Partisanenkrieg in Weißrussland - Anarchie und Zerstörung im Raum Baranoviči 1941-1944


Magisterarbeit, 2008

91 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG

GEWALTESKALATION IN KRIEGEN
Entstaatlichte Kriege der Vergangenheit und Gegenwart
Kriege in staatsfernen Räumen

DIE DEUTSCHE BESATZUNGSMACHT IM RAUM BARANO VIČI
Der Raum Baranoviči vor der deutschen Invasion
Geopolitische Gegebenheiten des Raumes Baranoviči
Der Raum Baranoviči unter Sowjetherrschaft 1939-1941
Die Deutsche Besatzungspolitik in der Oblasť Baranoviči
Die Verwaltungsstruktur der deutschen Besatzungsmacht
Die Wirtschaftspolitik der deutschen Besatzungsmacht
Die deutsche Partisanenbekämpfung in der Oblasť Baranoviči
Völkerrechtliche Überlegungen zum Partisanenkrieg
Deutsche Sicherungstruppen im Partisanenkampf
Lokale Truppen und Kollaborateure
Partisanenbekämpfung und Völkermord

DIE PARTISANENBEWEGUNG IM RAUM BARANOVIČI
Die Sowjetische Partisanenbewegung im Raum Baranoviči
Die Entstehung erster Partisanengruppen
Die Zentralisierung der sowjetischen Partisanenbewegung
Weitere Widerstandsgruppen in der Oblasť Baranoviči
Jüdische Partisanen
Die polnische Heimatarmee
Die Bevölkerung als Opfer von Gewalt der Partisanen

DIE ART DES PARTISANENKRIEGS IM RAUM BARANOVIČI
Eskalation durch Ideologisierung im Partisanenkrieg
Der Partisanenkrieg im staatsfernen Raum der Oblasť Baranoviči

ZUSAMMENFASSUNG

LITERATUR

Einleitung

Als am 22. Juli 1941 die Wehrmacht im Westen der Sowjetrepublik Belorussland einfiel, ahnte die Bevölkerung noch nicht, welches Chaos und welche Zerstörung sie in den kommenden drei Jahren erwarten würde. Zu Beginn empfing man die Deutschen noch als Befreier, litt man doch die letzten Jahre unter dem Terror und der Zwangskol­lektivierung Stalins. Doch mit der neuen Besatzungsmacht war lediglich eine neue Ter­rorherrschaft gekommen. Hitler wollte „Lebensraum“ für das germanische Volk gewin­nen und das Land systematisch ausbeuten. Weißrussland litt unter dem Krieg wie kaum eine andere Region. Fast ein Drittel der Bewohner sollte diesen Krieg nicht überleben.1 Die Rote Armee wurde von der Wehrmacht überrannt und in großen Kesselschlachten aufgerieben. Zahlreiche Soldaten sowie kommunistische Funktionäre versteckten sich vor den deutschen Besatzern in den Wäldern Weißrusslands. Den KP-Funktionären drohte die sofortige Erschießung durch die Deutschen. Die Soldaten der Roten Armee mussten ebenfalls mit dem Schlimmsten rechnen, sollten sie in die deutsche Gefangen­schaft geraten. Den Rotarmisten drohten auch Repressalien durch die Sowjetmacht, da ihnen weder die Flucht noch die Kapitulation gestattet war.

Der Sowjetstaat war nicht in der Lage den Widerstand im Westen Weißrusslands von Beginn an zu organisieren. Die ersten Partisaneneinheiten entstanden unkontrolliert. Ihr vorrangiges Ziel war das Überleben. Erst im weiteren Verlauf des Krieges wurde mit der Errichtung eines Zentralstabs der Partisanenbewegung versucht, den Widerstand unter staatliche Kontrolle zu bringen und ihn organisatorisch zu straffen. Die flächende­ckende Kontrolle über alle Partisanen blieb für Stalin eine Illusion. Die deutsche Besat­zungsverwaltung war nicht in der Lage, das entstandene Machtvakuum im Land dauer­haft wieder aufzufüllen: Weite Teile befanden sich in einem Zustand der Anarchie, in denen Banden zur Plage für die Bevölkerung wurden. Der langwierige Partisanenkrieg in Weißrussland forderte besonders unter der Zivilbevölkerung immense Opfer. Die Ok­kupanten waren dabei nicht in der Lage die Partisanenbewegung dauerhaft zu zerschla­gen. Die Bevölkerung geriet zwischen die Fronten der verschiedenen Kriegsteilnehmer und wurde zum eigentlichen Opfer dieses Kriegs. Die Gewalteskalation nahm ein gi­gantisches Ausmaß an.

Diese Arbeit wird ihren Fokus auf den Partisanenkrieg im westlichen Teil Belo­russlands, der Oblast’ Baranoviči richten. Als Untersuchungszeitraum beschränkt sich die Arbeit auf die Zeit der deutschen Herrschaft in Weißrussland von 1941 bis 1944. Die unmittelbare Vorgeschichte der Region wird dabei angerissen. Die unter militäri­scher Verwaltung stehenden östlichen Gebiete Weißrusslands sind nicht Untersu­chungsgegenstand dieser Arbeit und werden nur am Rande erwähnt.

Die Oblast’ Baranoviči entsprach weitgehend dem Territorium der polnischen Wojewodschaft Nowogródek. Die Region gehörte nach dem ersten Weltkrieg zunächst der polnischen Republik an. 1939 wurde das Gebiet von der Sowjetunion annektiert, nachdem die Rote Armee dort einmarschiert war. Als die deutsche Invasion erfolgte, wurde das Territorium am frühesten dem direkten Einflussbereich Moskaus entzogen. Die Bevölkerung war dort wegen des stalinistischen Terrors und der Zwangskollektivie­rung von 1939 bis 1941 stark vom Sowjetstaat entfremdet. Das Gebiet wurde von den Deutschen unter die Hoheit der Zivilverwaltung des Generalkommissariats Weißruthe- nien, das Teil des Reichskommissariats Ostland gewesen war, gestellt.

Die Bevölkerung der Oblast’ Baranoviči war ethnisch sehr heterogen. Die größten Bevölkerungsgruppen stellten dabei Weißrussen, Polen und Juden. Unter diesen Grup­pen herrschten große kulturelle und soziale Spannungen, die einen idealen Nährboden für interethnische Konflikte und Gewalteskalation boten. Die deutsche Besatzungsver­waltung wie auch die deutschen Sicherungstruppen in diesem Bereich sind Teil der Un­tersuchung. Ferner sollen auch die sowjetische Partisanenbewegung in dem Bereich und andere Gruppierungen, wie jüdische Partisanen, die polnische Heimatarmee und krimi­nelle Banden dargestellt werden. Das enorme Leid der Bevölkerung wird im Kontext des eskalierenden Partisanenkrieges im Raum Baranoviči betrachtet. Anhand der These von Jörg Baberowski2 soll in dieser Arbeit gezeigt werden, dass im Westen Beloruss­lands ein Krieg in einem staatsfernen Raum stattfand. Es soll gezeigt werden, dass die anarchische und asymmetrische Kriegssituation die Gewalteskalation in dem Raum be­günstigte. Die Konfliktlinien spielten sich zwischen verschiedenen Akteuren mit jeweils eigenen Zielvorstellungen ab. Es soll geprüft werden, inwiefern die Ideologien der Na­tionalsozialisten wie auch der Sowjetunion zur Radikalisierung des Partisanenkrieges im Westen Weißrusslands beigetragen haben. Der Blick fällt dabei abwechselnd auf die deutsche Okkupationsmacht, einheimische Kollaborateure und die verschiedenen Parti­sanenbewegungen. Das Leid, das über die Zivilbevölkerung hereinbrach, steht im Mit­telpunkt der Arbeit. Auch dem angespannten Verhältnis zwischen Partisanen und Be­völkerung soll Rechnung getragen werden.

Die Arbeit wird in einem ersten Teil Gewalt in entstaatlichten Kriegen und die These Baberowskis über den Krieg im staatsfernen Raum besprechen. Im zweiten Teil stehen die geopolitischen Hintergründe der Oblast’ Baranoviči im Mittelpunkt. Danach wechselt die Perspektive auf die deutsche Besatzungspolitik. Nach einer Darstellung der Truppen der deutschen Besatzungsmacht, welche für die Absicherung des Gebiets ge­gen Partisanen eingesetzt wurden, werden die Antipartisanenoperationen in Zusammen­hang mit Völkermord an der Zivilbevölkerung untersucht. Der dritte Teil der Arbeit be­handelt die Entwicklung der sowjetischen Partisanenbewegung und anderer Wider­standsgruppierungen. Der Fokus richtet sich dabei auch auf die Gewalt, welche von Wi­derstandsgruppen an der Bevölkerung begangen wurde.

Dem Autor der Arbeit war keine aufwendige Archivrecherche möglich. Die wich­tigste Quelle über die sowjetische Partisanenbewegung ist die Dokumentation von Bog­dan Musial.3 Er liefert eine umfassende Sammlung von Dokumenten aus dem nationa­len weißrussischen Staatsarchiv, die von ihm ins Deutsche übersetzt wurden. Es handelt sich dabei um eine Auswahl von Befehlen und Anweisungen der Kommandeure der Partisanenverbände im Raum Baranoviči sowie einigen Tätigkeits- und Lageberichten der Partisanen. Die Berichte geben ein detailliertes Bild des Lebens und der Konflikte der Partisanenbewegung des Verbandes Baranoviči wieder. Während die Lageberichte zu übertriebenen Darstellungen neigen, da sie bestimmte Erwartungshaltungen der Par­tisanenführung erfüllen wollten, handeln die Anweisungen und Befehle von konkreten Sachverhalten und Problemen. Da sie vor allem für den internen Gebrauch bestimmt waren, um Probleme und Missstände festzuhalten, sind die dementsprechenden Infor­mationen als sehr glaubwürdig und authentisch zu betrachten. Es ist zu beachten, dass die Dokumente sich typischer sowjetischer Ausdrucksweisen bedienen. Hans-Heinrich Nolte4 liefert mit seiner Dokumentation eine Sammlung deutscher Befehle und Anwei­sungen, die im Vorfeld und Kontext des Unternehmens Barbarossa entstanden waren. Sie zeigen Pläne und Überlegungen zur deutschen Besatzungspolitik auf, die eine Ten­denz zur Ausbeutung des eroberten Gebiets erkennen lassen. Peter Klein5 stellt eine Sammlung der Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des

SD zusammen, die auch Informationen über Antipartisanenoperationen geben. Als wei­tere Quellen dienten Dokumentensammlungen von Anweisungen und Befehlen der deutschen Führung, die im Kontext zu Verbrechen der Deutschen an der Ostfront ste­hen.

Die Arbeit stützt sich vor allem auf Sekundärliteratur über die Partisanenbewe­gung der Sowjetunion und die deutsche Besatzungspolitik. Ältere Standardwerke über die Besatzung wie zum Beispiel von Alexander Dallin6 wurden aufgrund des Alters der Monographien und dem damals noch nicht vorhandenen Zugang zu sowjetischem Ar­chivmaterial, nur am Rande beachtet. Ein Experte für den Besatzungsalltag im westli­chen Bereich Weißrusslands ist Bernhard Chiari. Er liefert ein umfassendes Werk über die deutsche Besatzung im Bereich der Zivilverwaltung.7 Er legt auch ein starkes Au­genmerk auf innere ethnische Konflikte und Kollaboration. Dabei kommt zum Aus­druck, wie stark die Bevölkerung als aktive Partei in den Konflikt hineingezogen wurde und wie zerrissen die Verhältnisse waren, die Weißrussland in ein bürgerkriegsähnli­ches Szenario stürzten. Timm Richter setzt in seiner Monographie den Partisanenkrieg in Kontext zur deutschen Besatzungspraxis und liefert einen guten Gesamtüberblick.8 Christian Gerlach bietet mit seiner Darstellung einen detaillierten Überblick über die deutsche Besatzungspraxis, bei dem die wirtschaftlichen Aspekte der Ausbeutung im Vordergrund stehen. Er geht in seinem Werk auch ausführlich auf den Partisanenkrieg ein.9 Die Arbeit von Hannes Heer10 beschäftigt sich vor allem mit dem Aspekt des Völ­kermords durch die deutschen Truppen. Er diskutiert dabei die umstrittene These, der Partisanenkrieg sei eher ein Vorwand der Deutschen gewesen, um die Vernichtungspo­litik an der Bevölkerung durchzuführen. An der Realität des Partisanenkrieges kann je­doch nicht gezweifelt werden. Dennoch wurde er zum Anlass genommen, wie später in dieser Arbeit noch näher ausgeführt wird, Massenmorde zu decken. Das Werk steht im Kontext der Wehrmachtsausstellung und fällt etwas polemisch aus. Ein weiteres Werk, welches sich mit Besatzungspolitik und Radikalisierung an der Ostfront auseinander­setzt, stammt von Klaus Jochen Arnold.11 Er konzentriert sich jedoch vor allem auf die Wehrmacht und unter militärischer Verwaltung stehende Gebiete, weswegen nur Teile seiner Ergebnisse verwendet wurden. Eines der neusten Werke, die einen Gesamtüber­blick über die sowjetische Partisanenbewegung bereitstellen, stammt von Kenneth Sle- pyan.12 Slepyan untersuchte deutsche Dokumente wie auch sowjetisches Archivmateri­al. Ältere Werke über die Partisanenbewegung, wie von John Armstrong13 und Matthew Cooper14 fanden in dieser Arbeit aufgrund ihres Alters und der fehlenden Auswertung sowjetischer Archivdokumente nur am Rande Beachtung. Neben Musial beschäftigte sich auch Alexander Brakel in zwei Aufsätzen mit der Region der Oblast’ Baranoviči. Er konzentrierte sich dabei vor allem auf das angespannte Verhältnis zwischen Zivilbe­völkerung und sowjetischen Partisanen.15 Russische und weißrussische Literatur über die Partisanenbewegung wurde nicht verwendet, da bei vielen Werken immer noch Be­trachtungsweisen der sowjetischen Nachkriegshistoriographie vorherrschen. Die Parti­sanenbewegung wurde in der sowjetischen Geschichtsschreibung als heldenhafte Volks­bewegung romantisch verklärt. Die Darstellung von Gewalt gegen die Bevölkerung oder Aktionen anderer Widerstandsgruppen kamen nicht vor. Erfolge gegen die Besat­zer wurden teilweise maßlos übertrieben.

Gewalteskalation in Kriegenc

Entstaatlichte Kriege der Vergangenheit und Gegenwart

In den letzten Jahren wurde in der Forschungsdiskussion über Kriegsformen und Kriegstypologien häufig von den „neuen“ Kriegen gesprochen. So hält zum Beispiel Herfried Münkler den herkömmlichen Staatenkrieg für ein Auslaufmodell. In den neuen Kriegen seien die Staaten nicht mehr die alleinigen Monopolisten der Gewalt. Sie wür­den durch zusätzliche Kriegsunternehmer, wie halbstaatliche oder rein private Akteure, lokale Warlords und Guerillatruppen, herausgefordert.16 In den neuen Kriegen sind die Grenzen zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten kaum noch klar zu erkennen. Gräueltaten, Plünderungen und Vergewaltigungen gegen die örtliche Bevölkerung sind ein Merkmal dieser Konflikte. Sie können als „entstaatlichte Vernichtungskriege“17 ge­sehen werden.

Nach Münkler sind die neuen Kriege privatisierte, staatenlose und grenzenlose Konflikte. Krieg werde zunehmend zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen, Banden, Partisanen und Warlords, die als Profiteure nach eigenen Interessen handeln, ausgetragen.18 Münkler bezieht sich auch auf historische Vorbilder, um die so genannten „neuen“ Kriege zu erklären. Der Dreißigjährige Krieg war seiner Vorstellung nach ein vormoderner Krieg, in dem keine Partei dauerhaft über ein Gewaltmonopol verfügte. Keine der Kriegsparteien vermochte zunächst über einen längeren Zeitraum zu dominieren. Die jeweiligen Fürsten und der Kaiser waren nicht die alleinigen Kriegsun­ternehmer. Der Krieg war vielmehr durch verschiedene innere, teils lokale Machtkämp­fe und private Fehden geprägt. Eine Mischung aus verschiedenen ideologischen Wert­vorstellungen und den Eigeninteressen staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, die ihre Ziele mit allen Mitteln verfolgten, machten das Wesen dieses Krieges aus.19 Der Staat als Monopolherr des Krieges, sagt Dieter Langewiesche in diesem Zusammenhang, sei eine neuzeitliche Entwicklung.20

Asymmetrische Gewalt stellt in den neuen Kriegen ein Strukturmerkmal dar. Sie war immer auch ein Bestandteil vergangener Kriege. Die asymmetrische Kriegsführung ist die Form der Auseinandersetzung von Besatzern und Widerständlern. Sie beherbergt ein großes Potential an unkontrollierbarer Gewalteskalation. Die Partisanen bewegen sich dabei häufig innerhalb der Bevölkerung, um Schutz oder Ressourcen zu erhalten. Guerillaeinheiten brauchen die örtliche Bevölkerung, um zu überleben. Bei Antipartisa­nenoperationen der Besatzungsmacht kann also die Zivilbevölkerung zum potentiellen Ziel militärischer Mittel werden, weil eine Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten nur schwer möglich ist. Die Nichtunterscheidbarkeit der Kombattan­ten stellt ein festes Merkmal des Partisanenkriegs dar. In der Folge führen solche Opera­tionen gegen die Zivilbevölkerung zur systematischen Zerstörung von Dörfern und zu Massenerschießungen von Zivilisten, die als potentielle Widerständler gelten.21

Der Partisanen- oder Guerillakrieg kann aus unzähligen terroristischen Einzelak­tionen bestehen. Dabei entsteht ein Kreislauf aus Gewalt und Gegengewalt, der zu ei- nem mörderischen Szenario der Zerstörung führen kann. Da bei der irregulären Kriegs­führung die formalen Kommandostrukturen und die Truppendisziplin generell schwach ausgeprägt sind, stellen kulturelle Standards und moralische Vorstellungen, wie sie tra­ditionellerweise in westlichen Militärs vorherrschen, die einzige Möglichkeit dar, den Partisanenkrieg einzugrenzen.22

Die Gewaltintensität soll in den neuen Kriegen drastisch zugenommen haben. Es gibt jedoch berechtigte Zweifel daran, ob die Kriegsgewalt wirklich erst im Laufe der Geschichte eskalierte. Baberowski zum Beispiel vertritt den Standpunkt, dass der ent- staatlichte Krieg seit jeher Bestandteil der Geschichte gewesen sei. Der moderne und eingehegte Staatenkrieg stelle hingegen nur einen Idealtypus des Krieges dar. Er kann als ein westeuropäisches Phänomen des 19. Jahrhunderts betrachtet werden. Erst durch die Schaffung von zwischenstaatlichen Konventionen wurde der Krieg formal verstaat­licht, reglementiert und in seinen Auswirkungen eingegrenzt.23 Die Gewaltintensität und Totalität von Kriegen in der Vergangenheit war Dieter Langewiesche nach immer ein Teil der Kriegsnormalität. Schon in der Antike sei die Kriegsführung schrankenlos ge­wesen. Der Feldherr drückte seine militärische Fähigkeit durch eine besonders hohe An­zahl an wahllos getöteten Gegnern aus. Das Morden richtete sich dabei willkürlich ge­gen seine Opfer. Die Zahl der Kriegstoten stieg in der Neuzeit zwar absolut an. Das re­lative Verhältnis von getöteten Menschen zur Gesamtbevölkerung soll aber in vormo­dernen Kriegen fast immer höher gewesen sein als in modernen Konflikten. Langewies- che betrachtet den europäischen Staatenkrieg des 19. Jahrhundert ebenfalls als eine ge­mäßigte Ausnahme der Konfliktführung. Außerhalb West- und Zentraleuropas sei der Krieg stets maßlos gewesen.24

Jörg Baberowski erkennt in den neuen Kriegen keine neuartige oder zeitgenössi­sche Form der militärischen Auseinandersetzung. Den Typus des entstaatlichten Krie­ges habe es seiner Ansicht nach zu jeder Zeit gegeben. Die „neuen“ Kriege seien Letz­ten Endes nur „alte“ Kriege. Der Zweite Weltkrieg sei zum Beispiel nur bedingt ein mo­derner Krieg des 20. Jahrhunderts gewesen. Während an der Westfront der Kampf hoch technisierter Armeen vorherrschte, in dem der Gegner vor allem aus der Distanz heraus zerstört wurde, habe an der Ostfront eine archaische und schrankenlose Form des Ver­nichtungskriegs stattgefunden: der Krieg in einem staatsfernen Gewaltraum.25

Kriege in staatsfernen Räumen

Kriege in staatsfernen Räumen entziehen sich Baberowskis Definition nach der al­leinigen Verfügungsgewalt des Staates. Das staatliche Gewaltmonopol entfaltet in der Regel seine Autorität, indem es die Bewohner und Bürger in seinem Territorium durch Androhung von Gewalt daran hindert, sich gegenseitig zu töten oder zu verletzen. Der Staat entscheidet dabei alleine, wer innerhalb seiner Machtsphäre dazu legitimiert wird, Gewalt anzuwenden. Dieses vermeintliche Monopol könne aber an der Gegenwehr von anderen bewaffneten Gruppierungen zerbrechen. Ist der Staat nicht in der Lage, zu ver­hindern, dass in seinem Einflussgebiet Gewalt durch Dritte permanent ausgeübt wird, verliert er das Gewaltmonopol und damit seine Autorität. In der Folge würde es zu einer unkontrollierten Gewalteskalation in einem nun staatsfernen Raum kommen. Keine der Kriegsparteien wäre dort dauerhaft dazu befähigt, alleine über die Anwendung von Ge­walt zu entscheiden. Niemand könnte anderen dauerhaft Schutz gewähren. Im staatsfer­nen Raum stellt der Staat lediglich eine Kriegspartei unter vielen dar. Erst wenn eine Partei über die anderen Kontrahenten dominieren könnte, würde wieder Ruhe und Ord­nung vorherrschen. Die Gewalt ist dabei nichts weiter als eine reine Machtressource. Es entsteht eine Gewaltspirale, die eine eigene Dynamik entwickelt und den Handlungs­spielraum aller Menschen massiv beeinträchtige. Die Gewalteskalation schaffe so sozia­le Zwänge, denn sie werde fast immer mit Gegengewalt beantwortet. Gewalt wirke so­mit ansteckend wie eine Krankheit. Die Sicherheit der jeweiligen Kriegsteilhaber ließe sich nur durch die Vernichtung der Gegner wiederherstellen.26

Baberowskis betrachtet alle Konflikte und militärischen Auseinandersetzungen, die sich auf russischem beziehungsweise sowjetischem Territorium zwischen 1914 und 1950 abgespielt haben, als Kriege in staatsfernen Räumen. Die beiden Weltkriege be­gangen als zwischenstaatliche Kriege, es entwickelte sich aber eine Eigendynamik will­kürlicher Gewalt unter allen Teilnehmer, die zu einem Vernichtungskrieg führte, in dem alleine die Gewalt das Leben der Menschen strukturierte. Beide Weltkriege wandelten sich an der Ostfront auf diese Weise rasch zu Kriegen im staatsfernen Raum.27

Während des Ersten Weltkrieges setzte die Zaren-Armee gegen die eigene Bevöl­kerung Gewalt an. Es tobten zahlreiche ethnische Konflikte, wie die häufigen Pogrome an den Juden zeigten. Neben der Frontlinie wurde auch das Hinterland zum Kriegsge­biet. Reguläre Militäreinheiten ähnelten mit der Zeit mehr den marodierenden und kri­minellen Banden. Nach 1916 verlor der Zar weitgehend die Kontrolle über sein Heer, das zu einer wilden Soldateska mutierte. Nach dem Frieden von Brest-Litowsk zog sich die russische Armee aus Weißrussland und der Ukraine zurück und vergrößerte das Machtvakuum in diesem Raum noch mehr. Die kaiserlich-deutsche Besatzungsmacht konnte es nicht ausfüllen. Bedingt durch die Russische Revolution vergrößerte sich das Chaos. Die ethnischen und sozialen Konflikte eskalierten.28 Das deutsche Kaiserheer be­hielt lediglich über die Städte die Kontrolle. Das russische Bürgerkriegsszenario konnte die deutsche Besatzungsmacht nicht mehr beeinflussen. Rücksichtslose Partisanen, plündernde Freischärler und wild gewordene Bauernhorden bestimmten nun das Kriegs­geschehen. Um der verzweifelten Lage Herr zu werden, griff auch das kaiserlich-deut­sche Heer zu „unsauberen“ Methoden, wie der Massenhinrichtung von bolschewisti­schen Partisanen. Als sich die kaiserliche Armee nach der Kapitulation des Deutschen Reiches aus Weißrussland und der Ukraine zurückziehen wollte, geriet sie in aufreiben­de Rückzugsgefechte mit polnischen, ukrainischen und bolschewistischen Partisanen. In Weißrussland herrschte bis zum Ende des Russischen Bürgerkrieges Anarchie ohne ein klares Gewaltmonopol vor. Deutsche Freikorps-Formationen, polnisch-nationale Kampfverbände, weißrussische und lettische Bauern sowie bolschewistische Partisanen lieferten sich erbitterte Kämpfe gegeneinander.29

Baberowski arbeitet fünf Idealtypen von Gewalt in staatsfernen Räumen heraus. Der erste Typus stellt den Krieg zwischen regulären Armeen dar. Als während des Zweiten Weltkrieges die Wehrmacht und die Rote Armee sich im Kampf gegenüber­standen, versuchten sie jeweils, die Bevölkerung niederzuhalten, um den eigenen Hand­lungsspielraum zu behaupten. Die Armeen ernährten sich auf Kosten der Bevölkerung und scheuten auch keine Gewalt gegen sie. Der zweite Gewalttypus ist eng an den ers­ten gekoppelt und handelt vom Krieg staatlicher oder halbstaatlicher Gewaltakteure ge­gen die widerspenstige lokale Bevölkerung. Einzelne Militärführer und Warlords terro­risierten die Bewohner des Raumes, um an Ressourcen für die weitere Kriegsführung zu gelangen. Widerstand der Bevölkerung wurde hart bestraft. Die Gewalt diente dabei mehr der Einschüchterung als der gezielten Vernichtung. Trotzdem kam es während des Russischen Bürgerkriegs auch zur Zerstörung von Dörfern durch die Bolschewiken. Der dritte Typus bezieht sich auf die gezielte Vernichtung der gegnerischen Eliten, nur wer den Gegner daran hinderte, sich neu zu formieren, konnte dauerhaft Sieger sein. Ein Beispiel hierfür wäre die ideologisch motivierte Vernichtung von Klassenfeinden, die in einem großen Ausmaß erst in einem Krieg im staatsfernen Raum möglich war. Der vier­te Gewalttyp beinhaltet die gezielte Vernichtung von Fremden und Eindringlingen durch die örtliche Bevölkerung, die in ihrem Einflussgebiet einen solchen Abwehr­kampf selbst durchführten. Dabei gab es keine Regeln im Umgang mit den Gegnern. Der Feind musste vernichtet werden, um das eigene Territorium zu schützen. So ein Verhalten lässt sich zum Beispiel an Bauern, die während des Russischen Bürgerkriegs Widerstand gegen requirierende Truppen leisteten, erkennen. Den fünften Gewalttypus stellen die interethnischen Konflikte und Pogrome dar. Hierbei handelt es sich ebenfalls um Vernichtung. Das vorrangige Ziel ist die Zerstörung oder Vertreibung der ethni­schen Gegner in einem bestimmten Raum. Ethnische Konflikte und Deportationen präg­ten die Geschichte Weißrusslands zwischen 1914 und 1944. Eine Methode des ethni­schen Vernichtungskriegs stellt die Zerstörung der Lebensgrundlage des Feindes dar. Dies kann durch die Zerstörung von bestellten Feldern, die Vergiftung von Brunnen und die systematische Auslöschung von Siedlungen und Dörfern vonstatten gehen. Die Sie­ger neigen dazu, die Spuren des vernichteten Feindes nach dem Morden zu beseitigen, um jegliche Ansprüche des Gegners auf das nun „gesäuberte“ Territorium ungültig zu machen.30

„Die ritualisierte Gewalt in innerethnischen Kriegen ist abschreckend, sie vernich­tet, weil sie sich in die Körper und Seelen der Opfer einbrennt und dort für immer bleibt.“31 Baberowski sieht in der Gewalt ein Medium der Vergesellschaftung.32 Die Tä­ter würden sich anhand der Körper der Opfer zur Sprache bringen. Extreme Gewaltex­zesse, wie brutale Folter und Leichenverstümmelung, dienen dabei als Ausdrucksmittel der eigenen Stärke und Überlegenheit über den Gegner. Die systematischen Verge­waltigungen von Frauen, die nach Münkler einen nahezu festen Bestandteil in ethni­schen Konflikten ausmachen, stellen eine besonders perfide Waffe der Erniedrigung wie auch der schleichenden Vernichtung dar. Einerseits wird die Frau als Objekt und Tro­phäe benutzt, um ihre Würde und die ihrer Volksgruppe zu verletzen. Andererseits wer­den Frauen aber auch zum direkten Angriffsziel, um Kriege zu entscheiden. Die syste­matischen Vergewaltigungen tragen nämlich zur Zerstörung von Familien und schließ­lieh zur Auflösung ethnischer Gemeinschaften bei.33

Am Ende des Russischen Bürgerkriegs hatten sich die Bolschewiken erfolgreich durchgesetzt, weil sie alle Gegner militärisch vernichteten oder unterwarfen. Dabei sei nicht ihre Ideologie ausschlaggebend gewesen, sondern die rücksichtslose Anwendung von Gewalt. Die Bolschewiken wandten gegen ihre besiegten Feinde rücksichtslosen Massenterror, wie die Deportation und Internierung ganzer Bevölkerungsteile, die Zer­störung von Dörfern und die Vernichtung der feindlichen Eliten, an. Damit sicherten sie ihren Erfolg ab und errichteten ein eigenes Gewaltmonopol.34 Gewalt wurde im stalinis- tischen Staat zu einer institutionellen Form der politischen Machtdurchsetzung. Stalin war stets von Misstrauen erfüllt und glaubte, dass Widerstand nur durch die Vernich­tung seiner Gegner gebrochen werden könnte. Diese Politik brachte die Untertanen ver­stärkt gegeneinander auf und schürte den Hass zwischen den einzelnen ethnischen und sozialen Gruppen. Baberowski glaubt daher, dass die Politik Stalins die Verstaatlichung des staatsfernen Raumes in Russland eher behinderte als beschleunigte.35

Als die Wehrmacht 1941 in der Sowjetunion einfiel, wurde aus einem zwischen­staatlichen Krieg schnell ein grenzenlos brutaler Vernichtungskrieg. Die extreme Ge­walteskalation beruhte nicht allein auf der jeweiligen totalitären Ideologie der beiden Regime, welche die eigene Politik mit der Vernichtung ihrer Gegner zu verwirklichen suchte, sondern eben auch auf der Eigendynamik, die sich in einem staatsfernen Raum entwickelte. Als die Soldaten der Wehrmacht einmarschierten, begaben sie sich in ein Niemandsland, wo sie auf Lebensformen und ethnische Konflikte stießen, die ihnen völ­lig fremd waren. Stalin hinterließ mit seiner Politik der verbrannten Erde ein stark zer­störtes Land. Es gab kaum Infrastruktur und Produktionsanlagen, welche die Deutschen nutzen konnten. Die Wehrmacht und die Rote Armee sowie die Partisanen waren darauf angewiesen, sich von den Vorräten der armen Bauern zu ernähren, was diese in ein elendes Hungerleid stürzte. Das Deutsche Reich und die Sowjetunion kämpften einen Krieg, der die Bevölkerung in keiner Weise schonen konnte. Der Zwang, Lebensmittel aus Dörfern zu requirieren, damit das eigene Auskommen gesichert werden konnte, ver­wandelte die Wehrmacht in marodierende Haufen. Sie wurden dies nicht nur aus rassis­tischen Motiven gegen die so genannten Untermenschen, sondern auch bedingt durch die Strukturzwänge des staatsfernen Raums. Ein partnerschaftliches Verhältnis zwi­schen Besatzern und Bevölkerung war unmöglich.36

Wie schon im Ersten Weltkrieg hatten die deutschen Truppen auch im Zweiten Weltkrieg nur die Städte und wichtige Kommunikationsverbindungen unter ihrer Kon­trolle. Die Deutschen igelten sich dort wie in Festungen ein. Das restliche Umland stell­te ein wildes, staatsfernes und gesetzloses Areal dar, in welchem Banden und Partisanen ihre Rückzugsgebiete und Einflusssphären besaßen. Sie raubten, vergewaltigten und mordeten in den Dörfern, so dass kaum ein Unterschied zwischen gewöhnlichen Ban­den und sowjetischen Partisanen gemacht werden konnte. Es brachen zahlreiche ethni­sche Konflikte zwischen Ukrainern, Polen, Russen und Juden aus. Wehrmacht und SS konnten als Besatzungsmacht kein Gewaltmonopol aufrechterhalten. Sie selbst traten als willkürliche Gewalttäter in einem Vernichtungsfeldzug auf und trugen zur Verschär­fung der Zustände bei. Gewalt strukturierte den Raum und nicht die Absichten der Be­satzer. Massenvergewaltigungen, Geiselnahmen und Verstümmelungen traten als typi­sches Kennzeichen des Krieges im staatsfernen Raum hervor. Die Ostfront erschien wie ein vormoderner Landsknechtkrieg. Die Umgebung und die Logik der Gewalt ver­wandelten die Soldaten in Gewaltmenschen, ungeachtet ihres sozialen Hintergrundes. Die Bolschewiken betrieben mit Terror einen Abwehrkampf und eine Fortsetzung der kommunistischen Revolution zugleich. Dabei führten sie, von Misstrauen geprägt, auch einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Erst Ende der 1940er Jahre hatte die So­wjetmacht durch rücksichtslosen Terror ihr Gewaltmonopol in der Ukraine und Weiß­russland wieder durchgesetzt.37

Der staatsferne Gewaltraum erzwang die Brutalisierung des Krieges. Er fungierte als Ermöglichungsterrain des Vernichtungskriegs und zwang die Kriegsteilnehmer in eine Gewaltordnung hinein, die von niemandem mehr kontrolliert werden konnte. Die Ideologie des Mordens hatte in den Köpfen der Nationalsozialisten und Kommunisten schon vor dem Krieg stattgefunden, aber die Bedingungen, die der staatsferne Gewal­traum bot, brachten die Menschen dazu, das gegenseitige Abschlachten auch zu ver- wirklichen.38

Die deutsche Besatzungsmacht im Raum Baranoviči Der Raum Baranoviči vor der deutschen Invasion Geopolitische Gegebenheiten des Raumes Baranoviči Die Oblast’39 Baranoviči stellte während des Zweiten Weltkrieges die Hochburg der sowjetischen Partisanenbewegung dar. Als das westlichste Territorium der Sowjetu­nion entzog es sich gleich zu Beginn des Krieges dem unmittelbaren Zugriff der sowje­tischen Zentralmacht. Die multiethnische Bevölkerungsstruktur aus Weißrussen, Polen, Juden und Litauern beherbergte ein großes interethnisches Konfliktpotential. Von 1919 an war der Raum als Wojewodschaft40 Nowogródek Bestandteil der Zweiten Polnischen Republik. Das Gebiet wurde nach der Invasion der Roten Armee im Osten Polens 1939 unter der Bezeichnung Oblast’ Baranoviči in die Verwaltungsstruktur der Sowjetunion integriert. Das Territorium der Oblast’ Baranoviči entsprach in etwa dem der Wojewod­schaft Nowogródek.41 Das Gebiet hatte eine Fläche von 23.300 km2 und wurde um 1940 von etwa 1,18 Millionen Menschen bewohnt. Riesige, fast urwaldartige Wälder bedeck­ten zu einem Viertel das Land. Ein Fünftel der Region bestand aus schwer zu passieren­den Sumpflandschaften. Die Infrastruktur war sehr schwach ausgeprägt. Bei starken Re­gen- oder Schneefällen war die Oblast’ nur schwer zu durchqueren. Sie war daher für größere reguläre militärische Operationen ein schwieriges Terrain, jegliche Mobilität war durch die geographischen Gegebenheiten eingeschränkt. Die permanente Kontrolle über die weiten Flächen des Gebietes war kaum zu gewährleisten. Aus diesen Gründen war der Raum der ideale Schauplatz für einen Guerillakrieg, in welchem Widerständler und Partisanen effektiv zahlreiche Verstecke aufsuchen konnten. Es gab nur wenig In­dustrie im Westen Belorusslands, die große Mehrheit der Bevölkerung lebte in bäuerli­chen Verhältnissen auf dem Land.42 Der Partisanenkrieg gilt in der Forschung als Phä­nomen von ländlichen Gebieten. In Städten und hochkomplexen und industrialisierten Gesellschaften sei er nur schwer durchführbar.43

Auf dem Gebiet der Oblast’ Baranoviči lebten Weißrussen, Polen, Juden, Litauer, Tataren und Russen. Die größte Bevölkerungsgruppe stellten die Weißrussen dar, ge­folgt von Polen und Juden. Die Polen waren größtenteils römisch-katholischen, die Weißrussen russisch-orthodoxen und die Juden mosaischen Glaubens. In der nordwest­lichen Gegend der Oblast’ um die Ortschaften Lida, Ščučin, Voložin und Stolbcy, leb­ten mehrheitlich Polen. In den übrigen Gebieten der Oblast’ stellten Weißrussen die Be­völkerungsmehrheit. Die meisten der Weißrussen und einige Polen lebten als Bauern unter sehr rückständigen und unproduktiven Verhältnissen auf dem Land. Die Agrargü­ter wurden zum größten Teil nur für den Eigenbedarf und nicht für den Markt herge­stellt. Die Städte wurden in der Mehrheit von jüdischen Handwerker und Händlern ge­prägt. Die unterentwickelte Wirtschaft bot jedoch besonders den jungen Juden wenig Perspektiven. Es gab nur eine kleine jüdische Oberschicht, dafür umso mehr Armut un­ter ihnen. Kommunistische Ideen waren daher besonders bei der jüdischen Jugend be­liebt. Die politischen Eliten und das Beamtentum wurden in der Regel von den Polen gestellt. Die Arbeiterschaft in dem Gebiet hatte eine eher untergeordnete Bedeutung und bestand vor allem aus Polen und Juden und seltener aus Weißrussen.44

Die Wojewodschaft Nowogródek gehörte, wie die anderen Gebiete der Kresy Wschchodnie45, zu den ärmsten und wirtschaftlich am meisten unterentwickelten Gebie­ten der Zweiten Polnischen Republik.46 In gewisser Weise ließen sich anhand der ethni­schen Gruppen auch die sozialen und religiösen Schichten ablesen. Die Polen bildeten eine privilegierte Schicht, die die Weißrussen und die Juden diskriminierte. Dies zeigte sich an der Schul- und Sprachpolitik, in welcher das Polnische dominierte, sowie an ge­zielten polnischen Siedlungsprojekten und der Begünstigung polnischer Händler. Diese Politik der Polonisierung wurde von den Belorussen und der jüdischen Bevölkerung als Diskriminierung wahrgenommen, die zu antipolnischen Ressentiments führte. Die sozi­alwirtschaftlichen Bedingungen erhöhten dabei die Spannungen.47 So könnte die zum Teil chauvinistische polnische Politik im Westen Weißrusslands den weißrussischen Nationalismus gefördert haben.48 Es ist jedoch festzuhalten, dass gerade die weißrussi­schen Bauern, die häufig Analphabeten waren, kaum ausgeprägte nationalistische Vor­stellungen hatten.49

Der Raum Baranoviči unter Sowjetherrschaft 1939-1941

Am 17. September 1939 marschierte die Rote Armee im Zuge des Ribbentrop- Molotow-Paktes im Osten Polens ein. Sie stieß dabei auf nur schwache polnische Ver­bände. Die sowjetische Militärführung bezeichnete diese als Guerilla-Banden. Es soll auch vereinzelt zu Gefechten mit weißrussischen Gruppen gekommen sein. Die sowjeti­schen Verbände waren unzureichend auf Kriegshandlungen vorbereitet. Die Gefechte nahmen ein chaotisches Bild an, in dem keine klaren Fronten zu erkennen waren und kaum ein Unterschied zwischen Zivilisten und Kombattanten gemacht werden konnte. Bei den Kämpfen um Baranoviči kam es zu hohen Verlusten auf allen Seiten. Es herrschten Chaos, Plünderungen und Zersetzungserscheinungen verbunden mit bürger­kriegsähnlichen, interethnischen Auseinandersetzungen.50 Aktivisten und Diversanten örtlicher kommunistischer Organisationen, vorwiegend Weißrussen und Juden, unter­stützten den sowjetischen Vormarsch. Sie schlossen sich den so genannten „Roten Mili­zen“, vom NKWD aufgestellten paramilitärischen Gruppen, an, die die örtliche Bevöl­kerung terrorisierten und plünderten.51

Auf die Besetzung der Wojewodschaft Nowogródek durch die Rote Armee folgte eine rasche und gnadenlose Sowjetisierung des Gebietes.52 Die Wojewodschaft wurde der Sowjetunion als Oblast’ Baranoviči einverleibt. Das Sowjetsystem wurde dabei durch massive Propaganda und Terror eingetrichtert. Der Terror richtete sich besonders gegen die Polen, die generell als sowjetfeindliches Element betrachtet wurden. Die so­wjetischen Besatzer instrumentalisierten die ethnischen Spannungen der Region be­wusst zur Machterhaltung, indem sie die einzelnen Volksgruppen gegeneinander auf­hetzten. Alle polnischen Staatsbediensteten verloren ihre Stellung. Polnische Groß­grundbesitzer und Unternehmer wurden enteignet, während man polnische Siedler nach Sibirien deportierte. Der polnische Widerstand wurde bereits weitgehend im Keim er­stickt. Untergrundkämpfer wurden verfolgt und massiven Repressalien ausgesetzt. Die Polen wurden von einer bevorzugten Elite zu einer diskriminierten Randgruppe. Die Mehrheit der weißrussischen Bauern begrüßte zunächst die sowjetische Invasion. Sie hofften durch die neuen Machthaber und den Sozialismus profitieren zu können. Durch die allgemeine wirtschaftliche Mangellage und die ab 1940 einsetzende Zwangskollekti­vierung wurden aber auch die weißrussischen Bauern zunehmend von der Sowjetunion entfremdet. Dies führte zu Unmut und passivem Widerstand. Die Juden profitierten und litten gleichzeitig am neuen Sowjetsystem. Sie empfanden das Ende der polnischen Herrschaft ebenfalls zunächst als Segen. Während die jüdischen Arbeiter und Handwer­ker von den politischen Maßnahmen der Sowjetunion profitierten, indem der Sowjet­staat für sie viele neue Arbeitsplätze schuf, wurden gleichzeitig Kaufleute, Unternehmer und Freiberufler verfolgt und deportiert. Die Juden kamen damit in die ungünstige Lage, dass einige von ihnen Opfer des neuen Systems wurden, während andere jüdische Schichten von den neuen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen profitieren konnten. Der Aufstieg vieler Juden im neuen Sowjetsystem zog den Neid der anderen Bevölkerungsschichten auf sich. Sie wurden von ihnen zum Nutznießer des Sowjetsys­tems abgestempelt. Laut Bogdan Musial wurden unter der sowjetischen Herrschaft in der Oblast’ Baranoviči von 1939 bis 1941 etwa 330.000 bis 400.000 Menschen depor­tiert, über 100.000 inhaftiert und gefoltert und Tausende ermordet.53

Das Sowjetregime versuchte nicht, ethnische Konflikte zu beenden, sondern schürte die Auseinandersetzungen zum Teil. Private Gewalt wurde von den neuen Machthabern zugelassen. Propagandakampagnen heizten die Stimmung zusätzlich auf. Die Autorität der Sowjetmacht stütze sich dabei auf bestimmte Cliquen, was in Ansät­zen einer Entstaatlichung nahe kam. Einzelne Gruppierungen, welche nun das neue So­wjetsystem stützen, führten bewaffnete Plünderungszüge durch. Es herrschte ein Klima von Neid, Missgunst und Denunziation. Bernhard Chiari sieht hier die Anfänge eines „Lebens“ der örtlichen Bevölkerung „in Reaktion.“54 Die Maßnahmen der Sowjetisie- rung in der Oblast’ Baranoviči führten zu einer massiven Verschärfung der interethni­schen und sozialen Spannungen.55 Am Vorabend der Deutschen Invasion herrschte so­mit ein angespanntes Klima des Hasses unter der Bevölkerung vor, welches ein großes Potential zur Gewalteskalation und damit zu einer Brutalisierung des Krieges an der O stfront beherbergte.56

Die Deutsche Besatzungspolitik in der Oblast’ Baranoviči

Die Verwaltungsstruktur der deutschen Besatzungsmacht

Am 22. Juni 1941 startete das Deutsche Reich das Unternehmen Barbarossa und leitete damit eine neue Phase des Krieges ein.

[...]


1 Vgl. Chiari, Bernhard: Die Büchse der Pandora. Ein Dorf in Weißrussland 1939 bis 1944, in: Müller, Rolf-[Dieter / Volkmann, Hans-Erich (Hrsg.): Die Wehrmacht. Mythos und Realität. München 1999, S. 879.

2 Baberowski, Jörg: Kriege in staatsfernen Räumen: Russland und die Sowjetunion 1905-1950, in: Bey- rau, Dietrich u.a. (Hrsg.): Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart (Krieg in der Ge­schichte, Bd. 37). München 2007, S. 291-310.

3 Musial, Bogdan (Hrsg.): Sowjetische Partisanen in Weißrussland. Innenansichten aus dem Gebiet Ba­ranovici 1941-1944. Eine Dokumentation. München 2004.

4 Nolte, Hans-Heinrich (Hrsg.): Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941. Hannover 1991.

5 Klein, Peter (Hrsg.): Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD. Berlin 1997.

6 Dallin, Alexander: Deutsche Herrschaft in Russland 1941-1944. Eine Studie über Besatzungspolitik. Düsseldorf 1958.

7 Chiari, Bernhard: Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrussland 1941-1944. Düsseldorf 1998.

8 Richter, Timm C.: „Herrenmensch“ und „Bandit“. Deutsche Kriegsführung und Besatzungspolitik als Kontext des sowjetischen Partisanenkrieges (1941-44). Münster 1998.

9 Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weiß­russland 1941 bis 1944. Hamburg 1999.

10 Heer, Hannes: Tote Zonen. Die deutsche Wehrmacht an der Ostfront. Hamburg 1999.

11 Arnold, Klaus Jochen: Die Wehrmacht und die Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten der Sowje­tunion. Kriegsführung und Radikalisierung im „Unternehmen Barbarossa“. Berlin 2005.

12 Kenneth, Slepyan: Stalin’s Guerillas. Soviet Partisans in World War II. Lawrence 2006.

13 Armstrong, John A. (Hrsg.): Soviet Partisans in World War II. Madison 1964.

14 Cooper, Matthew: The Phantom War. The German Struggle against Soviet Partisans 1941-1944. Lon­don 1979.

15 Brakel, Alexander: „Das allergefährlichste ist die Wut der Bauern.“ Die Versorgung der Partisanen und ihr Verhältnis zur Zivilbevölkerung. Eine Fallstudie zum Gebiet Baranowicze 1941-1944, in: Viertel­jahreshefte für Zeitgeschichte 3 (2007), S. 393-424; Brakel, Alexander: Gewalt der Sowjetischen Parti­sanen gegen die Zivilbevölkerung, in: Richter, Timm C. (Hrsg.): Krieg und Verbrechen. Situation und Intention: Fallbeispiele. München 2006, S. 147-156.

16 Münkler, Herfried: Die Neuen Kriege. Reinbek 2002, S. 7f.

17 Baberowski, Kriege in staatsfernen Räumen, S. 292.

18 Vgl. Münkler, Herfried: Der grenzenlose Krieg, in: Der Tagesspiegel vom 03.03.2001.

19 Vgl. Ders., Die neuen Kriege, S. 9f.

20 Vgl. Langewiesche, Dieter: Zum Wandel von Krieg und Kriegslegitimation in der Neuzeit, in: Journal of Modern European History 2 (2004), S. 6.

21 Vgl. Barth, Boris: „Partisan“ und „Partisanenkrieg“ in Theorie und Geschichte, in: Militärgeschichtli­che Zeitschrift 64 (2005), S. 94f.

22 Vgl. ebd., S. 95f.

23 Vgl. Baberowski, Kriege in staatsfernen Räumen, S. 292f.; Baberowski, Jörg: Moderne Zeiten? Ein­führende Bemerkungen, in: Baberowski, Jörg (Hrsg.): Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert. Göttingen 2006, S. 9.

24 Langewiesche, Dieter: Eskalierte die Kriegsgewalt im Laufe der Geschichte? In: Baberowski, Jörg (Hrsg.): Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert. Göttingen 2006, S. 12-36.

25 Vgl. Baberowski, Kriege in staatsfernen Räumen, S. 293f.

26 Vgl. ebd., S. 293f.

27 Vgl. ebd., S. 294f.

28 Vgl. Baberowski, Kriege in staatsfernen Räumen, S. 303; Münkler, Die neuen Kriege, S. 144-145;

29 Vgl. Ders., Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, 2. Aufl., München 2004, S. 34-53.

30 Vgl. Ders., Kriege in staatsfernen Räumen, S. 304f.

31 Vgl. ebd., S. 305f.; vgl. auch Arnold, Die Wehrmacht und die Besatzungspolitik, S. 271-295.

32 Vgl. ebd., S. 295ff.

33 Vgl. ebd., S. 300ff.

34 Ebd., S. 303.

35 Ebd., S. 303.

36 Vgl. Horowitz, Donald L.: The Deadly Ethnic Riot. Berkeley 2001, S. 224.

37 Vgl. Baberowski, Kriege in staatsfernen Räumen, S. 307f.

38 Vgl. ebd., S. 308f.

39 Das Wort Oblast’ bedeutet auf Russisch „Gebiet“, es handelt sich dabei um einen Verwaltungsbezirk.

40 Die Wojewodschaft ist die polnische Form eines Verwaltungsbezirks.

41 Das westlich von Minsk gelegene Gebiet erstreckte sich westlich bis zur Ortschaft Slonim. Im Norden reichte es bis über den Umkreis Stadt Lida hinaus. Im Osten begrenzte die Umgebung um Slutsk die Oblast’.

42 Vgl. Musial, Sowjetische Partisanen, S. 10.

43 Vgl. Barth, MgZ 64, S. 87f.

44 Vgl. Musial, Sowjetische Partisanen, S. 11f.

45 Bei den Kresy Wschodnie handelt es sich um die westlichen Teile der späteren Belorussischen Sowjet­republik, sowie Teilen der nördlichen Ukraine.

46 Vgl. Chiari, Alltag hinter der Front, S. 33.

47 Vgl. Musial, Sowjetische Partisanen, S. 11f; Musial, Bogdan: „Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen“. Die Brutalisierung des deutsch-sowjetischen Krieges im Sommer 1941. Berlin 2000, S. 28f.

48 Vgl. Dallin, Deutsche Herrschaft, S. 211.

49 Vgl. Chiari, Alltag hinter der Front, S. 31.

50 Vgl. ebd., S. 36f.

51 Vgl. Krajewski, Kazimierz: Der Bezirk Nowogródek der Heimatarmee. Nationalitätenkonflikte und politische Verhältnisse 1939 bis 1945, in: Chiari, Bernhard (Hrsg.): Die polnische Heimatarmee. Ge­schichte und Mythos der Armija Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg. München 2003, S. 565.

52 Vgl. Musial, „Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen“, S. 31ff.

53 Vgl. Musial, Sowjetische Partisanen, S. 13f.; vgl. auch Chiari, Alltag hinter der Front, S. 46ff.

54 Chiari, Alltag hinter der Front, S. 42f.

55 Vgl. Musial, „Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen“, S. 81.

56 Vgl. ebd., S. 286f.; Ebd., S. 291.

Ende der Leseprobe aus 91 Seiten

Details

Titel
Partisanenkrieg in Weißrussland - Anarchie und Zerstörung im Raum Baranoviči 1941-1944
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Seminar für Zeitgeschichte)
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
91
Katalognummer
V161774
ISBN (eBook)
9783640760879
ISBN (Buch)
9783640761227
Dateigröße
885 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Partisanenkrieg, Weißrussland, Anarchie, Zerstörung, Raum, Baranoviči
Arbeit zitieren
Lukasz Konieczny (Autor:in), 2008, Partisanenkrieg in Weißrussland - Anarchie und Zerstörung im Raum Baranoviči 1941-1944, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/161774

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