Die Rolle des Militärs in Zeiten politischer Transformation

Eine vergleichende Analyse der Prozesse in Ägypten und Tunesien zwischen 2011–2014 aus transformationstheoretischer Perspektive


Masterarbeit, 2014

106 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einführung
1.1 Einleitung
1.2 Forschungsdesign, Hypothesen und Aufbau der Arbeit im Überblick
1.3 Forschungsstand

Teil I: Konzept- und Theoriespezifikation zur Rolle des Militärs in der Regimetransformation

2 Zentrale Begriffe und Konzepte
2.1 Regime und Regimetransformation
2.2 Regimetypen, Demokratie und Rolle des Militärs
2.3 Gewinnung der Untersuchungseinheiten: transitorisches Phasenmodell
2.4 Zivil-militärische Beziehungen: Militär und zivile Kontrolle

3 Rationalistische und institutionalistische Erklärungsansätze für die Rolle des Militärs in der Regimetransformation
3.1 Rationalistische Ansätze der Transformationsforschung
3.2 Handlungstheoretische Grundlagen und Struktur-Akteur-Problematik
3.3 Historischer Institutionalismus als theoretischer Rahmen
3.4 Institutionelle Pfadabhängigkeiten ziviler Kontrolle im Kontext des Regimewechsels

4 Weiteres methodisches Vorgehen

Teil II: Empirie zur Rolle des Militärs in Ägypten und Tunesien während der Regimetransformation von 2011 bis 2014

5 Vergleichende deskriptive Analyse des Militärs
5.1 Fall Ägypten: Prozesse in den Untersuchungseinheiten
5.2 Fall Tunesien: Prozesse in den Untersuchungseinheiten
5.3 Rolle des Militärs im Vergleich

6 Vergleichende explanative Analyse der militärischen Rollen
6.1 Erklärungsfaktor 1: zivile Kontrolle im Vorgängerregime
6.1.1 Fall Ägypten (Mubarak-Regime)
6.1.2 Fall Tunesien (Ben-Ali-Regime)
6.1.3 Zwischenfazit: Hypothese 1
6.2 Erklärungsfaktor 2: Machtressourcen aus der Umwelt
6.2.1 Ägypten und Tunesien im Vergleich
6.2.2 Zwischenfazit: Hypothese 2
6.3 Erklärungsfaktor 3: Akteurskonstellation und zivile Akteure

7 Die Rolle des Militärs in Ägypten und Tunesien in Zeiten der Regimetransformation
7.1 Präsentation der Forschungsergebnisse
7.2 Resümee

Literaturverzeichnis
Monographien, Sammelbände und Zeitschriftenaufsätze
Internetquellen

Anhang
Chronologie der Transformationsprozesse in Ägypten und Tunesien
Verfassungstexte von Ägypten (2012; 2014) und Tunesien (2014)
Operationalisierung des Konzepts ziviler Kontrolle

Eidesstattliche Erklärung

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Überblick des Untersuchungsrahmens anhand eines Makro-Mikro-Makro-Modells

Abbildung 2: Variablenzusammenhang der ersten Hypothese

Abbildung 3: Machtbeziehungen innerhalb der ägyptischen Regimeelite

Abbildung 4: Ergebnis der ersten Hypothese

Abbildung 5: Variablenzusammenhang der zweiten Hypothese

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Analysekriterien politischer Herrschaft

Tabelle 2: Heuristische Einteilung von Fällen arabischer Umbruch
(Ägypten und Tunesien)

Tabelle 3: Übersicht der Erklärungsfaktoren

Tabelle 4: Übersicht zur Rolle des Militärs in Ägypten und Tunesien

Tabelle 5: Grad der zivilen Kontrolle über das Militär im Mubarak-Regime (vor 2011)

Tabelle 6: Grad der zivilen Kontrolle über das Militär im Ben-Ali-Regime (vor 2011)

Tabelle 7: Umweltfaktoren aus der Akteursperspektive des Militärs

Tabelle 8: Übersicht zu den von den Umweltfaktoren bereitgestellten Machtressourcen

Tabelle 9: Chronologie für den Fall Ägypten in der Regimetransformation

Tabelle 10: Chronologie für den Fall Tunesien in der Regimetransformation

Tabelle 11: Ägyptische Verfassung von 2012 und 2014 im Vergleich (Auszüge: Zivile Kontrolle)

Tabelle 12: Tunesische Verfassung von 2014 (Auszüge: Zivile Kontrolle)

Tabelle 13: Operationalisierung des Konzepts ziviler Kontrolle von Croissant et al. (2013)

1 Einführung

1.1 Einleitung

Der vor allem medial verwendete Begriff Arabischer Frühling steht für politische Umbrüche im Nahen Osten und Nordafrika ab 2011 und damit verbundene Hoffnungen auf einen politischen Wandel in dieser Region. Bisher führten die politischen Umbrüche zur Absetzung einiger autoritärer Machthaber – wie Mubarak in Ägypten und Ben Ali in Tunesien – und leiteten anschließend eine von Teilen der Bevölkerung geforderte Demokratisierung ein. Seitdem lassen sich zwei Entwicklungslinien beobachten: Während sich in Ägypten das vorhandene autoritäre Regime unter dem Druck der Proteste anpasst und zu einer Autoritarisierung tendiert, lässt sich in Tunesien eine anhaltende Demokratisierung des politischen Regimes beobachten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich die unterschiedlichen Regimeverläufe erklären lassen. In der Literatur wird neben einer Vielzahl potenzieller Erklärungsvariablen insbesondere auf die herausgehobene Bedeutung von Akteuren im Zuge eines Regimewechsels verwiesen. Besonders das Militär bietet sich für eine Analyse an, um die unterschiedlichen Verläufe beider Regimetransformationen zu erklären: Während in Ägypten das Militär seit 2011 eine besondere politische Rolle einnimmt, ordnet es sich in Tunesien den zivilen politischen Akteuren unter und ermöglicht eine demokratische Transition (vgl. Brooks 2013: 205; Lutterbeck 2013: 28 f.; vgl. auch Beck 2013: 648 f.; Beck/Hüser 2013: 211 ff.; Croissant 2013; Mattes 2013; Perthes 2013: 85 ff.; Weipert-Fenner 2014: 155). Diese empirische Beobachtung leitet zu folgender Forschungsfrage: Welche Rolle spielte das Militär während der Regimetransformationen in Ägypten und in Tunesien im Zeitraum Januar 2011 bis Januar 2014 und wie lässt sich die jeweilige Rolle des Militärs erklären? Die Arbeit definiert zwei Rollentypen, sodass das Militär im jeweiligen Fall die Rolle als Demokratisierer und/oder die Rolle als Autoritarisierer einnehmen kann.

Der erste Teil der Forschungsfrage beschäftigt sich mit dem tatsächlichen Verhalten beider Streitkräfte in transformationstheoretisch relevanten Handlungssituationen. Wird eine dichotome Systematisierung politischer Regime unterstellt, sind zwei verschiedene Ausgänge der Regimetransformation denkbar: ein demokratisches Regime im Sinne einer demokratischen Transition oder ein autoritäres Regime im Sinne einer Re-Autoritarisierung. Hierauf gründet die dichotome Rollenkonzeption des Militärs in Demokratisierer und Autoritarisierer. Welche Rolle sich dabei im konkreten Fall ergibt, soll anhand relevanter Handlungssituationen überprüft werden. Der zweite Teil der Forschungsfrage zielt schwerpunktmäßig darauf ab, wie sich die Rollen beider Streitkräfte erklären. Theoretischer Bezugsrahmen dieser Arbeit ist die Transitionsforschung, die mit ihrem Schwerpunkt demokratischer Regimewechsel den Rückgriff auf elaborierte akteurszentrierte Theorieansätze sowie transformationstheoretische Konzepte und Begriffe erlaubt. Gerade für die Betrachtung politischer Umbrüche, die von großer allgemeiner Unsicherheit gekennzeichnet sind, bietet das transitologische Rüstzeug eine geeignete theoretische Grundlage. Mit Blick auf die Empirie in Ägypten und in Tunesien erweist sich dies als sinnvoll. Demokratie und demokratische Transition werden in dieser Arbeit ausdrücklich nicht zum normativen Leitziel erhoben, sondern dienen zuvorderst der empirischen Analyse.

Die zweiteilige Forschungsfrage ist aus mehreren Gründen relevant. Das Militär hat mit seinen Gewaltmitteln im Allgemeinen einen erheblichen Einfluss auf die Prozesse der Regimetransformation, die seit 2011 die politische Situation der beiden arabischen Länder kennzeichnet. Die Beschreibung sowie die Erklärung der Rolle des Militärs während der politischen Umbrüche sind daher dringliche und lohnenswerte Aufgaben politikwissenschaftlicher Forschung (vgl. Croissant 2013; Croissant/Kühn 2011: 8 f.). Hieraus ergeben sich wichtige Schlussfolgerungen, die sowohl über die gegenwärtige als auch über die zukünftige Gestalt politischer Regime Auskunft geben können. Dies ist zentrales Forschungsinteresse der Transitions- bzw. Transformationsforschung (vgl. Merkel 2010). Mit Blick auf die Konsolidierungsforschung als Teil der Transformationsforschung ist insbesondere bedeutsam, inwiefern sich das Militär auf Dauer den neuen demokratischen Institutionen unterordnet und ob es sich Vorrechte und autonome Entscheidungsspielräume schafft (vgl. Merkel 2010: 110 ff.). Daneben ist die politikwissenschaftlich relevante Forschung zu zivil-militärischen Beziehungen daran interessiert zu untersuchen, inwiefern es zivilen politischen Akteuren gelingt, eine zivile Kontrolle über das Militär zu gewährleisten (vgl. Croissant/Kühn 2011).

Die Fallauswahl gründet in erster Linie auf der eingangs beschriebenen empirischen Beobachtung, dass das ägyptische Militär seit 2011 als politischer Akteur auftritt im Gegensatz zum tunesischen Militär, das sich der zivilen Politik unterordnet (vgl. Mattes 2013). Infolgedessen nehmen beide Streitkräfte ganz unterschiedlichen Einfluss auf die Regimetransformationsverläufe, wie die empirische Analyse verdeutlichen wird.

1.2 Forschungsdesign, Hypothesen und Aufbau der Arbeit im Überblick

Die Arbeit untersucht aus einer akteurstheoretischen Perspektive die Rolle des Militärs in Zeiten des politischen Umbruchs seit 2011 in Ägypten sowie in Tunesien. Hieraus ergibt sich der grundlegende Aufbau eines vergleichenden Forschungsdesigns, das sich durch die zweigeteilte Forschungsfrage in zwei Untersuchungsdimensionen gliedert.

Die erste Untersuchungsdimension zielt auf eine deskriptive Analyse der faktischen Handlungen des Militärs in Ägypten und Tunesien im Untersuchungszeitraum Januar 2011 bis Januar 2014. Dazu werden in Kapitel 2 notwendige Konzepte und Begriffe erarbeitet, die insbesondere die Transitionsforschung bereitstellt. Zunächst werden zentrale Begriffe des politischen Regimes und der Regimetransformation definiert. Die Regimetransformation dient hierbei als Oberbegriff für den Wandel- und/oder Wechselprozesse politischer Regime (Abschnitt 2.1). Anschließend wird eine minimalistisch-prozeduralistische Demokratiekonzeption vorgestellt, die die Bewertung der Handlungen des Militärs ermöglicht (Abschnitt 2.2). Nicht jede Handlung des Militärs ist dabei von Bedeutung, weshalb relevante Untersuchungseinheiten im Abschnitt 2.3 mithilfe des transformationstheoretischen Phasenmodells herauszuarbeiten sind. Sie stellen bedeutsame Handlungssituationen dar, deren Ausgänge ausschlaggebend dafür sind, wie die weitere Regimetransformation verläuft. Relevante Untersuchungseinheiten sind a) das Verhalten des Militärs bei der Ablösung des autoritären Regimes, b) das Verhalten des Militärs bei der Institutionalisierung demokratischer Spielregeln (Wahl und Verfassungsgebung) und c) das Verhalten des Militärs gegenüber dem – sofern vorhanden – demokratischen Regime und seinen Kerninstitutionen. Die Bewertungen der einzelnen Handlungssituationen werden jeweils im Anschluss an die empirische Analyse zu einem Handlungstyp aggregiert, sodass dem ägyptischen und dem tunesischen Militär im Untersuchungszeitraum entweder die Rolle des Demokratisierers oder die Rolle des Autoritarisierers attestiert werden kann. Im Vorgriff auf die empirische Analyse in Kapitel 5 wird unterstellt, dass das ägyptische Militär in der Rolle des Autoritarisierer auftritt, während das tunesische Militär als Demokratisierer in Erscheinung tritt. Hieraus ergibt sich ein relevantes politikwissenschaftliches Puzzle, das in der zweiten Untersuchungsdimension erklärt wird.

Die zweite Untersuchungsdimension beabsichtigt, die herausgestellten militärischen Rol­len im Untersuchungszeitraum zu erklären. In Kapitel 3 wird die Grundlage für eine theoriegeleitete Analyse gelegt. Mithilfe handlungstheoretischer Überlegungen und ausgewählter Ansätze des historischen Institutionalismus werden Erklärungsfaktoren identifiziert und auf deren Grundlage Hypothesen formuliert. Zunächst werden im Abschnitt 3.1 vier wesentliche Charakteristika rationalistischer Ansätze der Transformationsforschung besprochen. Daran anschließend wird in handlungstheoretische Überlegungen eingeführt (Abschnitt 3.2). Theoretische Prämisse dieser Ansätze ist der methodologische Individualismus, demzufolge politische Phänomene durch Handlungen und Handlungsinteraktionen beteiligter Akteur erklärbar sind. Dieser Prämisse folgt auch diese Arbeit. Darüber hinaus werden handlungstheoretische Überlegungen in die sozialwissenschaftliche Struktur-Akteur-Debatte eingeordnet, um das Verhältnis zwischen Akteuren und ihrer sie umgebenden Struktur zu konkretisieren. Für diese theoretische Aufgabe wird der historische Institutionalismus im Abschnitt 3.3 fruchtbar gemacht. Eine wichtige historisch-institutionelle Annahme ist der reziproke Wirkungszusammenhang zwischen Institution und Akteur. Im Rahmen der Arbeit wird deshalb angenommen, dass die institutionelle Ausgestaltung zivil-militärischer Beziehungen die Präferenzbildung des Militärs maßgeblich beeinflusst (erster Erklärungsfaktor). Konkret wird mithilfe des Pfadabhängigkeitstheorems und des Konzepts ziviler Kontrolle vermutet, dass die institutionellen Pfadabhängigkeiten der autoritären Vorgängerregimes eine solide Erklärung für die unterschiedlichen Rollen des Militärs in Ägypten und in Tunesien bieten. Die institutionelle Beschaffenheit zivil-militärischer Beziehungen des Vorgängerregimes – konzeptualisiert anhand ziviler Kontrolle – beeinflusst demnach sowohl die Präferenz des Militärs als auch die Wahl der Handlungsalternative. Daraus leitet sich folgende Hypothese ab:

Hypothese 1: Je a) geringer/b) größer der Grad ziviler Kontrolle über das Militär im autoritären Vorgängerregime war, desto eher verhält sich das Militär während der Regimetransformation in der a) Rolle des Autoritarisierers/b) Rolle des Demokratisierers.

Ein zweiter Erklärungsfaktor ergibt sich unmittelbar aus der handlungstheoretischen Perspektive der Struktur-Akteur-Debatte und fokussiert die Umwelt, in der die Akteure eingebettet sind (Abschnitt 3.2). Die Umweltfaktoren bilden gewissermaßen den Handlungsrahmen, in dem die Akteure ihre Handlungsstrategien/-alternativen entwickeln, formen, festlegen und ausführen. Sie sind deshalb ausgehend vom methodologischen Individualismus allenfalls als intervenierende Variable zu betrachten. Sie lassen sich in strukturelle, institutionelle sowie ideelle Faktoren differenzieren und stellen dem Militär Ressourcen zur Verfügung, sodass sich daraus günstige Bedingungen sowohl für die Wahl einer Handlungsalternative als auch für die tatsächliche Wirkung einer gewählten Handlung ergeben.

Hypothese 2: Je günstiger die Verfügbarkeit von Machtressourcen durch die Umwelt während der politischen Umbrüche ist, desto wahrscheinlicher erreicht das Militär seine Ziele und Präferenzen.

Der dritte Erklärungsfaktor folgt Überlegungen rationalistischer Ansätze der Transformationsforschung (Abschnitt 3.1). Demnach sind an konkreten Handlungssituationen zumeist mehrere Akteure beteiligt, weshalb die Analyse die Akteurskonstellation berücksichtigen muss. Aufbauend auf theoretischen Ausführungen zu zivil-militärischer Forschung im Abschnitt 3.4 ist darauf zu achten, inwiefern sich zivile politische Akteure gegenüber dem Militär verhalten. Dies betrifft im Wesentlichen die Institutionalisierung ziviler Kontrolle über das Militär im Zuge der Regimetransformation. Das Militärverhalten erklärt sich in dieser Hinsicht als Reaktion auf Handlungen ziviler Akteure.

Hypothese 3: Je mehr/weniger zivile Akteure politische Handlungen durchführen, die in ihrer Wirkung militärische Präferenzen und Ziele beeinträchtigen, desto eher/weniger tendiert das Militär zu Reaktionen, die sich gegen die zivilen Akteure richtet.

Abbildung 1 stellt zusammenfassend das angelegte theoretische Rahmenwerk zur Erklärung der Rollen des Militärs in Ägypten und in Tunesien dar.

Abbildung 1: Überblick des Untersuchungsrahmens anhand eines Makro-Mikro-Makro-Modells

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an das sozialwissenschaftliche Makro-Mikro-Makro-Modell von Coleman (1991) und Esser (1999).

Die explizierten theoretischen Ansätze und formulierten Hypothesen werden in zwei Kapiteln des Empirieteils dieser Arbeit ausgeführt. Kapitel 5 wird zunächst auf Grundlage der ersten Untersuchungsdimension die militärischen Handlungen in den Untersuchungseinheiten deskriptiv analysieren und anschließend die Rolle des Militärs während der Regimetransformation in beiden Fälle kausal-analytisch miteinander vergleichen (Abschnitt 5.3). Hieran knüpft sich sodann in Kapitel 6 die theoriegeleitete Analyse zur Erklärung der unterschiedlichen militärischen Rollen in Ägypten und Tunesien. In den einzelnen Abschnitten werden die drei Erklärungsfaktoren und entsprechende Hypothesen überprüft. Abschnitt 6.1 widmet sich dem institutionalistischen Erklärungsfaktor der zivilen Kontrolle im Vorgängerregime, während sich Abschnitt 6.2 auf die Machtressourcen, die den Streitkräften aus ihrer Umwelt zur Verfügung stehen, konzentriert. Abschnitt 6.3 untersucht die Akteurskonstellation während der Regimetransformation als dritten Erklärungsfaktor für die ungleichen Rollen der Streitkräfte. Sämtliche Befunde der empirischen Analyse werden in Kapitel 7 mit Blick auf die Forschungsfrage zusammenfassend dargelegt.

Die Masterarbeit folgt methodisch einem vergleichenden Fallstudiendesign. Die Differenzmethode nach Mill (1890) basiert auf der Annahme, dass sich in einem idealtypischen Paarvergleich die Varianz der abhängigen Variable – die militärische Rolle als Demokratisierer oder als Autoritarisierer – auf (möglichst) eine unabhängige Variable kausal zurückführen lässt. Die abhängige Variable tritt in einem Vergleich demnach einmal auf und einmal nicht. Diese unabhängige Variable ist Ursache oder zumindest ein wesentlicher Teil der Ursache (vgl. Jahn 2013: 171). Als unabhängige Variablen können in dieser Arbeit der (1) Grad ziviler Kontrolle im Vorgängerregime sowie (2) die Handlungen ziviler Akteure (Akteurskonstellation) gelten. Die Struktur- bzw. Umweltfaktoren können als intervenierende Variablen per definitionem nicht ursächlich für die Varianz der abhängigen Variable sein. Auf Grundlage der beiden Fälle Ägypten und Tunesien ergibt sich in Anlehnung an Przeworski/Teune (1982) ein Most Similar Systems Design (MSSD), das jedoch nicht in seinem eigentlichen Sinne genutzt wird, sondern lediglich herausstellt, dass Ägypten und Tunesien relativ homogene Systeme in Bezug auf Wirtschaft, Gesellschaft, Religion, politisches System und Regime sind. Jahn (2013) stellt heraus, dass MSSD und die Differenzmethode nach Mill (1890) nicht identisch sind: Während die Differenzmethode das Analyseverfahren des Vergleichs darlegt, stellt das MSSD das Auswahlverfahren aus einer Vielzahl möglicher Fälle dar. Deshalb entspricht das dieser Arbeit zugrunde liegende Forschungsdesgin einem eigenen Typus: dem Similar System with Different Outcome (SS-DO) (vgl. Jahn 2013: 236–241).

Das qualitative Forschungsdesigns (vgl. Jahn 2013: 344 ff.) widmet sich beiden Fällen in einer Ex-post-Betrachtung zur Überprüfung der theoretisch generierten Hypothesen. Die besondere Leistung dieser Prozessanalyse ist, dass sie Rückschlüsse auf die Wirkung der unabhängigen Variablen auf die abhängige Variable ermöglicht (vgl. Rohlfing 2009: 136), deren Verbindung der historische Institutionalismus für den ersten Erklärungsfaktor in Abschnitt 3.3 begründet.

Die Daten zur empirischen Analyse werden vornehmlich mittels qualitativer Inhaltsanalyse erhoben. Hierbei werden unterschiedlichste Quellen herangezogen: einschlägige politikwissenschaftlichen Journals, Sammelwerke, Monografien, Aufsätze und Presseberichte/-mitteilungen. Daneben werden die erarbeiteten Verfassungsdokumente der verfassungsgebenden Versammlungen in die Analyse einbezogen. Auf dieser Grundlage werden für Ägypten und Tunesien systematische Chronologien erstellt, die einen Überblick über die politische Entwicklung während der Regimetransformation im Untersuchungszeitraum von Januar 2011 bis Januar 2014 erlauben (siehe Anhang). Sie ermöglichen eine vergleichende Analyse beider Fälle mit Blick auf die herausgearbeiteten Untersuchungseinheiten. Die Chronologien konzentrieren sich auf die Herrschaftsträger und fokussieren besonders das Militär. Dabei werden die Handlungen des Militärs und die politischen Handlungen ziviler Akteure berücksichtigt.

1.3 Forschungsstand

Politische Umbrüche in der arabischen Region

Der Arabische Frühling – als Begriff selbst kontrovers betrachtet – ist 2011 ein junges und breit angelegtes Forschungsfeld der Sozialwissenschaften. Die Offenheit und Unabgeschlossenheit der politischen Umbrüche in den arabischen Staaten fordert auch die Politikwissenschaft heraus. Dies betrifft nicht nur die Suche nach geeigneten und angemessenen Begrifflichkeiten, sondern auch die Vielzahl theoretischer Ansätze, die die vielfältigen politischen Phänomene im arabischen Raum zu erklären versuchen. Die Politikwissenschaft nähert sich den politischen Umbrüchen zumeist aus Perspektive der Transitions- bzw. Transformationsforschung[1] (vgl. Beck 2013; Weipert-Fenner 2014). Dies erlaubt die Verwendung elaborierter Begriffe, Konzepte und theoretischer Ansätzen (vgl. Carothers 2002; Merkel 2010; O’Donnell/Schmitter 1986; Przeworski 1991). Die politischen Revolten von 2011 führen zu unterschiedlichen Prozessen und Verläufen der Regimetransformation (vgl. Beck/Hüser 2013).[2] Aktuelle Forschungsbeiträge sind meist in einer vergleichenden Perspektive angelegt (siehe Sammelband hrsg. von Jünemann/Zorob 2013), wobei es auch Länder-Fallstudien gibt (siehe Sammelband hrsg. von Albrecht/Demmelhuber 2013).[3] Eine der wesentlichen Fragen ist, weshalb es in einigen arabischen Staaten wie in Tunesien, Ägypten oder Libyen zu politischen Umbrüchen kam und warum politische Proteste in anderen autoritären Regimen wie Algerien, Saudi-Arabien oder Kuweit ausblieben (vgl. Schlumberger/Kreitmeyr/Matzke 2013: 51; Beck/Hüser 2013: 204–206).

Rolle des Militärs in Ägypten und Tunesien

In beiden Fällen wird vor allem die Rolle des Akteurs Militär debattiert – erstens weil das Überleben autoritärer Regime mitunter direkt von der Loyalität der Streitkräfte abhängig ist. In Ägypten und Tunesien machte das Ausscheren des Militärs aus der bestehenden Regimekoalition den Sturz autoritärer Machthaber erst möglich, während es in Syrien den autoritären Präsidenten stützt und in Libyen und Jemen gespalten ist. Für die drei militärischen Reaktionsweisen (Ausscheren, Spaltung, Loyalität) im Zuge der Massenproteste wird auf das Konzept der Putschprävention verwiesen (vgl. Croissant 2013; Makara 2013). Zweitens bietet das Militär während der akuten Regimekrise eine Erklärung für Dauer und Intensivität der Proteste und für das Ausmaß an Gewalt (vgl. Weipert-Fenner 2014: 155). Darüber hinaus ist das Militär mitunter maßgeblich für den weiteren Verlauf der Regimetransformation verantwortlich wie im Fall Ägypten (vgl. Albrecht 2013).

Erklärungsangebote für die Rolle des Militärs

Eine Vielzahl von Theorien sowie theoretischer Ansätze scheint geeignet, um die Rolle des Militärs während der Regimetransformation zu beschreiben und zu erklären. Ein Blick in das Ordnungssystem gegenwärtiger Theorieströmungen erleichtert den Zugang: Lichbach (1997: 260–267) unterteilt in kulturalistische (Kultur), strukturalistische (Struktur und Institution) und rationalistische (Akteure) Theorieströmungen.

In der jüngsten Forschung werden häufig integrative theoretische Ansätze verwendet, um die Rolle des Militärs im Zuge arabischer Regimetransformationen zu erklären.[4] Sie bringen dabei Faktoren aus den unterschiedlichen Theorieströmungen fruchtbar zusammen. Diese jüngeren Aufsätze (siehe u. a. Albrecht 2013; Brooks 2013; Harders 2013; Lutterbeck 2013) verweisen insbesondere auf etablierte Forschungsergebnisse aus dem Bereich zivil-militärischer Forschung,[5] also sowohl auf Faktoren kulturalistischer Ansätze wie des Professionalismus (vgl. Huntington 1957; Janowitz 1960; Stepan 1973) als auch auf strukturalistische institutionelle Faktoren wie die konkrete Ausgestaltung der zivil-militärischen Beziehungen im autoritären Vorgängerregime (vgl. Huntington 1968; Desch 1999; Pion-Berlin 1997; Brooks 1998). Dabei argumentieren die Autoren teils implizit mit rationalistischen Annahmen wie Albrecht (2013) für das ägyptische Militär und Brooks (2013) für das tunesische Militär, ohne sie im Hinblick auf die Struktur-Akteur-Problematik zu explizieren.

Diese Arbeit verortet sich zwischen rationalistischen und strukturalistischen Theorieströmungen, die hier mithilfe historisch-institutioneller Ansätze[6] miteinander verknüpft werden. Dabei fließen sowohl Erkenntnisse rationalistischer Ansätze der Transitions- bzw. Transformationsforschung (vgl. u. a. O’Donnell/Schmitter 1986; Przeworski 1991; Valenzuela 1992; Merkel 2010) als auch Erkenntnisse aus der Forschung zu zivil-militärische Beziehungen in die Analyse ein. Die Arbeit folgt zwar der handlungstheoretischen Prämisse des methodologischen Individualismus, erachtet Institutionen für die Erklärung der Rolle des Militärs aber als überaus relevant. Sie beeinflussen die Präferenz des Akteurs und stellen ihm äußerst wichtige Ressourcen zur Durchsetzung dieser Präferenz zur Verfügung (vgl. Mahoney/Snyder 1999; Kuehn/Lorenz 2011).

Teil I: Konzept- und Theoriespezifikation zur Rolle des Militärs in der Regimetransformation

2 Zentrale Begriffe und Konzepte

2.1 Regime und Regimetransformation

Politisches Regime dient hier als Analysebegriff für den Zustand eines wie auch immer ausgestalteten Herrschaftstypus (vgl. Schmädeke 2012: 7). Die englischsprachige Transitionsforschung bietet einen wichtigen Ausgangspunkt für das Verständnis des Regimebegriffs, den sie als zentralen Gegenstand der Transition nutzt. Transition stellt das Intervall zwischen zwei politischen Regimetypen dar (O’Donnell/Schmitter 1986: 6). Ein eng gefasster Regimebegriff, wie ihn O’Donnell/Schmitter (1986: 73) verwenden, hebt den Herrschaftszugang hervor. Demnach definiert sich das Regime als institutionalisiertes Set an Regeln und Verfahren, die im Wesentlichen den politischen Herrschafts zugang betreffen.

Vorliegende Arbeit schließt an den häufig rezipierten Regimebegriff von Fishman (1990) an (vgl. Bank 2010: 22; Schmidt 2010: 677; Merkel 2013: 213). Das politische Regime bezeichnet demnach eine dauerhafte formale und informelle Organisation politischer Herrschaft sowie deren Beziehungen zu den Herrschaftsunterworfenen im Rahmen einer politischen Herrschaftsordnung (Merkel 2013: 212). Die horizontale Begriffsdimension betrachtet das politische Herrschaftszentrum und fokussiert neben dem Herrschaftszugang und den um ihn im Wettbewerb stehenden Akteuren auch die Machtbeziehungen der Herrschaftsträger untereinander. Darüber hinaus verweist die vertikale Dimension auf die Beziehung zwischen den Herrschaftsträgern und den Herrschaftsunterworfenen (vgl. Fishman 1990: 428; Merkel 1994: 10 f.; Merkel 2010: 63 f.)

Diese Definition hebt besonders zwei Perspektiven hervor. Zum einen verweist die Definition auf die Polity-Dimension von Politik, die sodann Einfluss auf die Politics-Dimension nimmt. Das Verständnis des Regimes als Institutionengefüge aus formalen und informellen Institutionen eröffnet die Möglichkeit, neoinstitutionalistische Ansätze anzuwenden. Hierdurch wird insbesondere die Beziehung zwischen Regime als Institution und den handelnden Akteuren betont. Zum anderen führt die Definition den Regimebegriff auf die politikwissenschaftliche Kategorie der Herrschaft zurück. Die herrschaftssoziologische Perspektive ermöglicht es, diverse Regimetypen nach herrschafts­bezogenen Kriterien zu unterscheiden. Darüber hinaus dienen einige der Kriterien zur Unterscheidung von Wandel und Wechsel politischer Regime. Der analytische Nutzen dieser Kriterien entfaltet sich ebenso für die Rolle des Militärs bei Regimetransformationen. Die Analysekriterien stammen von Merkel (2010):

Tabelle 1: Analysekriterien politischer Herrschaft

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Zusammengestellt auf der Grundlage von Merkel (2010: 21–26).

Regimetransformation steht als Analysebegriff für sämtliche wie auch immer geartete Veränderungen des politischen Regimes im Zuge der politischen Umbrüche in Ägypten und Tunesien seit 2011 bereit. Angesichts der nicht abgeschlossenen und zudem kontingenten Veränderungsprozesse im Zuge der politischen Umbrüche bietet es sich an, sowohl Regimewandel als auch Regimewechsel unter Regimetransformation zu fassen. Nachfolgende Analyse ermittelt ex post, ob es sich im konkreten Fall um einen Regimewechsel handelt oder um einen Regimewandel. Letzterer bezeichnet grundlegende Veränderungsprozesse eines gegenwärtigen politischen Regimes, in denen sich also wesentliche Funktionsweisen und Strukturen einer politischen Herrschaftsorganisation mit Blick auf die sechs Analysekriterien zu verändern beginnen. Definitorische Merkmale des Regimewandels sind zum einen das Verständnis eines evolutionär bzw. eines reformatorisch verlaufenden Prozesses, der langfristige Veränderungen beinhaltet. Weiterhin wird die prinzipielle Offenheit unterstellt, wohin und wie sich das Regime verändern wird (vgl. Merkel 2010: 65). Unter Regimewandel fällt somit u. a. die Adaption des Regimes an sich verändernde Umweltbedingungen. Demnach versucht das Regime nach Stabilität im Rahmen der alten politischen Ordnung zu streben (vgl. Merkel 1994: 13). Hingegen impliziert ein Regimewechsel den faktischen Wechsel des Regimetyps. Die Transitionsforschung mit Untersuchungsfokus auf demokratischen Transitionen verdeutlicht, dass es sich meist um kurzfristige, gleichwohl tiefgreifende Veränderungsprozesse handelt. Transitionsforscher stellen zugleich fest, dass nicht zwangsläufig ein demokratischer Regimetyp entstehen muss (vgl. O’Donnell/Schmitter 1986, Przeworski 1991).[7] Ein Regimewechsel ist in jedem Fall mit der Auflösung der alten Ordnung (Entdifferenzierung) und anschließendem Aufbau der neuen politischen Herrschaftsorganisation (Re-Differenzierung) verbunden (vgl. Merkel 2010: 94). Mit Blick auf die herrschaftsbezogenen Kriterien liegt ein Regimewechsel vor, wenn sich grundlegende Veränderungen der Kriterien beobachten lassen (vgl. Merkel 2010: 66). Für die beiden zu betrachtenden Fälle gibt Tabelle 2 zunächst in Anlehnung an Beck/Hüser (2013: 204 ff.) eine heuristische Einteilung an. Im nachfolgenden Abschnitt soll auf der Grundlage einer minimalistisch-prozeduralistischen Demokratiekonzeption die Rolle des Militärs als Autoritarisierer und als Demokratisierer definiert werden.

Tabelle 2: Heuristische Einteilung von Fällen arabischer Umbruch (Ägypten und Tunesien)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eigene Zusammenstellung in Anlehnung an Beck/Hüser (2013: 204 ff.).

2.2 Regimetypen, Demokratie und Rolle des Militärs

In der Demokratie-, Autoritarismus- bzw. Transformationsforschung findet sich im Forschungsfeld politischer Regime derzeit keine allgemein anerkannte Typologie. Wirkmächtig ist die klassische Trias von Linz (1975) aus Demokratie, Autoritarismus und Totalitarismus, wobei beide Letztgenannten unter Autokratie zusammengefasst werden (vgl. Merkel 2013: 225). Zahlreiche Typologien versuchen, die Regime in der sog. Grauzone zwischen Demokratie und Autokratie zu systematisieren (vgl. Croissant 2010: 93 f.).[8] Dabei lassen sich vier Systematisierungsvarianten erkennen: erstens eine Dichotomie demokratischer und autoritärer Regime, die per definitionem keine Grauzonenregime zulässt (vgl. Alvarez et al. 1996; Przeworski et al. 2000; Cheibub et al. 2010), zweitens die Bildung autoritärer Subtypen (vgl. Levitsky/Way 2002 mit „Kompetitivem Autoritarismus“; Schedler (2006) mit „Elektoralem Autoritarismus“) und demokratisch verminderter Subtypen (vgl. Collier/Levitsky 1997 mit „Demokratie mit Adjektiven“ sowie Merkel et al. mit „Defekter Demokratie“), drittens die Bildung eines hybriden Regimetypus, der sich neben demokratischen und autoritären Regimen als eigenständiger Herrschaftstypus einordnet (vgl. Rüb 2002) und viertens politische Regime auf einen Kontinuum zwischen Demokratie und Autokratie (vgl. Merkel 2010).

Im Weiteren dient eine minimalistisch-prozeduralistische Demokratiekonzeption als Ausgangspunkt, um den definitorischen Kernbereich von Demokratie und die definitorische Abgrenzung zu autoritären Regimen herauszustellen. Sie ist operationalisierbar und wird aus forschungspragmatischen Gründen herangezogen. Ägypten und Tunesien befinden sich derzeit im politischen Umbruch, weshalb im Fall einer demokratischen Transition zumindest demokratische Basisinstitutionen vorhanden sein müssen (Wahl, Partizipation und effektive Regierungsgewalt). Die zugrunde liegende Demokratiekonzeption bietet sich zudem besonders für die Bestimmung der Rolle des Militärs an. Mithilfe des Differenzierungskriteriums der Intervention wird die Bewertung der militärischen Handlungen in den transformationstheoretisch relevanten Untersuchungseinheiten binär (im Sinne einer nominalen Variable) vorgenommen. Das Interventionskriterium erlaubt folglich die Differenzierung relevanter (Einzel-)Handlungen entweder in Ab‑ oder Anwesenheit militärischer Eingriffe in die politische und öffentliche Sphäre des demokratischen Regimes. Die zu Handlungstypen zusammengefassten (Einzel‑)Handlungen werden sodann der Rolle des Militärs als Demokratisierer bzw. Autoritarisierer zugeordnet.

Der Demokratiebegriff ist aufgrund seiner normativen und auch empirischen Verwendung in der Politikwissenschaft ein „essentially contested concept“ (Whitehead 2002: 7). Die Bandbreite an Demokratiekonzeptionen reicht von minimalistischen (elitistisch) bis maximalistischen (partizipatorisch) Konzepten (vgl. Merkel 2013: 217 ff.; Schlumberger/Karadag 2006: 227). Für die vergleichende Demokratieforschung und insbesondere für die Transformationsforschung sind Schumpeter (1942) sowie Dahl (1971) wesentliche Referenztheoretiker.[9] Dahl (1971) entwickelt eine minimalistisch-prozedura­listische Demokratiekonzeption, die einen empirisch-analytischen Vergleich von Demokratien erlaubt. Sie legt den Grundstein für die sich herausbildende vergleichende Demokratieforschung (siehe Pickel/Pickel 2006: Kap. 4). Dahl nutzt den Begriff der Polyarchy als theoretisches Konzept für die in der Realität existierenden demokratischen Systeme und konzeptualisiert den Demokratiebegriff entlang zweier wesentlicher definitorischer Merkmale (Dahl 1971: 5): öffentlicher Wettbewerb um politische Ämter bzw. politische Macht sowie Gewährleistung politischer Partizipation der Bürger. Die Realisierung politischen Wettbewerbs und politischer Partizipation findet ihre Absicherung in acht institutionellen Minimalkriterien.[10] Auf der Dahl’schen Konzeption basieren zahlreiche transitologische Demokratiebegriffe (siehe Alvarez et al. 1996; Huntington 1991: 7; O’Donnell/Schmitter 1986, Przeworski 1991: 10; Merkel 2010: 30). Hieran anschließend kristallisieren sich drei wesentliche Merkmale heraus, die für die Bestimmung der Rolle des Militärs als Demokratisierer in den jeweiligen Untersuchungseinheiten unerlässlich sind. Sie entsprechend im Wesentlichen den Teilregimen A, B und E der Merkel’schen „Eingebetteten Demokratie“ (Merkel 2010) sowie drei von fünf Elementen einer liberalen Demokratie nach Siaroff (2013: 83) und somit am ehesten einer elektoralen Demokratie (vgl. Siaroff 2013: 80 f.).

Die Wahl ist elementarer Modus des Herrschaftszugangs, definitorischer Kern von Demokratie (Schumpeter 1942) und bildet zugleich die wesentliche Abgrenzung zu autoritären Regimen (vgl. Lauth 2010: 102; Croissant/Kühn 2011: 123; Gerschewski et al. 2013: 108). In einem offenen und freien Wettbewerb konkurrieren Eliten miteinander. In einer freien und fairen Wahl geben alle wahlberechtigen Bürger ihre Stimme ab.[11] Wahlen müssen in regelmäßigen Abständen stattfinden und im Sinne der Kontingenz prinzipiell offen und ungewiss im Ausgang über den politischen Outcome (Wahlergebnis) sein. Bei der Auswahl der politischen Führung muss die Wählerschaft über faktische Wahlalternativen verfügen (vgl. Przeworski 1991: 13; Merkel et al. 2003: 67). Demnach ließen sich demokratische Regime als diejenigen Regime definieren, in denen das Wahlvolk die Exekutive und die Legislative indirekt oder direkt wählt und es dabei über faktische Wahlalternativen (mehrere Parteien) verfügt. Zudem muss das Wahlverfahren zu einem tatsächlichen Machtwechsel führen, der den Präferenzen der Wähler entspricht (vgl. Cheibub et al. 2010: 69). Diese minimalistische Definition greift zu kurz und wird deshalb um zwei weitere definitorische Merkmale angereichert.

Zweites wesentliches Merkmal ist politische Partizipation, die die Meinungs- und Willensbildungsprozesse vor und nach der Wahl und den Wettbewerb konkurrierender politischen Eliten in der Öffentlichkeit gewährleistet. Grundlegend hierfür sind die Rechte auf Meinungs-, Rede- und Informationsfreiheit, Demonstrations- und Petitionsfreiheit sowie die Assoziationsfreiheit. Weiterhin ist die Bereitstellung von Informationen durch eine freie Presse- und Medienlandschaft notwendig. In Verbindung mit der Wahl bilden die institutionalisierten politischen Partizipationsrechte eine notwendige funktionelle Einheit: Sie ermöglichen demokratische Herrschaft, indem sie Herrschaftslegitimation an Volkssouveränität binden und die Herrschaftsträger zugleich unter ständige Kontrolle seitens der Herrschaftsunterworfenen stellen, die eben nicht nur auf den reinen Wahlakt beschränkt bleibt (vgl. Merkel 2010: 32).

Effektive Regierungsgewalt (Regierungsmonopol) ist ein drittes notwendiges Kriterium. Die gewählten Herrschaftsträger wie staatliche Organe (Parlament, Regierung) müssen faktisch in der Lage sein, über sämtliche Politikbereiche im Sinne ihrer politischen Agenda zu entscheiden. Sie müssen das alleinige Monopol auf Regierungsgewalt haben und sich prinzipiell nur gegenüber dem Demos oder sonstigen staatlichen Institution rechtfertigen (Rechtsstaat und Gewaltenteilung). Mit der effektiven Regierungsgewalt unmittelbar verknüpft ist die zivile Kontrolle über das Militär, wonach allein zivile Autoritäten politisch verbindliche Entscheidungen treffen (Croissant/Kühn 2011: 19). Empirisch lässt sich beobachten, dass nicht demokratisch legitimierte Akteure wie das Militär oder wirtschaftliche Eliten den demokratischen Regimewechsel und die folgende Konsolidierungsphase mit ihren Handlungen unterminieren (vgl. Merkel 2010: 33 f.; Siaroff 2013: 82; Valenzuela 1992). Valenzuela (1992: 64) weist auf die institutionalisierten Vorrechte (discretionary power) des Militärs sowie die vom Militär reservierten Politikbereiche hin.

Ausgehend von diesen drei definitorischen Merkmalen eines demokratischen Regimes kann nunmehr die Rolle des Militärs als Demokratisierer anhand eines negativen Interventionsbefunds bestimmt werden, und zwar als Abwesenheit aller möglichen militärischen Interventionen (Art und Formen) in die politische Sphäre, die das politische Regime (Herrschaftszugang, politischer Wettbewerb, effektive Regierungsgewalt) und die öffentliche Sphäre in Bezug auf den politischen Wettbewerb (politische Partizipationsrechte) betreffen. Erlaubt wären allenfalls Einsätze im Inneren, sofern sie rechtlich und politisch autorisiert und beschränkt sind (Wahrung der öffentlichen Ordnung, Absicherung vor Gewalt oppositioneller Gruppen etc.) (vgl. Croissant/Kühn 2011: 19). Die Rolle des Militärs als Autoritarisierer definiert dann als Positivbefund militärischer Intervention in der politischen und öffentlichen Sphäre (mit Blick auf das politische Regime).

Die Rolle als Autoritarisierer erschließt sich in dieser Arbeit durch die Negativdefinition von Demokratie und reiht sich dabei in den Mainstream autoritärer Regimedefinitionen ein.[12] Die meistrezipierte Definition autoritärer Regime geht auf Linz (1975; 2000: 129) zurück, der sie anhand dreier Merkmale demokratischer und totalitärer Regime abgrenzt. Autoritäre Regime kennzeichnet ein (1) begrenzter oder eingeschränkter Pluralismus; (2) sie legitimieren sich über Mentalitäten (u. a. Patriotismus, Nationalismus, nationale Sicherheit) und (3) sie schränken politische Partizipation ein, sodass die Gesellschaft demobilisiert wird bzw. ist (Linz 2010: 59–62). Autoritäre Regime sind ein Regimetyp sui generis, jedoch speist sich ihre Definition häufig über Negativdefinitionen demokratischer und/oder totalitärer Regime (vgl. Linz 2010: 59). Autoritäre Regime sind in dieser Hinsicht immer etwas, das demokratische und totalitäre Regime nicht sind. Nach einer eigenständigen Definition autoritärer Regime (Autoritarismus) sucht die neuere Autokratieforschung (siehe Albrecht/Frankenberger 2010: 47–60).

Die vorliegende Arbeit stützt sich bei der Klassifizierung autoritärer Regime auf die Dreiertypologie von Geddes (1999), die besonders in der quantitativ-empirischen Autokratieforschung verwendet wird, um die Dauerhaftigkeit (Persistenz) autoritärer Regimetypen miteinander zu vergleichen (vgl. Merkel 2013: 228). Sie klassifiziert nach Herrschaftsträgern in Militärregime, Einparteienregime sowie personalistisches Regime. Während in Militärregimen eine militärische Gruppe herrscht und die Politik beeinflusst, werden Herrschaftszugang sowie politische Entscheidungen in Einparteienregimen durch eine Partei dominiert und sind in einem personalisierten autoritären Regime wesentlich von einer autoritären Herrschaftsfigur (u. a. Monarch, Scheich, charismatischer Führer) abhängig (vgl. Geddes 1999: 121). Darauf aufbauend untersuchen Geddes/Wright/Frantz (2014) quantitativ autokratische Regime zwischen 1946 und 2010 auf ihre Dauerhaftigkeit, ihre Ursachen, den Verlauf des Zusammenbruchs sowie den daran anschließenden Regimewechsel. Sie unterscheiden zwischen Monarchien, Parteien-, Militärregimen und personalistischen Regimen mit weiteren Subtypen, die in der Realität als Mischtypen vorliegen. So codieren Geddes/Wright/Frantz (2014) Ägypten im Zeitraum von 1952 bis 2010 als ein Parteien-basiertes autoritäres Regime, das personalistisch und militärisch gemischt ist, und Tunesien im Zeitraum 1956 bis 2010 als reines autoritäres Parteienregime (vgl. Geddes/Wright/Frantz 2014).

2.3 Gewinnung der Untersuchungseinheiten: transitorisches Phasenmodell

Die akteurstheoretischen Ansätze der Transitionsforschung (O’Donnell/Schmitter 1986; Przeworski 1991) kombinieren Phasenmodell, Demokratiebegriff mit handlungstheoretische Modelle (vgl. Schmädeke 2012: 77–83), die den Regimewechsel erklären: Wie und unter welchen Bedingungen kommt es zur Demokratisierung eines autoritären Regimes? Das zentrale Erkenntnisinteresse dieser Ansätze ist der demokratische Regimewechsel, der mithilfe der handelnden Akteure erklärt wird. Das idealtypische Phasenmodell dient zum einen als Analyserahmen, um die bisherige Regimetransformation der beiden Fälle Ägypten und Tunesien einzuordnen. Darüber hinaus werden anhand des Phasenmodells die Untersuchungseinheiten entwickelt. Sie stellen relevante Handlungssituationen dar, deren Ausgang darüber entscheidet, ob und wie ein demokratischer Regimewechsel verläuft. Deshalb sind insbesondere die faktischen Handlungen des Militärs in diesem Kontext zu analysieren. Przeworski (1991: Kap. 2) verknüpft die von O’Donnell/Schmitter (1986) herausgearbeiteten Phasen – Liberalisierung[13] und Demokratisierung – mit chronologischen Verlaufsstadien. Im Ergebnis wird der demokratische Regimewechsel als Abfolge von Liberalisierung, Demokratisierung und Wettbewerb (Contestation) konzeptualisiert. Hieran schließt eine Phase der Konsolidierung an, die per definitionem zunächst keine eigenständige Phase einer Transition ist, aber als Bestandteil der Transitionsforschung betrachtet wird (vgl. Schmädeke 2012: 104).

Das Phasenmodell ist ein etabliertes und weithin akzeptiertes Modell in der Transitions- und Demokratisierungsforschung (vgl. Schlumberger/Karadag 2006: 237). Haynes (2012: 2) bestätigt das Phasenmodell, merkt aber an, dass es nicht alle empirischen Fälle erfasst. Zu den idealtypischen Phasen gehören nach Haynes (2012: 2) die (1) politische Liberalisierung, das (2) Ende des autoritären Regimes, die (3) eigentliche demokratische Transition sowie die anschließende (4) Konsolidierungsphase. In der deutschsprachigen Transformationsforschung wird das Phasenmodell ebenfalls rezipiert. Es entspricht mit Ausnahme der Liberalisierungsphase seinem englischsprachigen Pendant. Auch nach Merkel (2010: 105) lässt sich Liberalisierung als eigenständige Phase eines demokratischen Systemwechsels nicht immer empirisch beobachten. Merkels (2010) Phasenmodell reflektiert eine breite empirische Basis, sodass es fruchtbar auf neue empirische Fälle anwendbar ist. Das Modell bilden (Merkel 2010: 93–96): 1. Ende des autokratischen Regimes (Niedergangsphase), 2. Institutionalisierung des demokratischen Regimes (Demokratisierungsphase, Transition) sowie 3. Konsolidierung des demokratischen Regimes (Konsolidierungsphase). Anhand dieses idealtypischen Modells können Untersuchungseinheiten herausgestellt werden, die transformationstheoretisch relevante Situationen abbilden, in denen konkrete Aktivitäten des Militärs mitunter zu gravierenden Veränderungen des politischen Regimes führen.

Die Niedergangsphase findet ihren Kulminations- und Schlusspunkt in der Ablösung des alten Regimes.[14] Daraus leitet sich die erste Untersuchungseinheit mit Blick auf die Rolle des Militärs in der Regimetransformation ab: Wie verhält sich das Militär in Bezug auf die Ablösung des alten Regimes? Die Ablösung markiert zugleich den Übergang zur Demokratisierungsphase. Aus analytischer Erwägung wird die Ablösung des alten Regimes der Niedergangsphase zugerechnet und nicht der Demokratisierungsphase wie bei Bos (1994: 94) und Schlumberger/Karadag (2006: 237 f.). Die Demokratisierungsphase nimmt vor allem die Institutionalisierung der demokratischen Spielregeln analytisch in den Blick (vgl. Rüb 1994: 114; Merkel/Sandschneider/Segert 1996: 13). Sie steht deshalb in erster Linie für die Konstituierung des neuen demokratischen Regimes (vgl. Przeworski 1991), markiert also den faktischen Wechsel vom autoritären zum demokratischen Regime und steht für die eigentliche Transition (O’Donnell/Schmitter 1986). Die Demokratisierungsphase bildet weiterhin den überwölbenden Prozess der Re-Institutionalisierung, in dem sich die grundlegendsten politischen Institutionen wie Verfassung, Regierungssystem, staatliche Institutionen oder intermediäres System (wieder) herausbilden (vgl. Rüb 1996: 47). Rüb (1994) definiert Demokratisierung in Anlehnung an Przeworski (1991: 14) als Prozeß, in dem die unbegrenzte, unkontrollierte eingesetzte politische Macht von einer sozialen Gruppe oder einer Person auf institutionalisierte Verfahren verlagert wird, die die exekutive Macht begrenzen, laufend kontrollieren, regelmäßig verantwortbar und kontingente Ergebnisse ermöglichen (Rüb 1994: 114).[15]

Die Demokratisierungsphase endet, wenn die im Regimeübergang ad hoc entstandenen politischen Verhaltensmuster in gesetzlich abgesicherte Normen und Strukturen überführt worden sind, wenn der Zugang zur politischen Herrschaft und der Ablauf von politischen Entscheidungen nach a priori festgelegten und legitim gesatzten Verfahren auch de facto respektiert werden (Merkel 2010: 94; Hervorhebung im Original).

Dies ist gleichsam mit der Verabschiedung einer demokratischen Verfassung gegeben. Aus den skizzierten Überlegungen leiten sich zwei transformationstheoretisch relevante Untersuchungseinheiten ab, mittels derer das Handeln des Militärs während der Institutionalisierung der Demokratie erfasst wird: neben den ersten stattfindenden Wahlen sowie der Akzeptanz des Wahlergebnisses durch das Militär ist das der Verfassungsgebungsprozess.

An die Demokratisierungsphase schließt sich nahtlos die Konsolidierungsphase an, die mit Inkraftsetzung der neuen, demokratischen Verfassung beginnt (vgl. Merkel 2010: 110). Die sich ergebende relevante Untersuchungseinheit ist: Wie verhält sich das Militär gegenüber dem neu geschaffenen demokratischen Regime (demokratische Repräsentanten, Einhaltung der Verfassung als Ausdruck etablierter ziviler Kontrolle)? Das Militär könnte als konstitutioneller Vetoakteur in die politischen Entscheidungsprozesse eingreifen und somit das demokratische Spiel der gewählten demokratischen Akteure erheblich beeinträchtigen (vgl. Merkel 2010: 122 ff.).

Zusammengefasst ergeben sich aus dem Phasenmodell folgende transformationstheoretische Untersuchungseinheiten zum Verhalten des Militärs: a) Ablösung des autoritären Regimes bzw. der autoritären Machthaber, b) Institutionalisierung der demokratischen Spielregeln – b.1) Wahlen einer Übergangsregierung und b.2) Verfassungsgebung – und c) neues (demokratisches) Regime mit Fokus auf demokratischen Kerninstitutionen.

2.4 Zivil-militärische Beziehungen: Militär und zivile Kontrolle

Eine politikwissenschaftlich relevante Definition zivil-militärischer Beziehungen erschließt sich im Kontext des strukturfunktionalistischen Systemmodells der Gesellschaft (Parsons 1951; Easton 1965; Almond et al. 2010). Demnach versteht sich das Militär als soziales Subsystem (soziale Organisation), das mit der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols beauftragt ist, um die Gesellschaft vor äußeren Bedrohungen zu schützen und somit die äußere Sicherheit des Staats zu gewährleisten.[16] Unter zivil-militärischen Beziehungen wird daher ganz allgemein die Interaktion zwischen Streitkräften und zivilen Akteuren, insbesondere die politischen, administrativen sowie juristischen Institutionen des Staats, die den zivilen Autoritäten politische Entscheidungsgewalt über das Militär ermöglichen, gefasst. Kernaspekte zivil-militärischer Beziehungen betreffen demnach die Einflussnahme der Politik auf das Militär und vice versa (vgl. Croissant/Kühn 2011: 16 ff.). Die funktionale Definition von Militär sieht als normativen Normalzustand die Unterordnung des Militärs unter die zivilen Autoritäten vor, unabhängig davon, ob es sich um ein demokratisches oder autoritäres Regime handelt (vgl. Croissant/Kühn 2011). Demnach beauftragt der Staat (Prinzipal) zur Gewährleistung von (äußerer) Sicherheit das Militär (Agent). In dieser Hinsicht verfügen die zivilen Autoritären über sämtliche Kontroll- und Entscheidungsgewalt über das Militär, das selbst wiederum in einem begrenzten Bereich Autonomie besitzt. Für die konkrete konzeptionelle Ausgestaltung zivil-militärischer Beziehungen greift die Forschung zum Konzept der zivilen Kontrolle (vgl. Croissant/Kühn 2011: 18 f.).

Unter den diversen konzeptionellen Ansätzen ziviler Kontrolle beschränken sich einige frühere Definitionen inhaltlich zumeist auf das Fehlen manifester militärischer Intervention wie eines Militärputsches (sog. Coup-Forschung, vgl. Croissant et al. 2010). Diese Ansätze blenden allerdings subtilere Modi militärischer Einflussnahme aus (vgl. Desch 1999: 4), die insofern verhindern, dass die zivilen Autoritäten über effektive Herrschaftsgewalt verfügen, als sich das Militär in gewissen Politikbereichen Vetorechte sichert oder sich von vornherein der Entscheidungsgewalt ziviler Akteure verweigert (vgl. Valenzuela 1992: 64; Croissant/Kühn 2011: 9). Croissant/Kühn (2011) entwickeln aufbauend auf der Forschungslücke der Coup-Forschung ein multidimensionales Konzept ziviler Kontrolle, das aus fünf Teilbereichen besteht.

Zunächst definieren Croissant/Kühn (2011) zivile Kontrolle als einen Zustand, bei dem ausschließlich die zivilen Autoritären politisch verbindliche Entscheidungen treffen. Im Rahmen von Aufgabendelegation an das Militär legen sie fest, welche Entscheidungen vom Militär autonom getroffen werden. Zudem müssen die zivilen Autoritäten befähigt sein, die Umsetzung ihrer Entscheidungen zu überwachen und ihre Entscheidungen jederzeit zu ändern. Zivile Kontrolle als Prozess orientiert sich hingegen an einen noch zu realisierenden Zielzustand, bei dem zivile Autoritäten konkrete politische Maßnahmen durchführen, die ihre Entscheidungsmacht über das Militär ausdehnen und erhalten sollen. Dies umschließt u. a. Mechanismen, die die Durchsetzung der zivilen Entscheidungsfähigkeit sowie die Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten über das Militär erhöhen (vgl. Croissant/Kühn 2011: 19). Zivile Kontrolle konzeptualisieren Croissant/Kühn (2011) in fünf Teilbereiche[17], die in niedrig, mittel und hoch differenziert werden, um die unterschiedlichen militärischen Rollen in der Regimetransformation zu erklären.[18]

Der Teilbereich Politische Rekrutierung umfasst den Zugang zur politischen Herrschaft. Rekrutierung, Auswahl sowie Legitimation politischer Autoritären sind in dem Maße eingeschränkt, in dem das Militär Einfluss auf die Besetzung politischer Herrschaftspositionen nimmt (vgl. Croissant/Kühn 2011: 20). In Anlehnung an die Dahl’sche Demokratiekonzeption ist die politische Rekrutierung eingeschränkt, wenn das Militär während des öffentlichen Wettbewerbs und/oder in die politische Partizipation der Bürger interveniert. Manipulation von Wahlen, Vorrecht auf militärische Besetzung von Herrschaftspositionen, Verletzung politischer Partizipationsrechte, Manipulation der Medien und Ausübung von Gewalt gegen politische Gegner stehen exemplarisch für solche militärischen Interventionen (vgl. Croissant et al. 2013: 28). Die verbleibenden vier Teilbereiche ziviler Kontrolle sind nach Croissant et al. (2013: 28–36) anhand der Kriterien Politikentscheidung (Policy-Making) sowie Politikimplementierung (Policy-Implementation) bewertbar. Die zivile Kontrolle in diesen Bereichen ist insofern gegeben, als die zivilen Autoritären über volle Entscheidungs- und Implementationsfähigkeit sowie über institutionalisierte Kontroll- und Sanktionsmechanismen verfügen (vgl. Croissant/Kühn 2011: 20). Dies betrifft im Teilbereich Public Policies die Politikfelder Außenpolitik, Wirtschaftspolitik, Fiskalpolitik und Wohlfahrt, aber nicht innere Sicherheit- sowie äußere Verteidigungspolitik. Daneben beinhaltet der Teilbereich Innere Sicherheit die inneren Aktivitäten des Militärs wie Einsätze im Inneren bei Naturkatastrophen und Notständen sowie polizeiliche Unterstützungsleistungen. Die zivile Kontrolle ist eingeschränkt, sofern die demokratischen Autoritären nicht über die Dauer und Reichweite dieser Einsätze entscheiden oder sofern das Militär nicht den zivilen staatlichen Behörden untergeordnet ist oder durch sie beaufsichtigt wird. Der Teilbereich Äußere Sicherheit spiegelt die eigentliche Funktion des Militärs als zur territorialen Verteidigung dienende Organisation wider. Die zivile Kontrolle ist gegeben, sofern zivile Autoritäten die letztendliche Entscheidungskompetenz über die nationale Verteidigung (u. a. Krieg und Frieden, Verteidigungsfall, Bedrohungen) und über militärische Einsätze außerhalb des eigenen Territoriums innehaben. Das zivile Verteidigungsministerium und/oder das Parlament setzen die Sicherheits-/Verteidigungsdoktrin für das Militär. Die Wahrung ziviler Suprematie über das Militär setzt effektive Kontroll- und Sanktionsmechanismen voraus. Im Bereich der Militärorganisation verfügt das Militär über hohe Autonomie im Vergleich zu anderen Teilbereichen ziviler Kontrolle. Die zivilen Autoritären regulieren das Militär im Wesentlichen in zwei analytisch zu trennenden Kategorien. Die zivile Entscheidung über Truppenstärke, Aufbau und Struktur, Ausrüstung sowie finanzielle Ressourcen betrifft die materielle Dimension, die ideelle Dimension das Selbstverständnis, Ausbildung, Rekrutierung, Beförderung und sonstige rechtliche Aspekte Militärangehöriger (vgl. Croissant et al. 2013: 28–36).

[...]


[1] Im Weiteren wird nur noch die Rede von Transformationsforschung sein, weil sie als Oberbegriff die Transitionsforschung einschließt.

[2] Beck/Hüser (2013) entwerfen eine heuristische Matrix, die die Diversifizierung politischer Herrschaft in den arabischen Staaten zu erfassen versucht, um sie anschließend mit dem Rentierstaatansatz sowie Ansätzen der Transformationsforschung und der Revolutionsforschung zu erklären.

[3] Derzeit gibt es keine einschlägigen Referenzwerke. Der politikwissenschaftliche Diskurs zu den politischen Umbrüchen in der Region Naher Osten und Nordafrika findet in englischsprachigen Fachzeitschriften statt.

[4] Jüngste Aufsätze erklären so bspw. das Ausscheren beider Streitkräfte aus der Regimekoalition während der Regimekrise 2011 in Ägypten und in Tunesien (siehe u. a. Barany 2011; Brooks 2013; Frisch 2013; Gaub 2013; Lutterbeck 2013).

[5] Für einen leichten Einstieg in die Forschung zivil-militärischer Beziehung ist die Monografie von Croissant/Kühn 2011 zu empfehlen.

[6] Der historische Institutionalismus ist keine konsistente Theorie. Wesentliche theoretische Referenzen sind Thelen/Steinmo (1992), Hall/Taylor (1996), Immergut (1998), Thelen (1999), Mahoney/Snyder (1999), Mahoney (2000), Mayntz/Scharpf (1995), Capoccia/Kelemen (2007) und Mahoney/Thelen (2010).

[7] O’Donnell/Schmitter (1986) geben mögliche Transitionsverläufe an: (1) neues autoritäres Regime, (2) demokratisches Regime, (3) Zustand eines gewaltsamen Konflikts (Bürgerkrieg) sowie (4) Zustand dauerhafter politischer Konfusion mit ständigem Wechsel von Herrschaftsträgern sowie dauerhaften (De‑)Institutionalisierungsprozessen politischer Regeln und Normen.

[8] Die Grauzonen-Problematik besteht durch die beobachtbare rasche Zunahme politischer Regime, die sich weder einem demokratischen noch einem autoritären Regime eindeutig zuordnen lassen und sich definitorischer Merkmale beider Typen bedienen (vgl. Schlumberger/Karadag 2006: 247; Croissant 2010: 94 f. sowie Kailitz/Köllner 2013).

[9] Ideengeschichtliche Grundlage für die spätere empirisch-vergleichend ausgerichtete Demokratieforschung ist Schumpeter (1942), dessen „andere Theorie der Demokratie“ (Schumpeter 2005 [1946]: 427–450) eine minimalistische Demokratiekonzeption entwickelt.

[10] 1. Assoziations- und Koalitionsfreiheit; 2. Meinungsfreiheit; 3. aktives Wahlrecht; 4. passives Wahlrecht; 5. Recht politischer Eliten, um Wählerstimmen und Unterstützung zu werben; 6. Informationsfreiheit; 7. freie und faire Wahlen und 8. Institutionen für die Repräsentation sowie für die Verantwortlichkeit gewählter politischer Akteure gegenüber der Wählerschaft (Dahl 1971: 3).

[11] Es dürfen keine Beschränkungen von Kandidaten, Ausschlüsse vom Wettbewerb und keine Repressionen vorliegen. Das Wahlergebnis muss dem tatsächlichen Wählerwillen (Mehrheitswillen) entsprechen sowie durch unabhängige Wahlbehörden kontrolliert überprüfbar sein.

[12] In aller Regel haben Typologien politischer Regime (zwischen Demokratie und Autokratie) Demokratie als zentralen Bezugspunkt, sodass sich Autokratie als Negativdefinition von Demokratie versteht, als diejenigen Regime, in denen definitorische Minimalkriterien (u. a. freie und faire Wahl als Ausdruck der Volkssouveränität) demokratischer Herrschaft nicht verwirklicht sind (Bsp.: Linz 1975; 2000; Lauth 2010: 102; Croissant/Kühn 2011: 123; Gerschewski et al. 2013: 108).

[13] Die Phase der Liberalisierung wird im Rahmen der Arbeit nicht weiter betrachtet. Sie umfasst die Anpassung des autoritären Regimes an eine sich wandelnde Umwelt (Forderung der Gesellschaft nach mehr politischer Beteiligung, Garantie wesentlicher Grund- und Menschenrechte u. a.). Autoritäre Herrscher öffnen das autoritäre Regime, um bestehende Konflikt mit gesellschaftlichen und oppositionellen Gruppen zu regulieren, um das Regime im Sinn von Regimestabilität zu sichern (vgl. O’Donnell/Schmitter 1986: 7; Bos 1994: 85).

[14] Für das Ende eines autoritären Regimes sind besonders die Ursachen sowie typische Verlaufsformen von Forschungsinteresse (hierfür siehe Merkel 2010: 96–104), weil sie wiederrum Faktoren bereitstellen, um den Transitionsverlauf zu erklären.

[15] Die Demokratisierungsphase beginnt demnach, „wenn die Kontrolle politischer Entscheidungen den alten autoritären Herrschaftseliten entgleitet und demokratischen Verfahren überantwortet wird, deren substanzielle Ergebnisse sich a priori nicht mehr bestimmen lassen“ (Merkel 2010: 105; Hervorhebung im Original).

[16] Die Monopolisierung der Kriegswaffen sowie ihrer Verfügungsgewalt, die Verteidigung als Kernfunktion und zudem die Bindung an eine übergeordnete, staatliche Autorität sind wesentliche definitorische Merkmale dieser Organisation (vgl. Croissant/Kühn 2011: 1).

[17] Die von Croissant et al. (2013) verwendete konzeptionelle Operationalisierung ziviler Kontrolle befindet sich im Anhang Tabelle 13.

[18] Pion-Berlin (1992) differenziert ähnlich, indem er zwischen Dominanz der zivilen Autoritäten, geteilter Autorität und Dominanz des Militärs unterscheidet. Noch differenzierter ist Siaroff (2013: 27–33). Er unterteilt in einem Intervall von ziviler Suprematie (10) als höchste Ausprägung ziviler Kontrolle und einer reinen Militärherrschaft (0). Dazwischen liegen zivile Kontrolle (8), bedingte Unterordnung (6), militärische Bevormundung (4) und militärische Kontrolle (2).

Ende der Leseprobe aus 106 Seiten

Details

Titel
Die Rolle des Militärs in Zeiten politischer Transformation
Untertitel
Eine vergleichende Analyse der Prozesse in Ägypten und Tunesien zwischen 2011–2014 aus transformationstheoretischer Perspektive
Hochschule
Helmut-Schmidt-Universität - Universität der Bundeswehr Hamburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
106
Katalognummer
V302983
ISBN (eBook)
9783668013810
ISBN (Buch)
9783668013827
Dateigröße
1651 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
rolle, militärs, zeiten, transformation, eine, analyse, prozesse, ägypten, tunesien, perspektive
Arbeit zitieren
Master of Arts Patrick Schröder (Autor:in), 2014, Die Rolle des Militärs in Zeiten politischer Transformation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/302983

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