Zeitungsdebatten werden nirgends derart heftig geführt wie in Deutschland - das zeigten z.B. die Fischer-Kontroverse, der Historikerstreit oder die Diskussion um Thilo Sarrazin. Die Masterarbeit "Was debattiert wird" nimmt sich der Zeitungsdebatte um das israelkritische Gedicht "Was gesagt werden muss" von Günter Grass an und versucht, in Form einer Diskursanalyse, den Wortstreit in den überregionalen deutschen und österreichischen Tages- und Wochenzeitungen aufzuschlüsseln. Welche Akteure nehmen für Grass Partei, welche Akteure lehnen sein Gedicht ab? Welche Position nehmen die einzelnen Qualitätszeitungen ein, und welche Erkenntnisse werden offengelegt bezüglich der deutschen Debattenkultur?
Newspaper debates are most vehemently carried on in Germany. This is displayed e.g. by the Fischer controversy, the Historikerstreit or the discussion about Thilo Sarrazin. The master thesis "Was dabattiert wird" (What is being debated) focuses on the newspaper debate triggered off by Günter Grass and his critical poem about Israel "Was gesagt werden muss" (What needs to be said), published in the Süddeutsche Zeitung in 2012. The controversy in the German and Austrian supra-regional daily and weekly newspaper will be itemized and appraised with the help of a discourse analysis. Who sides with Grass and his poem? Which position is taken up by the quality papers and what will the result of the analysis disclose about German culture of debate in general?
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Ziel der Arbeit
1.2 Gliederung und Vorbemerkung
1.3 Forschungsinteresse
1.4 Der Debatten-Grass - ein Forschungsüberblick
2. Kontextuelle Einführung
2.1 Publizistische Debatten in Deutschland
2.2 Die Person Günter Grass
2.2.1 Sein Leben: Der Aktivistund NobelpreisträgerGrass
2.2.2 Sein Schaffen: Von der Danziger Trilogie bis „Eintagsfliegen“
2.3 Der Debattenanstoß: „Was gesagt werden muss“
2.4 Exkurs: Die Geschichte Israels
2.4.1 DerWeg zurStaatsgründung
2.4.2 Israel und die Konfliktregion NaherOsten
2.4.3 Benjamin Netanjahus Israel
3. Methodik der Untersuchung
3.1 Der Diskurs
3.1.1 Diskursbegriff, Diskurstheorien
3.1.2 Macht und Herrschaft im Diskurs
3.1.3 Die Diskursanalyse
3.2 Auswahl der Medien
3.2.1 Die Tageszeitung (als meinungsbildenes Medium)
3.2.2 Die Profile der untersuchten Tageszeitungen
3.3 Korpusbildung
4. Die Debatte
4.1 Artikelübersicht und diskursive Ereignisse
4.1.1 Grass[1] Stellungnahme
4.1.2 Israels Einreiseverbot: Grass als Persona non grata
4.1.3 Grass' Stellungnahme zum Einreiseverbot
4.2 Themen im Diskurs
4.2.1 Die Person GünterGrass
4.2.2 Grass und seine SS-Vergangenheit
4.2.3 Israel
4.2.4 Israelkritik und Antisemitismus-Vorwurf
4.2.5 Die Debatte bzw. Debattenkulturin Deutschland
4.2.6 Die literarische Qualität des Gedichts
4.3 Akteure
4.3.1 Redakteure
4.3.2 Personen derZeitungs- und Literaturbranche
4.3.3 Angehörige des Judentums
4.3.4 Wissenschaftler
4.3.5 Die Leser(briefe)
5. Interpretation
5.1 Die Positionen derZeitungen
5.1.1 Die SüddeutscheZeitung
5.1.2 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung
5.1.3 DieWelt
5.1.4 Die Tageszeitung
5.1.5 Die Zeit
5.1.6 Der Standard und Die Presse: Die Debatte in Österreich
5.2 Die Akteure der Debatte
5.3 Die Erkenntnisse der Debatte: Was debattiert wird
6. Fazit und Ausblick
7. Literatur
8. Verzeichnis der Grafiken und Tabellen
9. Verzeichnis der zitierten Artikel
Zwei Seelen wohnen also in des Kritikers Brust, in zwei Rollen tritt er
gleichzeitig auf: als Rechtsanwalt und als Staatsanwalt. Das Ergebnis des
Kampfes dieser beiden Seelen, des Gefechts auf dem Feld derartiger
dialektischer Spannungen, die Summe der beiden Plädoyers, des
verteidigenden und des anklagenden - das ist die Kritik, die dem Leser
dienen will und dem Autor, der Literatur und unserer Zeit. Die Urteile
hingegen werden, meine ich, nicht von uns, den Kritikern gefällt, sondern
später einmal von den hohen Richtern, den Literaturhistorikern.
Marcel Reich-Ranicki
(Homer sitzt am Küchentisch. Der Hund bringt die Zeitung.)
“Guter Hund!... Waaas, die Biersteuer wurde erhöht???
Böser Hund! Böser Hund!”
Homer J. Simpson
1. Einleitung
Der Häutung folgt der Rummel: Nachdem Günter Grass, einer der erfolgreichsten deutschen Nachkriegsautoren und gleichzeitig vielgerühmter Literaturnobelpreisträger, im August 2006 in seiner Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ der Öffentlichkeit seine SS-Vergangenheit darlegte, prasselte es von allen Seiten Kritik, Empörung und Schelte. Was damals begann, war die Absetzung eines Moralisten, und ein herber Kratzer schmückte seit diesem Geständnis Grass' Antlitz. Ausgerechnet Grass, wollte man meinen, ebenjener Autor, der die Beihilfe im Dritten Reich, die Knechtschaft und das Mitläufertum jahrzehntelang in den deutlichsten Worten anzuprangern wusste. Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), schrieb in deren Samstagsausgabe, nachdem Grass in selbiger Ausgabe („Warum ich nach sechzig Jahren mein Schweigen breche“[1] ) seine SS-Vergangenheit offengelegt hatte:
Wer die Rhetorik der Nachkriegs-Entschuldigungen und -Beschuldigungen kennt, glaubt, nicht recht zu hören. Der Autor, der allen die Zunge lösen wollte, der das Verschweigen und Verdrängen der alten Bundesrepublikzum Lebensthema machte, bekennt ein eigenes Schweigen, das, folgt man nur seinen eigenen Worten, absolut gewesen sein muß.[2]
Diese Formulierung geriet von dem, was Grass zu hören bekam, vergleichsweise harmlos.[3] Gleichwohl hat es den Anschein, als könne er, Grass, es einfach nicht lassen: Denn sechs Jahre nach der Enthüllung bringt er die Feuilletonisten der überregionalen Zeitungen erneut um Schlaf und Verstand. Dieses Mal musste er nichts aus seiner Vergangenheit enthüllen. Es reichte ein, wie er es symbolisch beschreibt, „mit letzter Tinte“ verfasstes Gedicht.
Dieses Gedicht handelt von einem aktuellen, politischen und vor allem streitbaren Topos: vom Nahostkonflikt, vom Staate Israel, von der Frage, ob und welche Gefahr ebenjener Judenstaat für den Weltfrieden darstellt - und welche Rolle Deutschland bei diesem Spiel einnimmt. „Was gesagt werden muss“ heißt das Gedicht und wurde veröffentlicht am 04. April 2012 in die Süddeutsche Zeitung[4] (SZ).
Die bekanntesten Redakteure, Meinungsmacher und Feuilletonisten der Bundesrepublik (und auf aller Welt), auch Polemiker und Moralapostel hier und da, meldeten sich in Tages- und Wochenzeitungen zu Wort, verteufelten Grass entweder als Antisemit oder sprachen ihre Bewunderung ob der deutlichen Worte des ewigen Kritikers aus. Der emeritierte WDR-Redakteur Thomas Nehls etwa forderte für Grass den Friedensnobelpreis, wohingegen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki einfach meinte, das ganze Gedicht sei „ekelhaft“: „Ich sehe keine Reime. Gut, Reime müssen nicht sein. Gut, dann muss es Rhythmus sein. Nein. Gibt es nicht. Dann muss es das Vokabular sein, die Wörter, die Melodie. Es muss irgendwas sein. Es ist schrecklich. Es ist poetisch gar nichts.“[5]
So wenig poetisch das Gedicht nach Reich-Ranicki sein mag - politisch sorgte es für Furore: Innerhalb weniger Wochen entfachte es eine Zeitungsdebatte, ein reiches Portfolio an Meinungen und Themensträngen verschiedenster Akteure tat sich auf. Das Gedicht wurde ein Streitthema, und es wurde ein Politikum. Meine Masterarbeit, die in Anlehnung an Grass' Gedicht betitelt ist mit „Was debattiert wird“, soll ebendiese Zeitungsdebatte um das Poem „Was gesagt werden muss“ erfassen, darstellen und aufschlüsseln.
Was dabei an Interessantem und Wunderlichem zutage getreten ist, werden die folgenden Seiten dieser Arbeit zeigen. Mirnach, Leserinnen![6]
1.1 Zielder Arbeit
Debatten haben in der Zeitungslandschaft Deutschlands eine lange Tradition[7] und bilden eine bedeutsame Instanz im deutschen Feuilleton: Das zeigen beispielhaft die Fischer-Kontroverse und der Historikerstreit. Die Fischer-Kontroverse (1961), die die Schuldfrage beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhandelt, kann exemplarisch dafür gelten, wie folgenreich der Ausgang einer Debatte auf die Interpretation von Geschichte sein kann. Der Historikerstreit (1986), in der Habermas seinem Kollegen Nolte die Verharmlosung des Holocausts vorwirft, brachte hingegen keinen Sieger hervor, zeigt dafür aber umso deutlicher, den (wissenschaftlich) geführten Kampf um Interpretations- und Deutungshoheit.
Wie wird aber dieser Kampf, der im dritten Kapitel dieser Arbeit theoretisiert wird, geführt? Wer, um im Bild zu bleiben, ergreift das Schwert? Oder, wenn wir es auf die Debatte um das Grass-Gedicht beziehen: Welche Redakteurin, welcher Redakteur (welcher Zeitung) hat sich wie über das Gedicht, über Grass, über Israel, über die Debatte geäußert? Welche Positionen nehmen die einzelnen Publikationen in der Debatte ein? Gibt es so etwas wie eine gängige Meinung, und wo positionieren sich Opponenten dieser Meinung?
Das Ziel der Arbeit also ist die Aufschlüsselung der Debatte. Mithilfe einer kritischer Diskursanalyse (in methodischer Kombination mit der qualitativen Inhaltsanalyse) soll die Berichterstattung der überregionalen Qualitätszeitungen in Deutschland und Österreich erfasst werden. So werden die Zeitungsartikel, die sich auf Grass' Gedicht oder auf dessen Reaktionen beziehen, untersucht nach Stellungnahme und Themenstränge und Wertung, hinsichtlich etwa der politischen Akkuratheit oder der poetischen Qualität des Gedichts.
1.2 Gliederung und Vorbemerkung
Die Arbeit wurde in sechs Hauptkapitel eingeteilt: die Einleitung, in der nachfolgend noch das Forschungsinteresse begründet und ein Forschungsüberblick geleistet wird, die kontextuelle Einführung, die Methodik der Untersuchung, die Debatte, deren Ergebnisse und die Zusammenfassung. Die kontextuelle Einführung soll im zweiten Kapitel eine Grundlage an Wissen schaffen zu den Themen, die manifest oder latent in der Debatte um das Gedicht zum Ausdruck kommen: der Person Günter Grass (2.1) und der Geschichte des Staates Israel (2.2).
Im dritten Kapitel, das die Methodik der Untersuchung behandelt, wird zunächst der Begriff Diskurs zu definieren versucht (3.1.1). Das Gefüge von Macht und Herrschaft im Diskurs wird mit Fokus auf Foucaults Arbeiten erklärt (3.1.2); anschließend wird die empirische Methode der Diskursanalyse (3.1.3) dargestellt. Die Artikel, die zur Analyse dienen, bilden den letzten Teil des Kapitels: Die Tageszeitung als meinungsbildenes Medium wird in ihren Spezifika dargestellt (3.2.1), ebenso die in der Analyse verwendeten Publikationen (3.2.2). Es wird erklärt, warum und in welchen Publikationen die Suche stattfand, in welchem Zeitraum und auf welche Weise die Artikel gesucht wurden, und wie dieser reiche Datenkorpus gefiltert wurde (3.3).
Die Ergebnisse der Analyse werden detailliert im vierten Kapitel behandelt: Eine Artikelübersicht und die diskursiven Ereignisse der Debatte werden vorgestellt (4.1), daraufhin werden die Diskursstränge, also die Themen des Diskurses (4.2), ebenso benanntwie die Akteure (4.3), die in der Debatte zu Wort kommen.
Letzten Endes werden diese Ergebnisse im fünften Kapitel interpretiert. Bei dieser Interpretation soll die Debattenpositionen der einzelnen Qualitätstages- und Wochenzeitungen herausgestellt werden (5.1), desweiteren werden die Akteure (5.2) und die Erkenntnisse der Debatte (5.3) im Mittelpunkt stehen. Ein Fazit samt Ausblick im sechsten Kapitel - und der obligate Anhang - beschließen die Arbeit.
Ursprünglich war diese Masterarbeit als Diskursanalyse nicht nur des Grass-Gedichts „Was gesagt werden muss“, sondern auch des wenige Wochen später in der SZ veröffentlichten Grass-Gedichts „Europas Schande“[8] konzipiert. Das Gedicht handelt über die europäische Staatsschuldenkrise, die ihren Ausgang in der Staatsinsolvenz Griechenlands nahm. Grass kritisiert in seinem Gedicht den Umgang der Europäischen Union mit Griechenland: „Als Schuldner nackt an den Pranger gestellt, leidet ein Land, / dem Dank zu schulden Dir Redensart war.“ Nach dem Regierungswechsel in Griechenland 2009 wurden die Haushaltsdefizite und der Schuldenstand offengelegt, die Regierung bat um Unterstützung und bekam diese in Form des sogenannten Rettungsschirms.
Im Prinzip ein interessanter Poem über ein aktuelles und brisantes Thema. Nachdem jedoch die Artikelsuche vervollständigt war, zeigte sich ein großes Missverhältnis zwischen der Berichterstattung beider Gedichte. Während der Veröffentlichung von „Was gesagt werden muss“ eine Flut an Artikeln folgte, die sich quer über die gesamte Feuilletonlandschaft Deutschlands (und teils auch Österreichs) ergoss, fand „Europas Schande“ vergleichsweise wenig Anklang: Zwar wurde es, wie es sich gehört, in jeder überregionalen Zeitung erwähnt und kommentiert - eine Debatte ergab sich daraus aber nicht, und kontrovers war höchstens das mystische Griechenland-Bild, das man Grass attestierte.
Aus diesem Grund wurde der Fokus auf das Gedicht „Was gesagt werden muss“ gelegt. Ohne etwas vorwegzunehmen, lässt sich vermuten, dass ein Gedicht über die europäische Finanzkrise weniger Zündstoff birgt - und dabei ist diese Situation allein nicht zu unterschätzen - als ein Gedicht eines deutschen Nobelpreisträgers, das Israel auf harsche Weise kritisiert.
1.3 Forschungsinteresse
Aber darf man das: Den Judenstaat in seinem Handeln kritisieren, zumal als Deutscher? Das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel - es wird immer geprägt sein durch die Ereignisse des Dritten Reichs, des Zweiten Weltkriegs, der Judenverfolgung, die grausam und traurig im Holocaust gipfelte. Es ist die „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, wie es Ernst Nolte nannte[9]. Aber darf man
Israel kritisieren? Meiner Meinung nach darf man ihn natürlich kritisieren, den Staat Israel, gleichwohl muss dabei ein Drahtseilakt vollzogen werden: Die Kritik muss immer erlaubt sein, aber, und das dürfte vor allem für deutsche Intellektuelle gelten, sie muss im Rahmen formuliert werden.
Es wird aufschlussreich sein, in welchem Rahmen das Grass-Gedicht aufgenommen und besprochen wird, mit welchen Begründungen es auf Zustimmung, mit welchen Begründungen es auf Ablehnung stößt. Aufschlussreich deswegen, da eine Debatte, deren Verlauf und deren Ergebnis immer auch einen Indikator darstellt für die Lage und die Entwicklung der politischen Kultur in einem Land.
Und das Thema Antisemitismus ist in der deutschen Gesellschaft (und nicht nur dort) nach wie vor präsent: seien es die körperliche Übergriffe auf Juden, das Schänden jüdischer Friedhöfe, das Beschmieren von Synagogen, das Leugnen des Holocaust oder das Aufstellen von abenteuerlichen Weltverschwörungstheorien - das Repertoire an Ausdrucksformen ist vielschichtig, teils offen und häufig latent feindselig. Dabei lassen sich in der Bundesrepublik derzeit drei Formen des Antisemitismus unterscheiden: der vorwiegend auf alten Vorurteilen gegenüber dem Judentum begründete traditionelle Antisemitismus, dersekundäre Antisemitismus, bei dem Täter-Opfer-Umkehrung und Geschichtsrevisionismus Hand in Hand gehen, und der sogenannte aktuelle Antisemitismus, der sich speise aus den Konflikten im Nahen Osten und der Infragestellung des Existenzrechts Israels. Gerade der aktuelle Antisemitismus lasse sich heute beobachten als „ein Bündnis zwischen islamischem und rechtsextremem Antisemitismus sowie linkem Antizionismus.“[10]
Das Thema Antisemitismus ist gegenwärtig, auch in den Medien. Es wird berichtet über antisemitische Angriffe in Berlin[11], Beiträge von Autoren wie Hendryk Broder thematisieren immer wieder (mehr oder weniger polemisch) den Antisemitismus und dessen Geschichte und gesellschaftliche Folgen[12]. Im November 2012 erst kam es zu einem Gerichtsverfahren zwischen dem Schriftsteller Martin Walser und dem jüdischen Publizisten und CDU-Politiker Michel Friedman: Walser verklagte Friedman, weil dieser ihn (und mit ihm auch Günter Grass) des Antisemitismus bezichtigte.[13]
Apropos Walser: Der Schriftsteller, bekannt für Werke wie „Der Tod des Kritikers“ oder jüngst „Das dreizehnte Kapitel“, löste 1998 eine Debatte aus, die Walser-BubisDebatte, bei der der Vorwurf des Antisemitismus verhandelt wurde.[14] Diesen Vorwurf wird sich auch Günter Grass, zwar nicht direkt von Friedman, so aber von anderen Kommentatoren gefallen lassen müssen.
1.4 Der Debatten-Grass - ein Forschungsüberblick
Einen Forschungsüberblick über die Person Günter Grass zu leisten ist eine kaum fassbare Aufgabe. Denn eine derart, sagen wir, polymorphe Figur wie Grass ließe sich mit einer Vielzahl von wissenschaftlichen Disziplinen aufschlüsseln: Der Analyse des Grass'schen Œvres würde sich die Literaturwissenschaft empfehlen, in der Geschichtswissenschaft wäre seine SS-Vergangenheit ein bedeutsames, zu verhandelndes Thema, und Grass' künstlerische Gehversuche als Radierer fänden vielleicht in der Kunstinterpretation ihre Aufmerksamkeit - ganz abgesehen von den Biografien, die umfassend Grass' Leben beleuchten und seine Person in Gänze, wie Grass es selbst nennen würde, „häuten“.
Dementsprechend tut sich eine Fülle von Literatur auf. Da diese kommunikationswissenschaftliche Arbeit aber die Person Grass in Zusammenhang mit einer publizistischen Debatte zum Thema hat, soll ebenso der Überblick auf Autorinnen und Autoren (und ihren Arbeiten) liegen, die sich diesem Motiv verschrieben haben: Als Anlass dafür bietet sich vor allem die Offenbarung von Grass' SS-Vergangenheit (2006), die anfangs beschrieben wurde.
Diese Debatte um Grass hat sich die Kommunikationswissenschaftlerin Britta Gries ausführlich zum Thema gemacht: In ihrer Arbeit „Die Grass-Debatte. Die NS- Vergangenheit in der Wahrnehmung von drei Generationen“ (2008) untersucht sie mithilfe der kritischen Diskursanalyse die publizistische Kontroverse in Hinblick auf die Diskurspositionen und -ebenen, um anhand dessen die Wahrnehmung der Zeit des Nationalsozialismus in den drei Generationen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aufzuzeigen.
Die Debatte um Grass sei, so Gries, trotz des geschichtswissenschaftlichen Engagements um Sachlichkeit und die Aufklärung historischer Hintergründe, gekennzeichnet gewesen von den Gesetzen der Medienöffentlichkeit:
Die Aufmerksamkeit, welche durch das späte Bekenntnis geweckt worden war, musste durch polarisierende Stellungnahmen, vermeintliche Enthüllungen und neue Informationen aufrechterhalten werden. (...) die überregionalen deutschen Tages- und Wochenzeitungen [dienten] nicht nur als mediale Foren (...). Vielmehr waren sie bestrebt, durch redaktionelle Beiträge in Form von Kommentaren Einfluss auf den Verlauf der Auseinandersetzung zu nehmen.[15]
Im Kampf um die Deutungshoheit standen sich zwei Generationen gegenüber: die sogenannte Flakhelfer-Generation, also Zeitzeugen, die noch persönlich Erfahrung mit dem NS-Regime machen mussten, und die Mitglieder der Achtundsechziger- Generation. Von den 218 untersuchten Artikeln seien 77 eindeutig den Vertretern der Zeitzeugengeneration zuzurechnen, wohingegen 30 Artikel eindeutig von Achtundsechzigern stämmen (die dritte Generation, die Enkelgeneration der Zeitzeugen, hingegen zeige, vertreten mit nur sieben Beiträgen, ein „verschwindend geringes Interesse“ an der Debatte).
Als Debattenauslöser sieht Gries den Leitartikel von Schirrmacher („Das Geständnis“), der das Interview in selbiger FAZ-Ausgabe lancierte. Im Anschluss an dessen Artikel entfachte sich ein Streit um die Deutungshoheit über die historischen Umstände unter dem NS-Regime, an dem vor allem die Zeitzeugen-Generation sich bemüht sah, ihre Ansichten zu verteidigen, die Bewertung der NS-Vergangenheit zu bestimmen. Egon Bahr als Vertreter der Zeitzeugen-Generation schrieb: „Wer nie im Glashaus saß, hat kein Recht, Steine zu werfen“ - und sprach damit den späteren Generationen das Recht ab, sich ein Urteil über Grass bilden zu dürfen.[16]
Gries resümiert, die Grass-Debatte könne als „typischer publizistischer Konflikt charakterisiert werden, in welchem Sachlichkeit und Rationalität wenig Raum gelassen wurde.“ Die Teilnehmer, also die Befürworter und die Kritiker von Grass, hätten versucht, durch polemisierende Aussagen die Aufmerksamkeit bei den Lesern, beim Publikum zu gewinnen. Dabei ging es inhaltlich weniger um Grass, vielmehr hätten sich die Akteure der Debatte gegenseitig verbal angegriffen, was letztendlich der Debatte einen „insgesamt erkenntnisarmen Charakter“ verliehen hätte.[17]
Das Werk „Ein Buch, ein Bekenntnis. Die Debatte um Günter Grass' 'Beim Häuten der Zwiebel'", herausgegeben von Martin Kölbel und erschienen im Steidl-Verlag[18], versucht die Debatte in Hinblick auf die Funktion der Massenmedien hin zu interpretieren. Demnach sei die Debatte ein „Phänomen von Masse.“ Ausgehend vom Grass-Interview und dem Leitartikel in der FAZ, von dem Kölbel urteilt, das „Grass'sche 'Bekenntnis' wurde am Medienmarkt optimal als F.A.Z. 'sches 'Geständnis' platziert“, hätten die Medien diese Vorgaben der FAZ „fast anstandslos übernommen, und diese [die Debatte] hat sich von jenen nur schwer erholen können“[19]:
Zwar wurde den normativen Bewertungen im Einzelnen rege widersprochen, nicht jedoch dem Gebot, das Detail überhaupt normativ bewerten zu sollen. Dieswar jedoch nichtder Verdienst der F.A.Z., sondern der Reproduktionskräfte, die im Pressewesen wirksam sind. Die Zeitungen schrieben, gestützt auf die Meldungen der Presseagenturen, massiv voneinander ab und vermehrten die F.A.Z.-Bewertung geradezu industriell.
Kölbel fragt sich in diesem Zusammenhang, wieso „verfallen Medien, wenn sie heute aufklärerisch tätig werden, der erkenntnisunfreundlichsten Form: dem personenbezogenen Skandal?“ Seiner Meinung nach sei die Anprangerung einer bestimmten Person, in diesem Falle Grass, attraktiv als „inquisitorische[s] Verfahren vor allem aus einem massenpsychologischen Grund: (...) Mittels einer Moral, die pro forma vertreten und als übertreten behauptet wird, werden an sie gekoppelte Herdeninstinkte freigesetzt.“ Dadurch sei die bestimmte Person, Grass, als Art Intimfeind der Öffentlichkeit ausgesetzt; diese Person könne „verfolgt werden und die
Verfolger zu einer temporären Masse verschweißen“.[20]
Auch Wilfried Scharf, Publizistikwissenschaftler aus Göttingen, hat die Debatte um Grass' SS-Vergangenheit untersucht. Für seine Abhandlung „Deutsche Diskurse“ hat er rund 230 Artikel aus überregionalen deutschen Tages- und Wochenzeitungen ausgewertet.[21] Er stellt heraus, dass sich die Debatte zunächst auf die Person Grass und dessen Werk konzentrierte, vor allem hätte dabei der Neid auf Grass vieler seiner Kollegen den Anlass gegeben, um „alte Rechnungen“ zu begleichen (z.B. Peter Handke). Im späteren Verlauf löste sich die Debatte allerdings von der Person Grass und richtete sich auf andere Themen, etwa der Debattenkultur: „Jüngere Debattenteilnehmer verlangen mehr Aktualität, eine Abwendung von den Großschriftstellern, manche wollen 'mehr Nahost in der Debatte'“[22] ; auch kommt die Frage auf, warum dem alten Nobelpreisträger mit seiner damaligen kurzen SS- Mitgliedschaft dermaßen viel Aufmerksamkeit zuteil wird; Grass wird aber auch gelobt, dass inmitten des neuen Wir-Gefühls während der Weltmeisterschaft 2006, in dem die Vergangenheit endlich vergangen schien, dann doch gezeigt wurde, „wie dünn der Firnis dieses Selbstbetruges“ ist.[23]
Es wird interessant zu sehen, inwiefern die Erkenntnisse und die Ergebnisse der Recherche zur Grass-Debatte anno 2006 sich mit den Erkenntnissen und Ergebnissen vergleichen lassen können, die die nachfolgende Diskursanalyse darzustellen versucht (und damit wären wir wieder bei der Ausgangsfrage): Wer führt - mit welcher Bewertung - die Debatte an? Welcher Standpunkt wird von einzelnen Akteursgruppen eingenommen? Wie viel Sachlichkeit und Rationalität steckt in den Zeilen? Welchen Beitrag, wenn überhaupt, erzielt die Debatte?
Ehe wir uns diesen Fragen widmen, sollten wir jedoch noch einen Blick auf die publizistischen Debatten und ihre Spezifika in Deutschland sowie auf die Person Günter Grass richten.
2. Kontextuelle Einführung
Die Debattenkultur hat in Deutschland, wie erwähnt, eine lange Tradition und einen hohen Stellenwert: Es finden sich Diskussion in sogenannten Polit-Talkshows (wie etwa „Anne Will“ oder „Maybrit Illner“), im Rundfunk sind Streitgespräche an der Tagesordnung, und das Internet verfügt, sei es in Socialmedien oder in Webforen, über zahlreiche Wege zum Clinch - und ebenso natürlich die Tageszeitungen und Wochenzeitungen. Im Zentrum der Einführung sollen die Debatten ebendieses Mediums, also die publizistischen Debatten in der Bundesrepublik stehen (2.1). Ein Überblick der letzten Jahrzehnte wird dazu dienen, ebenso die Eigenheiten deutscher Debatten in der Öffentlichkeit, die wichtigsten publizistischen Diskurse aufzuzeigen.
Neben der deutschen Debattenkultur wird im Mittelpunkt dieser Einführung die Person Günter Grass stehen, dessen Leben und Schaffen (2.2), während dann das Gedicht (2.3), Gegenstand der zu analysierenden Zeitungsartikel, vorgestellt wird. Abschließend wird ein Abriss über die israelische Geschichte dargeboten (2.4), um ein Fundament an Fakten bereitzustellen, das im späteren Verlauf die in den Artikeln artikulierten Meinungen zu verstehen hilft.
2.1 Publizistische Debatten in Deutschland
Der deutsche Philosoph Friedrich Wilhelm Nietzsche schrieb einst: „Aus den Leidenschaften wachsen die Meinungen, die Trägheit des Geistes läßt diese zu Überzeugungen erstarren.“[24] Solche Überzeugungen, diese Trägheit des Geistes können einerseits Anstoß für Debatten sein, und solche Debatten können andererseits als Antidot wirken: Es treffen verschiedenartige Meinungen und Denkmuster aufeinander, vereinbare und unvereinbare, und durch diesen Zusammenprall entstehen neue Standpunkte und neues Wissen, verfestigen sich Ansichten, zerbröckeln Weltbilder.
Es wird täglich debattiert: Themen sind Atomkraft und Sterbehilfe, Drittes Reich und Integration, Betreuungsgeld und Praxisgebühr, auch der Euro ist oft dabei und Thilo
Sarrazin. Die Debatte, deren Wortbedeutung aus dem Französischem débattre (durchsprechen) bzw. aus dem Lateinischen bettuere (schlagen) entstammt, meint eine offene Diskussion und Aussprache, besonders bei konträren Meinungsbildern, die vor allem in der Politik beheimatet sind.[25] Was aber genau ist eine publizistische Debatte? Nun, eine publizistische Debatte kann verstanden werden als ein...
öffentlich ausgetragener Streit. (...) Wer sich zu Wort meldet, bezieht sich dabei auf die Aussagen einer in den Disput ebenfalls verwickelten Person, bestätigt oder widerlegt deren Argumente. (...) die Printmedien [fungieren] als Mittler, Foren und Akteure.[26]
Wenn immer eine Debatte (bewusst oder unbewusst) angestoßen wird, geht es für alle argumentierenden Akteure um die Macht der Deutungshoheit. Und diese Macht ist, wie nachfolgende Beispiele etwa zum „Historikerstreit“ zeigen werden, keineswegs nur eine symbolische Macht.
Die Macht der Deutungshoheit wird zumeist unter Experten und Spezialisten verhandelt, die mit ihrer Argumentation auch die Zustimmung des Publikums zu gewinnen trachten.[27] In diesem Kampf kommt den Massenmedien eine bedeutsame Doppelfunktion zu: Sie bestimmen erstens maßgeblich die Inhalte, über die die Rezipienten anschließend reden (sie agieren als Gatekeeper[28] ), sie entscheiden sich also für oder gegen die Berichterstattung eines bestimmten Ereignisses, ein Verhalten, das Kepplingerunter dem Begriff „instrumentelle Aktualisierung“[29] deutet.
Und, zweitens, beeinflussen sie durch die Auswahl bestimmter Themen, Inhalte, Interpretationen usw. die Aufmerksamkeit des Rezipienten (Agenda-Setting[30] ). Und diese Funktion wird genutzt: Rückblickend auf die letzten vierzig Jahre ließe sich somit beobachten, Massenmedien haben „immer wieder an zentralen Momenten in die wissenschaftliche Debatte eingegriffen und - in dem sie innerfachliche Kontroversen auf die große Bühne der Massenkommunikation gehoben haben - zu einer Neujustierung des innerwissenschaftlichen Betriebes beigetragen“.[31] Ebenso ist charakteristisch, dass der Berichterstattung der Medien in einer publizistischen Debatte immer zwei Motive zugrunde liegen, nach Kepplinger nämlich das „Verhalten der Konfliktgegner und [das] Verhalten der Berichterstatter“[32].
Betrachtet man nun die Geschichte der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg, so tut sich eine reiche Liste an publizistischer Debatten und Kontroversen auf: Angefangen bei der Kontroverse um die innere und äußere Emigration (1945-1947), die, von Walter von Molo und Thomas Mann angeführt, die Rolle von Schriftsteller der sogenannten inneren Emigration und den Exilliteraten in der Nachkriegsliteratur verhandelte, über die Fischer-Kontroverse und den Historikerstreit, die beide später ausführlich besprochen werden, bis hin zur Wiedervereinigungsdebatte (1988-1990) oder der Kontroverse zur Wehrmachtsausstellung (1995-1999) geht es vornehmlich um dieselbe Frage: Was ist deutsch? Wer sind wir Deutschen? Vor allem aber gehe es um...
die politische Kultur in Deutschland. (...) Sie umfasst Kunst und Literatur, Lebensstile und gemeinschaftliche Lebenspraktiken, Werte, Überlieferungen, gemeinsame Wahrnehmungsmusterund Glaubenssätze. Ohne eine solche gemeinsame Kultur lässt sich keine (...) kollektive Identität denken.[33]
Die erste große Kontroverse, die (wenn auch erst im späteren Verlauf) über die Massenmedien ausgetragen wurde, war die Fischer-Kontroverse. Die Kontroverse, die zunächst als Debatte begann, verhandelte die Schuld am Kriegsausbruch des Ersten Weltkriegs: Ausgangspunkt war das Werk „Griff nach der Weltmacht“ (1961) des Historikers Fritz Fischer, in dem er der vorherrschenden Meinung in Deutschland widersprach, die Deutschen hätten lediglich eine relative und geringe Schuld am Kriegsausbruch.
Diese These wurde, innerhalb der Wissenschaft, deutlich kritisiert, so etwa von den Historikern Karl Dietrich Erdmann und Gerhard Ritter; zur Kontroverse geriet die Debatte allerdings erst durch den 26. Berliner Historikertag 1964: Als sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum fünfzigsten Mal jährte, wurde die Kontroverse, die zentrales Diskussionsmotiv des Historikertags war, für die Massenmedien ein Thema. Die Dimension der Kontroverse löste sich aber bald von der Kriegsschuldfrage: Vielmehr sollte es um die Frage gehen, „ob der Nationalsozialismus das gleichsam zwangsläufige Ergebnis einer deutschen Sonderentwicklung in der europäischen Geschichte darstellt oder nicht.“[34] Die Fischer-Kontroverse kann im Nachhinein als Wegbereiter des Dogmenwechsels seit 1968 verstanden werden.[35]
Die wohl bedeutendste Debatte, neben der beschriebenen, in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist der „Historikerstreit“, der, im Gegensatz zur FischerKontroverse, nicht durch neue Forschungsergebnisse angestoßen wurde, sondern durch das Eingreifen von Jürgen Habermas. Auslöser der Debatte war sein 1986 in Die Zeit veröffentlichter Artikel „Eine Art Schadensabwicklung“, in dem er NeuzeitHistorikern den Vorwurf machte, den Holocaust verharmlosen zu wollen. Diese Kritik galt vor allem Ernst Nolte, der die Judenvernichtung in einen kausalen Zusammenhang bringen wollte mit der Herrschaft Stalins in der Sowjetunion, der Nationalsozialismus hätte „aus einem Ideen- und Praxisrepertoire des Bolschewismus geschöpft“.[36] Diese Ansicht implizierte die Idee, die Verbrechen am Judentum seien vergleichbar, nicht beispiellos. Historiker wie Hillgruber und Stürmer unterstützten diese Art von Revisionismus: Man dürfe die deutsche Geschichte nicht aufdie zwölf Jahre des Dritten Reichs beschränken, sondern vielmehr versuchen, die Verbrechen des NS-Regimes in die Verbrechensgeschichte des 20. Jahrhunderts einzuordnen.[37]
Es entbrannte eine hitzige, zuweilen polemisch geführte Debatte zwischen dem rechts-demokratischen (Nolte etc.) und links-demokratischen Lager (Habermas etc.). Die Kraftverhältnisse lagen dabei zugunsten der linken Demokraten, die nicht nur zahlenmäßig überlegen waren. Den rechten Demokraten fehlte eine Führungsfigur wie Habermas in ihren Reihen, und sie befand sich zudem in einer „unvorteilhaften Defensivposition“.[38] Was die Debatte, die vorwiegend über die Massenmedien (wie Tages- und Wochenzeitungen sowie Zeitschriften; vereinzelt aber auch über Fachzeitschriften wie der „Spiegel“) ausgetragen wurde, vor allem zeigt, das ist der Belang der Deutungsmacht:
In solchen politisch-kulturellen Debatten können intellektuelle „Sinnproduzenten“ Pflöcke einrammen, innerhalb derer über bestimmte Themenfelder geredet werden kann. So findet sich die These von der Einzigartigkeit nationalsozialistischer Verbrechen seit dem „Historikerstreit“ in fast jeder Gedenkrede eines Politikers.[39]
In der jüngeren Vergangenheit gab es eine Vielzahl an Debatten. In ihrem Fokus wurde vor allem die Frage des Antisemitismus, die Frage nach der Ursache des Holocaust diskutiert: So etwa die um den US-amerikanischen Sozialwissenschaftler Daniel Goldhagen (1996) und seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker“, in der die Ursachen des Holocaust verhandelt wurden: Goldhagen nach sei der Holocaust entstanden aus einem „eliminatorischen Antisemitismus“[40], der damals ein gesamtgesellschaftliches Phänomen gewesen sei. Das Werk wurde intensiv diskutiert, und es wurde, trotz der Ablehnung seitens der Fachwissenschaft, ein Bestseller: „Die breite Öffentlichkeit hat sich wohl nach einem Befreiungsschlag gesehnt, nach dem dann ein für allemal das Thema beendert werden kann.“[41] (Goldhagen selbst wird übrigens Teilnehmer an der Grass-Debatte sein.)
Oder die Debatte um Martin Walser und Ignatz Bubis, die ihren Ausgang in einer Rede Walsers nahm, in der er den Umgang mit dem Nationalsozialismus kritisierte. Anlässlich der Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 äußerte sich Walser in seiner Dankesrede über die Aufbereitung deutscher Vergangenheit folgendermaßen:
Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. (...) Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung.[42]
Ignatz Bubis, der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, kritisierte Walser daraufhin: Er betreibe „geistige Brandstiftung“, seine Aussagen fördern eine „Kultur des Wegschauens und Wegdenkens“[43]. Die daraus entstandene Debatte begründete sich vor allem auf den verschiedenen Lesarten der Rede: „die Auslegung des Identitäts- und des Erinnerungsbegriffs sowie deren Medialisierung, die Thematisierung der Lesart Schande sowie die Frage der Verortung der Rede vor dem Hintergrund des Deutungskomplexes um den sog. Schlussstrich.“[44]
Auch nach der Jahrtausendwende entbrannten zahlreiche Debatten, Diskussionen, Streitgespräche. So etwa, um ein letztes Beispiel anzuführen, geriet das Gespräch mit dem SPD-Politiker Thilo Sarrazin in der Berlin-Ausgabe des Kulturmagazins Lettre International (2009) schnell in den Fokus der Medien: In dem Gespräch, das über die Wirtschaftspolitik in Berlin handelt, äußerte sich Sarrazin abwertend und polemisch gegenüber Migranten in Berlin, vorzugsweise Türken und Araber, und deren Lebensweise: „Jemanden, der nichts tut, muß ich auch nicht anerkennen. Ich muß niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.“ Das Medienecho war groß, größtenteils negativ, aber wohl differenziert[45]: Es gab für Sarrazins Aussagen, neben abwägenden Haltungen, ebenso Widerreden (Cem Özdemir, Roland Koch u.a.) wie anerkennende Worte (Peter Sloterdijk, Necia Kelek u.a.).
Es ist davon auszugehen, dass Sarrazin diese schroffen Worte bewusst gewählt hat, um eine Diskussion anzustoßen. Es ist auch davon auszugehen, dass sein mit der SPD sympathisierende Genosse, also Günter Grass, sich einem ähnlichen Plan hergab.
2.2 Die Person Günter Grass
Wie man Günter Grass und dem Werk von Günter Grass begegnen mag - Marcel Reich-Ranicki trifft den Kern: Grass' Prosa reiße manchmal hin und provoziere manchmal zum Widerspruch. Aber, resümiert der bekannte Literaturkritiker, man könne ihr gegenüber nie gleichgültig sein: „Was immer er schreibt und verkündet, wird, nun schon seit vielen Jahren, beanstandet und belächelt, gerügt und gegeißelt. Ignoriert wird es nicht. Sein Thron wackelt bedenklich und ist doch nicht ernsthaft gefährdet“.[46] Wer aber ist der Mensch, der Mann, der als Nobelpreisträger lange Zeit als Praeceptor Germaniae galt (oder gilt?), der mit „Die Blechtrommel“ so viele Literaturkritiker verzückte und so viele Schüler verschreckte?
Die Darstellung eines Autors ist, meiner Meinung nach, eine schwierige vielschichtige Aufgabe. Sie kann sich aus zweierlei Sichtweisen heraus ergeben: einmal aus der Biografie des Autors und einmal aus dessen Bibliografie, wenngleich beide Stränge ineinander übergreifen und sich gegenseitig bedingen. Ich habe mich entschieden, die Person Günter Grass, den streitbaren Autor des streitbaren Gedichts, separat aus zwei Sichtweisen zu betrachten - aus biografischer und aus der literarischen Perspektive.
2.2.1 Sein Leben: Der Aktivist und NobelpreisträgerGrass
So fing alles an: Als gesunder Knabe des Kaufsmann-Ehepaars Helene und Wilhelm erblickte Günter Grass am 16. Oktober 1927 das vorkriegerische Licht der Welt in der damals noch zu Deutschland gehörenden Freistadt Danzig. In deren Vorort Langfuhr erlebte Grass seine Kindheit, beeinflusst vom Katholizismus seiner Mutter und der
Geschäftstüchtigkeit seines Vaters, der im Mai 1936 in die NSDAP eintrat[47], bis das ehemals erhabene Danzig trümmernd-aschig daniederlag, und zog dann für ein Studium an die Kunstakademie nach Düsseldorf und später an die Hochschule für Bildende Künste nach Westberlin.
Nach seinem Abschluss 1956 lebte Grass drei Jahre in Paris. Dort schrieb er das Manuskript zu seinem Erstling „Die Blechtrommel“, ein Werk, das später seinen Weltruhm begründen sollte, ein Werk, das auch seine Kindheit und Jugend in Danzig zum Thema hat. Auf seine Kindheit und Jugend wird im Laufe dieses Kapitels noch verwiesen.
Zugute kam Grass' literarischem Werdegang die Aufmerksamkeit der Gruppe 47. Dem von Hans Werner Richter organisierten Literatenkreis gehörten bekannte Gegenwartsautorinnen und -autoren an wie etwa Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll und Günter Eich. Er war das „wichtigste Forum für junge Schriftsteller“.[48] Nachdem Grass 1955 mit dem dritten Preis des Süddeutschen Rundfunks für sein Gedicht „Lilien aus Schlaf“ auf sich aufmerksam gemacht hatte, lud man ihn im selben Jahr noch nach Berlin zur Tagung der Gruppe. Drei Jahre später stellte Grass zwei Kapitel seines in der Entstehung begriffenen Romans „Die Blechtrommel“ vor: Die Kritik der anwesenden Autorinnen und Autoren fiel sehr günstig aus, Grass bekam für sein Manuskript den Preis der Gruppe 47. Seine Teilnahme an der Gruppe 47 war für ihn ohnehin von großem Gewinn: Sie begründete nicht nurseinen Erfolg, sondern sensibilisierte, vor allem durch die Obhut Hans Werner Richters, sein Literaturverständnis.[49]
Neben seiner Präsenz als Literat tat sich Grass in den Folgejahren vor allem durch sein politisches Engagement hervor. Bereits 1961 vermerkte die Stasi, die ihn seit jenem Jahr überwachte: Grass sei ein Mensch „ohne jede feste politische Einstellung oder Haltung. Er schießt praktisch nach beiden Seiten (...) möchte immer als ein Freiheitsapostel erscheinen“.[50] In den Bundestagswahlkämpfen von 1965, 1969 und 1972 unterstützte Grass mit seinen Reden den SPD-Wahlkampf von Willy Brandt. Dessen Umgang mit der deutschen Geschichte kann als Vorbild von Grass verstanden werden: „in einem Alter, in dem der junge Grass noch fanatischer Nationalsozialist war, hatte der junge Brandt das heraufziehende Unheil scharfsichtig erkannt und mutig bekämpft“.[51]
Im Februar 1990 sprach sich Grass gegen die Deutsche Wiedervereinigung aus. Das wurzele, so Biograf Neuhaus, in der antipolnischen Germanisierungspolitik zuzeiten, als seine Heimat Danzig eine deutsche Irredenta darstellte, sowie in dem Gedanken der „gedankenlosen Restauration mit und nach der Währungsreform“[52]: „Unter Verzicht auf gemeinsame Nachdenklichkeit sollte es schneller und schneller gehen, damit ja nichts anbrennt“.[53] Hinzu komme das Bedenken, dass die Fragen der Schuld nicht alleine eine Frage der Individuen sei, doch aber auch der Nationen. Mit dieser Furcht stand Grass in Europa, wie allgemein bekannt, nicht alleine.
Dennoch stoßen Grass' Ideen weitgehend auf Ablehnung, und auch die Kritik am literarischen Werk von Grass war keineswegs günstig. Interessant, zumal später Thema in der Debatte um sein Gedicht „Was gesagt werden muss“, ist der Umgang von Grass mit der Kritik. Seit seinem ersten Roman, auch „Die Blechtrommel“ wurde nicht bloß gelobt, sahen sich Grass' Werke scharfen Besprechungen ausgesetzt. Das veranlasste ihn bereits 1994, im Rahmen der Dankrede für den Großen Literaturpreis der Bayrischen Akademie der Schönen Künste, zu einer Abrechnung mit seinen Kritikern: Sie seien die Schuldigen, die Grass „gelegentlich öffentlichen Auspeitschungen unterwerfen“ würden, die ohne die Schriftsteller „arbeitslose Sozialfälle wären“[54]. Marcel Reich-Ranicki, der ebenso von der Kritik betroffen ist wie seine Kollegen des Literarischen Quartetts, reagiert daraufhin so - und nimmt einen Charakterzug, eine Reaktion von Grass vorweg, der im Verlauf der Gedichtsdebatte zutage treten wird:
Empört überdie Kritik, die sich hartnäckig weigert, seine neueren Produkte zu rühmen, belegt Günter Grass mit seinem Bann den Kulturbetrieb, der eine so schnöde Kritik duldet.[55]
Diesen Bann wird Grass, als Reaktion auf die Kritik an seinem Israel-Gedicht, achtzehn Jahre später erneut aussprechen. Drei Jahre nach der Dankrede sorgt Grass erneut für Aufsehen: In der Laudatio für den türkischen Dichter Yasar Kemal, Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, kritisiert er den Waffenexport Deutschlands in die Türkei und die Weigerung Deutschlands, verfolgten Kurden Asyl zu bieten. Daraus ergab sich ein „heftig von links und rechts kommentierter] Eklat“.[56] Der deutsche Waffenhandel scheint für Grass, wie sich hinsichtlich seines Gedichts zeigen wird, eine wichtige Streitfrage zu sein.
Nach der herben Kritik ereignete sich für Grass eines Morgens Folgendes: Am 30. September 1999 sitzt Günter Grass mit seiner Frau Ute beim Frühstück, ein Besuch beim Zahnarzt steht an, Grass trinkt Tee. Dann klingelt bei den Grassens das Telefon. Nimm du ab! Nein, du! Seine Frau nimmt ab und sogleich entfleucht ihr ein „Oh Gott!“. Grass nimmt den Hörer. Er hört zu. Dann hat er die Gewissheit: Das Komitee der Schwedischen Akademie hat entschieden, er ist der diesjährige Nobelpreisträger für Literatur. Grass legt den Hörer auf, dreht sich zu seiner Frau: Aber erst mal, so Grass, fahren wir jetzt zum Zahnarzt[57]. In der offiziellen Pressemitteilung heißt es über Grass, der bereits lange als Preisträger gehandelt worden war und der sich seitdem in einem Atemzug mit Heinrich Böll, Hermann Hesse und Thomas Mann nennen kann:
Günter Grass hat sich als "Spätaufklärer" bekannt in einer Zeit, die derVernunft müde geworden ist. (...) Durch seine Macht über die deutsche Syntax und seine Bereitschaft, ihre labyrinthischen Feinheiten zu nutzen, erinnert er an Thomas Mann. Sein schriftstellerisches Werk ist ein Dialog mit dem großen Erbe deutscher Bildung, der mit sehr strenger Liebe geführt wird.[58]
Das war Grass' Sieg, er war, wie Biograf Jürgs schreibt, im Olymp der Dichter angekommen. Diese Auszeichnung (eine von vielen, darunter auch die ihm 1995 verliehene Hermann-Kesten-Medaille des deutschen P.E.N.-Zentrums[59] ), möchte man meinen, stählte Grass und kam ihm, in einer Zeit, in der seine Romane wie „Die Rättin“ in der Kritik durchfielen, gerade recht als Wertschätzung seines literarischen Werkes.
Eine Zäsur seiner öffentlichen Wahrnehmung war schließlich, wie einleitend erwähnt, die Grass' Offenbarung seiner Waffen-SS-Vergangenheit. Bis zur Veröffentlichung seiner Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ im Jahre 2006 und dem angeführten FAZ-Interviewwusste man lediglich von Grass, dass ersich in seinerJugend freiwillig zum Kriegsdienst meldete (1943), zum Flakhelfer ausgebildet wurde und später in amerikanische Kriegsgefangenschaft geriet. Dass Grass bei der 10. SS-Panzer- Division Frundsberg gemeldet war[60], wusste bis dahin jedoch niemand, und bei der Lektüre eben jener Enthüllung müssen viele Lesern derart überwältigt gewesen sein wie Schirrmacher beim damaligen Interview. Aber es gab auch Stimmen, die den Skandal nicht unterstützen wollten.[61]
Die publizistischen Reaktionen auf diesen Abschnitt von Grass' Leben wurden bereits im Forschungsüberblick verhandelt und werden auch im Diskurs zu seinem Gedicht erneut Thema sein.
Gegenwärtig lebt Grass in der Nähe von Lübeck und engagiert sich für den Atomausstieg Deutschlands. Willy Brandt, der in eben jener Stadt geboren wurde, forcierte übrigens als Bundeskanzler, in der Zeit als Grass für ihn Wahlkampf betrieb, die Inbetriebnahme einer Vielzahl von Atomkraftwerken. Keine Frage: Grass ist, wie bereits vor fünfzig Jahren, ohne jede feste politische Einstellung, er schießt nach beiden Seiten.
2.2.2 Sein Schaffen: Von der Danziger Trilogie bis „Eintagsfliegen“
Die Karriere als Kunstschaffender, der neben dem prosaischen Schreiben auch das Malen und Bildhauen, Dichten und Dramatisieren pflegte, begann für Grass 1956 mit einer Ausstellung von ihm gestalteter Plastiken und Grafiken in München und Stuttgart. Diese Leidenschaft als Bildhauer und Handwerker wurde jedoch schon bald in den Schatten gestellt von seiner Fähigkeit, mit Worten umzugehen: Nachdem seine zwei Theaterstücke („Die Vorzüge der Windhühner“, 1956 und „Hochwasser“, 1957) zunächst wenig Beachtung fanden, wurde ihm, wie erwähnt, für sein Manuskript zur „Blechtrommel“ von der Gruppe 47 der Literaturpreis verliehen.
„Die Blechtrommel“, sein Erstling, begründet dann auch Grass' Weltruhm. Es ist die Geschichte des Oskar Matzerath, dessen Verstand bei der Geburt bereits entwickelt ist und der mit drei Jahren beschließt, nicht mehr zu wachsen. Er ist Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt und erzählt episodisch Geschichten aus seinem Leben. Dieses wichtige Werk der Nachkriegsliteratur vollständig zu besprechen, ist an dieser Stelle unmöglich.
Es kann, um nur einige Beispiele zu geben, verstanden werden als Pikaroroman, als Künstlerroman, ja, als ein „klassisch[er], 'wenn auch pervertierter]' Bildungsroman“ (Walter Höllerer). Der Roman sprudelt vor Einfällen und vor Phantasie, er enthält ebenso mythologische wie literarische Verweise, er ist brüsk und prall und schelmisch, ein „wild[er] Einzelgänger in unserer domestizierten Literatur“ (Hans Magnus Enzensberger).[62]
Es folgen die Novelle „Katz und Maus“ (1961) und der Roman „Hundejahre“ (1963), wozu Marcel Reich-Ranicki, der über Jahrzehnte hinweg Grass Schaffen in seinen Kritiken reflektierte, schreibt: „Nicht der Roman 'Hundejahre' verweist indes auf die Richtung des Weges, den Grass in den nächsten Jahren eingeschlagen hat, sondern die zwar früher erschienene, aber offenbar später konzipierte Novelle 'Katz und Maus', ein auf jeden Fall ungleich reiferes und strengeres Werk.“[63] Im Verbund mit „Die Blechtrommel“ bilden diese Werke die Danziger Trilogie. Seit den 60er Jahren beschäftigt sich Grass dann intensiv mit der deutschen Politik. Dieses Engagement, das im Vorkapitel dargestellt wurde, schlägt sich auch in seinem literarischen Werk nieder (vgl. „Die Plebejer proben den Aufstand“, 1966; „gegen das Protestgedicht“, 1967; „Örtlich betäubt“, 1969; „Aus dem Tagebuch einerSchnecke“, 1972).
Inspiration und Namensgeber seines 1977 erschienenen Werks ist ein Fisch, ist „Der Butt“. Der Roman, dessen ersten Satz man dreißig Jahre später zum „schönsten ersten Satz“ kürte[64], gilt als Hauptwerk neben „Der Blechtrommel“ und verhandelt, in einem Zeitraum von der Steinzeit bis zur Gegenwart, Grass' Verhältnis zu Frauen. Grass leiste sich „kühn und auch waghalsig, eine private Mythologie. Die Hoffnungen und Sehnsüchte, die Befürchtungen und Alpträume eines ganzen Lebens verwandelt er in poetische Bilder (...)“[65]
„Das Treffen in Telgte“ (1979) hat eine fiktive Zusammenkunft deutscher Literaten im 17. Jahrhundert zum Thema. Eingeladen vom Königsberger Simon Dach, um etwas gegen den kulturellen Niedergang des Landes der Dichter und Denker zu unternehmen, erscheinen alle Größen der damaligen Zeit: Grimmelshausen und Scheffler, Zesen und Hoffmannswaldau, Gryphius, Harsdörffer und viele mehr. Der Grundgedanke des Romans ist die Verlegung der Gruppe 47 in die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg (auch wenn es sich um keinen Schlüsselroman handelt), gleichzeitig ehrt Grass, in Gestalt des Simon Dach, seinen jahrelangen Mentor, den Organisator der Gruppe 47, Hans Werner Richter.[66]
Nachdem die beiden Romane „Die Rättin“ (1986) und „Ein weites Feld“ (1995) bei der Kritik durchfielen und heute als seine schwächsten Werke gelten, gelang Grass mit seinem vorerst letzten Werk „Im Krebsgang“ (2002) ein Teilerfolg. Die Novelle handelt, wie viele Grass-Werke zuvor, über das Verhältnis von Gewesenem und Gegenwärtigem. Die Rezeption reicht, wie fast üblich bei Grass, von großer Zustimmung bis zu großer Ablehnung. In einer FAZ-Kritik etwa steht, das Buch sei „die akribische Recherche eines historischen Dramas und zugleich das Zwiegespräch eines Autors mit sich selbst und seinen Figuren“[67]. Dagegen wird in der taz-Kritik geurteilt: Das Buch sei ein „ein oberflächliches Traktat darüber, wie die NS-Ideologie immerwieder an die gesellschaftliche Oberfläche kommt.“[68]
Große Aufmerksamkeit wurde schließlich der Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ zuteil. Neben den angesprochenen Aussagen über seine Vergangenheit handelt das Buch, und das wird im Zuge der SS-Beichte in den Hintergrund gedrängt, vor allem über Grass' Jugend: Er versucht, die Ursachen für das Handeln in der Vergangenheit zu finden (ohne relativieren zu wollen), die später sein politisches Engagement begründen.[69]
Die vorläufig letzte Veröffentlichung ist ein Gedichtband namens „Eintagsfliegen“, der, neben 86 anderen Texten, auch sein in der SZ veröffentlichtes Gedicht „Was gesagt werden muss“ enthält: In dieser leicht von der Zeitungsversion abweichenden Fassung lässt sich erkennen, dass Grass' Kritik nicht Israel, sondern der israelischen Regierung gilt. Diese Nachbesserung hatte Grass bereits nach der aufkommenden Kritik an seinem Gedicht u.a. im Gespräch mit Heribert Prantl[70] angedeutet.
2.3 Der Debattenanstoß: „Was gesagt werden muss“
Vorlage für die Diskussionen und somit Grundlage dieser Arbeit war jedoch die ursprüngliche Fassung des Gedichts „Was gesagt werden muss“. Das von Grass verfasste Poem wurde am 4. April 2012 in der Mittwochs-Ausgabe der SZ auf Seite 11 in der Rubrik „München, Deutschland, Bayern“ veröffentlicht. Es sollte ursprünglich in der Wochenzeitung Die Zeit erscheinen, die Redaktion entschied sich jedoch kurzerhand gegen eine Veröffentlichung. Chefredakteur di Lorenzo bemerkt dazu:
Wir haben dann schon das Bedürfnis, den Autor gegen mögliche Kritik ein Stück weit in Schutz nehmen zu können. Und das erschien uns (...) unmöglich. Und wirwollten es auch nicht in der Kombination abdrucken, dass wir uns dann ganz furchtbar davon distanzieren, aber es trotzdem drucken.[71]
Die SZ-Chefredaktion hingegen stimmt dem Abdruck zu. Heribert Prantl, Chef des Innenpolitik-Ressorts, begründete die Entscheidung mit dem Recht auf Presse- und Meinungsfreiheit: "(...) die Freiheit es zu drucken, ist eine wichtige Freiheit und die Freiheit über ein solches Gedicht, über eine solche Meinung zu diskutieren ist eine wertvolle Freiheit."[72]
Das Gedicht, wie es schließlich in der SZ abgedruckt wurde, ist unterteilt in neun Strophen mit je variierender Zeilenlänge. Diese neun Strophen umfassen, mit zwei Ausnahmen (sechste und siebte Strophe), jeweils einen Satz; es gibt, wie Reich- Ranicki erkannt hat, keine Reime; die Sätze aller Strophen sind mittels Enjambement umgebrochen:
Warum schweige ich, verschweige zu lange, was offensichtlich ist und in Planspielen geübt wurde, an deren Ende als Überlebende wir allenfalls Fußnoten sind.
Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag, der das von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk auslöschen könnte, weil in dessen Machtbereich der Bau einer Atombombe vermutet wird.
Doch warum untersage ich mir, jenes andere Land beim Namen zu nennen, in dem seit Jahren - wenn auch geheimgehalten - ein wachsend nukleares Potential verfügbar aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung zugänglich ist?
Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,
dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,
empfinde ich als belastende Lüge
und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,
sobald er mißachtet wird;
das Verdikt "Antisemitismus" ist geläufig.
Jetzt aber, weil aus meinem Land,
das von ureigenen Verbrechen,
die ohne Vergleich sind,
Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird,
wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch
mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert, ein weiteres U-Boot nach Israel geliefert werden soll, dessen Spezialität darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können, wo die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist, doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will, sage ich, was gesagt werden muß.
Warum aber schwieg ich bislang?
Weil ich meinte, meine Herkunft,
die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,
verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit
dem Land Israel, dem ich verbunden bin
und bleiben will, zuzumuten.
Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte:
Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden?
Weil gesagt werden muß,
was schon morgen zu spät sein könnte;
auch weil wir - als Deutsche belastet genug -
Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,
das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld
durch keine der üblichen Ausreden
zu tilgen wäre.
Und zugegeben: ich schweige nicht mehr,
weil ich der Heuchelei des Westens
überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen,
es mögen sich viele vom Schweigen befreien,
den Verursacher der erkennbaren Gefahr
zum Verzicht auf Gewalt auffordern und
gleichfalls darauf bestehen,
daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle
des israelischen atomaren Potentials
und der iranischen Atomanlagen
durch eine internationale Instanz
von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.
Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern,
mehr noch, allen Menschen, die in dieser
vom Wahn okkupierten Region
dicht bei dicht verfeindet leben
und letztlich auch uns zu helfen.[73]
[...]
[1] Kölbel (2007), S.10
[2] Schirrmacher (2006), Web: Grass' spätes Eingeständnis. Eine zeitgeschichtliche Pointe.
[3] Und doch kann das FAZ-Interview Schirrmachers mit Grass und Schirrmachers Leitartikel („Das Geständnis“), der in derselben Ausgabe das Titelblatt schmückte, als Auslöser verstanden werden für die Debatte um Grass' SS-Vergangenheit. Vgl. Gries (2008), S. 142ff. u. 152
[4] Grass (2012), Web: Was gesagt werden muss.
[5] Wiedermann (2012)
[6] Mit dieser Ausnahme wird in der Arbeit nicht „ge-gender-t“, ich empfinde es stilistisch als unschön: Daher wird für die Lesbarkeit die männliche Substantivform verwendet. Desweiteren werden die Zeitungsnamen wie Die Zeit, Die Welt, Die Presse etc. nicht dekliniert.
[7] Siehedazu Kapitel 2.1
[8] Veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung vom 25. Mai 2012
[9] Vgl. Nolte (1986), Web: Rede: Ernst Nolte: Die Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte.
[10] Bundschuh (2007), S. 34
[11] Dassler u.a. (2012), Web: Antisemitische Angriffe in Berlin - Jüdische Schule empfiehlt, die Kippa zu verbergen
[12] z.B. Broder (2012), Web: Nahost-Geschichte - Ja, wer hat denn nun die Juden erfunden?
[13] o.V. (2012), Web: Wegen Antisemitismus-Vorwurf: Martin Walser verklagt „Wichtigmacher“ Michel Friedman
[14] Näheres zur Walser-Bubis-Debatte im Kapitel 2.1
[15] Gries (2008), S. 146
[16] Vgl. ebd., S. 149ff.
[17] Ebd.,S. 152ff.
[18] Hierbei sei angemerkt, dass der Geschäftsführer des Steigl-Verlags, Gerhard Steidl, ein freundschaftliches Verhältnis zu Grass pflegt. Per se muss das nichts heißen. Dennoch sollte dies bei der Analyse der Debatte im Buch angemerkt sein.
[19] Kölbel (2007), S. 335 u. 338f., H. i. O.
[20] Ebd., S. 347f.
[21] Quellenkritisch sei angeführt, dass es Scharf bei seiner Darstellung anscheinend um eine chronologische Aufzählung einzelner deutscher Debatten und deren Beiträge geht. Kontextualisierungen finden sich ebenso wenig wie eine Bewertung (jedem Kapitel ist lediglich ein „Kurzkommentar“ angehangen), auch die Mehtode des Analyse-Verfahrens wird nicht erwähnt.
[22] Scharf (2009), S. 180
[23] Siemes (2006), zit. n. ebd., S. 177 u. 191
[24] Nietzsche (1878); vgl. Gutenberg-Online (2012), Web: Friedrich Nietzsche. Menschliches, Allzumenschliches.
[25] o.V. (2012), Web: Brockhaus Enzyklopädie - Debatte
[26] Thiele (2001), S.19f.
[27] Das Publikumjedoch kann „kaum in die Diskussion eingreifen, sondern lediglich über sein Konsum- und Akklamationsverhalten seinem Interesse am Pro oder Contra der Argumente Ausdruck verleihen“. Die Kommunikation verlaufe demnach asymmetrisch. Vgl. Kracht (2011), S. 10
[28] „Allgemein wird angenommen, dass Nachrichtenfaktoren sowohl die Auswahl der Nachrichten durch journalistische Gatekeeper (Schleusenwärter im Nachrichtenstrom) als auch die Aufmerksamkeit der Rezipienten beeinflussen, wenn nicht bestimmen.“ Vgl. Noelle-Neumann (2009), S. 133, H.i.O.
[29] Vgl. Kepplinger (1999), S. 717
[30] Die Vertreter dieser in der Kommunikationsforschung anerkannten Theorie gehen davon aus, dass die Medienagenda festlegt, mit welcher Themenagenda sich das Volk emotional und kognitiv auseinandersetzt.
[31] Kracht (2011), S. 16
[32] Kepplinger (1999), S. 717
[33] Scharf (2009), S. 14f.
[34] Elvert (2003), S. 10
[35] Geiss (2003), S. 116
[36] Leggewie (2008), S. 51
[37] Vgl.ebd., S. 52
[38] Kailitz (2008), S. 23
[39] Ebd., S. 31
[40] Zit. n. Scharf (2009), S. 149
[41] Ebd., S. 153
[42] Walser (1998) zitiert nach o.V. (2012), Web: Dankesrede von Martin Walser zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche am ll.Oktober 1998
[43] Zit. n. o.V. (2012), Web: Zentralrat der Juden in Deutschland
[44] Musiol (2012), S. 96
[45] Vgl. dazu meine Bachelorarbeit, in der ich das Islam-Bild in den deutschen Medien/Tageszeitungen anhand der Analyse der Sarrazin-Debatte und des Schweizer Minarettverbots skizzierte. Wehmeier (2010), S. 25
[46] Reich-Ranicki (2005), S. 133
[47] Jahns (2011), S. 135
[48] Jürgs (2002), S. 93
[49] Ebd., S. 133f.
[50] Schlüter (2010), S. 37
[51] Neuhaus (2010), S. 147
[52] Ebd., S. 151f.
[53] Grass (2007), S. 292, zit. n. ebd., S. 152
[54] Zit. n. Reich-Ranicki (2005), S. 144f.
[55] Ebd., S. 146
[56] Jürgs (2002), S. 396
[57] Vgl.ebd., S. 421-425
[58] o.V. (1999), Web: Nobelprize.org: The Nobel Prize in Literature 1999
[59] Das PEN-Zentrum (PEN steht ihr Poets, Essayists, Novelists) versteht sich als Organ ihr (politisch) verfolgte Schriftsteller, Verleger, Redakteure und Journalisten. Weltweit gibt es 140 Zentren.
[60] Jahns (), S. 137u.145
[61] Vgl. Ohrgaard (2007), S. 188ff.
[62] Vgl. Jürgs (2002), S. 138f. und Neuhaus (2010), S. 51-62 und 78
[63] Reich-Ranicki (2005), S. 58
[64] Wienß (2007), Web: Der schönste erste Satz ist von Günter Grass.
[65] Reich-Ranicki (2005), S. 94
[66] Vgl. Ohrgaard (2007), S. 121
[67] Spiegel (2002), Web: Das mußte aufschraiben!
[68] Knipphals (2002), Web: Schiffskatastrophen und andere Untergänge
[69] Ohrgaard (2007), S. 189ff.
[70] Prantl (2012)
[71] o.V. (2012), Web: NDR. Polarisierend: Grass und die Medien
[72] Ebd.
[73] Grass (2012), Web: Was gesagt werden muss
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