinflusst, so dass letztgenannte gewisse Stigmatisierungen übernimmt/unterstützt, was wiederum aufrecht erhalten bleiben kann, weil die Professionellen der Sozialen Arbeit ebenso ein Teil der Gesellschaft sind und die Persönlichkeit und derer Grundhaltung mit ein fließt bei professionellen Aktionen/Interventionen. Somit nehmen wir an, dass Lesben und Schwule mit kognitiver Beeinträchtigung mit einer mehrfachen Stigmatisierung von verschie- denen Personen konfrontiert sind. Diese Behauptung beruht auf eigener Praxis- sowie Le- benserfahrung.

Die zweite These geht davon aus, dass diese Menschen nebst den Stigmatisierungsprozessen auch zwei Coming-out-Prozessen gegenübergestellt sind:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

These 2: Lesben und Schwule mit einer kognitiven Beeinträchtigung sind mit zwei Comingout-Prozessen konfrontiert. Mit dem Coming-out gegenüber sich selbst und der Gesellschaft: Auf der einen Seite, dass sie eine kognitive Beeinträchtigung haben und auf der anderen, dass sie schwul oder lesbisch sind.

Aufgrund des menschlichen Denkens, welches sich irgendwann mit sich selber und der Um- welt auseinander zu setzen beginnt, kann Unterschiede zwischen sich und anderen feststel- len. Das Coming-out bezüglich Homosexualität ist vielen bekannt, jedoch sind wir überzeugt, dass es ebenso ein Prozess betreffend der kognitiven Beeinträchtigung sein kann. Darüber hinaus sind wir uns einig, dass wie alle anderen Menschen auch diese Gruppe sich während ihres Lebenslaufs mit divergenten Krisen auseinandersetzen muss; hier kommen wegen der sexuellen Orientierung sowie der kognitiven Beeinträchtigung noch Zusätzliche zum Vorschein:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

These 3: Schwule und Lesben mit einer kognitiven Beeinträchtigung erleben mehrfache Kri- sen, die zu bewältigen sind. Sie sind mit den Krisen der geschlechtstypischen Sozialisation, der allgemeinen Entwicklung, der kognitiven Beeinträchtigung und der Homosexualität kon- frontiert.

Wir sind überzeugt, dass gewisse Krisen allgemein gültig sind für den Menschen, dass jedoch bei bestimmten Aspekten, wie z.B. Beeinträchtigungen und Homosexualität, sich neue Krisen zu den allgemein gültigen dazu entwickeln können.

Wie wir dieses Vorhaben methodisch und systematisch aufgebaut haben, wird im nächsten Unterkapitel abgehandelt.

1.4 Methode und Schwerpunkt

Basierend auf relevanten Theorien und Ansätzen aus verschiedenen Wissenschaften sowie Sekundärliteratur für Ergänzungen und Erweiterungen von teilweise überholten Theorien und Ansätzen, welche relevant sind für die Sozialwissenschaft, ergibt sich die vorliegende Litera- turarbeit. Ergänzt wird sie mit einem Link in die Praxis anhand von Fragebogen für Institutio- nen und betroffene Personen. Das Resultat ist nicht repräsentativ, es wird jedoch quantitativ dargestellt, um einen Einblick zu erhalten in eine mögliche Realität (siehe Kapitel 3.1.3/3.2.2).

Mit der Bestimmung der Themenskizze wurde die grobe Ausrichtung unserer BachelorThesis bestimmt. Anhand des eigenen Erkenntnisinteresses und der Bestätigung durch fachlich abgestützte Aussagen, erfolgte unser eingegrenztes Thema, welches zur zentralen Fragestellung hinführte. Nun galt es, Ordnung in unser Vorhaben zu bringen anhand einer Disposition, welche als Wegleitung bei der Erarbeitung dieser Thesis diente. Zugleich wird darauf geachtet, Unterscheidungen zwischen Mann und Frau, Schwulen und Lesben vorzunehmen, soweit es die jeweilige Theorie zulässt. Diese dient der effizienten Erläuterung der geschlechtstypischen Krisenbewältigung.

Der Schwerpunkt unserer Bachelor-Thesis liegt in einer Intersektionalität, sprich Überkreu- zung zweier Kategorien von Differenzen: Einerseits die kognitive Beeinträchtigung und an- derseits die Homosexualität. Wir wollen diese Zusammenschließung untersuchen. Uns geht es darum, eine Minderheit in der Minderheit, sprich Lesben und Schwule mit kognitiver Be- einträchtigung, zum Thema der Sozialen Arbeit zu machen. Auch aus diesem Grund ist die- se Arbeit als eine Dokumentation für die Soziale Arbeit zu verstehen, als ein mögliches In- strument, das eine allgemeine Differenzierung, höhere Akzeptanz und breites Verständnis zum Ziel hat, aber auch zu einer professionellen Intervention in dem Felde tendiert. Augrund dessen, dass wir mehrfache Krisen und deren Bewältigung infolge von mehrfacher Stigmati- sierung und doppeltem Coming-out, aber auch der geschlechtstypischen Sozialisation und der allgemeinen Entwicklung bei dieser Gruppe erforschen wollen, grenzen wir das Thema wie folgt ein: Mehrfache Stigmatisierung und doppeltes Coming-out bei Lesben und Schwu- len mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung im jungen Erwachsenenalter - ihre Krisen und deren geschlechtstypischen Bewältigungen. Mit dieser Eingrenzung zielen wir auf eine Personengruppe, die zum einen aufgrund des Grades der Beeinträchtigung am ehesten die Stigmatisierungs- sowie Coming-out-Prozesse wahrnehmen und verarbeiten kann und zum anderen aufgrund der Lebensphase des jungen Erwachsenen mit dieser Thematik am meis- ten konfrontiert ist. Die Begründung, warum kognitive Beeinträchtigung gewählt wurde, liegt hauptsächlich an der Zusammenarbeit als Professionelle mit Klientel dieser Eigenschaft. Eine weitere Erklärung, warum die Phase des jungen Erwachsenenalters ausgesucht wurde, liegt einerseits darin, dass die heutige Generation eher eine Offenheit gegenüber der eige- nen Sexualität als vorangegangene Generationen haben und andererseits ist es die Phase, in der immer noch die Selbstfindung in der Gesellschaft und sich selber gegenüber aktuell ist. Warum die Homosexualität ein weiterer Schwerpunkt ist, liegt am hohen Grade des Ta- bus, wobei es doch ein Bestandteil der Sexualität ist und somit nach dem Normalisierungs- prinzip zum Alltagsleben eines Menschen dazugehört. Der Nachweis, warum Krisen und geschlechtstypische Bewältigung dazu kommen, ist, dass sie ein hohes Entwicklungspoten- tial wie auch viele Hindernisse beinhalten, welche zu verstehen sind, um einen adäquaten Umgang zu fördern z.B. anhand von geeigneten Rahmenbedingungen und angemessenen Angebote der Sozialen Arbeit.

Die Aufteilung, welche Kapitel von welcher Autorin oder von welchem Autor verfasst werden, orientierte sich einerseits an der theoretischen und andererseits an der praktischen Erfah- rung. Die Autorin verfügt über vertieftes Wissen bezüglich Menschen mit kognitiver Beein- trächtigung auf Grund schulischer und praktischer Bildung, hingegen verfügt der Autor über vertieftes Wissen betreffend Homosexualität auf Grund seiner sexuellen Orientierung und seinen beruflichen Erfahrungen. Das gegenseitige Korrekturlesen wurde immer mit dem ge- schlechtergerechten Blick vorgenommen und dass eine mögliche Objektivität gewährleistet wird.

Mithilfe welcher Theorien wir dieses Phänomen erklären wollen und wieso diese Thematik als Phänomen zu sehen ist, zeigt das nachfolgende Unterkapitel auf.

1.5 Aktueller kritischer Diskurs und Literatur

Aufgrund dessen, dass wir eine Literatur- und keine Theoriearbeit verfassen, werden wir wegen der hohen Anzahl nicht alle Theorien und/oder Konzepte aufführen - wir begrenzen uns lediglich auf die wichtigsten Befunde und Aussagen, die wir innerhalb der Literatursuche und der Konzipierung der Bachelor-Thesis angetroffen haben. Es gibt also nicht die Theorie oder das Konzept, sondern mehrere, die hier segmentär vorgestellt werden. Einige davon übernehmen die Hauptrolle, während andere ergänzen- es handelt sich also um eine vielfäl- tige Durchmischung.

Der aktuelle wissenschaftliche Diskurs im deutschsprachigen Raum, der sich mit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und Homosexualität befasst, ist eine Minderheit. Die Suche nach Fachliteratur blieb fast erfolglos - es sind größtenteils nur englischsprachige Veröffent- lichungen vorhanden. Bei der Recherche haben wir lediglich eine einzige empirische Studie zum Thema Homosexualität und kognitive Beeinträchtigung gefunden, die sich eher auf Schwule und Lesben mit körperlicher Beeinträchtigung konzentrieren, bei der es explizit um Lebenslagen und -situation von dieser Personengruppe geht (siehe Rudolph 2001). Zu des- sen Ergebnissen kommen wir noch während dieser Arbeit zu sprechen. Aufgrund unserer Themeneinschränkung ließ sich diese Studie nicht als eine Hauptliteratur verwenden, wir gebrauchen jedoch diese Ergebnisse als empirische Ergänzung und/oder als Einführung in das Thema Homosexualität und kognitive Beeinträchtigung. Hingegen machten wir viele ver- schiedene Fachbücher über Sexualität und kognitive Beeinträchtigung ausfindig, die als Ba- sis zunutze gemacht werden.

Auf der weiteren Suche nach geeigneter Literatur, sind wir auf diverse Fachbücher über Ho- mosexualität oder kognitive Beeinträchtigung gestoßen. Das Ungleichgewicht der Quellen männlicher und weiblicher Homosexualität war immens. Unsere Erklärung dafür ist, weil Zeugnisse männlicher Homosexualität von der Antike bis in die heutige Zeit in weitaus grö- ßerer Anzahl als die der weiblichen Homosexualität vorhanden und Schwule in der Gesell- schaft präsenter sind, werden eher Bücher über die männliche Homosexualität verfasst. Dies bedeutet aber nicht, dass sich mehr Männer zu Männern hingezogen fühlen als Frauen zu Frauen, sondern es hängt eher von unterschiedlichen soziokulturellen Faktoren ab, von de- nen das Geschlecht eine zentrale Position einnimmt. Die Position der Frau in der Gesell- schaft erschwerte und erschwert die Möglichkeit, sich kulturell zu äußern. Da homo- und heterosexuelle Männer den besseren Zugang zum kulturellen und wissenschaftlichen Dis- kurs als Frauen hatten und haben, erstaunt die ungleiche Quellenlage nicht. Sie macht hin- gegen deutlich, dass die Geschichte der Homosexualität Teil der Geschlechtergeschichte ist. Andererseits gibt es ein Ungleichgewicht bei der Anzahl Quellen, weil Frauen (egal ob Hete- rosexuelle oder Homosexuelle), es schwieriger oder gar unmöglich hatten, sich durchzuset- zen, da die Gesellschaft nicht auf ihrer Seite stand. Mit Ausnahme von Sappho (siehe Kapitel3.2.1); Über sie wurde berichtet, wobei viele Jahrhunderte lang und sogar bis zur Neuzeit (genauer bis zur Frauenbewegung) blieben die Frauen/Lesben in der Literatur fast uner- wähnt. Aus diesen Gründen werden wir unterschiedliche Theorien nutzen, mit denen wir ver- schiedene Perspektiven der Homosexualität, angefangen mit der Geschichte, erläutern wer- den. Die literarischen Texte, die wir hier für den geschichtlichen Teil verwenden, können nicht ohne Probleme als autobiographische Zeugnisse interpretiert werden und dies nicht nur deshalb, weil der Begriff der Homosexualität ein Neologismus des 19. Jahrhunderts ist, son- dern weil die konstitutive Verbindung zwischen sexuellen Handlungen und Identität erst im18. und 19. Jahrhundert entstand.

Die Fachliteratur, die sich mit dem Thema kognitive Beeinträchtigung auseinandersetzt, ist fast endlos. Trotzdem konnten wir nur sehr wenig über den leichten Grad der kognitiven Beeinträchtigung ausfindig machen. Angesichts der bestehenden Definitionen von der WHO, die im Kapitel 2.1 mit weiteren Theoriesequenzen aus verschiedenen Theorien zu diesem Grad der Beeinträchtigung angegeben sind, haben wir ein Bild davon konstruiert, was unserer eigenen Leistung zugeschrieben werden kann (siehe Kapitel 2.1.3).

Über den Begriff des jungen Erwachsenenalters etwas ausfindig zu machen, war ebenso eine Herausforderung. Das einzig Aufgespürte waren die Konzepte nach Böhnisch (Lebens- bewältigung und Sozialisation), welche sich näher mit dem Begriff auseinander setzen. Er spricht von einer Lebensphase, die heutzutage immer mehr in den Vorschein gerät und die Aufmerksamkeit seitens der Sozialwissenschaft beansprucht. Eine Definition über diese Phase entspringt somit aus den Büchern von Böhnisch. Weitere Aufführungen sind Ansprü-che an unsere eigene Leistung, denn er macht kaum eine Verbindung zwischen jungem Erwachsenenalter und kognitiver Beeinträchtigung (siehe Kapitel 2.2).

Nachfolgend werden der Aufbau unserer Bachelor-Thesis und der Inhalt der einzelnen Dispositionen vorgewiesen.

1.6 Aufbau

Um die Basis einer Literaturarbeit zu schaffen, ist für das Verständnis bezüglich des gesam- ten Inhalts eine Begriffsklärung notwendig, mit der wir beginnen. Der Inhalt dieses Kapitels orientiert sich an unserem Untertitel, welcher die Eingrenzung unseres Erkenntnisinteres- sens und die wichtigsten Begrifflichkeiten repräsentiert. Für ein Vorverständnis bezüglich unseres Themas und dessen Komplexität, haben wir ein Kapitel verfasst, welches einen his- torischen und aktuellen Einblick gewährt in die Verbindung von Gesellschaft und Sozialer Arbeit bezüglich kognitiver Beeinträchtigung und (Homo-)Sexualität. Es wird ergänzt anhand von Befragungen, welche einen nicht repräsentativen Link in die Praxis von Institutionen und Betroffenen gewährleistet. Danach folgt der Einstieg in unser Thema anhand der Sozialisati- on und Bewältigung, welcher geschlechterspezifisch verfasst wurde. Er fördert das Ver- ständnis und wiedergibt Wissen betreffend des Aufwachsens eines Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und/oder homosexueller Orientierung. Hier werden vor allem die Sozialisa- tionskrisen abgehandelt, die je nach Geschlecht und Sozialisationsbedingungen unterschied- lich bewältigt werden. Zudem werden hier die geschlechtstypischen Bewältigungsmuster dargestellt sowie eine Verbindung zwischen Sozialisation, (Homo-)Sexualität und kognitiver Beeinträchtigung gemacht. Das darauffolgende Kapitel befasst sich mit der menschlichen Entwicklung anhand verschiedener Schwerpunkte, welche weitere Krisen und die Bedeutung von deren Bewältigungen des Menschen aufzeigen. Nachstehend ist ein Exkurs zum Thema Stigmatisierung in Verbindung mit Beeinträchtigung und Homosexualität eingegliedert, der als eine theoretische Einführung für ein besseres Verständnis und für eine Erklärung der zwei darauffolgenden Kapitel dient. Um die Krisen und Herausforderungen zu vertiefen, wird im sechsten und siebten Kapitel unter anderem auf die Stigmatisierung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung einerseits und auf die der Homosexualität anderseits im gesell- schaftlichen Kontext eingegangen. Diese zwei Kapitel sind eine weitere Vorarbeit für den relevantesten Abschnitt, welcher die Zusammenfügung sprich Zusammenschließung der kognitiven Beeinträchtigung und der Homosexualität beinhaltet. Dieses Hauptkapitel orien- tiert sich nun hauptsächlich an unserer Fragestellung und arbeitet diese auf. Anhand des darauffolgenden Kapitels folgt schließlich die Antwort auf unsere Fragestellung und eine Auseinandersetzung mit unseren Thesen. Das letzte Kapitel beinhaltet eine Kurzfassung des gesamten Inhaltes, wichtige Erkenntnisse für die Soziale Arbeit, sowie eine gemeinsame und individuelle Reflexion und zuletzt unsere Schlussfolgerungen.

Schließlich folgt noch eine Erläuterung betreffend der Art und Weise des Geschriebenen. Wortwörtliche Zitate werden in Anführungs- und Schlusszeichen und kursiv wiedergegeben. Neue Begrifflichkeiten, welche zum ersten Mal verwendet werden, sind in kursiver Schrift dargestellt. Hingegen sind die Namen aller Autoren und Autorinnen stets kursiv beschriftet. Bei der ersten Erwähnung wird der Name mit dem Vornamen des/der Autors/Autorin ergänzt, danach wird nur noch der kursiv geschriebene Namen erwähnt. Die Quellenhinweise und das Literaturverzeichnis wurden nach den allgemeinen Bestimmungen der Wegleitung zur Erstellung einer wissenschaftlichen Arbeit verfasst. Die Fußnoten dienen dazu, gewisse Beg- riffe und/oder Abkürzungen zu erklären anhand von erweiternden und vertiefenden, jedoch für den Inhalt nicht relevanten Ergänzungen. Alle verwendeten Abkürzungen werden im Ab- kürzungsverzeichnis in ausgeschriebener Form dargestellt. Überdies werden die Namen der Autorin (Rahel Oehrli) und/oder des Autors (Nikol Lulgjuraj) zum jeweiligen Kapitel oder Unterkapitel separat oder vereint, je nachdem, wer den betroffenen Abschnitt verfasst hat, im Inhaltverzeichnis registriert. Der Korrektheit und Gleichheit wegen verwenden wir in dieser Bachelor-Thesis jeweils die weibliche als auch die männliche Form.

2 Begriffsklärung

In diesem Kapitel beschreiben und erklären wir die signifikanten Termini für das Verständnis der vorliegenden Arbeit. Darunter fallen primär die Begriffe des Haupt- und Untertitel, die ebenso in unserer Fragestellung auftauchen und somit in der ganzen Arbeit präsent sind. Darüber hinaus werden wir jeweils, so weit wie möglich und je nach Relevanz, noch eine kurze Schilderung ihrer Entwicklungsgeschichte vornehmen, da diese ebenso das Verständnis und die Klärung eines Begriffs unterstützen können.

2.1 Kognitive Beeinträchtigung

Heutzutage wird von einigen Autorinnen und Autoren, zunehmend auch von Vertretern verschiedener pädagogischer Richtungen wie der Sonderpädagogik und der Sozialpädagogik, der Begriff kognitive Beeinträchtigung gegenüber des Begriffs geistige Behinderung bevorzugt und verwendet. Das folgende Unterkapitel soll die Unterschiede zwischen diesen beiden Termini erläutern sowie unsere Wahl des (unserer Meinung nach) fachspezifisch korrekten Gebrauchs vom Begriff kognitive Beeinträchtigung begründen mit einer kurzen Darstellung der geschichtlichen Entwicklung. Anschließend werden weitere wichtige Definitionen aus einer mehrperspektivischen Sichtweise aufgeführt.

Es wird zuerst aus der medizinischen Sicht geklärt, was unter Beeinträchtigung nach der ICF2 verstanden wird. Es wird nicht spezifisch auf die kognitive Beeinträchtigung eingegan- gen, sondern allgemein beschrieben, in welchen gesundheitlichen Kontexten eine Beein- trächtigung zu betrachten ist. Da wir uns in der Fragestellung auf die kognitive Beeinträchti- gung beziehen, folgt eine explizite Definition nach der ICD-103, die sich an der Intelligenz orientiert. Dazu werden der gesellschaftliche Aspekt sowie einige Definitionen eingebracht und erklärt, die in Verbindung mit Kommunikation und Interaktion sowie Entwicklung und Lernverhalten von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung stehen.

2.1.1 Vorbemerkung und Begriffswahl

Die WHO (2001) berechnet den Anteil Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung an der Ge- samtheit der Bevölkerung je Land nach einem fixen Prozentsatz, nämlich drei Prozent. In der Schweiz kommt man auf ca. 210'000 Personen. Ohne jegliche Differenzierungen sind in die- ser WHO-Berechnung alle Menschen berücksichtigt, die im weitesten Sinne von einer geisti- gen oder cerebralen Störung bis hin zu Lernschwächen betroffen sind. Von einer geistigen Behinderung im engeren Sinne, sind gemäß WHO-Erhebungen 30 Prozent aller Menschen in einem Land betroffen (vgl. ebd.). In der Schweiz wären dies ca. 63'000 Menschen. Eine verlässliche Statistik über die Anzahl von Menschen mit geistiger Behinderung existiert nicht. Im Übrigen ist die Häufigkeit der kognitiven Beeinträchtigung beim männlichen Geschlecht höher als beim weiblichen (vgl. Steinhausen 2000: 9f.). Zwei Drittel von den 30 Prozent sind junge Erwachsene mit einer kognitiven Beeinträchtigung und von den zwei Drittel gelten drei Fünftel als leicht kognitiv beeinträchtigt (vgl. Comer 2001: 474). Solange aber eine lückenlo- se, differenzierte Erfassung aller Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung in der Schweiz fehlt, dürfte unserer Schätzung nach die Zahl von 50'000 - 60'000 der Wahrheit vor- läufig am nächsten kommen. Wie viele davon eine homosexuelle Orientierung aufweisen, wurde wissenschaftlich nicht untersucht.

Der Begriff geistige Behinderung wurde Ende der 1950er Jahre eingeführt und von Eltern betroffener Menschen geprägt (vgl. Beer 2008: 7). Synonym zu geistiger Behinderung wur- den vor allem in der psychiatrischen Krankheitslehre Bezeichnungen wie Minderbegabung, geistige Entwicklungsstörung und Schwachsinn verwendet. Dabei wird der Schwachsinn mit Hilfe von Testverfahren zur Bestimmung eines Intelligenzquotienten (IQ4 ) in drei Ausprä- gungsgraden unterschieden: Debilität (IQ 69-50), Imbezilität (IQ 49-20) und Idiotie (IQ 19-0) (vgl. Vetter 1995: 50ff.). Ulrich Hensle schreibt in diesem Zusammenhang: "Abgesehen da- von, dass der Ausdruck 'Schwachsinn' sachlich nicht korrekt ist - es handelt sich ja nicht um einen Defekt der Sinne -, sind die Termini der psychiatrischen Klassifikation zum Teil mit so starken negativen Konnotationen behaftet, dass sie nur mehr als Diskriminierung aufgefasst werden können". (1988: 108) Dieser Aussage schließen wir uns an.

Obwohl sich der Terminus geistige Behinderung durchgesetzt hat, kann von keinem bündig klaren Begriff die Rede sein. Schon das Adjektiv behindert mit seinen unzähligen Definiti- onsmöglichkeiten, macht es der Wissenschaft unmöglich, Klarheit über diesen Begriff zu erlangen (vgl. Beer 2008: 7ff.). Das Wort Behinderung ist ebenfalls ein Wertbegriff, der sich daran definiert, was als normal wahrgenommen und beschrieben wird. Diesen Begriff und damit die Bezeichnung von Personen als geistig behindert sieht Georg Feuser als eine pure gesellschaftliche Projektion: „Es gibt Menschen, die wir aufgrund unserer Wahrnehmung ihrer menschlichen Tätigkeit, im Spiegel der Normen, in dem wir sie sehen, einem Perso- nenkreis zuordnen, den wir als ‚geistig behindert’ bezeichnen. (...) Die Aussage ‚geistige Be- hinderung’ ist eine auf einen anderen Menschen hin zur Wirkung kommende Aussage schlechthin.“ (1996: 18)

Einen Menschen wegen der gesellschaftlichen Zuschreibung einer Andersartigkeit mit der Bezeichnung geistig behindert zu versehen, bedeutet den so bezeichneten Menschen der Gefahr der Stigmatisierung und daraus resultierend der Diskriminierung, aber auch der Isola- tion auszusetzen. Behinderung wird allgemein in der Gesellschaft als Minusvariante mensch- lichen Lebens betrachtet, eben als der/die grundsätzlich andere, respektive ein/eine Behin- derte/r außerhalb gesellschaftlicher Normalität, der/die gewisse Dinge nicht kann, die Nicht- behinderten können. Das heißt, dass Behinderung als Effekt gesellschaftlicher Bedeutungs- zuweisungen, also als ein soziales und kulturelles Produkt gesehen werden kann (vgl. Wal- genbach et al. 2007: 18).

Wann und wie diese Etikette einem Menschen verpasst wird, hängt von gesellschaftlichen und individuellen Norm- und Wertvorstellungen ab, weil ein Mensch, wenn er in seinem Ver- halten und kognitiven und körperlichen Fähigkeiten von einer Norm abweicht, zum Behinder- ten werden kann (vgl. Haeberlin 1992: 28f.; Bleideck 1993: 14). Heutzutage wird dieser Beg- riff von vielen Kritikern (z.B. Feuser 1996; Schinner/Rottmann 1997; Lingg/Theunissen 2000 usw.) immer mehr in Frage gestellt, vor allem wegen seines stigmatisierenden und etikettie- renden Charakters. Feuser sagt dazu: „Was wir als ‚Behinderung’ fassen und an einem Menschen gering achten oder gar abqualifizieren, in der Regel aber als defizitär betrachten, ist Ausdruck einer Kompetenz; Ausdruck der Kompetenz, lebensbeeinträchtigende (bio- psycho-soziale) Bedingungen zum Erhalt der individuellen Existenz im jeweiligen Milieu ins System zu integrieren.“ (1996: 23)

Demzufolge kann man konstatieren, dass geistige Behinderung kein Tatbestand ist, sondern ein soziales Zuschreibungskriterium. Geistige Behinderung hebt den qualitativen Unterschied zwischen Geist und Gehirn oder zwischen geistigen Fähigkeiten und kognitiven Fähigkeiten hervor. Deswegen verzichten wir gänzlich auf den Begriff Behinderung. Weiter ist eine relati- onale Sicht unumgänglich, da die geistige Behinderung als Konstruktion und als Prozess der Konstruktion in sozialen Verhältnissen begriffen wird. Die sogenannte Natur des Defekts selbst ist eine soziale Konstruktion. Menschliche Natur ist immer soziale Natur, das Gehirn als soziales Organ ist auf humane Weltbedingungen angewiesen. Der Begriff der kognitiven Beeinträchtigung ist also in Abgrenzung zur geistigen Behinderung weniger diskriminierend und steht „für das Anliegen an eine ganzheitliche Sicht des Menschen und seiner Entwick- lung“ (FHA 2005: 48). Er bezeichnet den Umstand, dass die Entwicklungsfähigkeit und - möglichkeit eines Menschen aus somatischen oder psychischen Gründen beeinträchtigt sind (vgl. ebd.; Haeberlin 1992: 30). Und mit der Bestimmung einer kognitiven Beeinträchtigung„ist immer eine Entwertung des Entwicklungsprozesses, damit eine Entwertung des sich entwickelnden Menschen und in der Folge eine Kränkung des sich entwickelnden Menschen verbunden“ (Oberholzer 2003: 2).

In dieser Arbeit werden wir der Korrektheit und aufgrund oben genannter Gründe wegen ausschließlich den Terminus kognitive Beeinträchtigung benutzen. In verschiedenen Theo- rien, die wir zur Verfassung der Bachelor-Thesis benützen, wird oft der Begriff geistige Be- hinderung verwendet. Wir werden diesen jeweils im Text durch kognitive Beeinträchtigung ersetzen - mit der Ausnahme beim wortwörtlichen Zitat. Mit der Verwendung der Begriffe Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung sowie Lesben und Schwule mit kognitiver Beein- trächtigung soll außerdem eine Reduzierung der Personen auf ihre Beeinträchtigung vermie- den werden. Weiter wird in bestimmten Kapiteln erwähnt, dass es sich um Menschen mit Beeinträchtigung handelt. Hiermit sprechen wir von verschiedenen Beeinträchtigungen (psy- chisch, körperlich und/oder kognitiv).

Festzustellen ist, dass es verschiedene Zugangsweisen zu dem Begriff Behinderung resp. Beeinträchtigung gibt, die sich dem Problemkomplex beispielsweise aus medizinisch- defektologischer, lerntheoretischer oder kommunikationsorientierter Sichtweise nähern. Der Begriff der Beeinträchtigung ist zudem sehr relativ und es gibt keine definitive, allgemein anerkannte Definition, wann ein Mensch als beeinträchtigt diagnostiziert werden soll (vgl. Bleideck 1993: 12). Die folgenden Ausführungen sollen aufgrund der Vielschichtigkeit des Gegenstands exemplarisch verstanden werden. Im folgenden Unterkapitel werden vier Defi- nitionsansätze dargestellt, die aus einem psychologischen, medizinischen, soziologischen und aus einem pädagogischen Ansatz zu unterscheiden sind (vgl. Speck 1993: 45ff.).

2.1.2 Psychologische, medizinische, soziologische und pädagogische Sichtweise

In diesem Abschnitt gehen wir auf vier verschiedene Definitionsansätze von kognitiver Beeinträchtigung ein. Die Definition aus psychologischer Sicht liegt von Heinz Bach vor. Er definiert Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung als „Personen, deren Lernverhalten wesentlich hinter der auf das Lebensalter bezogenen Erwartung zurückbleibt und durch ein dauerndes Vorherrschen des anschauend-vollziehenden Aufnehmens, Verarbeitens und Speicherns von Lerninhalten und eine Konzentration des Lernfeldes auf direkte Bedürfnisbefriedigung gekennzeichnet ist, was sich in der Regel bei einem Intelligenzquotienten von unter 55/60 findet." (Bach 1979: 5) Diese erwähnte zeitliche Verzögerung wird beim Kapitel der menschlichen Entwicklung wieder aufgenommen.

Die medizinisch orientierte Sichtweise wird anhand der ICF vorgestellt und ist ein ausführli- cherer Abschnitt, da es alle Aspekte der menschlichen Gesundheit und einige gesundheits- relevante Komponenten des Wohlbefindens umfasst und diese in Form von Gesundheitsdo- mänen und mit Gesundheit zusammenhängenden Domänen beschreibt (vgl. DIMDI/WHO 2005: 8). Der Begriff der Funktionsfähigkeit eines Menschen umfasst alle Aspekte der funkti- onalen Gesundheit. Eine Person ist funktional gesund, vor dem Hintergrund ihrer Kontextfak- toren, wenn:

1. ihre körperlichen Funktionen und Körperstrukturen denen eines gesunden Menschen entsprechen,
2. sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsprobleme er- wartet wird,
3. ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang sich entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträch- tigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (vgl. ebd.: 4f.; Schuntermann 2007: 19f.).

Der Beeinträchtigungsbegriff der ICF ist der Oberbegriff zu jeder Beeinträchtigung der Funk- tionsfähigkeit eines Menschen. Funktionsfähigkeit ist ein Oberbegriff, der alle Körperfunktio- nen und Aktivitäten sowie Partizipation umfasst; entsprechend dient Beeinträchtigung als Oberbegriff für Schädigungen, Beeinträchtigung der Aktivität und Beeinträchtigung der Parti- zipation (vgl. Schuntermann 2007: 19f.). Die ICF listet darüber hinaus Umweltfaktoren auf, die mit den genannten Konstrukten in Wechselwirkung stehen. Auf diese Weise wird es dem Benutzer der Definition nach ICF ermöglicht, nützliche Profile der Funktionsfähigkeit, Beein- trächtigung und Gesundheit eines Menschen für unterschiedliche Domänen darzustellen. (vgl. ebd.)

Im folgenden Abschnitt wird ein Konzept der ICF zum Verständnis und zur Erklärung von Funktionsfähigkeit und Beeinträchtigung vorgestellt. Dieses beinhaltet ein medizinisches Modell und ein soziales Modell. Das medizinische Modell betrachtet Beeinträchtigung als ein Problem einer Person, welches unmittelbar von einer Krankheit, einem Trauma oder einem anderen Gesundheitsproblem verursacht wird. Das Management von Beeinträchtigung zielt auf Heilung, Anpassung oder Verhaltensänderung des Menschen ab. Der zentrale Anknüp- fungspunkt ist die medizinische Versorgung und vom politischen Standpunkt aus gesehen geht es grundsätzlich darum, die Gesundheitspolitik zu ändern oder zu reformieren. (vgl. DIMDI/WHO 2005: 24f.; Schuntermann 2007: 29f.) Das soziale Modell der Beeinträchtigung hingegen betrachtet Beeinträchtigung hauptsächlich als ein gesellschaftlich verursachtes Problem und im Wesentlichen als eine Frage der vollen Integration Betroffener in die Gesell- schaft. Hierbei ist Beeinträchtigung kein Merkmal einer Person, sondern ein komplexes Ge- flecht von Beeinträchtigungen, von denen viele vom gesellschaftlichen Umfeld geschaffen werden. Daher erfordert die Handhabung dieses Problems soziales Handeln, und es gehört zu der gemeinschaftlichen Verantwortung der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, die Umwelt so zu gestalten, wie es für eine volle Partizipation der Menschen mit Beeinträchtigung an allen Bereichen des sozialen Lebens erforderlich ist. Das zentrale Thema ist daher ein ein- stellungsbezogenes oder weltanschauliches, welches soziale Veränderungen erfordert. (vgl. ebd.) Vom politischen Standpunkt aus gesehen wird dieses Thema zu einer Frage der Men- schenrechte. Für dieses Modell ist Beeinträchtigung ein politisches Thema. Das Konzept der ICF basiert auf einer Integration dieser beiden gegensätzlichen Modelle. Um die verschiede- nen Perspektiven der Funktionsfähigkeit zu integrieren, wird ein biopsychosozialer Ansatz verwendet. Die ICF versucht eine Synthese zu erreichen, die eine kohärente Sicht der ver- schiedenen Perspektiven von Gesundheit auf biologischer, individueller und sozialer Ebene ermöglicht. (vgl. ebd.) Um die kognitive Beeinträchtigung spezifischer zu definieren, bezeich- net der Begriff kognitive Beeinträchtigung nach ICD-10 einen andauernden Zustand deutlich unterdurchschnittlicher kognitiver Fähigkeiten eines Menschen, wie z.B. Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten, sowie damit verbundene Einschränkungen seines affek- tiven Verhaltens (vgl. Dilling et al. 2000: 254; DIMDI/WHO 2009: 212f.). Eine Diagnose der kognitiven Beeinträchtigung bezieht sich oft auf die Messung einer deutlichen Intelligenzmin- derung mit Hilfe standardisierter Intelligenztests. Ein Intelligenzquotient (IQ) im Bereich von70 bis 85 ist unterdurchschnittlich; in diesem Fall spricht man von einer Lernbehinderung (vgl. DIMDI/WHO 2009: 212f.). Ein IQ unter 70 bedingt dann die Diagnose der kognitiven Beeinträchtigung. Eine eindeutige und allgemein akzeptierte Definition ist jedoch schwierig. (vgl. ebd.) Medizinisch orientierte Definitionen sprechen von einer Minderung oder Herabset- zung der maximal erreichbaren Intelligenz (vgl. ebd.; Comer 2001: 474). So bezeichnet auch die ICD-10 dieses Phänomen als Intelligenzminderung (F70-79) (vgl. Dilling et al. 2000: 254f.; DIMDI/WHO 2009: 212f.). Demnach lässt sich - rein auf die Intelligenz bezogen - eine kognitive Beeinträchtigung quasi als Steigerung und Erweiterung der Lernbehinderung ver- stehen (vgl. ebd.; Comer 2001: 477). Die ICD-10 - Klassifikation teilt die kognitive Beein- trächtigung in verschiedene Grade ein: leichte, mittelgradige, schwere, schwerste kognitive Beeinträchtigung und dissoziierte Intelligenz. Die leichte kognitive Beeinträchtigung wird in der ausführlicheren Beschreibung so ausgelegt, dass die Betroffenen Schwierigkeiten in der Schule haben und als Erwachsene die Intelligenz dem Alter entsprechend von 9 bis 12 Jah- ren erreichen. Viele Erwachsene können arbeiten, gute soziale Beziehungen pflegen und ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten (näheres dazu im Kapitel 2.1.3). (vgl. DIMDI/WHO 2005)

Nach soziologischem Ansatz ist der Bezug von Menschen mit Beeinträchtigung und Gesell- schaft ein wichtiges Faktum, das viele Theoretiker im Blick haben (z.B. Jantzen 1992, Feuser 1996, Seifert 1997 usw.). Wolfgang Jantzen zum Beispiel sieht diesen Bezug wie folgt: „Be- hinderung kann nicht als naturwüchsig entstandenes Phänomen betrachtet werden. Sie wird sichtbar und damit als Behinderung erst existent, wenn Merkmale und Merkmalskomplexe eines Individuums aufgrund sozialer Interaktion und Kommunikation in Bezug gesetzt wer- den zu gesellschaftlichen Minimalvorstellungen über individuelle und soziale Fähigkeiten. Indem festgestellt wird, dass ein Individuum aufgrund seiner Merkmalsausprägung diesen Vorstellungen nicht entspricht, wird Behinderung offensichtlich, sie existiert als sozialer Ge- genstand erst von diesen Augenblick an.“ (1992: 18) Dieser Interpretation nach kann Beein- trächtigung nicht als eine dem Individuum innewohnende Eigenart verstanden werden, viel- mehr wird Beeinträchtigung erst in der Interaktion mit der Umwelt und ihren Ansprüchen zur Beeinträchtigung- sie entsteht demgemäß stets erst im gesellschaftlichen Kontext.

Die hier genannten Definition sowie andere Erklärungen, sind negativ behaftet und eher defi- zitorientiert. Deswegen fügen wir abschließend eine Definition nach Otto Speck ein, die im oder beim pädagogischen Aspekt den Schwerpunkt setzt und als weniger defizitorientiert zu betrachten ist. Speck sieht in einer kognitiven Beeinträchtigung "spezielle Erziehungsbedürf- nisse, die bestimmt werden durch eine derart beeinträchtigte intellektuelle und gefährdete soziale Entwicklung, dass lebenslange pädagogisch-soziale Hilfen zu einer humanen Le- bensverwirklichung nötig werden." (1993: 62) Diese Definition unterstützen wir mit der Be- gründung, dass nicht der Mensch als Defizit dargestellt wird, sondern dass aufgrund der ko- gnitiven Beeinträchtigung Defizite und somit spezielle Bedürfnisse entstehen.

Im folgenden abschließenden Unterkapitel werden wir genauer auf die Definition der leichten kognitiven Beeinträchtigung eingehen, weil diese für unsere Arbeit von Belang ist.

2.1.3 Zum Begriff leichte kognitive Beeinträchtigung

Entsprechend dem Begriff der kognitiven Beeinträchtigung beschreibt der Begriff leichte ko- gnitive Beeinträchtigung den Umstand, dass die Entwicklungsfähigkeiten und -möglichkeiten leicht beeinträchtigt sind. Einerseits orientieren wir uns an diesem Grad der kognitiven Beein- trächtigung wegen unserer beruflichen Erfahrung und andererseits verlangt es nach einer Definition, weil die Entwicklung eines Menschen mit leichter, mittelgradiger, schwerer oder schwerster kognitiver Beeinträchtigung differenziert betrachtet werden muss. Wie schon er- wähnt, entspricht der kognitive Entwicklungsstand eines Erwachsenen mit einer leichten ko- gnitiven Beeinträchtigung nach der ICD-10 dem kognitiven Entwicklungsstand resp. Niveau der kognitiven Fähigkeit eines neun bis unter zwölf Jahre altem Kind (siehe Kapitel 2.1.2). Er weist deutliche Entwicklungsverzögerungen in der Kindheit auf und braucht in unterschiedli- chem Masse Unterstützung im Leben. Viele Menschen mit einer leichten kognitiven Beein- trächtigung können aber eine hohe Unabhängigkeit in der Selbstversorgung (Essen, Wa-schen, Anziehen, Darm- und Blasenkontrolle) und in praktischen, häuslichen Tätigkeiten erlangen (vgl. Dilling et al. 2000: 256). Diese Gruppe der Menschen mit einer leichten kogni- tiven Beeinträchtigung macht etwa 85 Prozent der Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung aus (vgl. Comer 2001: 477). Man bezeichnet diese Gruppe auch als schulfähig, da sie im Vorschulalter soziale und kommunikative Fähigkeiten entwickeln können (vgl. ebd.). Die Entwicklung der Sprache kann sich zwar verzögern, aber in einem ausreichenden Umfang für die tägliche Anforderungen, wie z.B. alltägliche Konversation. Die größten Schwierigkei- ten sind beim Lesen und Schreiben festzustellen. (vgl. Dilling et al. 2000: 256) In der Adoles- zenz ist der Erwerb von Schulkenntnissen bis nahe zur sechsten Klasse möglich, und im Erwachsenenalter können sie mit ihren sozialen und beruflichen eher praktischen als schuli- schen Fähigkeiten durchwegs ihre Grundbedürfnisse erfüllen (vgl. ebd.; Comer 2001: 477). Das heißt, dass sie einem Beruf in sehr einfachen Tätigkeiten nachgehen können - häufig eine ungelernte oder angelernte Handarbeit in einer geschützten Werkstatt. Eine kognitive Beeinträchtigung dieses Grades ist meist erst bei der Einschulung des Kindes diagnostizier- bar und anscheinend verbessert sich die intellektuelle Leistung mit steigendem Alter; es ist sogar möglich, dass einige Personen nach dem Schulabschluss das Etikett ganz abstreifen, was ihnen erlauben kann, ein autonomes Leben zu führen. Es gbt einige Faktoren, die zu leichter kognitiven Beeinträchtigung führen können, wie z.B. mangelnde Anregung durch die Umwelt, inadäquate Eltern-Kind-Interaktionen und ungenügende Lernerfahrungen. (vgl. Co- mer 2001: 477) Daneben spielen zumindest auch einige biologischen Faktoren eine wichtige Rolle, wie z.B. Alkohol- oder Drogenkonsum oder Unterernährung der Mutter während der Schwangerschaft, auch die Unterernährung in der Kindheit kann das Risiko erhöhen. All dies kann das intellektuelle Potenzial des Kindes schmälern (vgl. ebd.). Die emotionale und sozia- le Schwierigkeiten sowie ihre Behandlung und Betreuung bei dieser Gruppe ähneln denjeni- gen bei Menschen mit durchschnittlicher Intelligenz: wenn aber eine Unreife in diesem Punkt besteht, können die Betroffenen den Anforderungen einer Ehe oder der Kindererziehung nicht nachkommen (vgl. Dilling et al. 2000: 256). Daraus lässt sich schließen, dass Men- schen mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung ihre sexuellen Bedürfnisse erfüllen so- wie eine Liebesbeziehung führen können, unabhängig davon, ob es um gleichgeschlechtli- che Liebe geht oder nicht. Die Aussage von Dilling bezüglich der Überforderung von Ehe und Kindererziehung wird in verschiedenen Kapiteln unserer Thesis aufgenommen unter dem Aspekt der Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen.

2.2 Junges Erwachsenenalter

Die Lebensphase Jugend ist heutzutage sowohl in Bezug auf ihren Beginn als auch auf ihr Ende, resp. dem Übergang ins Erwachsenen- und Erwerbsalter, schwer abgrenzbar. Somit kann im Altersbereich der jungen Erwachsenen schon lange nicht mehr ausgemacht werden, wann Jugend aufhört und das Erwachsensein beginnt. (vgl. Böhnisch 2005: 139) Diese Komplexität wird durch diese unklaren Übergangskonturen des Erwachsenen- und Erwerbs- alters verstärkt. Hier spielt auch die kognitive Beeinträchtigung eine große Rolle, die diese unklare Grenze noch mehr ausdehnen kann, weil die Entwicklung bei Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung nicht unbedingt dem biologischen Alter entspricht. Vor diesem Hintergrund ist es fast unmöglich, nach einer klaren Definition des Begriffs zu streben. Trotz- dem versuchen wir den Begriff junge Erwachsene so weit wie möglich zu präzisieren.

2.2.1 Zum Begriff junge Erwachsene

„Aus sozialpädagogischer Warte betrachten wir die Jungen Erwachsenen also vom Ende der Jugendphase aus“. (Böhnisch 2005: 203) Dieser Altersbereich dehnt sich heutzutage auf die Altersgruppe von den 18- bis 25-Jährigen aus. Einerseits wollen junge Erwachsene keine Jugendliche mehr sein, anderseits fühlen sie sich auch noch längst nicht mit der Erwachsenenwelt verbunden. Das heißt, dass sie sowohl Lebensmuster aus der Jugendzeit beibehalten wollen als auch ihre Eigenständigkeit materiell und sozial demonstrieren: durch einen eigenen Lebensstil, die Versorgung, den Aufbau sozialer Netze und primär durch einen eigenen Wohnung. (vgl. ebd.)

Anschließend wird die Begriffsklärung junge Erwachsene mit dem Begriff der kognitiven Beeinträchtigung erweitert und angepasst.

2.2.2 Zum Begriff junge Erwachsene mit leichter kognitiver Beeinträchtigung

Nun soll der Begriff junge Erwachsene mit dem Begriff leichte kognitive Beeinträchtigung zusammen geführt und nochmals genauer erklärt werden, da nun auch die Perspektive der Entwicklungspsychologie eine Rolle spielt. Wie schon im Kapitel 2.1.1 erwähnt, sind ungefähr drei Fünftel aller Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung leicht beeinträchtigt und davon sind zwei drittel junge Erwachsene. Zwei wichtige Unterschiede bestehen im Gegensatz zu jungen Erwachsenen ohne kognitive Beeinträchtigung: die Mündigkeit und die Entwicklung. In unserer Gesellschaft ist es häufig der Fall, dass Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung gesetzlich bevormundet werden, z.B. durch die Eltern, Angehörige oder einer Amtsperson der Gemeinde. Weiter kann sich auch ein Unterschied ergeben, dass die Entwicklung verzögert erfolgt. Somit kann es sein, dass ein junger erwachsener Mensch mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung eine andere Entwicklungsaufgabe vor sich hat als ein junger Erwachsener ohne Beeinträchtigung (siehe Kapitel 5). Auf Grund dessen erweitern wir die Altersgrenze auf 18- bis 30-Jährige.

Nachfolgend widmen wir uns der Begriffsklärung der Homosexualität, um die Beschreibung unserer Zielgruppe zu vervollständigen.

2.3 Homosexualität

Homosexualität als Begriff ist heutzutage bekannt. Die Unterschiede in dem, was darunter verstanden wird, sind von Land zu Land sowie von Kultur zu Kultur gravierend. Die einen verbinden sie mit Sündhaftigkeit oder Krankheit und andere sprechen eher von einer Form der modernen und normalen Sexualität. Für diese bestehende Diskrepanz sind vielfältige Gründe zu nennen, die in einer Gesellschaft, Kultur sowie Religion verankert sind. Politisch betrachtet wird Homosexualität in westlich-europäischer Gesellschaft als Machtkategorie gesehen, die materiell, politisch, kulturell und sozial strukturiert ist (vgl. Walgenbach et al. 2007: 17). Im Kapitel 3.2.1 werden wir die gesellschaftliche Entwicklung bezüglich Homose- xualität und damit die Entwicklung des Begriffs detaillierter behandeln. In diesem Kapitel ist uns primär wichtig, die Begriffe Homosexualität, Lesben und Schwule zu definieren sowie die feinen Unterschiede zwischen der Homosexualität der Frau und des Mannes transparent zu machen.

2.3.1 Zum Begriff Homosexualität

Der Begriff Homosexualität ist älter als der Begriff der Heterosexualität. Man kann sogar be- haupten, dass die Homosexualität so alt wie die Menschheit ist, die bis in die Antike zurück- geht, jedoch dazumal anders benannt und verstanden wurde (siehe Kapitel 3.2.1). Er findet seinen Ursprung im Jahre 1869, der so vom österreichischen Journalisten, Schriftsteller und Menschenrechtler Karl Maria Benkert (alias Karoly Maria Kertbeny) formuliert wurde (vgl. Vetter 2006: 13; Rauchfleisch et al. 2002: 17; Jagose 2005: 95). In der Antike wurde Homo- sexualität ohne Lob und Tadel als etwas Seiendes begriffen. Einige Griechen und Römer verherrlichten Homosexualität sogar als die höchste Form zwischenmenschlicher Liebe (vgl. Vetter 2006: 14). In dieser Zeit wurde Homosexualität als ein natürliches und elementares„Verlangen nach dem gleichen Geschlecht“, also als eine „tiefstmögliche Freundschaft und Liebe zwischen Angehörigen des gleichen Geschlechts“ gesehen (ebd.: 15). Generell versteht man unter Homosexualität „die geschlechtliche Neigung von Männern zu männlichen und von Frauen zu weiblichen Personen.“ (Hirschfeld 2001: 3; vgl. Jagose 2005: 19) Das klassische Wort homosexuell ist eine Kombination griechischer und lateinischer E- lemente: das Präfix homo stammt vom griechischen Adjektiv homós (gleich) und das Grundmorphem sexuell vom lateinischen Substantiv sexus (Geschlecht) (vgl. Duden 1989: 290). Homosexualität kann als eine Kombination essentialistischer und konstruktivistischer Annahmen verstanden werden, weil sowohl anti-homophobe als auch homophobe5 Gruppen die Positionen beider Annahmen vertreten: der Essentialismus betrachtet Identität als natür- lich, fest und angeboren. Das heißt, dass manche Menschen von Geburt an homosexuell sind (angeborene Homosexualität). Der Konstruktivismus hält die Identität für veränderlich und sieht in ihr ein Ergebnis sozialer Konditionierung und der kulturell verfügbaren Modelle. Das bedeutet, dass die Homosexualität auf die eine oder andere Weise erworben ist (psy- chologische Homosexualität). (vgl. Jagose 2005: 20ff.) Dieser Diskurs, ob es sich bei Homo- sexualität um eine angeborene oder um eine psychologische Gegebenheit handelt, ist nicht abgeschlossen und wird es vielleicht auch nie sein.

Die Literatur über Homosexualität bezieht sich normalerweise auf eine Kombination von vier Verhaltenskomponenten: erotische Phantasien, sexuelle Handlungen mit anderen, wahrge- nommene Identität und soziale Rolle (vgl. Friedmann 1993: 3). Richard Friedmann selbst sieht diese Gegebenheit kritisch: Er ist der Meinung, dass eine derartige Aufteilung viele Menschen, die nur einige Verhaltensweisen aufzeigen, automatisch ausschließt und dies kann für die einen oder anderen ungerecht sein. Ob es sinnvoll ist, eine solche Aufteilung zu machen, kommt ganz darauf an, was man alles unter Homosexualität verstehen möchte. Wir stehen dem skeptisch gegenüber, weil unserer Meinung nach nicht jeder Mensch (sei dieser homosexuell oder heterosexuell) alle vier Komponenten gleichzeitig aufweisen kann auf- grund seiner kognitiven, physischen und psychischen Ressourcen, aber auch sozialen und kulturellen Bedingungen - der sich ständig entwickelnde Mensch ist immer auf der Suche nach einer eigenen Identität.

Synonyme der Homosexualität stehen viele zur Verfügung: gay, homo, queer, Homoerotik, Menschen mit homosexueller Orientierung, Schwule und Lesben usw. Keine der existieren- den Begriffe ist in der Lage, die Lebenswirklichkeit eines Menschen mit homosexueller Ori- entierung in ihrer ganzen Vielschichtigkeit in umfassender Weise abzubilden. Das Wort gay kommt aus dem Provenzalischen gai und wurde im 13. und 14. Jahrhundert zur Kennzeich- nung der höfischen Liebe und ihrer Literatur verwendet - der Kult der höfischen Liebe in Südfrankreich war eine für schwule Sexualität bekannte Gegend und die Poesie der Trouba- douren war ausgesprochen homosexuell orientiert (vgl. Boswell 1980: 43). Gay dient als po- sitive Selbstbezeichnung von Schwulen, aber auch von Schwulen und Lesben gemeinsam (vgl. Jagose 2005: 10). Erst im 20. Jahrhundert wurde dieser Begriff in der englischen homo- sexuellen Subkultur als eine Art Geheimwort üblich (vgl. Boswell 1980: 43). Die deutsche Übersetzung lautet schwul aber auch homo. Die Begriffe gay und homo meinen „eine subkul- turelle Geste der Selbstbehauptung gegen den tendenziell medizinischen Begriff ‚homose- xuell’; ebenso wie gay wohnt auch ‚homo’ eine starke Tendenz inne, Lesben unsichtbar zu machen.“ (Jagose 2005: 10)

Kaum ein Begriff ist während der 1990er Jahre in der Politik sowie in der Akademie so ange- nommen worden wie queer, seine Bedeutung kennt aber kaum jemand. Ins Deutsche über- setzt bedeutet dieser: fragwürdig, sonderbar oder Falschgeld (vgl. ebd.: 9; Walgenbach et al. 2007: 17f.). Früher war dieser Begriff auf der einen Seite ein umgangssprachlicher Ausdruck für homosexuell und auf der anderen Seite ein homophobes Schimpfwort. In der letzten Zeit wird dieser als Sammelbegriff für ein politisches Bündnis sexueller Randgruppen und zur Bezeichnung eines neuen theoretischen Konzepts gebraucht (vgl. Jagose 2005: 13). Wenn man das Wort Homosexualität, Homosexuelle oder homosexuell verwendet, so wird damit der Anschein erweckt, als stünde Sex in einem solchen Masse im Vordergrund, dass er alle anderen Eigenschaften dieser Menschen dominiere (vgl. Vetter 2006: 11; Rauch- fleisch 2001: 8). Obschon diese Begriffe beide Geschlechter bezeichnen, verband man das Adjektiv homosexuell mit der Vorstellung von männlicher Homosexualität; ebenso eignet es sich als Substantiv besser für Männer als für Frauen. Die Assoziation zum lateinischen homo (Mensch, Mann) mag hier einen konnotativen Einfluss haben. Die Benützung des Wortes homoerotisch hat ebenfalls eine stark eingeschränkte Sicht, denn damit würden die eroti- schen Aspekte unangemessen gewichtet und die ganze sexuelle Dimension wird dadurch ausgeklammert (vgl. Rauchfleisch 2001: 9).

In der Fachliteratur wird die Formulierung Menschen mit homosexueller Orientierung des Öfteren benützt - diese Formulierung reduziert diese Menschen genau so auf ihre Sexualität. Sowohl in der Öffentlichkeit und in der Literatur, aber auch von Homosexuellen selbst werden die Begriffe Schwule und Lesben verwendet, die jedoch Unbehagen auslösen können, weil diese ursprünglich in der Umgangsprachen als diskriminierende Begriffe für diese Gruppe galten (vgl. ebd.; Jagose 2005: 9).

Die oben aufgeführten Überlegungen haben uns dazu motiviert, in dieser Arbeit einerseits von Homosexualität und/oder homosexueller Orientierung als zwei Hauptbegriff und ander- seits von Lesben und Schwulen zu sprechen. Wenn wir von Homosexualität sprechen, ge- hen wir von einem Kontinuum aus, auf dem das homosexuelle Erleben und Verhalten be- schrieben werden kann und eben nicht zur Kennzeichnung von Individuen. Egal für welche Terminologie wir uns auch entschieden hätten, es wäre immer ein gewisses Unbehagen be- stehen geblieben. Es erscheint uns sinnvoll, von Schwulen und Lesben zu sprechen, weil sie einerseits selber diese Termini verwenden, die im Rahmen der Identitätsfindung eine wichti- ge Rolle spielen und andererseits die Lesben nicht unsichtbar machen im Vergleich zu ande- ren Begriffen. (vgl. Rauchfleisch 2001: 8f.) Unser Anliegen ist es, Schwule und Lesben so weit wie möglich zu trennen und separat abzuhandeln, damit wir die feinen Unterschiede bei der Entwicklung und Sozialisation herausbekommen können, die wiederum für die Unter- schiede bei der Lebensbewältigung relevant sein können. Einen Grund zur getrennten Be- trachtung nennt Jeffrey Weeks, der behauptet, dass „Schwule und Lesben (...) nicht zwei Geschlechter innerhalb einer sexuellen Kategorie“ sind. „Sie haben unterschiedliche Ge- schichten, die sich deshalb unterscheiden, weil die komplexe Organisation männlicher und weiblicher Identitäten genau anhand der Frage von Geschlecht verläuft.“ (1985: 203) (siehe Kapitel 3.2.1)

Nachfolgend erläutern wir näher die Begriffe Lesben und Schwule, die wir ausschließlich zur Kennzeichnung von weiblichen und männlichen Personen, die sich auf die Personen des gleichen Geschlechts emotional und sexuell angezogen fühlen, benützen.

2.3.2 Zum Begriff Lesbe

Das Substantiv Lesbe sowie das Adjektiv lesbisch leiten sich von der griechischen Insel Lesbos ab, die sich im ostägäischen Meer befindet. Die antike griechische Dichterin Sappho, die im 6. Jh. v. Chr. auf Lesbos lebte, hatte in ihren Gedichten die Liebe zwischen Frauen besungen, auch wenn ihre eigene sexuelle Orientierung bis heute umstritten ist (vgl. Feustel 2003: 14f.; Duden 1989: 416). In der Antike wurde für weibliche Homosexualität sowohl von den Griechen, als auch von den Römern unter anderem das Wort tribas verwendet, welches in verschiedenen Formen wie der des Tribadismus6 bis Mitte des 20. Jh. verwendet und mit der Zeit eine immer engere Bedeutung bekommen hat (vgl. Marle 1932). Bis in die 1970er Jahre war in der lesbischen Subkultur im angloamerikanischen Sprachraum die Unterteilung in Butches für betont maskulin auftretende Frauen, und Femmes für betont weiblich auftretende Frauen durchaus gängig. Die Unterscheidung zwischen Butch und Femme galt nach dem Aufkommen des Feminismus während der 1970er und 1980er Jahre als politisch nicht korrekt und wurde in der Lesbenszene abgelehnt. Seit Mitte der 1990er Jahre tauchen die Konzepte Butch und Femme wieder vermehrt in der lesbischen Subkultur auf. Keineswegs aber fühlen sich alle Lesben einer der beiden Gruppen zugehörig, es gibt auch Switcher, die einmal die eine und mal die andere Rolle einnehmen und Lesben, die beide Kategorien für nicht sinnvoll halten. Die Kategorien sind vor allem vor dem Hintergrund der Kategorienkritik der Queer Theory umstritten. (vgl. Jagose 2005)

Der Begriff Lesbe wird von uns bewusst verwendet, da weitere Begriffe wie „Frauen mit homosexueller Orientierung oder Homoerotik nicht in der Lage sind, die Lebenswirklichkeit eines homosexuellen Menschen in ihrer ganzen Vielschichtigkeit in umfassender Weise abzubilden“ (Rauchfleisch 2001: 8). Auf simple Art übersetzt bedeutet der Begriff Lesbe resp. lesbisch eine Frau, die eine Liebesbeziehung zu einer anderen Frau auf emotionaler und/oder sexueller Basis lebt oder leben möchte (vgl. ebd.: 15f.; Federman 1990: 16). Es ist unserer Meinung nach der gleiche Versuch, die Heterosexualität einer Frau zu definieren.

2.3.3 Zum Begriff Schwule

Eine gesellschaftlich vermittelte Definition des Schwulen lautet: „feminin, weich, nur für künstlerische Berufe tauglich, oberflächlich, total vom Sex besessen, unfähig für dauerhafte Beziehungen, narzisstisch und exaltiert“. (Siems 1984: 19; vgl. Rauchfleisch 2001: 20ff.) Heutzutage ist diese Formulierung tendenziell mit Negativ-Bildern behaftet, was politisch sowie ethisch unkorrekt und falsch ist, weil dies vom Grundsatz her nicht stimmt - es gibt den männlichen schwulen Mechaniker, den weiblichen schwulen Coiffeur und unzählige an- dere Erscheinungsbilder, die nicht per se negativer Art zwischen den beiden Polen sein muss. (vgl. Vetter 2006: 9ff.) Diese gesellschaftliche Vermittlung resp. Etikettierung ist heut- zutage noch vernehmbar - dies hat mit der Tatsache zu tun, dass diese negativen gesell- schaftlichen Werte sehr tief in einer Person verinnerlicht sind, sodass es schwierig ist, diese zu eliminieren. Dies hat zur Folge, dass gegenüber dieser Gruppe (und auch den Lesben) Stigmatisierungs- sowie Diskriminierungsprozesse bestehen bleiben können.

Das Adjektiv schwul wurde laut Duden im 17. Jh. aus dem Niederdeutschen ins Hochdeutsche übernommen und im 18. Jh. zu schwül umgelautet. Seine Bedeutung ist drückend heiß. (vgl. Duden 1989: 661) Seit dem 19. Jahrhundert wird schwul als missbilligender Begriff für homosexuell verwendet. Man assoziierte also mit schwul einen Triebzustand, der keine wirkliche Befreiung erfährt, sondern einen Dauerzustand darstellt. Das Wort gay wird mit schwul übersetzt, wobei gay beide Geschlechte umfasst. Andere veraltete, ungeeignete und/oder diskriminierende Synonymbegriffe zu Schwuler sind: Warmer Bruder, Warmer, Uranist, Homophiler, Androphiler, Kinäde usw. (vgl. Wahrig 2002: 348).

Im nächsten Kapitel beschäftigen wir uns mit dem Begriff des Coming-out, die bei der Lebensbewältigung von Lesben und Schwulen eine essenzielle Rolle spielen.

2.4 Doppeltes Coming-out

Dieser Begriff ist selten in der deutschsprachigen Literatur anzutreffen. Wenn er auftaucht, dann meistens in Bezug auf Schwule. Diese einseitige Darstellung überwinden wir, indem wir betonen, dass das Coming-out ein Prozess der Lesben wie auch der Schwulen darstellt und indem wir eine Erweiterung bezüglich Coming-out bei Menschen mit kognitiver Beeinträchti- gung vornehmen. Deswegen lässt sich behaupten, dass der Terminus des doppelten Co- ming-out als ein Novum und ein Phänomen überhaupt in der Sozialen Arbeit angeschaut werden darf, mit dem wir uns in dieser Arbeit spezifisch auseinandersetzen werden.

Die folgenden zwei Unterkapitel zeigen unser Verständnis auf, angefangen mit einer allgemeinen Definition des Coming-out, sowie der Definition des doppelten Coming-out.

2.4.1 Zum Begriff Coming-out

Das Wort Coming-out (aus dem engl. to come out of the closet, wörtlich: aus dem Kleider- schrank herauskommen) bedeutet absichtliches, bewusstes Öffentlichmachen von etwas eigenem (vgl. Wahrig 2002: 323), insbesondere der eigenen Homosexualität, aber auch der Beeinträchtigung usw. Unter Coming-out wird der für die schwule und lesbische Entwicklung entscheidende Prozess verstanden, der einerseits eine innerpsychische Komponente des Erkennens und Akzeptierens der eigene Homosexualität enthält (das Eingestehen sich selbst gegenüber - inneres Coming-out) und anderseits eine soziale Dimension beinhaltet, welche die eigene sexuelle Orientierung einem mehr oder weniger ausgewählten Kreis von Bezugspersonen offen legt (sich offen legen der Gesellschaft gegenüber - äußeres Coming- out) (vgl. Wiesendanger 2005: 8; Rauchfleisch 2001: 76; Siems 1984: 26; Brockhaus 2001: 247). „Die beiden Dimensionen lassen sich, obwohl verschieden, nicht voneinander trennen; sie hängen eng miteinander zusammen und bedingen einander.“ (Rauchfleisch et al. 2002: 38) Dies bedeutet, dass die eigene Gewissheit, lesbisch oder schwul zu sein, die Vorausset- zung dafür ist, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Dabei ist sehr bedeutsam zu konstatieren, dass das Coming-out letztlich ein lebenslanger Prozess sein kann. Näheres über die Co- ming-out-Prozesse sowie -phasen berichten wir im sechsten und siebten Kapitel.

Anhand der vorangegangenen theoretischen Inputs und den Ergebnissen, die eine wissenschaftliche Studie in Deutschland (siehe Rudolph 2001) ergeben hat, erlauben wir uns im nächsten Schritt, die Definition vom doppelten Coming-out selber zu übernehmen.

2.4.2 Zum Begriff doppeltes Coming-out

Unter doppeltem Coming-out verstehen wir allgemein einen Prozess des inneren und äuße- ren Coming-out bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und homosexueller Orientie- rung und die daraus resultierenden periodischen Verläufe und Bewältigungen. Lesben und Schwule mit Beeinträchtigungen (körperlich, kognitiv und/oder psychisch) be- richten, dass ihre Lebenssituation grundsätzlich durch das Phänomen des doppelten inneren und äußeren Coming-out geprägt sei: Einerseits erlebe man in den Gruppen von Menschen mit Beeinträchtigungen die Ausgrenzung als Mensch mit einer homosexuellen Orientierung und andererseits werde man in der Schwulen- sowie Lesbischenszene als Mensch mit einer Beeinträchtigung ausgegrenzt, wenn man sich als schwul, lesbisch oder/und beeinträchtigt bekennen würde. Betroffene stellen somit eine Minderheit in der Minderheit dar. Menschen mit Beeinträchtigungen wird allgemein Sexualität tendenziell abgesprochen. Somit können die Vorbehalte gravierend sein gegenüber der Homosexualität, was sich wiederum auf Be- ziehungen, somit auch auf die Beziehung zu Professionelle der Sozialen Arbeit, negativ auswirken kann. Das heißt, dass es für Lesben und Schwule mit Beeinträchtigungen schwie- rig ist, sich im Abhängigkeitsverhältnis gegenüber Institutionen und Professionellen der Sozi-alen Arbeit zu ihrer Identität zu bekennen. So besteht z.B. gegenüber den Professionellen die Angst, dass die Begleitung und Unterstützung nicht in derselben Qualität erhalten bleibt, wenn man sich outet. (siehe Rudolph 2001)

Da es keine Literatur im deutschsprachigen Raum gibt, die das Coming-out bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung definiert, formulieren wir die Definition dieses Phänomens in Anlehnung an bestehende Definitionen des Coming-out bei Schwulen und Lesben mit unseren eigenen Worten. In den zwei nächsten Abschnitten geben wir zuerst eine kurze und exakte Abfassung des inneren und äußeren Coming-out bei Schwulen und Lesben sowie Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung wieder.

Das innere und äußere Coming-out bei Schwulen und Lesben bezeichnet die krisenhafte Lebensphase, in der sich die Homosexualität manifestiert und sie diese psychisch sowie sozial zu integrieren haben. Nach einer solchen Phase wird die schwule oder lesbische Iden- tität entwickelt, indem eine Lesbe oder ein Schwuler sich selbst als schwul oder lesbisch versteht und akzeptiert und sich in diversen sozialen Kontexten als lesbisch oder schwul bezeichnet.

Die Bezeichnung des inneren und äußeren Coming-out bei Menschen mit einer (kognitiven) Beeinträchtigung kann analog als eine kritische Lebensphase verstanden werden, in der sich die Beeinträchtigung manifestiert und psychisch sowie sozial integriert werden muss. Nach dieser Phase wird die Identität eines Menschen mit (kognitiver) Beeinträchtigung entwickelt, indem ein Mensch mit Beeinträchtigung sich selbst als Mensch mit Beeinträchtigung versteht und akzeptiert und sich in den verschiedenen sozialen Kontexten als Mensch mit Beeinträch- tigung bezeichnet.

Folgendes Kapitel wird nun die mehrfache Stigmatisierung erhellen, mit der Lesben und Schwule mit einer kognitiven Beeinträchtigung konfrontiert und irgend wie zurecht kommen müssen.

2.5 Mehrfache Stigmatisierung

In der gegenwärtigen Debatte sind verschiedene Termini zur Beschreibung und Problemati- sierung des Zusammendenkens von sozialen Kategorien und Marginalisierungen zu erken- nen. In den Erziehungswissenschaften werden nebst den Ungleichheitsfaktoren Geschlecht, soziale Schicht, Beeinträchtigung oder Migrationshintergrund auch andere sozial relevante Dimensionen von Differenz diskutiert, wie z.B. Altersgruppen usw. (vgl. Walgenbach et al. 2007: 8). Das vorangegangene Kapitel zum Begriff kognitive Beeinträchtigung hat zur Klä- rung beigetragen, dass sich kognitive Beeinträchtigung bestimmen lässt in Relation zu vor- handenen gesellschaftlichen Wertesystemen oder/und erlernten Normvorstellungen, die so- wohl das Normale (Nicht-Beeinträchtigte) als auch das Abweichende (Beeinträchtigte) um- fassen. Es handelt sich um soziale Reaktionen, die eine Beeinträchtigung als solche deter- minieren sowie definieren. Hierbei geht es jedoch nicht nur um eine Differenz, aufgrund derer eine Person stigmatisiert wird, sondern um mehrere: Die Kategorien der (kognitiven) Beein- trächtigung und (Homo-)Sexualität sind lediglich zwei davon.

Als Basis für die Analyse sozialer Reaktionen auf Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung ist ein als hilfreich erwiesener Ansatz zu nennen: Der Stigmatisierungsansatz. Zuerst wird auf den Begriff Stigmatisierung eingegangen, um darauf aufbauend die mehrfache Stigmati- sierung zu erläutern

2.5.1 Zum Begriff Stigmatisierung

Die Wortbedeutung soll aus der Perspektive der Sozialwissenschaften geklärt werden, da ihr Ursprung in der Soziologie zu verorten ist. Der Begriff Stigma wurde in den 60er Jahren vom Soziologen Erving Goffman bekannt gemacht. Er hat den Ausdruck Stigma aus dem Altgriechischen übernommen und übersetzt bedeutet es einen Hinweis auf körperliche Zeichen, die etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes über den moralischen Zustand des Zeichenträgers offenbaren. (vgl. Wüllenweber 2004: 288) Heutzutage wird in der deutschen Sprache von Stigmatisierung gesprochen und als physisches, psychisches oder soziales Merkmal definiert, durch das eine Person sich von allen übrigen Mitgliedern einer Gruppe oder Gesellschaft unterscheidet und aufgrund dessen soziale Deklassierung, Isolation oder allgemeine Verachtung droht. Diese Definition von Stigmatisierung stellt die Ebene der Einstellungen dar. (vgl. ebd.: 288f.) Ebenso bezeichnet es die Verhaltensebene. Die Sozialisation in die Rolle des Stigmatisierten geschieht in der primären Kindheitssozialisation und in den fortlaufenden Interaktionen durch die mit den jeweiligen Normen verbundenen typisierenden Erwartungen. Der Prozess der Stigmatisierung kann sich auf eine gesamte soziale Kategorie (Studierende, Ausländer/innen, Homosexuelle, Menschen mit Beeinträchtigungen usw.) beziehen (siehe Exkurs). Es handelt sich hierbei also um die Stigmatisierung einer ganzen Gruppe innerhalb der Gesellschaft. Er kann sich aber auch auf jede Person erstrecken, die innerhalb ihrer sozialen Kategorie als negativ erachtete Merkmale auffällt. (vgl. ebd.: 289f.)

Der Begriff der Stigmatisierung wird im nachfolgenden Abschnitt erweitert, da die betroffene Zielgruppe unserer Arbeit mehreren sozialen Kategorien zugeteilt werden kann.

2.5.2 Zum Begriff mehrfache Stigmatisierung

Aufbauend auf die vorhergehende Klärung soll nun aufgezeigt werden, dass Personen auch eine mehrfache Stigmatisierung erleben können. Die Begrifflichkeiten wie doppelte Diskrimi- nierung oder Benachteiligung und hiermit auch doppelte Stigmatisierung wurden vor allem von Frauen eingeführt, die sich zwischen zwei sozialen Bewegungen platziert sahen, z.B. zwischen Frauenbewegungen und Behindertenbewegungen (vgl. Schuntermann 2007: 45). Mit diesen Begriffen wollten Frauen darauf aufmerksam machen, dass sie nebst der gesell- schaftlichen Unterordnung als Frau auch weitere Erfahrungen von Unterdrückung (z.B. Frau und beeinträchtigt; Frau und lesbisch etc.) machten. Die feministische Theorie kritisiert je- doch diese Formulierungen, weil ihre Metaphorik eine Addition von Unterdrückung nahelegt und somit die Perspektive der doppelten Diskriminierung bzw. Stigmatisierung heuristisch begrenzt bleibt, da die Stigmatisierung lediglich subordinierte Subjektposition in den Blick nimmt und damit Privilegierung (z.B. Weißsein, Heteronormativität usw.) ausblendet (vgl. ebd.: 46). Die Erweiterung von additiven Modellen, eine Multiplikation durch mehrfache Dis- kriminierung bzw. Stigmatisierung usw., kann die aufgeführten Kritikpunkte kaum entkräften.

„Kritisiert wird an diesen Modellen zudem ihr geschlossener Charakter, der Machtformen als analytische Kategorien stilllegen würde sowie kontextbezogene und historische Analysen überflüssig macht.“ (ebd.: 46f.) Man kann konstatieren, dass all diejenigen Begriffe, welche Kategorien addieren, kombinieren oder multiplizieren, als ungeeignet erscheinen. Diverse Autoren und Autorinnen wollen im Gegensatz dazu mit begrifflichen Innovationen die additive Perspektive durch neue Modelle überwinden; so setzt sich neuerdings durchaus der Termi- nus Intersektionalität (engl. intersectionality) in der deutschsprachigen Gender (Geschlech- terorientierung) Studien-Debatte durch, um jegliche Differenzen zu bezeichnen (vgl. ebd.: 8), jedoch unter der Absenz der Kategorie Sexualität. Intersektionalität lässt sich als eine Über- kreuzung, Überschneidung oder ein Schnittpunkt verschiedener Kategorien von Differenzen, z.B. Beeinträchtigung und Sexualität, verstehen (vgl. ebd.:49). Im Gegensatz zur Genderfor-schung stellen wir diese Kategorie ins Zentrum. Der Begriff Intersektionalität wurde internati- onal von Kimberlé Crenshaw’s Intersectionality-Konzept beeinflusst. Dieses Konzept bleibt deutungsoffen, weil es noch nichts darüber aussagt, was sich jeweils kreuzt bzw. über- schneidet: Kategorien, Machtachsen oder Identitäten (vgl. ebd.). Obschon es sich um ein deutungsoffenes Konzept handelt, begrenzen wir uns auf Kategorien, weil sowohl Sexualität als auch Beeinträchtigung jeweils einer Kategorie unterliegen. Unser Schwerpunkt liegt wie schon angedeutet auf zwei Kategorien von Differenzen: Einerseits die kognitive Beeinträchti- gung und andererseits die Homosexualität. Mit dem Ausdruck mehrfache Stigmatisierung meinen wir nicht multiple, sondern intersektionale Stigmatisierungskategorien, die sich sei- tens der Gesellschaft abspielen können.

In Bezug auf unsere Thematik bestehen zum einen eine Gruppe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und zum anderen eine Gruppe von Menschen mit homosexueller Orientierung. Beide Gruppierungen sind spezifischen Stigmatisierungen ausgesetzt (siehe Kapitel 6 und 7). Daraus lässt sich schließen, dass wenn diese zwei Gruppen zusammenkommen und sich überkreuzen (Lesben und Schwulen mit kognitiver Beeinträchtigung), sind sie demzufolge einer gravierenden mehrfachen Stigmatisierung ausgesetzt. Aufgrund der sexuellen Orientierung und der begrenzten kognitiven Fähigkeiten ist das Risiko höher, dass diese Gruppe soziale Deklassierung, Isolation oder allgemeine Verachtung intensiver erlebt (vgl. Wüllenweber 2004: 291). Diese zwei Ebenen der Stigmatisierung wollen wir genauer untersuchen.

Weiter folgt das Unterkapitel Krise und Bewältigung mit einer Vertiefung bezüglich des erstgenannten Begriffs, welcher relevant ist für unser Thema.

2.6 Krise und Bewältigung

Der Terminus Krise kann unserer Meinung nach mit dem Terminus von Böhnisch (2005), kritische Lebenssituation, gleichgesetzt werden. In diesem Buch von Böhnisch ist festgehalten, dass sich aus kritischen Lebenssituationen Krisen ergeben, die sich in verschiedenen Lebensabschnitten ereignen und die konstruktiv oder destruktiv zu bewältigen sind (vgl. Böhnisch 2005). Ausgehend von dieser Erklärung erachten wir bezüglich unserer Fragestellung den Begriff der Krise als vorrangig und werden ihm somit mehr Raum geben. Somit benutzten wir beide Termini, da sie zusammen gehören, setzen aber den Fokus mehr auf die Krisen. Im nachfolgenden Abschnitt befassen wir uns daher prinzipiell mit der Erhellung des Krisenbegriffs, des Krisenverlaufs und der Kategorien von Krisen. Aufgrund der Zusammengehörigkeit geben wir auch einer präzisen Definition des Begriffs kritische Lebenssituation nach Böhnisch wieder. Zum Schluss definieren wir den Begriff (Lebens- )Bewältigung, welcher auch mit den oben benannten Begrifflichkeiten zusammen hängt. Prinzipiell meinen wir bei der Erwähnung von Krisen die positiven wie auch die negativen Aspekte, da sie eine Chance oder eine Hürde sein kann.

2.6.1 Zum Begriff Krise

Die Bedeutung des Begriffs Krise ist sehr multipel und weit verbreitet, insbesondere ist die Anwendung des Begriffs in der Medizin, Psychologie aber auch in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften verbreitet. Der Krisenbegriff hat seinen Ursprung in der griechischen Etymologie und diese geht auf Hippokrates und Thukydides zurück (vgl. Clasen 1992: 67). Das Wort Krisis bedeutet Meinung, Beurteilung und Entscheidung oder Wendepunkt (vgl. Oerter/Montada 2002: 42; Krummenacher 1981: 3). Im alltäglichen Gebrauch wird der Begriff Krise tendenziell bei negativen Erlebnissen und Situationen verwendet, so dass Krise auch eher als negativ empfunden und als Gefahr gesehen wird. In der Medizin, Psychologie und Pädagogik wird jedoch eher die positive Seite hervorgehoben. Krise wird als Wendepunkt und als Bruch in der Kontinuität und Normalität in Bezug auf Chancen beschrieben (vgl. Trauboth 2002: 13; Oerter/Montada 2002: 42). Das bedeutet, dass die Krise in einer Situation eine Gelegenheit sein kann. Dies hängt von der Handlung der Person ab. In der Entwicklungspsychologie wird eine Krise beschrieben als „jeglicher Bruch einer bis dahin kontinuierlichen Entwicklung und im engeren Sinne eine Entscheidungssituation, die den Wendepunkt bzw. Höhenpunkt einer gefährlichen Entwicklung markiert.“ (Krystek 1987: 3) Wird eine Krise erfolgreich angegangen, kann es Entwicklung fördern (vgl. Oerter/Montada 2002: 42).

Wenn eine Person nicht fähig oder nicht bereit ist, ein gegebenes Problem zu lösen und wenn sie gleichzeitig durch das bestehende Problem emotional belastet ist, spricht man ebenso von Krise, was jedoch nicht bedeutet, dass diese nicht zu bewältigen ist (vgl. ebd.: 42f.). Die meisten Probleme lassen sich drei Kategorien zuordnen. Die erste Kategorie ist, wenn ein erwünschtes oder vorgeschriebenes Ziel nicht durch gut ausgebildete Routinen erreicht werden kann. Die Herausforderung liegt darin, neue Lösungen, neue Einsichten, neue Fertigkeiten, neues Wissen zu erwerben. Die zweite Kategorie beinhaltet zwei Ziele, welche unvereinbar sind, so dass eine Entscheidung notwendig wird. Die Herausforderung liegt darin, herauszufinden, welches die bessere Entscheidung ist. Der besondere Fall und somit die letzte Kategorie ist das Fehlen oder der Verlust von Zielen. (vgl. ebd.)

Den Begriff der Krise fasst Ulrich Oevermann als das Scheitern bewährter Routinen zusammen (vgl. 1996: 71ff.). Aus einer Krise ergebe sich ein Bedarf an neuen Lösungswegen, und insofern diese Probleme nicht nur punktuell auftauchten, sondern strukturell für die Funktionsweise einer Gesellschaft von Bedeutung seien, ergebe sich hieraus ein Bedarf an einer systematischen Suche nach neuen Lösungswegen (vgl. ebd.: 73).

Nach Böhnisch werden Lebenssituationen dann als kritisch erlebt, wenn die bisherigen per- sonalen und sozialen Ressourcen für die Bewältigung nicht mehr ausreichen (vgl. 2005: 31). Zu diesen Ressourcen gehören unter anderen Schlüsselkompetenzen, wie z.B. Kommunika- tions- und Konfliktfähigkeit, Aushalten von Differenzen, Empathie, Selbstkontrolle, exempla- rische Vorstellungskraft. Sie sind von Wichtigkeit, um Alltagsanforderungen im Privat-, Frei- zeit- und Berufsleben bewältigen zu können. (vgl. Böhnisch 2005: 33; Klafki 1998)

Gerard Caplan (siehe v.a. 1961) gilt als Begründer der Krisentheorie. Er beschreibt vier relevante Phasen: In der ersten Phase reagiert der Mensch in der Krisensituation vorerst angepasst und gewohnt. In der zweiten Phase kommt es zu einer drastischen Veränderung der Lebenssituation, wo Anforderungen komplizierter und größer sind als bisher, er wird unsicher und fühlt sich überfordert. In der Phase drei versucht der Betroffene das Problem mit allen ihm möglichen Mitteln zu lösen. Gelingt ihm dies nicht, folgt Phase vier: Er ist erschöpft, ratund hilflos. Hier braucht er rasche Hilfe, um die Krise zu verringern und eine neue Bewältigungsstrategie zu entwickeln. (vgl. Juchli 1997: 553) Dazu gibt es einen negativen Krisenverlauf, wenn ein Mensch aus der dritten Phase nicht herauskommt und in die vierte Phase rutscht sowie einen positiven, wenn ein Mensch geeignete Copingstrategien9 in der dritten Phase entwickelt hat und die Krise abwenden kann (vgl. ebd.).

Nebst den vier Phasen unterscheidet Caplan vier Kategorien von Krisen: Die erste Kategorie ist die der Geburt, eine erste einschneidende Krise im menschlichen Leben. Hierzu gehören auch Schwangerschaftsabbrüche, Geschlechtsbestimmung usw. Die zweite Kategorie bein- haltet Lebenskrisen, welche wiederum Wachstumskrisen beinhalten: sie sind Übergänge zwischen den drei wichtigsten Lebensstufen, die das Leben in Abschnitte unterteilten: Ler- nender, Werktätiger und Rentner. Die dritte Kategorie nennt Caplan Krankheit: Altwerden,

[...]


1 Der Minoritäts- bzw. Minderheitsbegriff wird an dieser Stelle definiert, da er immer wieder in unserer Thesis vorkommt. Wir ziehen die Definition von Gregory Henek (1991) bei, weil diese Klassifizierung für Schwule und Lesben mit kognitiver Beeinträchtigung am ehesten zutrifft: Sie machen ein untergeordnetes Segment in der staatlichen Gesellschaft aus und der dominantere Teil der Gesellschaft teilt ihnen einen niedrigen Wert zu. Sie schließen sich durch ihre untergeordnete und abgewertete Rolle zu einer Subkultur zusammen und werden zu- dem aufgrund ihres Status anders behandelt, worunter auch Stigmatisierungen bis hin zu Gewaltakten fallen.

2 engl. International Classification of Functioning, Disability and Health - Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, welche die Funktionsfähigkeit und Behinderung verbunden mit einem Gesundheitsproblem klassifiziert (siehe v.a. Schuntermann 2007).

3 sengl. International Classification of Diseases - Internationale Klassifikation der Krankheiten, 10. Revision, mit welcher Gesundheitsprobleme (Krankheiten, Gesundheitsstörungen, Verletzungen usw.) klassifiziert werden (siehe v.a. Dilling et al. 2000).

4 IQ ist der Gesamtscore, der das Ausmaß der intellektuellen Fähigkeiten einschätzt (vgl. Comer 2001: 475).

5„Homophobie bezeichnet (...) eine gegen Schwule und Lesben gerichtete individuelle und soziale Aversion,welche vordergründig mit Abscheu und Ärger, tiefgründig und meist unbewusst hingegen mit Angst in Bezug auf Unsicherheiten in der eigenen (sexuellen) Identität einhergeht. (...) Homophobie gegenüber Schwulen kann auch als die unbewusste Verachtung des Weiblichen im Manne verstanden werden“. (Wiesendanger 2005: 25)

6 Tribadismus: Geschlechtlicher Verkehr zw. Frauen, bes. Aneinanderreiben d. Genitalien bzw. Imissio clitoridis einer Frau in die Vagina des anderen (vgl. Marle 1932).

9 Der Begriff Copingstrategie stammt aus dem Coping-Konzept der Stressforschung von Wolfgang Stark (1996), woran sich das von Böhnisch (2005) entwickelte Bewältigungskonzept lehnt. In Starks Konzept meint Coping im Sinne von Böhnisch Bewältigung, und demzufolge entsprechen die Bewältigungsstrategien den Copingstrategien, die der Mensch einsetzt, um in kritischen Lebenssituationen den Gleichgewichtszustand wiederzuerlangen.

Ende der Leseprobe aus 203 Seiten

Details

Titel
Homosexualität und kognitive Beeinträchtigung
Untertitel
Mehrfache Stigmatisierung und doppeltes Coming-out bei Lesben und Schwulen mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung im jungen Erwachsenenalter
Hochschule
Fachhochschule Nordwestschweiz  (Department für Soziale Arbeit)
Note
2,5
Autoren
Jahr
2009
Seiten
203
Katalognummer
V153835
ISBN (eBook)
9783640663620
ISBN (Buch)
9783640663835
Dateigröße
1853 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Krisen und deren geschlechtstypische Bewältigung: Eine Dokumentation für die Soziale Arbeit
Schlagworte
Homosexualität, Beeinträchtigung, Mehrfache, Stigmatisierung, Coming-out, Lesben, Schwulen, Beeinträchtigung, Erwachsenenalter
Arbeit zitieren
Nick Lulgjuraj (Autor:in)Rahel Oehrli (Autor:in), 2009, Homosexualität und kognitive Beeinträchtigung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/153835

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Homosexualität und kognitive Beeinträchtigung



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden