Die Ansätze der Arbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen sind in Theorie und Praxis seit
langem umstritten. Auffallend ist dabei eine immer wiederkehrende Arbeit mit Polemik und Angriffen
auf Vertreter einzelner Ansätze. Schlagworte der Diskussion sind „Glatzenpflege auf Staatskosten“,
„Vernachlässigung der Opferperspektive“ und „Stärkung der Täter“.
Der Ansatz der Initiative EXIT-Deutschland im Rahmen der ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH beinhaltete von Anbeginn die Schaffung eines Angebots für Personen des rechtsextremen
Spektrums.
Erklärtes Ziel war dabei jedoch nicht die Betreuung einer aus sozialpädagogischer Sicht gekennzeichneten
Problemklientel, sondern die Ermöglichung des Ausstiegs aus rechtsextremen Gruppen
und besonders auch aus rechtsextremen Ideologiebildern, die als Grundlage rechtsextrem
motivierter Verhaltensweisen verstanden werden. Dabei war immer leitend, dass es nicht nur um
eine Resozialisierung im rechtlich präferierten Sinne oder nur um die Abstinenz von Szene und
Organisationen des Rechtsextremismus geht.
EXIT-Deutschland ist dabei in ein geistiges und alltägliches Netzwerk eingebunden, dessen
grundsätzliches Ziel die Stärkung der demokratischen Kultur war und hat sich dem entsprechend
stets als Bestandteil zivilgesellschaftlichen Engagements, neben dem Engagement für die Opfer
rechtsextremer Gewalt und vieler demokratischer Initiativen vor Ort, verstanden.
Kritiker können einwenden, dass eine Vielzahl von Mängeln im Handeln sowohl in politischer und
fachlicher Hinsicht je nach Kritikmuster identifizierbar sind. Ein Einwand ist: wer hat sich sonst auf
den Weg begeben?
Neben EXIT-Deutschland gibt es nur zwei nichtstaatliche Initiativen in Sachsen und Brandenburg,
von denen wir wissen. Hier geht es um ein Feld, das schwierig ist und den historischen Gewohnheiten
in der deutschen Gesellschaft kaum entspricht. Die Kritik war und ist dennoch ein Gewinn
für unsere Erkenntnis. [...]
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
Zu Erfahrungen und Aspekten der EXIT-orientierten Jugendarbeit
Dierk Borstel und Bernd Wagner
Expertengespra ch
,,Denk‘ ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht..."
Interview mit Bernd Wagner
Konstantin Peiper
Gesprache mit Aussteigern aus der rechtsextremen Szene
,,Rechtsextremismus ist Aberglaube..."
Ein Gesprach mit Matthias Adrian
Jesko Eisgruber, Daniela Slavik und Kerstin Sischka
Es gibt keine allgemeingultige Methode fur die ausstiegsorientierte Jugendarbeit
Ein Kommentarvon Daniela Slavik
Was konnen Aussteiger uns uber die Arbeit mit rechtsextremen Jugendlichen lehren?
Ein Kommentarvon Jesko Eisgruber
,,Es gibt ja noch viele andere Farben im Leben"
Ein Gesprach mit einem NPD-Aussteiger
Jesko Eisgruber, Daniela Slavik und Kerstin Sischka
Ausstieg durch Auseinandersetzung
Ein Kommentarvon Jesko Eisgruber
Autobiographische Reflektion
Nick W. Greger: ,,Im Teufelskreis der Gewalt“ -
Ein Aussteiger berichtet uber seine Erlebnisse und Erfahrungen in der Neonazi-Szene Buchankundigung
Theorie
Der EXIT-orientierte Ansatz
Bernd Wagner
Handlungsfelder
EXIT-orientierte Arbeit mit inhaftierten Jugendlichen - ein Spotlight aus Thuringen
Dierk Borstel
Schule, demokratische Kultur und Strategien gegen Rechtsextremismus - einige Anregungen
Kerstin Sischka
Serviceteil
Weiterfuhrende Literatur
Eine Zusammenstellung von Dierk Borstel
Publikationen
des Zentrum Demokratische Kultur und der Initiative EXIT-Deutschland
Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an dieser Publikation
Einleitung
Zu Erfahrungen und Aspekten der EXIT-orientierten Jugendarbeit
Dierk Borstel und Bernd Wagner
Die Ansatze der Arbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen sind in Theorie und Praxis seit langem umstritten. Auffallend ist dabei eine immer wiederkehrende Arbeit mit Polemik und Angrif- fen auf Vertreter einzelner Ansatze. Schlagworte der Diskussion sind „Glatzenpflege auf Staats- kosten“, „Vernachlassigung der Opferperspektive“ und „Starkung der Tater“.
Der Ansatz der Initiative EXIT-Deutschland im Rahmen der ZDK Gesellschaft Demokratische KulturgGmbH beinhaltete von Anbeginn die Schaffung eines Angebots fur Personen des rechts- extremen Spektrums.
Erklartes Ziel war dabei jedoch nicht die Betreuung einer aus sozialpadagogischer Sicht gekenn- zeichneten Problemklientel, sondern die Ermoglichung des Ausstiegs aus rechtsextremen Grup- pen und besonders auch aus rechtsextremen Ideologiebildern, die als Grundlage rechtsextrem motivierter Verhaltensweisen verstanden werden. Dabei war immer leitend, dass es nicht nur um eine Resozialisierung im rechtlich praferierten Sinne oder nur um die Abstinenz von Szene und Organisationen des Rechtsextremismus geht.
EXIT-Deutschland ist dabei in ein geistiges und alltagliches Netzwerk eingebunden, dessen grundsatzliches Ziel die Starkung der demokratischen Kultur war und hat sich dem entsprechend stets als Bestandteil zivilgesellschaftlichen Engagements, neben dem Engagement fur die Opfer rechtsextremer Gewalt und vieler demokratischer Initiativen vor Ort, verstanden.
Kritiker konnen einwenden, dass eine Vielzahl von Mangeln im Handeln sowohl in politischer und fachlicher Hinsicht je nach Kritikmuster identifizierbar sind. Ein Einwand ist: wer hat sich sonst auf den Weg begeben?
Neben EXIT-Deutschland gibt es nur zwei nichtstaatliche Initiativen in Sachsen und Brandenburg, von denen wir wissen. Hier geht es um ein Feld, das schwierig ist und den historischen Gewohn- heiten in der deutschen Gesellschaft kaum entspricht. Die Kritik war und ist dennoch ein Gewinn fur unsere Erkenntnis.
In der Startphase von EXIT-Deutschland ab 2000 war zunachst an die direkte Ausstiegshilfe und -begleitung als Erganzung anderer Aktivitaten aus dem Raum demokratischer Kultur gedacht worden. Bedingt durch ein massives Interesse unterschiedlicher Seiten an unserer Initiative konn- te der Ansatz in die Richtung einer Konzeption der ausstiegsorientierten Jugend- und Erwachse- nenarbeit erweitert werden. Dies eroffnet neue Perspektiven von Moglichkeiten, ein neues Prisma demokratischen Handelns.
In der Vergangenheit wurden Konzepte der Arbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen im sozialen Raum in den unterschiedlichsten Situationen exemplifiziert. Gegenuber der Erfolgser- wartung wuchsen in der Theorie- und Projektbilanz zumeist die Fragen uberproportional an. Ken- nern des Problems Rechtsextremismus war jedoch immer klar, das es keine Alternative dazu gibt, nach Wegen zu suchen, wie mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen und jungen Erwach- senen gearbeitet werden kann.
Aufbauend auf den in der Arbeit mit den Aussteigern gesammelten Erfahrungen entstand die Idee, ein Modell der Jugendarbeit zu entwerfen, die beispielsweise Aussteiger integriert und sie selber zu federfuhrenden Personen der Projektumsetzung macht. Denn: Wer kennt die Szene- mechanismen besser, als diejenigen, die in der Szene gelebt haben? Wer kennt die Ausstiegs- motivationen besser als diejenigen, die ausgestiegen sind? Wer spricht eine Sprache, die auch in der Szene verstanden wird? Wer reizt mehr zur Auseinandersetzung als derjenige, der in den Augen der rechtsextremen Szene als Verrater angesehen wird?
Aussteiger provozieren Diskussionen und diese erleichtern den Zugang auch zu bisher scheinbar hermetisch abgeriegelten Cliquen. Dieser Einsatz der Aussteiger wurde dabei immer als ein er- ganzendes Modell zu bestehenden Ansatzen der Arbeit mit rechtsextremen Jugendlichen verstanden und kann bestehende, professionelle Ansatze nicht ersetzen, sondern bereichert diese um eine wichtige politische Komponente.
EXIT-orientierte Jugendarbeit meint naturlich mehr als die Integration von Aussteigern: Viele Aussteiger berichten uns, dass ihnen in ihrer Zeit in der rechtsextremen Szene nahezu aus- schlieBlich Diskussionsverweigerung in Schule, Jugendarbeit, Familie und im offentlichen Raum begegnet sei. Statt aktiver Auseinandersetzung gab es eine Welle von Ignoranz oder Verbote, die sie selbst immer nur als Bestatigung ihrer Systemkritik begriffen haben.
Der EXIT-orientierte Ansatz setzt an diesem Defizit an und versucht gezielt Situationen zu schaf- fen, in denen kompetent Themen diskutiert werden, die die rechtsextrem orientierten Jugendlichen interessieren. Dabei erfolgt jedoch keine Unterstutzung ideologischer Momente sondern der EXIT-orientierte Ansatz sucht die Bruche in den Weltbildern, hinterfragt die Parolen verstandlich, verweist auf Widerspruche und versucht, bei den Jugendlichen Zweifel an den fest gefugten Glaubenssatzen zu erzeugen. Zu diesem Ansatz gehort der intensive Kontakt zur Zielgruppe, die das Aufbauen von Beziehungen bei konsequenter Distanz zu den rechtsextremen Weltbildern und eigene aktive demokratische Grunduberzeugungen voraussetzt.
Eine solche Arbeit kann, das zeigen unsere Erfahrungen, auch ohne Aussteiger erfolgen.
Diese Schrift soll uber erste Erfahrungen berichten und die Konzeption des Ansatzes der EXIT- orientierten Jugendarbeit umreiBen. Die EXIT-orientierte Erwachsenenarbeit findet zunachst noch keine ausdruckliche Berucksichtigung und wird an anderer Stelle starker thematisiert.
Die Arbeitsschrift der Initiative EXIT-Deutschland zur EXIT-orientierten Jugendarbeit soll keine Eintagsaktion bleiben. Geplant sind weitere thematische Arbeitsschriften, die in loser Folge er- scheinen.
Zum Aufbau der vorliegenden Publikation seien folgende Einfuhrungen gegeben: Zunachst be- schreibt der Leiter von EXIT-Deutschland Bernd Wagner in einem Expertengesprach ausfuhrlich die Entstehung des Ansatzes und erste Erfahrungen damit. Dem gesellschaftlichen Kontext, in welchen das Problemfeld des Rechtsextremismus einzuordnen ist, wird besondere Aufmerksam- keit gewidmet. EXIT-orientierte Jugendarbeit wird von Bernd Wagner im Zusammenhang mit kommunaler Demokratieentwicklung und zivilgesellschaftlicher Vernetzung diskutiert. Moglichkei- ten und Grenzen padagogischer Arbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen werden herausgearbeitet und Anforderungen an zivilgesellschaftliches und staatli- ches Handeln formuliert.
Auf dieses Expertengesprach folgen zwei Interviews mit Aussteigern aus der rechtsextremen Szene, die nicht nur von EXIT in ihrem Ausstieg begleitet wurden sondern auch als Multi- plikatoren jugendbildnerische Aufgaben wahrnehmen. So haben z.B. beide Gesprachspartner, Matthias Adrian und Bjorn Dreispitz[1], umfangreiche Erfahrungen in Diskussionen mit Schulklas- sen sammeln konnen. Beide versuchen praventiv tatig zu werden und eroffnen durch ihr Engagement Jugendlichen die Option des Ausstiegs aus der rechtsextremen Szene.
In den beiden Aussteigergesprachen wird der Focus auf die Entwicklung der Ausstiegsmotivation gelegt; es wird die Frage aufgeworfen, wie diese Ausstiegsmotivation aktiv gefordert werden kann. Es wird auch darauf eingegangen, welche Erfahrungen Aussteiger allgemein mit den Reak- tionsweisen ihres Umfeldes gemacht haben - sowohl wahrend der Zeit in der Szene als auch danach.
Beide Aussteigergesprache sind originalgetreu und nur leicht gekurzt in dieser Publikation abge- druckt. Wohl wissend, dass das alltagssprachliche Interviewmaterial dem Lesenden eine hohe Konzentration abverlangt, haben wir uns fur diese Form entschieden, da es sich bei den biogra- phischen Gesprachen um zeitgeschichtliche Dokumente handelt, deren genauere Lekture fur die Arbeit mit rechtsextremen Heranwachsenden hoffentlich sehr anregend ist.
Auf die Aussteigergesprache folgen Kommentare von Daniela Slavik und Jesko Eisgru- ber. Beide sind Studierende der Politikwissenschaften, die an den Interviews mitgewirkt haben und auf dieser Basis ihre eigenen Deutungen, Fragen und Anregungen fur die EXIT-orientierte Jugendarbeit zur Diskussion stellen. Die Initiative EXIT-Deutschland mochte auf diese Weise einen interdisziplinaren Austausch fordern und Moglichkeiten schaffen, gemeinsam nach Antwor- ten auf noch ungeklarte Fragen zu suchen.
An die biographischen Gesprache schlieBt sich eine Buchankundigung an. Nick W. Gre- ger, der in Namibia die Entscheidung getroffen hat, aus dem rechtsextremen Milieu auszusteigen, in welchem er 13 Jahre seines Lebens verbrachte, hat in seiner zukunftigen neuen Heimat die Entscheidung getroffen zum Stift zu greifen und seine Vergangenheit niederzuschreiben. An dieser Stelle veroffentlicht die ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH einen Auszug aus Gregers Buch - einen Erzahlstrang, der wesentlich in Sudafrika und Namibia stattfindet und bei dem bereits erste Zweifel Gregers an seinen bisherigen rechtsextremen Welt- und Lebensvorstel- lungen deutlich werden. Das vollstandige Buch „Im Teufelskreis der Gewalt - Ein Aussteiger be- richtet uber seine Erlebnisse und Erfahrungen in der Neonazi-Szene“ wird demnachst von uns im Eigenverlag herausgebracht. Es folgt ein theoretischer Text von Bernd Wagner zum EXIT- orientierten Ansatz. Wagner formuliert normative Bezuge des Ansatzes, ebenso wie Zielkritierien und eine breitere theoretische Einbettung des EXIT-orientierten Ansatzes. Hervorgehoben wird ganz besonders die Bedeutung der ideologischen Weltbilder im Rechtsextremismus und die Her- ausforderung padagogisch adaquate Zugange fur die Arbeit mit rechtsextrem orientierten Heran- wachsenden zu finden. Wagner betont weiter das Selbstverstandnis der EXIT-orientierte Jugendarbeit als ein Mosaikstein in einer Gesamtstrategie der Starkung demokratischer Kultur in der Auseinandersetzung mit rechtsextremen Phanomenen.
Einige Erfahrungen mit EXIT-orientierter Jugendarbeit innerhalb des Justizvollzugs stellt dann Dierk Borstel dar. Der Mitarbeiter des Zentrum Demokratische Kultur war gemeinsam mit dem EXIT-Mitarbeiter Matthias Adrian an einem Modellprojekt im Jugendgefangnis von Ichters- hausen beteiligt, welches die ZDK GDK gGmbH zusammen mit der Friedrich Ebert Stiftung in Erfurt und der Leitung einer thuringischen Justizvollzugseinrichtung durchfuhrte. Beiden Einrich- tungen ist zu danken, dass diese Zusammenarbeit zustande kam und vielleicht im Jahr 2005 fortgefuhrt werden kann. Darin ist demokratische Weitsicht und Engagement enthalten, die heute nicht uberall selbstverstandlich sind, denn mit dem Projekt werden auch die Interessen von Men- schen angesprochen, die - heute noch nicht sichtbar - daruber nachdenken, die rechtsextreme Szene zu verlassen.
Im Artikel von Dierk Borstel wird ein Einblick in dieses Modellprojekt gegeben; es werden Zielstel- lung, Organisation und Methodik ebenso wie eine Zwischenbilanz und ein Ausblick zur Diskussi- on gestellt.
Den Abschluss der in dieser Arbeitsschrift enthaltenen Artikel bildet ein Text zur Schul- entwicklung. Darin geht Kerstin Sischka auf Potenziale der Schule ein, Demokratieerfahrungen zu ermoglichen und somit rechtsextremen Bestrebungen bzw. Haltungen entgegenzuwirken. Wie ein roter Faden zieht sich die Notwendigkeit der Schuloffnung und der schulischen Kooperation mit Jugendhilfe, Eltern und anderen kommunalen Akteuren durch den Text. Deutlich wird, daB sich Demokratieentwicklung und die Zuruckdrangung von Rechtsextremismus nicht voneinander getrennt sehen lassen, denn insbesondere die Forderung eines Klimas der Gleichwertigkeit, die padagogisch qualifizierte Auseinandersetzung mit Ungleichwertigkeitsvorstellungen, und die Er- moglichung von Partizipation und Teilhabe an der Gestaltung von Schule und Gemeinwesen sind zentrale Zukunftsherausforderungen.
Diese Arbeitsschrift ist ein Kooperationsprodukt von MitarbeiterInnen der ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH, Aussteigern aus der rechtsextremen Szene und Studieren- den der Politik- und Sozialwissenschaften. Sie soll zur Diskussion anregen und bietet Raum fur unterschiedliche Anmerkungen gegenuber der weiteren Ausarbeitung des EXIT-orientierten Ansatzes.
Wir mochten uns daher bei allen an dieser Broschure Beteiligten und fur die Unterstutzung durch das CIVITAS-Programm herzlich bedanken.
Expertengesprach
„Denk‘ ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht...“
Interview mit Bernd Wagner, Dezember 2004
Bernd Wagner ist Projektleiter der Aussteigerinitiative E'XIT-Deutschland und Geschaftsfuhrer der ZDK Gesellschaft Demokratische KulturgGmbH.
Seit vielen Jahren befasst er sich mit Rechtsextremismus und Moglichkeiten der Forderung von Demokratie und Menschenrechten.
In der DDR war er von 1986 bis 1990 als Diplom Kriminalist in der Hauptabteilung der Kriminalpo- lizei tatig; in den Jahren 1990 und 1991 war er Leiter des Staatsschutzes im Zentralen Kriminal- amt der DDR (ZKA) und im Gemeinsamen Landeskriminalamt der Neuen Bundeslander (GLKA). Von 1992 bis 1994 war er im Institut fur Sozialarbeit und Sozialpadagogik (ISS) im Aktionspro- gramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG) der Bundesregierung in den neuen Bundeslandern tatig und von 1994 bis 2001 arbeitete er im Mobilen Beratungsteam Brandenburg. Seit 1997 ist er Leiter vom Zentrum Demokratische Kultur(ZDK).
Der Schwerpunkt des folgenden Interviews liegt auf der Frage, welche Chancen in der Arbeit mit rechtsextremen Jugendlichen, ihren Gruppen im kommunalen Kontext liegen. Einbezogen wer- den die gesellschaftlichen Bedingungen insbesondere in Ostdeutschland. Besondere Aufmerk- samkeit liegt auf der Frage, wie die Motivation, sich von rechtsextremen Weltbildern und Haltun- gen zu losen und diese aufzuarbeiten, mit dem Ansatz von Jugendarbeit gefordert werden kann.
Zwei Gesellschaften - ein Problem
Konstantin Peiper: Was haben Sie in den mehr als 20 Jahren, in denen Sie sich mit Rechtsextremismus beschaftigen, bezug- lich der Veranderungen des gesellschaft- lichen Umfeldes und der Wahrnehmung des Phanomens Rechtsextremismus fur Erfahrungen gemacht?
Bernd Wagner: Da gibt es zwei gesellschaft- liche Grundsituationen, die ich personlich erlebt habe: Das ist einmal die ‘realsozialis- tische Welt der DDR‘, wo Rechtsextremismus auch eine fur mich durchaus bedeuten- de Rolle spielte, und dann gab's die Um- bruchsituation von der einen Gesellschaft in die andere - diese Umbruchsituation wurde in der DDR als Wende beschrieben - und das Hinubergleiten in den demokratischen Verfassungsstaat auf kapitalistischer Grund- lage. Das ist die zweite Grundsituation, in der ich mich mit dem Rechtsradikalismus beschaftigt habe.
Ich hatte, wie gesagt, in beiden gesellschaftlichen Realitaten ein berufliches Feld, wo ich mich mit dem Thema zu beschaftigen hatte.
Gelernt habe ich, dass der Rechtsradikalismus gegen demokratische und menschen- rechtliche Grundwerte gerichtet ist. In der DDR war er noch mit einem systemfeindli- chen Antikommunismus aufgeladen.
Konstantin Peiper: Konnen Sie diese Be- schaftigung erlautern?
Bernd Wagner: In der DDR war ich Kriminalist und seit Mitte 1986 in der Hauptabteilung der Kriminalpolizei im Innenministerium be- schaftigt. Schon damals habe ich rechtsex- treme Phanomene wahrgenommen. Davor auch schon, Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre. Allerdings noch nicht so fokussiert, sondern eher beilaufig.
Ab 1987 war ich aufgefordert worden, nach- dem ein Oberfall auf die Zionskirche in Berlin Prenzlauer Berg stattfand, da ich mich mit Jugendkriminalitat und Jugendgewalt be- schaftigt hatte, eine Repressionsstrategie gegen das aufkommende rechtsextreme Skinheadtum mit zu entwickeln. Dieses Skinheadtum zeigte sich massiv landauf landab auch in der Offentlichkeit, durch Straftaten, aber auch durch methodische Auftritte. Es gab damals ideologisch gemein- te rechtsradikale Auftritte bei FuBballspielen oder im offentlichen Raum.
Zugleich versuchte ich Forschungen zu initi- ieren. Das ist auch gelungen. Es gab also zwei Sachen: einerseits die Beobachtung des Phanomens aus polizeilicher Sicht und das andere dann aus wissenschaftlicher, vor allem auch aus empirisch gestutzter For- schung. Das waren die zwei Standbeine.
Die Forschungsergebnisse verwiesen dar- auf, dass der Rechtsradikalismus ‘hausge- macht‘ war, also Repression nur eine Seite sein konnte. Diese Erkenntnis wurde aus politischen Grunden und ideologischem Dogmatismus heraus ignoriert.
Stattdessen versuchte die Befehlskette eine Art ‘Erziehungsgedanken‘ zu kreieren. Die erste Idee war: scharfe Repression bei Straf- tatern, Einsperren in den Knast und dann - und jetzt kommt das Problem - dann mog- lichst alle zusammen, dass man sie besser erziehen kann.
Konstantin Peiper: ... so, dass man sich wunderbar organisieren konnte?
Bernd Wagner: Man konnte sich also wunderbar organisieren. Man lernte sich kennen, lieben, schatzen und ehren und webte das braune Band der Sympathie.
Die Zweite Grundidee war: diejenigen, die noch nicht beim Militar waren, mogen doch bitte alle schnell zum Militar gehen. Und dann kamen die alle nach Eggesin oder andere triste Gegenden. Es hatte einen ahnli- chen Effekt wie im Knast: man lernte sich kennen, man robbte durch's Gelande usw. usf.
Das waren die zwei ‘genialen Erfindungen‘ die dem Rechtsradikalismus forderlich waren. Offentlichkeit sollte nicht hergestellt werden. Eine ,Demokratiebewegung‘ war verboten. Also dass die Leute, die dagegen etwas hatten, sich selbst hatten organisieren sollen, was ein Vorschlag von den Leuten war, mit denen ich damals zusammengear- beitet habe, das durfte halt nicht sein. So etwas wie demokratische Gegenoffentlich- keit ging nicht. Mit den Rechtsradikalen soll- te irgendetwas geschehen, aber mit Demo- kratie und Selbstorganisation und ahnlichen Sachen sollte das nichts zu tun haben. Der Staat musste das alles tun.
Das ist ubrigens auch so eine Sache, die mir dann in dem darauf folgenden System auf- gefallen ist, dass man auch sehr stark die Hoffnung in den Staat gesetzt hat, also von Anbeginn: staatlich finanzierte, organisierte Jugendarbeit, Repressionsstrategie des Staates usw.
Das scheint so ein allgemeines Syndrom zu sein, so eine Art mentale Konvergenz der Systeme. Das ist fur mich interessant gewe- sen. Der Unterschied von der DDR zur Bun- desrepublik war in der Tat der, das man in der Bundesrepublik offen uber das Phano- men reden konnte (egal, ob wer hingehort hat oder nicht, das ist wieder eine andere Frage; oder welche Kreise dann hinhorten usw.) und das eine Selbstorganisation durchaus moglich war und eine demokrati- sche Gegenoffentlichkeit herstellbar war oder bereits existierte, auf der man aufbau- en konnte.
Das war schon ein ziemlicher Unterschied, den ich als positiv empfand. Anfanglich habe ich die Wirkungsweise und die Wirkungs- macht von Medien uberschatzt, also auch die ganze Warnerei uber Medien. Das ver- mittelt sich nicht so schnell. Es wirkt, aber es wirkt langsamer, als ich das sozusagen mit den Grunderfahrungen der DDR in Anschlag gebracht hatte. Der zarteste Ruf in der DDR, in den offentlichen Medien, wurde da ver- standen, also Anspielungen, Andeutungen usw. In der Bundesrepublik kann man massiv mit der Kanone schieBen und ehe der Donnerhall dann irgendwo ankommt - das ist dann schon was anderes. Das habe ich dann irgendwann lernen mussen.
Man hatte sich, was Rechtsextremismus in der Bundesrepublik betraf, und das war fur mich erstaunlich, Anfang der neunziger Jah- re auf eine Situation eingestellt, dass der Rechtsextremismus West eigentlich am Ver- bluhen sei. Das war in der Polizei so, bei den Geheimdienstlern, auch in der Politik meinte man, das sei abbluhend, die Alten sterben aus und das Neue sei nur marginal und randstandig und irgendwie nur jugend- lich und vielleicht ein bisschen gewalttatig usw. Im Osten konne das Problem gar nicht existieren, weil es ja ein antifaschistischer Staat gewesen sei. Also das Postulat der DDR hatte sich sozusagen auf die Eliten des Westens abgefarbt, was ich auch erstaunlich fand. Man glaubte sogar DDR-Zeitungen. Ich hatte einmal einen Beamten zu Gast, der war damals Referatsleiter im BKA und zu- standig fur Rechtsextremismus. Der brachte mir dann im Juli 1990 Zeitungsausschnitte von DDR/SED Bezirkszeitungen und auch aus dem Neuen Deutschland (ND) und Jun- ge Welt (JW) und wollte mir damit nachwei- sen, dass es in der DDR, im Osten ja gar keinen Rechtsextremismus geben konne. Wenn es dann Straftaten gabe, die so an- muteten, seien diese durchgeknallten Ju- gendlichen ohne Ideologie, ohne irgendeine weltanschauliche Form zu zuschreiben. Das fand ich sehr bemerkenswert. Diese Vorstel- lung nahrte die Ansicht, als die rechtsradika- len Straftaten anhielten und 1991 noch es- kalierten, Sozialarbeit konne es stemmen und man musse noch Polizei marschieren lassen, dann ware das Problem relativ schnell behebbar. Wenn dann zeitgleich noch bluhende Landschaften entstunden, dann ware das wunderbar, denn dann sei die Frustrationsproblematik nicht so ausge- pragt. Wenn noch die Asylbewerber redu- ziert wurden, dann waren auch solche Stimmungen nicht mehr wichtig...
Das fand ich schon ziemlich erstaunlich und zeigte ein ziemlich ahistorisches, unanalyti- sches Herangehen an diese Probleme. Heu- te herrscht dieser Schematismus nicht mehr vor, wenngleich er noch vorhanden ist.
Konstantin Peiper: Wo sehen Sie Uber- schneidungen der Fehler im Umgang mit Rechtsextremismus in Ost und West?
Bernd Wagner: Die Fixierung auf staatliches Handeln. In der DDR war es ein politisches Naturgesetz. Die Bundesrepublik kann als demokratischer Verfassungsstaat andere Moglichkeiten eroffnen, wie die Investition in zivilgesellschaftliches Handeln in den Kom- munen und Regionen, in die enge Verbin- dung in Interessenubereinstimmung von demokratisch orientierter ziviler Gesellschaft der Burger, Staat und Wirtschaft. Es ist bemerkenswert gewesen, _dass unter der rot- grunen Koalition eine Offnung in Richtung zivilgesellschaftliches Handeln und Handeln demokratischer Strukturen eintrat. Momen- tan flutet das allerdings ziemlich zuruck. Ich habe ein Problem damit, dass das nicht sta- bilisiert werden konnte. Es ist also eher eine Art Rucklauf festzustellen. Ober die Ursa- chen muss man extra reden...
Konstantin Peiper: ...der Rechtsextremismus wurde in Ost und West und wird immer noch unterschatzt?
Bernd Wagner: Ja. Ich sehe momentan das Problem, dass der Rechtsextremismus in der offentlichen Diskussion, auch in der poli- tischen offentlichen Diskussion, nicht die Bedeutung hat, die er eigentlich vor dem Hintergrund der systemischen Grundbedin- gungen der Bundesrepublik haben sollte.
Die Diskussion und ihre Folgen sind vorwie- gend eine Geschichte von Erregungen.Die Losungen sind auch dementsprechend kleinkariert. Es gibt keinen hinreichend si- cheren strategischen Ansatz, der dem Problem eigentlich angemessen ware.
Konstantin Peiper: Wie konnte so ein Ansatz aussehen?
Bernd Wagner: Er musste mehrere Elemen- te verbinden. Er musste okonomische Ele- mente enthalten; er musste politische Ele- mente enthalten, also die Arbeit am Grund- konsens der Demokratie, auch parteiuber- greifend. Er musste Verwaltungshandeln einschlieBen und er musste Kultur-aspekte einschlieBen. Er musste naturlich auch Debatten uber die Wertebasis der Bundesre- publik beinhalten. Also eher ein Komplex des Handelns, der verschiedene Teilelemen- te einschlieBt; auf der ideellen Seite ebenso wie auf der materiellen Seite.
Auch das Problem Ostdeutschland musste dezidierter besprochen werden, aber auch die Gefallelagen und Problemlagen in der alten Bundesrepublik mussten auf den Tisch. Das Thema Rechtsextremismus musste starker mit der gesamtgesellschaftli- chen Konstruktion verbunden werden, weil es die Problemlagen ja durchaus widerspie- gelt.
Es ist ja kein Zufall, dass in Sachsen die NPD jetzt im Landtag sitzt. Das ist ja keine Stilblute der Geschichte. Das hat ja einen Vorlauf und eine Folgerichtigkeit der Ent- wicklung von Problemlagen.
Konstantin Peiper: Die Jugendarbeit ist ein Teil der Losung. Oder sehen Sie das anders?
Bernd Wagner: Sie ist Teil der Losung, aber auch Teil des Problems. Beides, je nachdem wie man Jugendarbeit versteht.
Die Gesellschaft ist jedenfalls schlecht bera- ten, sich nur uber das Element Jugendarbeit dem Thema Rechtsextremismus zu nahern und da eine Losungshoffnung zu erwecken. Das halte ich fur verfehlt.
Jugendarbeit muss aber sein. Es muss aber eine Jugendarbeit sein, die danach trachtet, die ideologische Wertebasis in den Kopfen derjenigen Menschen anzugreifen, die rechtextreme Gedankenmuster hegen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Jugendarbeit muss demzufolge auch danach trachten, das Umfeld dieser Menschen anzuregen, eine Veranderung herbei zu fuhren. Die So- zialarbeiter mussen sich auch selbst ihres eigenen menschenrechtlich demokratischen Wertverstandnisses vergewissern und natur- lich Einfluss nehmen auf die Menschen, die rechtsextreme Werte zelebrieren. Sie mus- sen naturlich auch einen Beitrag dazu leis- ten, das auch zu konnen. Das muss man ja auch konnen.
Es geht eben nicht, so wie das teilweise im Rahmen von Jugendarbeit gemacht wurde, dass man arbeitslose Handwerker oder Kin- dergartnerinnen ohne jegliche Vorbildung und irgendeine Ahnung von dem, was De- mokratie oder Menschenrechte sind, an Ju- gendliche heranbringt und die dann Jugend- arbeit machen sollen. Die Jugendlichen merken das, nutzen das als Schutzschild fur sich, um ihre eigene rechtsextreme Gesin- nung auszugestalten und weiter zu entwi- ckeln. Wenn so etwas passiert, ist es ver- fehlt.
Aber Jugendarbeit kann durchaus auch ein Teil der Bearbeitung des Problems sein - Losung sowieso nicht - wenn sie denn in der Weise sinnvoll gemacht wird, wie ich es ver- sucht habe zu formulieren.
Eine Gratwanderung ist Jugendarbeit auf jeden Fall. Die Leute, die sich da engagie- ren, mussen wissen was sie tun und mussen lernen zu erkennen, was sie tun. Da spielt Selbstreflexion und Fremdreflexion eine entscheidende Rolle und das standige Ar- beiten an den eigenen Selbstverstandnis- sen. Da kann man recht schnell ins tiefe Wasser geraten. Ich kenne Beispiele, wo Sozialpadagogen konvertiert sind. Das gibt es zwar nicht in grower Zahl, aber die Betref- fenden haben irgendwann vergessen zu reflektieren oder hatten kein Umfeld, das diese Reflexion ermoglicht hat. Andere stumpfen dann ab und versuchen sich sozu- sagen im taglichen Einerlei festzuhalten. Sie gehen auch nicht mehr auf rechtsextreme Ideologie ein. Das sind Probleme, die dann auftreten.
Kerstin Sischka: Hat sich das Kraftfeld verandert, was von der rechtsextremen Szene und insbesondere von der Ideolo- gie ausgeht, und womit auch Sozialpadagogen konfrontiertsind?
Bernd Wagner: Das Kraftfeld ist starker ge- worden. Wenn ich mir die DDR ansehe, war das eher marginal. Es gab zwar eine rechtsextreme Kulturlandschaft in der DDR, aller- dings keine dezidierte politische Landschaft. Das waren Keimformen von politischen Gruppierungen. Diese politischen Gebilde konnten ja auch aufgrund der grundsatzli- chen Repressionssituation in der DDR gar nicht entstehen. Auch diese kulturellen Milieus waren relativ marginal. Wenn man sich in einer Stadt umsah, gab es so eine rechts- radikale Szene, aber die hatte mit der durch- schnittlichen Bevolkerung relativ wenig zu tun. Die Jugendcliquen waren akzentuierter, abgegrenzter, und auch verfeindet, wenn ich mir die rechtsradikalen Skinheadgruppierun- gen und die eher linksorientierten Punks in der DDR angucke.
In den neunziger Jahren der Bundesrepublik hat eine Entwicklung stattgefunden, dass diese Marginalitat wegfiel und vor allem im Osten diese rechtsradikale Richtung auch auf der regionalen, kommunalen Ebene ,mainstream‘ wurde.
Rechtsradikale Ideologie hat sich sozusagen als kulturelles Milieu stabilisiert, hat ein neu- es Kraftfeld entwickelt und ist eigentlich heu- te zu einer sozialen Basis eines neuen Rechtextremismus geworden. Das ist der qualitative Unterschied zu dem, was in der DDR eine Rolle spielte. Das ist auch in der Bundesrepublik eine Neuigkeit. Weg von der absterbenden Marginalitat hin zu einer neu- en aufbrechenden Kraft. So wurde ich es formulieren.
Hinzu kommt dieses kulturell-ideologische Milieufeld, wo alle Elemente von Lebenswei- se eine Rolle spielen. Das ist ein ganz ent- scheidender Punkt. Da geht es dann nicht mehr nur um Ideologie als politisches System oder als politische Ideologie. Da geht es eigentlich um Kultur, Alltagskultur und Le- bensweise, wo Ideologie, Politik usw. eine Rolle spielen. Das kann man festmachen am Bekleidungsthema, an Partnergeschichten, das kann man festmachen an Ess- und Trinkgewohnheiten... Also alle Elemente des taglichen Lebens sind damit erfasst.
Insofern ist das ein neues Kraftfeld gewor- den. Das ist auch die Basis des neuen Rechtsextremismus, den wir heute in politi- scher Gestalt - durch Wahlerunterstutzung formiert - auch in Sachsen feststellen. Das ist nicht nur eine politische Eintagsfliege, die da rumschwirrt, sondern genau dieses Kraft- feld, das ich versucht habe gerade anzudeu- ten, steckt da eigentlich dahinter. Flankiert durch sozial Unzufriedene, die sich auch alle zunehmend diese Sachen zu Eigen machen. Wir haben jetzt Milieuformen in der Gesell- schaft, die rechtsradikal aufgeladen sind und insofern eine Kontrastgesellschaft zur de- mokratischen Gesellschaft bilden und auch eigene kulturelle Insignien rekapitulieren bzw. neue schaffen.
Konstantin Peiper: Die rechtsextremen Parteien bedienen sich Themen aus der Mitte der demokratischen Gesellschaft.
Bernd Wagner: Ja, naturlich. Die rechtsextremen Generatorthemen sind auch diejeni- gen, die im demokratischen System disku- tiert werden.
Was haben wir da fur Generatorthemen? Die soziale Frage ist im rechtsextremen Be- reich absolut hoffahig, die vor noch in den 90er Jahren eher am Rande stand. Die ist auch in der demokratischen Gesellschaft die zentrale Frage. Dann haben wir die Frage nach all dem, was mit Interkulturalitat und Migration zusammen hangt - die haben wir im Rechtextremismus ebenso wie in der demokratischen Gesellschaft. Wir haben das Thema okonomische Grundstrukturen; die Frage Segnung oder Unsegnung, Sinn oder Unsinn des Kapitalismus, soziale Sicherheit Auch die Frage Globalisierung ja oder nein und wenn Globalisierung dann wie? Das sind die zentralen Fragen.
Und wir haben naturlich auch die Frage - das taucht beim Rechtsextremismus sehr deutlich auf - was sind das fur Leute, die diese Globalisierung tragen? Da haben wir das Thema Antisemitismus drin. Das ist ganz klar: ,Ostkustenkapital‘ und ,Eine-Welt- Bestrebungen‘ und all diese Imperialismus- themen. Die Frage nach Krieg und Frieden: Wenn Krieg, welcher Krieg, welcher Frieden; gerechte Kriege, ungerechte Kriege.
Ausstiegsorientierte Arbeit
Konstantin Peiper: Sie haben mit ,Ge- schichtswerkstatten1 konkrete Erfahrung mit Jugendarbeit gemacht. Welche Kon- zeption stand hinter dieser Arbeit, wie wurde sie umgesetzt und wie waren Ihre Erfahrungen mit diesen Projekten?
Bernd Wagner: Eine theoretische Konzepti- on gab es nicht, also eine klar formulierte mehrere Seiten lang usw., aber die Grund- idee war die, dass der Kreis derjenigen, die sich da engagierten, meinte, man musse sich vor allem mit der Ideologie der rechts- extremen Gruppen auseinandersetzen. Man musse sowohl das Phanomen Gruppe wahrnehmen als auch die Ideologie, die da drin steckt. Die Vorstellung war, dass die Ideologie die Gruppe tragt und nicht die Gruppe die Ideologie allein generiert, sozu- sagen als Summe der individuellen Kopfe und deren Artikulation. Also ran an die Ideologie und dadurch auch ran an die Einzel- nen, aber auch ran an die Gruppe.
Die Idee der ,Geschichtswerkstatt‘ war das Problem der Gruppe vor dem Hintergrund von Ideologie und Gruppendynamik zu be- greifen. Vor allen Dingen war aufgefallen, dass ein massives Geschichtsinteresse be- steht. Nun war die Idee, warum sollte man dieses Interesse nicht aufgreifen, weil Ge- schichtsdeutung ein ganz wesentliches Element von aktueller Tagesideologie ist. Wie definiert man sich selber im historischen Raum? Wie definiert man sich als Szene und Bewegung? Wie definiert man sich als Gruppe und damit auch als einzelne Figur? Wie verortet man sich sozusagen in der Fa- milie vor dem historischen Hintergrund?
All diese Fragen waren sehr auffallig - histo- risches Interesse - also haben wir es ,Ge- schichtswerkstatt‘ genannt. Eine Grund- schwierigkeit gab es gleich am Anfang, weil man sich erst mal als Gegensystem prasen- tierte. Das war ja den Rechtsextremen klar. Aber gleichzeitig ins Gesprach kommen, diese Hurde zu nehmen, war zu Anfang un- heimlich schwierig. Am Anfang wurde versucht, das Problem eher mit asthetischen Mitteln zu bewaltigen.
Ein entscheidender Punkt in den ,Ge- schichtswerkstatten‘ war immer, dass die Interessen der Gruppe (oder die sich heraus kristallisierenden Interessen der Gruppe) aufgegriffen wurden. Es war wichtig zu ver- suchen immer Menschen zu finden, die von diesen Themen auch hinreichend Ahnung hatten. Es wurde den Sozialarbeitern nicht uberlassen das zu tun, sondern es wurden immer Fachkrafte gewonnen.
Zielpunkt war, die Ideologie anzugreifen und vor allen Dingen auch die Gesprachsbereit- schaft zu fordern. Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Nicht nur das standige Abspulen von irgendwelchen ‘Tonbandern‘, sondern das da tatsachlich in der Interaktion was pas- siert. Ein wichtiger Punkt. Und dass bei den Einzelnen auch ein Nachdenken entsteht, also die Fahigkeit zur Selbstkritik, auch die Fahigkeit zur Selbstreflexion der eigenen Ideologie. Die Fahigkeit in die Gruppe hinein zu horen, Dissonanzen wahrzunehmen und Unlogisches zu erkennen, Fehlerhaftes zu erkennen. Diese Differenzierungsarbeit zu betreiben war ein wichtiger Punkt, den wir versucht haben da mit rein zu kriegen und das hat auch durchaus funktioniert.
Das war ein Erfahrungslernen, was da geht und darauf hat man dann immer weiter auf- gebaut. Da war dann die praktische Situation, dass eine neue Grundidee so einer Arbeit formuliert werden konnte. Das, was da passiert ist, war dann sozusagen den Ansatz Ausstiegsorientierung zur Zielmarke von sozialer Arbeit und politischer Bildungsarbeit zu machen. Das ist ja nicht zu trennen ge- wesen: politische Bildungsarbeit, soziale Arbeit, kulturelle Arbeit. Das war sozusagen alles ineinander gefallen.
Konstantin Peiper: 1st der Umgang mit der Ideologie immer notwendig?
Bernd Wagner: Ja.
Konstantin Peiper: Spricht das nicht eher fur die akzeptierende Jugendarbeit?
Bernd Wagner: Nein, das spricht nicht fur den Begriff akzeptierend. Der ist ja auch eigentlich anders gemeint. Ich will den Ur- heber dieses Konzeptes, den Bremer Wis- senschaftler Franz Josef Krafeld, in Schutz nehmen. Er hat sich ja nicht vorgestellt, die Leute in ihrer Gesinnung zu akzeptieren.
Konstantin Peiper: ... sondern als Person...
Bernd Wagner: ... sie als Personen so zu nehmen, wie sie eben angetroffen werden und darauf aufbauend soziale Arbeit zu be- treiben.
Wobei da naturlich ein Problem im Konzept ist, dass Ideologie und Personlichkeit stark voneinander getrennt gedacht werden. Nach meiner Erfahrung ist das nicht gut, denn Ideologie und Personlichkeit bilden immer eine Synthese, das kann man nicht trennen: Das ist der eigentlich gute Mensch und die bose Ideologie und der gute Mensch unter- wirft sich sozusagen der bosen Ideologie aus Gruppenzwang oder so. So einfach kann man es sich nicht machen. Aber da mochte ich jetzt kein personlichkeitstheoreti- sches Kritikmodell entwerfen.
Ich personlich bin nie so heran gegangen und es hat sich eigentlich immer bewahrt, das nicht zu trennen. Nun hat man naturlich Personen in so einer Gruppe, die diese I- deologie wichtiger nehmen als andere. Es gibt naturlich auch Gruppendruck und all diese Dinge, aber die Erfahrung war immer, dass die Einsteiger maximal ein halbes bis ein Jahr brauchen, wenn die sozusagen relativ zufallig in so eine Gruppe geraten sind, bis die Ideologie internalisiert war. Die Ideologie wurde dann geglaubt. Es ist nicht so, dass die nur mit gelaufen sind, weil der SpaB existierte. So einfach ist es dann auch nicht gewesen. Sie haben es dann schon mit getragen.
Konstantin Peiper: Muss man Jugendarbeit an die jeweilige Gegebenheit anpas- sen? Unterscheidet sich der Ansatz in Ost und West, in der Stadt und auf dem Land, bei Mannern und Frauen?
Bernd Wagner: Zuerst gilt es, den Typus der Gruppe zu erkennen. Da kann man naturlich uberlegen, ob man versucht, starker an die Madchen ran zu kommen oder an die jungen Manner. Das muss man dann immer von Gruppe zu Gruppe, von Situation zu Situation versuchen zu entscheiden. Da sehe ich also kein Rezept. Man muss es an die Gruppe angepasst sehen, an das Milieu, wo die Gruppe installiert ist, wo sie existiert.
Man muss die kommunale Grundsituation versuchen zu erfassen, die Macht- und Kraftverhaltnisse in so einer Kommune muss man versuchen zu erkennen, sonst kann man das auch nicht sinnvoll machen. Man muss wissen, inwieweit so eine Gruppe oder die Einzelnen in groBere Szenenverbande involviert sind. Um welche Szenenverbande handelt es sich? Welche politischen Organi- sationen stecken da moglicherweise mit drin? Das ist eine Erkenntnisarbeit, die man sich nicht ersparen kann, wenn man da als Sozialarbeiter oder meinetwegen auch als engagierter anderer Mensch arbeiten will. Sonst braucht man das gar nicht anfangen.
Dann muss man auch sehen, ob man Ru- ckendeckung in der Kommune hat, durch Trager, durch Politik. Wenn man spurt, dass man gar keine Ruckendeckung hat, sollte man erst mal uberlegen, wie man sich sol- che verschafft. Das muss alles irgendwie von vornherein geplant werden, da muss man auch darauf achten, dass die Rahmen- bedingungen stimmen, es mussen auch hinreichende Ressourcen da sein. Ohne nichts geht nichts. Dann mussen geeignete Leute gefunden werden, die das machen. Diese Menschen sollten sich auch fragen: kann ich das uberhaupt? Steh' ich das durch? Oder: An wen kann ich mich im Rahmen von Kommunikation, moglicherweise Supervision wenden, was sehr sinnvoll ist in solchem Geschaft. Diese Rahmenbedin- gungen mussen gecheckt werden. Wo ste- hen wir denn da uberhaupt in dem Ganzen?
Und wo findet das statt? Soll das eine Stra- Bensozialarbeit sein? Ist es ein Klub? Da muss man sich wieder andere Fragen stel- len, auch was die Gefahrdungslage betrifft. Kann der Klub nicht ,umgedreht‘ werden und solche Sachen. Dann muss man sich im Umgang mit der Gruppe und dem Einzelnen uber ein Regelwerk im Klaren sein. Aufzu- werfen ist die Frage von Nahe und Distanz. Dass man sich von der Strategie her nicht zu distanziert benimmt oder umgedreht nicht umkippt, wenn man zu dicht rangeht und sozusagen die Einzelnen nur noch in ihrer Gutartigkeit begreift und das Ideologiesys- tem und die Gruppe ausblendet. Das ist auch ein gefahrlicher Weg.
Konstantin Peiper: Die Arbeit verlangt ein hohes Maft an Gespur und an Einfuh- lungsvermogen.
Bernd Wagner: Ja. Eine gewisse Lebenser- fahrung muss da sein; ein Gespur muss da sein. Es muss auch ein ziemlich stabiles Wertegerust da sein und man braucht viel Kommunikation. Man muss viel mit anderen uber diese Sachen reden konnen und die mussen auch ansprechbar sein, sonst ist es schlecht, sonst geht das nicht. Da kommt man ins tiefe Wasser.
Konstantin Peiper: Wie sehen mogliche Losungsansatze in Kleinstadten im Osten mit einer starken rechtslastigen sozialen Homogenitat aus? Wo kann die Jugend- arbeit da eingreifen?
Bernd Wagner: Das ist ein ganz schwieriges Problem. ,Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht!‘ In bestimmten Regionen der neuen Bundes- lander findet in mehrfachem Sinne eine De- kulturalisierung statt: Es handelt sich um eine okonomische, eine sozialpschologische Dekulturalisierung, und um eine Wertedekul- turalisierung im Allgemeinen.
Fur die Jugendarbeit braucht man starke Personlichkeiten. Die mussen charismatisch sein, eine Ausstrahlung haben, wie man so schon sagt. Sie mussen auch soziale Phan- tasie entwickeln, das System der rechtsex- tremen Jugendgruppen verstehen. Sie mussen auf jeden Fall versuchen den Lebens- weisezusammenhang der rechtsextrem Ori- entierten zu erfassen; versuchen, dort anzu- docken und eine eigene Lebensweise anbie- ten und versuchen, von da aus junge Menschen mit zu nehmen auf ihrem eigenen Weg im Verstehen, wie die anderen drauf sind.
Konstantin Peiper: Diese starken Person- lichkeiten sind notwendig, um die Demo- kratie als Alternative attraktiv zu machen?
Bernd Wagner: Die sollten nicht die Demo- kratie als System predigen, das sollten die nicht und konnen die auch nicht, weil man gerade in landlichen Regionen, wo riesige okonomische Probleme sind - wenn ich mal Mecklenburg oder andere Landesteile angu- cke - nicht sagen kann, dass das System hervorragend ist und es allen so gut geht. Das kann man sonicht vermitteln.
Aber das eigene Beispiel ist wichtig, die Au- thentizitat der eigenen Person. Das ist das, was einladen soll. Alles andere, sozusagen Ideologiepredigten fur mehr Demokratie usw., geht nicht. Der eigene Standpunkt ist wichtig. Wie stehe ich zur Geschichte, wie stehe ich personlich zu dem, was mich um- gibt?
Naturlich gilt es auch die historische, politi- sche und moralische Verwerflichkeit von Nationalsozialismus bewusst zu machen. Wichtig ist dabei, dass die Person oder die Personen ihr Verhaltnis zum Nationalsozialismus klarmachen: Was bewegt sie in Kritik an Theorie und Praxis des Nationalsozialismus? Das ist der entscheidende Punkt. Das ist viel mehr wert als solche Allgemeinplatze. Das kommt auch nicht an. Jeder merkt, dass das nicht funktioniert.
Konstantin Peiper: Sind die Sozialarbei- ter heute, nicht nur im Osten, sondern auch in den alten Bundeslandern, besser gerustet, besser ausgebildet als direkt nach der Wende, um mit dem Problem umzugehen?
Bernd Wagner: Ob sie besser ausgebildet sind? Ich kann jetzt nur uber den Osten reden. Es gab zwei Sorten von Sozialarbeitern nach der Wende: die eine war die, die in die Sozialarbeit gedrangt ist, die kam eher aus der Oppositionsbewegung. Das waren sozial Engagierte. Die kannten naturlich diese Ju- gendszenen ein Stuck weit und haben ver- sucht das Gute zu tun und haben zum Teil eher verstanden, worum es da politisch und auch gesellschaftlich geht. Die zweite Sorte waren diejenigen, die per Administration in die Arbeit hinein gebracht wurden und ei- gentlich den rechtsradikalen ,mainstream‘ nicht verstanden, ihm faktisch hilflos ausge- liefert waren und dann aus ihrer Not eine Tugend machten. Heute ist grundsatzlich mehr Professionalitat per Ausbildung da, auf der man aufbauen kann. Allerdings erubrigt sich mancherorts die Frage angesichts des finanziellen Rotstiftes.
Kerstin Sischka: Sie hatten in der ,Fur- stenwalder Geschichtswerkstatt1 nicht nur das Nazisystem, sondern auch das NKWD - Lager mit thematisiert. Stich- wort: rote Diktatur.
Bernd Wagner: Das ist ein wichtiger Punkt, weil es zeitgleich auch moglich war, uber die Menschenfeindlichkeit von Systemen uber- haupt zu reden.
Was ist denn die Substanz von Menschlich- keit, von Menschenrechtlichkeit? Wie steht man da dazu? Nicht den Stalinismus als solchen zu behandeln und den Nationalso- zialismus dann extra zu nehmen, sondern die Substantialitat von Menschlichkeit uber- haupt.
Das war eigentlich der Punkt, der da ernst- haft Sinn gemacht hat. Und das mit der ei- genen Erfahrung, moglicherweise mit der eigenen Familie, zu verbinden. Auch ein wichtiger Punkt. Deswegen war ja auch die Verbindung zwischen den Generationen so wichtig, wo die jungen Rechtsradikalen auch mit den Alteren ins Gesprach gekommen sind, und die dann erzahlt haben, was sie da erlebt haben. Sie haben mit Frauen gespro- chen, die von Sowjets vergewaltigt wurden. Die haben offen daruber gesprochen, haben ihnen aber gesagt, dass sie trotzdem falsch liegen. ,So auch nicht! Das Braune war's nicht und als die da kamen, war es das auch nicht und das, was ihr macht, auch nicht.‘ So etwas, was sie auch aus ihrer Biographie heraus darstellen konnten, fanden wir wichtig.
Da brauchte man gar keine Predigten. Das hat sich dann einfach so in der Kommunika- tion ergeben, dass diese Ansprachen passierten.
Kerstin Sischka: Konnen Sie ein paar Punkte nennen, die fur die zukunftige Ausbildung von Sozialpadagogen und Lehrern und anderen Leuten, die irgend- wie soziale Arbeit machen, besonders wichtig sind? Also an Fachhochschulen etc. Musste an Fachhochschulen etc. irgendetwas einflieften, um konstruktiv mit dem ganzen Problemzusammenhang umgehen zu konnen?
Bernd Wagner: Ich wurde ein eigenes Curriculum kreieren, was kasuistische Elemente enthalt, der alltaglichen Komplexitat ange- messen ist und von einem Gemeinwesen- ansatz ausgeht.
Konstantin Peiper: Ein massives Problem des Rechtsextremismus ist, dass es ein generationenubergreifendes Phanomen ist.
Bernd Wagner: Ja, das ist ja durchaus un- bestritten. Es gibt ja auch hinreichend viele Altere, die die Jungen bestarken.
Wir haben es immer wieder erlebt, dass GroBmutter gesagt haben: das war gut, was da im Dritten Reich passiert ist. So etwas gibt es naturlich auch. Damit muss man dann auch leben. Da taucht ja der Wider- spruch auf. Wenn man mit Alteren zu tun hat, da merkt man ja einen Widerspruch: Die einen sagen, es ist ein Verbrechen gewe- sen, die anderen sagen, es sei eine feine Sache gewesen. Mit so etwas muss man sich dann als Mensch auch auseinandersetzen.
Konstantin Peiper: Wie sollte man nach ihren Erfahrungen mit den ,Geschichts- werkstatten1 denn mit Kadern in der Ju- gendarbeit und auch gesellschaftlich umgehen?
Bernd Wagner: In der Jugendarbeit wird man immer wieder in die Situation kommen, dass man es mit Kadern zu tun bekommt. Die sind ja nicht daran interessiert, ihre ei- gene Klientel zu verlieren. Die versuchen dann Storfeuer zu schieBen, versuchen auch in ahnlicher Weise zu agieren, also machen z.B. so eine Art ,Gegengeschichts- werkstatt‘. Wir haben auch gemerkt, dass die dann gefragt haben: ,Was habt ihr denn mit denen da geredet?‘ Sie haben dann ver- sucht das zu konterkarieren, eine Gegenar- gumentation aufzubauen.
Auch in offentlichen Veranstaltungen lassen sie sich dann blicken und versuchen dort zu agitieren. Was bleibt einem da ubrig? Man kann naturlich den vornehmen Weg gehen und sie alle ausschlieBen. Nur, wo fangt man da an und wo hort man auf? Wen macht man zum Kader? Das ist das nachste Thema.
Das war nie mein Weg und nicht derer, die die ,Geschichtswerkstatten‘ getragen haben, sondern es ging darum, auch die aktive Auseinandersetzung mit Kadern, wenn sie denn da sind, zu betreiben. Das ist naturlich dann so eine Duellsituation und findet vor Zuschauern statt. Daruber muss man sich auch im Klaren sein.
Konstantin Peiper: Diese Duellsituation, die Sie beschreiben, hatten Sie ofters. Welchen Sinn hat eine so direkte offentli- che Auseinandersetzung? Macht sie Sinn?
Bernd Wagner: Sie macht durchaus Sinn. Ein Beispiel: ich hatte mal einen Auftritt bei einer CDU Ortsgruppe, einer durchaus star- ken und sehr interessierten Ortsgruppe. Da ging es um Leitkultur. Das war zu der Zeit, als diese Leitkulturdebatte in der Union stark gepusht wurde.Und die CDU Gruppe hatte das auch offentlich gemacht. Ich war als Referent geladen und da war das gesamte politische Spektrum der Stadt erschienen, inklusive der Rechtsextremen: Heimattreue Jugend, NPD, Freie Kameradschaft. Alles, was da Beine hatte, erschien. Dann gab es die Situation, dass sich alles um das Thema Leitkultur und Globalisierung zusammenzog.
Letztlich ging die Debatte dahin, dass selbst die CDU Leute nicht mehr den Versuch machten, eine eigene Idee oder Kreation von Leitkultur zu schmieden, weil ihnen alles weg genommen wurde aus den rechtsradi- kalen Kreisen. Sie haben gemerkt, dass sie sozusagen entleert wurden, dass alles vol- kisch gewendet wurde, was sie dann plotz- lich auch als volkisch ausmachten.
Die NPD-Gruppe hat versucht, das alles um sich zu ziehen und bot uber ihren Sprecher die Theorie an, der Nationalismus sei die einzige Waffe gegen die Globalisierung und dann ging die ganze Diskussion hin und her. Und die NPD hat nicht gewonnen und das hat das Publikum gemerkt. Das ist naturlich auch fur diese Ortsgruppe interessant ge- wesen, dass sie plotzlich uber das Globali- sierungsthema, uber das Thema Nation und Leitkultur noch mal neu nachdenken muss- ten. Das war ein ganz wichtiger Punkt.
Andererseits habe ich in Dresden eine Ver- anstaltung abgesetzt, weil achtzig Prozent im Raum Neo-Nazis waren. Da hatten die anderen uberhaupt keine Chance mehr ei- nen Gedanken zu fassen. Sie waren verun- sichert, sie wurden ,anti-antifamaBig‘ photo- graphiert. Das ging gar nicht. Die Rechtsra- dikalen wollten einen methodischen Auftritt.
Konstantin Peiper: 1st diese direkte Kon- frontation ein Element der Bekampfung des Rechtsextremismus?
Bernd Wagner: Ja. Naturlich. Das offene Wort muss sein. Ich habe das immer als wichtig empfunden. Ich habe das in Jena erlebt, in Dresden mehrfach. Man muss auch die offene Buhne nutzen. Sie sind ja da, es geht ja gar nicht anders. In Jena hab ich erlebt, dass die halbe Aula in so einem Gymnasium voller Rechtsextremisten war: Thuringer Heimatschutz, Republikaner, rechtsradikale Burschenschaft. Wie soll man sich da fuhlen?
Das geht gar nicht. Man muss da etwas tun, man muss reden.
Konstantin Peiper: Man kann die Veran- staltung aber auch absagen.
Bernd Wagner: Ja, aber das ist nicht der Sinn der Obung. Wenn so eine Veranstal- tung ist, dann ist die Veranstaltung!
Kerstin Sischka: lm Prinzip ist da ja eine enge Verbindung zu der Frage, auf was fur Vorbilder Sozialarbeiter, Jugendarbei- ter vor Ort treffen? Ich denke da zum Bei- spiel an die NPD-Abgeordneten im sach- sischen Landtag. Wie verhalten sich die Landespolitiker im Umgang mit den NPD- Abgeordneten und in welches Ohr be- kommt das die Jugendarbeit vor Ort? Das ist ja eigentlich eine vergleichbare Situation. Wenn ich Sie richtig verstehe, ist ja Ihre Forderung, dass dieses offene Wort auch auf der politischen Ebene un- bedingt gesprochen werden muss, damit auch in der Kommune diejenigen, die soziale Arbeit machen, gestutzt werden.
Bernd Wagner: Genau. Die Menschen brau- chen das. Es ist ein Wortschutz und hat na- turlich auch noch eine Orientierungsfunktion. Das gibt ja auch Anregungen, wie man sel- ber Argumentationen entwickeln kann - da- durch, dass da Leute da sind, die schon mal vorgearbeitet haben. Das ist auch ein wich- tiger Punkt. Ich denke, dass das zwingend notwendig ist. Das ist fur die Leute vor Ort wichtig, dass auch andere da sind, dass man nicht alleine ist. Wenn der Burgermeis- ter im Ort das zum Beispiel nicht macht und niemand das macht, hat man auch nicht das Gefuhl, dass man das auch machen muss.
Deshalb war ja auch die Kampagne ,Mut gegen rechte Gewalt‘ so sinnvoll, dass der Lindenberg oder andere Leute dann auch ein Zeichen setzen und vor Ort erscheinen und da irgendetwas tun. Das macht schon Sinn. Ich finde die offentliche Auseinander- setzung mit Kadern durchaus wichtig.
Konstantin Peiper: Wie unterscheidet sich der Umgang mit Kadern zu denjeni- gen jungen Menschen, die sich im Dunst- kreis dieser Kader befinden und nicht organisiertsind?
Bernd Wagner: Genau vor diesem Hinter- grund lauft das ja: Ich will ja den Kader nicht im Augenblick bekehren. Das ist auch relativ kompliziert und wird auch kaum gelingen. Vielleicht bleibt bei Einzelnen etwas hangen. Das hatten wir auch, dass Kader ausgestie- gen sind aus diesem ganzen Klub.
Es ist ein wichtiger Punkt, dass die Bedeu- tungshaftigkeit von Kadern ja auch attackiert werden kann, dass sozusagen ihre Unan- greifbarkeit oder ihr Charisma angegriffen werden kann. Das ist ein wichtiger Punkt und muss auch mitberechnet werden.
Umgedreht kann man naturlich auch sagen, dass man sie wieder in ihrer Bedeutung hebt, indem man sie fur wurdig findet, mit ihnen zu debattieren. Das ist auch ein Ge- genargument, das ich auch nicht vollig weg- tue, aber den ubergreifenden Wert der Sa- che muss man doch erkennen: in die schwankende, schweigende Mehrheit muss man ja auch etwas hineinsetzen.
Es ist ja nicht so, dass es nur um diese Gruppen geht, diese Kader da und diese paar Jugendliche.Sondern es geht ja auch darum, dass da Zeitungsleser sind, dass da Leute sind, die in ihrem Meinungsbild schwanken. Fur die ist das auch wichtig, dass da jemand ist, der da etwas dagegen tut, der sich bekennt. Der auch ein Argument bringt. Und wenn die Zeitung daruber schreibt, ist es gut. Das lesen dann wieder Leute. Oder wenn daruber in so einem Orts- fernsehen berichtet wird. Wenn ein Lokal- sender daruber berichtet, merkt man plotz- lich, dass der irgendwie etwas mitgekriegt hat. Daruber werden auch Impulse gesetzt. Es ist fur die ortlichen Leute auch nicht ganz unwichtig, also auch fur die Polizisten. Ich habe erlebt was passiert, wenn man dage- gen argumentiert. Bei Veranstaltungen an- wesende Polizisten zum Beispiel, die trifft man bei irgendeiner Fortbildung wieder und die sagen: ,Ich hab sie doch da erlebt, als sie da denen mal Bescheid gesagt haben. Fand ich toll!‘ oder oder ahnliches. Da merkt man, dass da etwas ist, das da etwas pas- siert.
Konstantin Peiper: Sie haben des Ofteren in der Vergangenheit geschrieben, dass das Phanomen des Rechtsextremismus im Osten keine Folge der Wende sei, sondern dass es dies auch in der DDR gegeben habe, und die Losungsansatze sich an dieser Tatsache orientieren mussten. Kann man mit der Verarmung und der Orientierungslosigkeit den wachsenden Rechtsextremismus erkla- ren?
Bernd Wagner: Nein, das kann man so nicht erklaren. Es gibt ja vielfaltige Theorien uber die Ursachen von Rechtsextremismus. Ich denke, es ist ein multifaktorielles System; es ist ein gesellschaftliches Syndrom. Das kann man auch durch geschichtliche GroBablaufe ein Stuck weit erklaren.
Es ist kein Zufall, dass sich der Rechtsextremismus in den neunziger Jahren in Deutschland aber auch in Europa und an- derswo neu formiert hat und durchaus zu einer neuen Bewegung, auch zu einer mo- dernisierten Bewegung geworden ist. Da kann man den Ostblock ansehen, das kann man an den zwei zusammengefuhrten deut- schen Staaten sehen, an Westeuropa kann man es auch angucken. Da will ich jetzt gar nicht weiter gehen. Insofern sind groBge- schichtliche Ablaufe durchaus ein Faktor; sozialokonomische Faktoren spielen da e- benso rein, auch okonomische Krisenpro- zesse sind durchaus wichtig aber auch mas- senpsychologische Induktionen, unbewaltig- te Vergangenheiten; all das spielt eine Rolle.
Oder wenn ich mir anschaue wie die beiden deutschen Staaten zusammen gebracht wurden: ein System, das Westliche, hat sich starker mit der Vergangenheitsbewaltigung beschaftigt, das Ostliche hat dann sozusa- gen mit einem einseitigen Verodungseffekt operiert. Das war durchaus schwierig. Dann das Gefuhl bei den Ostdeutschen als zweit- rangig eingestuft zu werden, was man ja auch hautnah biographisch erfahren konnte. All diese Fragen spielen eine Rolle.
Es sind massenpsychologische Phanomene, Geschichte, politische GroBwetterlagen, sozialokonomische Entwicklungen. Das spielt alles hinein. Und dann gibt's naturlich bestimmte Konstellationen, die das dann begunstigen. Das haben wir in den neunzi- ger Jahren erlebt.
Was haben wir da erlebt? Wir haben einen massiven okonomischen Krisenprozess - das ist zwar nicht die klassische Krisendefi- nition, wie er von Nationalokonomen benutzt wird - aber wir haben durchaus eine Stagnation in der Wirtschaft bis hin zur Krisenhaf- tigkeit.
Wir haben geschichtliche Neukonstruktio- nen, die auf alten unbewaltigten Fundamen- ten beruhen. Da gibt es einen Haufen von Problemen, die nicht aufgearbeitet worden sind. Wir haben Mentalitatsprobleme, wir haben biographische Bruche, wir haben eine Politik, die die Sachen nicht wirklich gestal- ten kann - ein Riesenproblem - sowohl auf kommunaler Ebene, auf Landerebene und auf Bundesebene geht es auch nicht.
Das sind sehr ungunstige Konstellationen und umgedreht eine Begunstigung fur rechtsextreme Entwicklungen. Diesen Mo- dernisierungseffekt von Rechtsextremismus halte ich, wie gesagt, fur auBerordentlich bedeutsam.
Konstantin Peiper: Was kann Jugendar- beit in diesem Zusammenhang noch leis- ten?
Bernd Wagner: Jugendarbeit kann die Sinn- haftigkeit demokratischer Wertorientierung vermitteln. Gerade in einer Lebensperiode, in der eine Aufnahmebereitschaft besteht und biographische Verfestigungen noch nicht in dem MaBe stattgefunden haben. Das ist ein wichtiger Punkt. Da liegt noch eine Chance fur die Jugendarbeit drin.
Konstantin Peiper: Von welcher Ziel- gruppe sprechen sie da?
Bernd Wagner: Eigentlich von allen jungen Leuten. Man kann mit kleinen Kindern schon Sachen machen, aber wenn ich jetzt die Politisierungsphase in der Biographie an- schaue, das ist so ab der 6., 7., 8. Klasse. Im fruhpubertaren Alter muss man etwas tun und auch fur diese Alterskohorte etwas ent- wickeln.
Man sollte schon recht fruh anfangen. Das kann im Kindergartenalter sein. Das ist ein wichtiges Pragungsalter. Man sollte sozusa- gen uber die biographischen Scheiben hin- weg verschiedene Angebote entwickeln. Altersgerecht, das ist klar. Das wurde ich wichtig finden. Je mehr Wirkung man da hat, wo sozusagen bestimmte Vorstellungen aufgenommen werden und auch fur das Eigene wichtig gemacht werden, haben die anderen auch weniger Chance da rein zu kommen - wenn es denn stabil bleibt.
Konstantin Peiper: Die Initiative EXIT- Deutschland gibt es seit 2000. Konnen sie erlautern was EXIT-Orientierung be- deutet?
Bernd Wagner: Das ist eine Arbeit, die ich versucht habe zu beschreiben, die sich vor allen Dingen an rechtsextrem orientierte Menschen wendet und an deren nicht rechtsextremes Umfeld. Beide Sachen spie- len da eine groBe Rolle.
Der eigentlich inhaltliche Sinn der Sache ist, dass die Menschen mit dem Ziel angespro- chen werden, ihre rechtsextremen Orientie- rungen abbauen zu konnen. Also der Abbau rechtsextremer Orientierungen und Neuori- entierungen in nicht-rechtsextremen Wert- systemen menschenrechtlicher Art und De- mokratie.
Das alles ist nicht als Gesellschaftsordnung, sondern als Verhaltensmuster gemeint. Das kann man ja auflosen in Teilwerte, aber das ist eigentlich der Sinn der Sache: weg von rechtsextremer Ideologie. Das ist EXIT- Orientierung, weil rechtsextreme Ideologie ja auch mit einem Verhalten einhergeht, dass man sich immer Gleichgesinnte sucht. Man bildet ja immer eine Struktur in irgendeiner Form. Und wenn es der Saufkreis ist oder die freiwillige Kameradschaftsfeuerwehr rechtsextremer Pragung, die freie Kamerad- schaft oder die NPD-Gruppe. Egal wie, ir- gendeine Gesellung findet immer statt.
Beides aufzulosen, weg von der Gesellung bei gleichzeitigem Abbau von Ideologie und Neuorientierung ist mit EXIT gemeint. Und die Befahigung derjenigen, die das mit be- wirken konnen. Das gehort zwingend dazu, weil es nicht ein Individualakt ist, sondern durch viele bewirkt werden muss.
Konstantin Peiper: 1st es moglich, dass ein Aussteiger ohne den Zusammenhalt in einer neuen Gruppe aussteigen kann? Sucht er dieses starke Gruppengefuge, das er im rechten Milieu hat, auch im de- mokratischen Umfeld?
Bernd Wagner: Das habe ich oft erlebt. Das ist ein groBes Problem fur Leute, die aus der rechtsextremen Szene ausgestiegen sind. Da tritt eine groBe Leere ein. Wenn man fertig ist mit den Kameraden, ist eine groBe Leere vorhanden, und da sucht man natur- lich Anlehnung an neue Personen. Das geht soweit, dass wir auch Menschen hatten, die so eine Art ,Ersatzfuhrer‘ gesucht haben. So etwas gibt es auch. Es gibt ein groBes Be- durfnis nach neuer Gruppe, nach neuer I- dentitat in der Gruppe. Die rechtsextreme Szene ist eine starke Gesellungsform.
Dieses gruppenpsychologische Phanomen kann man nicht uberschatzen. Die Leute, die uns ansprechen, sind uberwiegend Leute die schon einen gewissen geistigen Ausstieg hinter sich haben, aber massive Ablosungs- probleme haben oder Startschwierigkeiten haben, sich eine neue Existenz und Identitat usw. aufzubauen. Denen kann man dann naturlich versuchen zu helfen diesen Pro- zess zu durchmessen. Mehr ist eigentlich mit dieser Ausstiegshilfe nicht gemeint. Man kann bei diesen ideologischen Bewalti- gungsprozessen mithelfen.
Konstantin Peiper: Wie kann ein nachhal- tiger Ausstieg gewahrleistet werden? Was mussen sie den Aussteigern anbie- ten, dass dieses Defizit, was durch den Wegfall der Gruppe entsteht, kompen- siert werden kann?
Bernd Wagner: Wichtig ist, dass Kontakt- moglichkeiten bestehen, dass Ansprechbar- keit in Krisenfallen und eine moglichst stabile Kommunikation im Allgemeinen gewahrleistet werden kann. Das Wichtigste ist die Kommunikation und auch der gute Rat, oder jemanden zu kennen, der helfen kann, Ver- mittlungsmoglichkeiten zu schaffen oder Vermittlungen machen zu konnen. Mehr kann man eigentlich nicht machen. Alles andere, was wir mal probiert haben, kann man alles vergessen. Das ist die Erfahrung nach einiger Zeit, die Extrakte, die man rausholen kann. Wichtig ist, dass die Leute jederzeit jemanden haben, den sie anspre- chen konnen, wenn sie ein Problem haben und die Kommunikation dicht bleibt. Alles andere ist nicht hilfreich.
Konstantin Peiper: Was sind fur Sie die Hauptmotive des Ausstiegs?
Bernd Wagner: Oh, da gibt es eine ganze Menge.
Es gibt so etwas wie ein Endzeitbewusst- sein, was haufig vorkommt. Die eigene Person versinkt im Chaos. Sich daraus zu be- freien, erscheint dem Aussteiger, der Aus- steigerin, sinnvoll. Also: Schule aus fanati- scher Leidenschaft geschmissen, keine Arbeit mehr, Knastkarrieren. Das wird dann immer schlimmer. Das dreht sich - wie sagt man - wie ein circulus vitiosus und wenn man in der Szene bleibt, ist das ein Weg ohne Ende und irgendwie haben sie das Gefuhl, dass es nicht mehr geht. Da ent- spinnt sich haufig das Gefuhl: ich will einfach nur ein normales Leben haben, jenseits von all diesem Quatsch.
Das hei Bt jetzt gar nicht, dass der Ausstei- ger jetzt sozusagen Anti-Rechtsextremist wird und Konterpropaganda macht, sondern einfach weg davon will. ,Das bringt alles nichts! Der ganze ideologische Mull fuhrt zu nichts! Es hat historisch keinen Sinn und fur mich ohnehin schon nicht.‘ Also eine Art Endzeitgefuhl ist da - ich muss da raus! Dieses Kafigsystem muss verlassen werden. Das ist sehr haufig.
Dann gibt es naturlich bei den Leuten, die sich starker als historische Figuren mit einer Mission begreifen, die sich als Bestandteil oder als Teil einer historischen Mission ver- stehen und stark ideologisch denken, die Situation, dass sie merken, dass die Grund- strukturen der Ideologie nicht stichhaltig sind. Das haben wir auch erlebt. Dann hau- fig kombiniert mit dem Erlebnis von Luge und Verrat in der Szene. Dieses Phanomen ist haufig vergesellschaftet. ,Ein Parteifuhrer geht nach Polen und bumst eine polnische Prostituierte‘. Das versteht in der Szene kein Mensch. Oder er veruntreut Parteigelder oder nimmt Drogen, kokst. Das groBe Vor- bild kokst! Ja, was ist denn das? Warum nehmen die das nicht ernst, was die da im- mer reden? Da muss doch irgendetwas faul sein! Und dann wird nachgedacht.
Diese ganze Bruchigkeit, der Bruch zwi- schen Wort und Tat, zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die Inkonsistenz der Ideologie. Das wird dann auch reflektiert. Das hat man ja auch bei Dissidenten anderer Ideologie- systeme, die dann sagen, irgendwo stimmt da was nicht.
Konstantin Peiper: Die Grunde sind dem- nach Lebensfrustration, ideologische Desillusionierung und ein dritter Grund ist noch die private Entscheidung, weil der Partner, der da nicht mehr mitmachen will, einen vor die Wahl stellt?
Bernd Wagner: Richtig. Das kommt noch als drittes Motiv dazu. Das kann naturlich auch mit den beiden Elementen davor kombiniert sein. Und dann gibt es die Wahlsituation: groBe Liebe, was tun? Bei den Eltern rea- giert man nicht, aber wenn es dann die gro- Be Liebe ist, da uberlegt man doch eher mal. Das haben wir auch erlebt.
Wenn ohnehin schon Zweifel aufgehauft sind und dann noch jemand als Partnerin oder Partner da ist - dann fallt es naturlich auch leichter den Abschied zu nehmen.
Konstantin Peiper: Dieser Schritt ist nicht ganz verstandlich, weil dieser Partner ja wahrscheinlich erst durch die Gruppe gefunden wurde.
Bernd Wagner: Das muss nicht sein. Partner in der Szene meine ich jetzt nicht, die sind ja haufig auch so drauf. Es sind dann Leute, die man vollig woanders kennen gelernt hat. Ein neuer Kontakt, ein Zufallsfund, irgend so was. Der Blitz kommt, Amor schieBt und dann kommt ein Kontakt zustande. Irgend- wie so. Die Falle, die ich kenne, sind eher dieser Natur. Man ist in der Disko gewesen und hat irgendwo ein Madchen kennenge- lernt.
Konstantin Peiper: Hilft ihnen das Wissen der Grunde fur den Einstieg in die Szene, um einen besseren Ausstieg zu ermogli- chen?
Bernd Wagner: Das kommt darauf an. Es gibt ja zwei Grundsituationen des Einstiegs, oder drei, kann man fast sagen.
Eine, die schwerwiegendste, folgenreichste ist eigentlich die, wenn man schon in einer rechtsradikalen Familie aufgewachsen ist. So etwas gibt's. Dann da weg zu gehen, ist schon eine groBe Leistung, also auch eine Bewegung im Kopf.
Die zweite Situation ist, dass man uber eine Jugendclique in der Pubertat in das ganze System reinstolpert. Da fangt es dann an, da wird man absorbiert. Das sind sozusagen die relativ ahnungslosen Fruheinsteiger, haufig schon mit schwierigen kindlichen Bio- graphien.
Haufig ist das auch kombiniert mit Proble- men in den Elternhausern - nicht im Sinne, dass die jetzt kriminell auffallig sein mussen, aber Familienprobleme haben und aus Prob- lemfamilien stammen. Bei diesen fruhen Nestfluchtern figuriert die Gruppe fur die Einsteiger in die Clique dann als Ersatzfami- lie.
Und dann gibt es Spateinsteiger, die sich dann eher ideologisch getragen individuell entwickelt haben und dann eher einen ideo- logisch motivierten Anschluss suchen. Das sind zwar relativ wenige, die gibt es aber. Die dann raus zu kriegen, kann man aber in aller Regel vergessen.
Die meisten Aussteiger kommen von der Anzahl her aus dieser mittleren Gruppe, so wie in der GauBschen Normalverteilung, wo die meisten in der Mitte sind und da dann naturlich auch am meisten aussteigen. Bei den Spateinsteigern, also den Ideologen, ist das eher eine Seltenheit.
Konstantin Peiper: Die meisten geraten demnach in die Szene, weil es eine Ju- gendgruppe ist, weil es gewisse Struktu- ren gibt?
Bernd Wagner: Ja, aber auch weil die Ideo- logie interessant ist. Das ganze Lebensge- fuhl was sich darin vermittelt, das ideolo- gisch getragene Lebensgefuhl spielt eine wichtige Rolle. Das darf man nicht unter- schatzen. Also man geht da nicht nur mit, weil da ein paar ,Pfundskerle‘ sind. Haufig sind ja solche Gruppen auch mit Gewalt angefullt.
Und Gewalt auszuuben, Gewalt zu ertragen
- wenn man nicht zur Gewalt angehalten wurde, als Kind oder als fruher Jugendlicher
- wenn man dann in so eine Clique kommt, das braucht eine starke Motivation, das braucht auch einen ideologischen Schub, sonst macht man da nicht mit. Also ein Be- grundungszusammenhang muss her. Es muss ein rassistisches Motiv durchschlagen, es muss verinnerlicht werden, dass es auch legitim sei, ,Neger‘ zu schlagen, wie man da so sagt. Ein ideologischer Begrundungszu- sammenhang muss schon da sein, sonst kann man das nicht aushalten.
Konstantin Peiper: Die akzeptierende Jugendarbeit bewegt sich im Span- nungsverhaltnis von Akzeptanz und einer gewissermaften notwendigen Repression von bestimmten Elementen. Wie beurtei- len sie diese?
Bernd Wagner: Es gibt Grenzen von soge- nannter Akzeptanz oder akzeptierender Ju- gendarbeit. Wenn aus der Gruppe heraus Gewalt produziert wird, muss man sich eine ernste Frage stellen. Das ist nicht akzepta- bel. Wenn sich gar noch die Gewalt oder die Aggression - das muss jetzt nicht nur physi- sche Gewalt sein - auf den Sozialarbeiter oder die Sozialarbeiterin richtet, dann ist das Projekt absolut in Gefahr. Da ist SchluB. Diese Art von Gewalthaltigkeit kann man nicht hinnehmen. Wichtig ist, wenn eine solche Arbeit in einem Projekt gemacht wird, dass diese auch einem Regelwerk unterlie- gen muss, was mit den Leuten, die da mit drinnen sind, mit den ,Klienten‘ besprochen werden muss und von ihnen auch anerkannt werden sollte.
Kerstin Sischka: Es gab mal vor langerer Zeit das Stichwort: .Paralyse der Szene‘. Wie war das zu verstehen?
Bernd Wagner: Den Begriff finde ich
schlecht. Wunschenswert ist allerdings - und das ist ein zeitloser Ansatz -, dass die Mog- lichkeiten der Entwicklung von Kohasion der Szene eingeschrankt werden. Das heiBt also, dass alles Mogliche unternommen werden muss, rechtsstaatlich, moralisch usw., dass sich die Szene nicht verfestigt, sondern eher auseinander lauft. Alles was die Adhasionskrafte starkt und die Kohasi- onskrafte schwacht, sollte befordert werden. Das ist wichtig, sowohl in der Schule als auch in der Freizeitarbeit, in der Jugendar- beit etc. Das ist ein wichtiger Punkt. Der Zweck heiligt aber nicht die Mittel. Das ist klar.
Vernetzung und Kooperation im Gemeinwesen
Kerstin Sischka: Sie meinten vorhin, dass ein ideologisch getragenes Lebensgefuhl ein starker Faktor ist, der Leute in solche Cliquen zieht. Letzten Endes ver- weist das alles auf eine Gemeinwesenar- beit. Das man so viele Punkte wie mog- lich schafft, die eine Anregung geben, sich in die Richtung demokratischer Wer- te zu orientieren.
Bernd Wagner: Wenn ich demokratische Werterichtung meine, das habe ich auch versucht zu sagen, meine ich nicht, dass man zum Kanzler eine Liebe entwickeln muss oder zu den politischen Parteien. Das ist damit nicht gemeint, sondern es geht darum, wie man sich im Zusammenhang mit anderen Menschen definiert. Wie nimmt man die ernst, wie verhalt man sich ihnen gegenuber, findet man die unwert oder nicht? Das kann ganz kleinteilig sein, kann auch gemeinwesenorientiert sein. Das ist ein relativ offener und nicht systemisch besetz- ter Demokratiebegriff, den ich da im Auge habe. Und vor allem ist es ein menschen- rechtlicher Demokratiebegriff.
Und naturlich ist dabei die Vernetzung und die Kooperation im Gemeinwesen ein zent- raler Punkt. Die Interaktionsketten zwischen
[...]
[1] Name von der Redaktion verandert.
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