Laste dich aus!

Über das Unbehagen an der gegenwärtigen Lebenskunst


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2009

14 Seiten


Leseprobe


INTRO

Gibt es hier Wasser? Könnte ich bitte etwas Wasser bekommen?

Wir fangen auch sofort an. Tschuldigung, ich bin nur ein bisschen … durch den Wind. Bin gerade erst rein. Das sind gerade so verrückte Wochen. Also so verrückte Wochen. Das geht schon an die Substanz.

Ich muss gleich nachher auch noch was machen. Ich muss noch nen Vortrag schreiben für eine Tagung im Jemen. Da geht’s um den Klimawandel. Ist ein ernstes Thema. Dann hab ich diesen Empfang in Südfrankreich; Kunst. Da werd ich mich auch noch gleich schnell auf ein Mittagessen treffen mit nem guten Kollegen. In Zürich. Sport muss ich machen. Das mach ich immer morgens. Ja, und die Familie will einen ja auch noch irgendwann mal zu Gesicht bekommen. Und die Geliebte… Muss ja alles irgendwann gemacht werden.

Zwischendurch schreib ich noch zwei Konzepte; eins für diese Tombola-Tour durch die prekären Gebiete in der ostdeutschen Provinz. Das ist mir ne Herzensangelegenheit seit ich mir das damals mal auf der Durchreise angesehen habe. Und für so was gibt die EU ja auch richtig Schotter raus, wenn man’s clever anstellt - vor allem wenn das dann noch in der Nähe zu Polen ist…

Und dann noch ein Konzept für den Bundestag; „Kultur braucht Kapital“, heißt das. Ist voll finanziert. Muss man aber halt die richtige Idee zur richtigen Zeit haben, um an die Töpfe ranzukommen…

Ich komm aus dem Konzepte-Schreiben gar nicht mehr raus. Anträge und Konzepte. Ich mach eigentlich fast nichts anderes mehr. Jede bekloppte Idee - mach ich ’n Konzept draus. Muss man ja. Ohne Konzept geht heute gar nichts mehr. Deswegen gibt’s ja so viele.

Und dann hat man auch noch Freunde. So eine Freundschaft, die will ja gepflegt sein, sonst geht die ein, nicht? Das ist wie ein Pflänzchen, so muss man sich das vorstellen. Wie ein kleines, zartes Pflänzchen. Also, am Anfang. Und dann später eigentlich auch. Ich lerne deshalb auch ganz bewusst gar keine neuen Leute mehr kennen. Ich hätt eh keine Zeit, mich um die zu kümmern.

Ich habe auch - das wird Sie wahrscheinlich gar nicht interessieren - ich hab auch seit längerem schon den Wunsch, den Watzmann zu besteigen. Ich weiß auch nicht. Ist so ein Spleen von mir. Ich bin ja - das wussten Sie wahrscheinlich noch gar nicht - Mitglied im Deutschen Brombeerclub und wenn die Genossen, also die Mitglieder, also die Freunde, das sind ja alles Freunde, wenn die also dann davon erzählen, wie das ist auf dem Watzmann, auch auf anderen Bergen, aber eben doch vor allem auf dem Watzmann, dann werde ich da schon manchmal so sehnsüchtig, so sentimental, nicht? Doch, also der Watzmann, das wär schon was. Da hoch und dann mal so richtig durchatmen. Mal wieder zu sich selbst kommen. Auch so eine innere Ruhe finden. Gelassenheit. - Und dann halt wieder zurück.

Hm.

I. GLÜCK UND SO

Es lässt sich beobachten, dass die Frage nach dem Glück derzeit eine häufig gestellte ist. Ferner mangelt es nicht an Versuchen, diese Frage auch zu beantworten. Unsere Gegenwart ist geprägt von mannigfachen Äußerungen dazu, wie sich ein glückliches und erfülltes Leben führen lässt.

Die Orte und Arten der entsprechenden Entwürfe sind dabei sehr heterogen. Zeitgenössische Lebenskunst reicht von stark psychologisch geprägten Modellen nahezu totaler Machbarkeit über spirituelle Konzepte zur Erlangung innerer Kraft und Seelenruhe bis hin zur ausschweifenden Behandlung lebenspraktischer Probleme in der Populärkultur. Seit neuestem interessiert sich sogar die akademische Philosophie wieder verstärkt für dieses Feld, das sie einst im Zuge der Ausdifferenzierung einzelner Wissenschaftsbereiche aus den Augen verloren hatte.

Man könnte nun meinen, dass Menschen immer schon intensiv nach dem Glück gesucht hätten. Das führt dann zu so beliebten Einleitungssätzen wie: „Die Frage nach dem Glück ist so alt wie die Geschichte der Menschheit.“ Solche Äußerungen sind trügerisch. Sie suggerieren eine Kontinuität und Stabilität von menschlichen Problematisierungsstrategien, wobei unterzugehen droht, welch eklatante Unterschiede bei der Suche nach einem glückenden bzw. glücklichen Leben zwischen verschiedenen Kulturen und natürlich auch bereits innerhalb einer Kultur bestehen. Dementsprechend geht es mir an dieser Stelle auch darum, charakteristische Züge für gegenwärtige Glückskonzepte ausfindig zu machen, also solche Aspekte zu isolieren, die sich in vielen dieser Entwürfe wiederfinden. Denn so alt das Bestreben, eine Lebenskunst, also eine Strategie für den gelingenden Umgang mit der eigenen Existenz zu finden, auch sein mag, so speziell scheint mir doch das aktuelle Gefüge zu sein, das sich in den letzten, sagen wir, 50 Jahren um diesen traditionellen Topos herum gebildet hat.

Dieter Mersch zufolge orientiert sich die Kultur unserer Gegenwart an einer Kultivierung des Technischen im buchstäblichen Sinne: Techniken der Mobilität, der Lebensbequemlichkeit, der Mediatisierung und Speicherung aller möglichen Daten und Erfahrungen, der Erforschung immer tieferer Bereiche der Natur, um deren Verbesserung willen und um der Erzeugung und Reproduktion weiterer Techniken und aller möglichen Illusionen1.

Geführt wird hier - stark vereinfacht und mit den Worten Friedrich Nietzsches gesprochen - ein Kampf „um ‚Mehr’ und ‚Besser’ und ‚Schneller’ und ‚Öfter’“2.

In ihrer Fokussierung auf die Möglichkeiten zur Optimierung aller erdenklichen Lebensbereiche verdammt sich die heutige westliche Kultur dazu, sich ständig selbst übertreffen zu müssen. Daher muss man in ihr auch grundsätzlich davon ausgehen, dass die Dinge so, wie sie sind, nie gut genug sein können. In diesem Sinne besteht ein permanenter Handlungsbedarf, eine unablässige Aufforderung zur Tat - einer Tat, durch die Bestehendes zum Besseren verändert werden soll. In einer an Techniken und Technologien reichen Gegenwart fehlt es dann auch nicht an Mitteln und Wegen, solche Verbesserungsvorhaben in Angriff zu nehmen.

Zeitgenössische Lebenskunst ist von diesem Diktat des optimierenden Eingriffs nachhaltig geprägt. Entweder huldigt sie ihm rückhaltlos und weitet es bruchlos auf die Haltung des Einzelnen zu sich selbst aus („Holen Sie das Beste aus sich heraus und werden Sie der Mensch, der Sie immer sein wollten.“) oder aber sie versucht, die Schaffung von Räumen für den unüblich gewordenen Zustand der Inaktivität als temporäre „Auszeit“ zu unterstützen („Lernen Sie, sich zu entspannen.“ „Schalten Sie einfach mal ab.“).

Das Besondere hierbei ist ein spezielles Verständnis dessen, was die Transformierung seiner selbst mithilfe einer Lebenskunst bedeutet. Denn sicherlich kann man sagen, dass auch frühere Konzeptionen vom Erreichen des individuellen Glücks auf eine Steigerung des Selbst abzielten. Doch scheinen die spezifische Art und das Ziel des Steigerns in den gegenwärtigen Lebenskunstentwürfen doch eine neue Erscheinung zu sein. Nicht umsonst kommt dem Begriff der „Optimierung“ derzeit eine Schlüsselrolle zu. Man kann Prozesse optimieren, Umsatzzahlen und Wandlungsraten - und eben auch die eigene Person. Die „Selbstoptimierung“ zielt vor allem auf ein maximales, effizientes Ausreizen und Auslasten des eigenen Potentials sowie dessen, was das Leben zu bieten hat. Die Fähigkeiten und Techniken zu erlernen, sich und seinem Dasein das Meistmögliche zu entlocken, kann als ein zentrales Motiv zahlreicher gegenwärtiger Lebenskunstkonzepte angesehen werden.

Auffällig ist zudem, dass viele der heutigen Glücksstrategien auf eine quasi- naturwissenschaftliche Weise argumentieren. Sie sind durchzogen von einem strengen Ursache-Wirkung-Verständnis und verwenden Erkenntnisse aus der Psychologie, der Biologie und der Neurowissenschaft, salopp und einprägsam auch oft „Hirnforschung“ genannt. Auf diese Weise scheint es möglich zu sein, glückliche Zustände ganz gezielt und verlässlich herbeizuführen. Da man nun zu wissen glaubt, wo im menschlichen Körper die „guten Gefühle“ produziert werden - im Gehirn - und wie diese Produktion durch selbst gesetzte Impulse angeregt werden kann, eröffnen sich für die Selbstoptimierung bisher ungeahnte Möglichkeiten.

Es wird zu fragen sein, was sich in dieser Lebenskunst noch ausdrückt, außer der womöglich gut gemeinte Vorsatz, den Menschen dabei zu helfen, ein zufriedeneres Leben zu haben.

II. DIR RATGEBERLEBENSKUNST DER GEGENWART

Es gibt nicht die gegenwärtige Lebenskunst. Wann immer ich dennoch davon spreche, polemisiere ich. Wie bereits angedeutet, ist das Feld der Entwürfe zur Gestaltung eines glücklichen Daseins heutzutage sehr breit und vielschichtig.

Ich will mich im Folgenden besonders der zeitgenössischen Lebenskunst widmen, die mir in besonderem Maße mit einer auffälligen Doppelzüngigkeit aufzutreten scheint.

[...]


1 Dieter Mersch, Europäische Kulturgeschichte I, Druckversion (auf CD-Rom), Potsdam 2006, S. 154.

2 Friedrich Nietzsche, Umwertung aller Werte, Bd.1, zitiert nach: Mersch, Europäische Kulturgeschichte I, S. 155.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Laste dich aus!
Untertitel
Über das Unbehagen an der gegenwärtigen Lebenskunst
Hochschule
Fachhochschule Potsdam
Autor
Jahr
2009
Seiten
14
Katalognummer
V177740
ISBN (eBook)
9783640994731
ISBN (Buch)
9783640995929
Dateigröße
438 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Bei dem Text handelt es sich um einen Vortrag für eine Konferenz zum Thema "Geschwindigkeit" im Rahmen der Veranstaltung "APPLAUS 2009" an der Fachhochschule Potsdam.
Schlagworte
Lebenskunst, Glück, Ratgeber, Glücksratgeber, Foucault, simplify your life, Gouvernementalität, Selbsttechniken, Neoliberalismus, Positive Psychologie, Positives Denken
Arbeit zitieren
Falk Rößler (Autor:in), 2009, Laste dich aus!, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/177740

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