"Kassandra" von Christa Wolf. Der Mythos "Kassandra" als Mittel der Kritik an der DDR


Seminararbeit, 2014

13 Seiten, Note: 1,7

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zeithistorischer Kontext

3. Überlegung zum Mythosbegriff
3.1. Allgemeine Interpretation des Mythosbegriffs
3.2. Christa Wolfs Interpretation des Mythosbegriffs

4. Analogie vom Mythos Kassandra mit der historischen Gegenwart und die Kritik an der DDR

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Christa Wolfs Roman ÄKassandra“ ist ein bedeutendes Werk der deutschen Nachkriegsliteratur. Doch was genau macht ihr Werk so einzigartig? Im Zentrum der Erzählung steht die trojanische Königstochter Kassandra. Als Seherin hat sie den Untergang Trojas vorausgesehen, doch keiner will ihren Worten glauben. Kassandra, die ihren Tod erwartet, steht vor dem Tor von Mykene und durchläuft in Gedanken alle Ereignisse, die sie während des trojanischen Krieges und Untergangs Trojas durchlebt hat. Christa Wolf lässt die Protagonistin Kassandra in einem langen Erinnerungsmonolog von ihrem Schicksal berichten, dabei macht die Autorin nicht nur auf die Geschehnisse in Troja aufmerksam.

Gegenstand dieser Hausarbeit ist, wie und warum Christa Wolf den Mythos Kassandra so funktionalisiert, dass er auf die Ereignisse der 80er Jahre übertragen werden kann. Anhand dieser Erzählung übt sie indirekt Kritik an den gesellschaftlichen und politischen Zuständen ihrer Gegenwart aus.

Zu Beginn dieser Arbeit wird kurz auf den zeithistorischen Kontext eingegangen und darauf, was hinter dem Begriff ÄMythos“ steckt, welches Potenzial sich in ihm verbirgt und wieso Christa Wolf diese Erzählform für ihren gesellschaftskritischen Roman gewählt hat.

Warum hat sie einen so weit zurückliegenden archaischen Text gewählt? Und was verbindet sie mit der Seherin Kassandra?

Diesen Fragen wird in der Arbeit nachgegangen, deren Mittelpunkt die Analogie zwischen dem trojanischen Krieg der Antike und dem Kalten Krieg der Gegenwart Christa Wolfs darstellt.

Mit dem abschließenden Fazit wird auf die wichtigsten Botschaften und die mit der Erzählung verbundenen Erwartungen Christa Wolfs hingewiesen.

2. Zeithistorischer Kontext

Entstanden ist das Werk Christa Wolfs 1983, kurz vor dem Ende des Kalten Krieges. In dieser Zeit hatte das atomare Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion seinen Höhepunkt erreicht, was eine atomare Bedrohung für Europa darstellte. Schon in den 70er Jahren gab es zwischen den Ost- und Westmächten Abkommen, die die Anzahl der Langstrecken Atomraketen der beiden Mächte in Gleichgewicht hielten. Doch die Sowjetunion hatte ihr militärisches Potenzial ausgeweitet, indem sie vermehrt Kurz- und Mittelstrecken Atomraketen stationierte, welche nicht in diesen Abkommen berücksichtigt wurden.

Als Reaktion darauf wurde am 12. Dezember 1979 beschlossen, im Rahmen des "Nato-Doppelbeschlusses" dem militärischen Übergewicht der Sowjetunion entgegenzuwirken, da die sowjetische Aufrüstung von der NATO als große Gefahr angesehen wurde.1

1982 wurden daraufhin in Genf Abrüstungsgespräche zwischen den West- und Ostblöcken geführt, welche jedoch scheiterten, da keine Einigung über das Gleichgewicht der atomaren Kurz- und Mittelraketen gefunden werden konnte. Als Folge davon planten die Amerikaner die Stationierung von weiteren Atomraketen, den Pershing-II-Raketen, auf deutschem Boden.

Diese Bedrohung löste eine Friedensbewegung aus, die gegen das atomare Aufrüsten der USA und der Sowjetunion protestierte, der es aber nicht gelang die Stationierung der Atomraketen in der BRD zu verhindern.2

3. Überlegung zum Mythosbegriff

3.1. Allgemeine Interpretation des Mythosbegriffs

Eine mögliche Definition des Mythos ist, dass dieser über Götter oder Ereignisse aus der Antike erzählt, dabei versucht er meist dem Ursprung der Welt oder der Menschen auf den Grund zu gehen.3

Mythen gelten also als eine Ägrundlegende menschliche Erfahrung“4, da sich in ihnen immer ein Wahrheitsanspruch finden lässt, der Äkulturübergreifend ist und eine überzeitliche Verbindlichkeit“5 aufweist.

Ein bloßer Rückgriff auf einen Mythos reicht aber nicht.6 Man muss bewusst aus der Sammlung an Mythen wählen und ihn an die Leser anpassen, sodass die Botschaft oder auch die Moral des gewählten Mythos sowohl auf ihre Gegenwart, als auch auf ihre Zukunft zutrifft.

Die Funktion des Mythos weist Uneinigkeiten auf, da Äder Mythos älter als jede Ideologie, niemals eindeutig ist, er enthält seine eigene Widerlegung.“7 So bieten sich bei der Analyse eines Mythos viele Interpretationsmöglichkeiten, sodass ihm eine gewisse Zeitlosigkeit zukommt.

Manfred Frank beschreibt die anhaltende Aktualität des Mythos, indem er davon ausgeht, dass es etwas in der Vergangenheit gab, das sich nicht verwirklicht hat und somit so lange eine Hoffnung bleibt, bis es sich erfüllt.8 Auch Ernst Bloch kommt zu dem Entschluss, dass Mythen als Äbislang unerfüllt Gebliebenes und Anregung für noch zu Erreichendes, als utopisches Reservoir für gegenwärtige Kritik an der patriarchalen Wirklichkeit und für alternative Entwürfe von Weiblichkeit“9 gelesen werden können. Auch die Erzählung Kassandra von Christa Wolf ist von einer neuen Weiblichkeit geprägt und ist gleichzeitig ein Beispiel dafür, dass der Mythos ein kritisches Potenzial hat und dieses auf die Gegenwart der Erzählung anwendet.

3.2. Christa Wolfs Interpretation des Mythosbegriffs

In ihrem Arbeitstagebuch greift Christa Wolf mehrfach das Thema, um den Begriff Mythos auf. Sie teilt Robert von Ranke-Graves Auffassung, dass ein Mythos als ein ÄSpiegel realer, geschichtlicher Begebenheiten“ dient.10

Das soll heißen, dass Mythen die Wahrheit widerspiegeln. Aus diesem Grund wählt Christa Wolf diese Erzählform, um mythologisch verschlüsselt die "sozialen und historischen Koordinaten"11 ihrer eigenen Gegenwart an die Öffentlichkeit zu bringen. Dadurch wird das Geschichtsbewusstsein der Autorin deutlich, denn ihr ist es wichtig, sich mit der Vergangenheit und ihrem Bezug zu der Gegenwart auseinanderzusetzen. Das folgende Zitat von Klemens Renolder bekräftigt Christa Wolfs Erwartung an das Bewusstsein von Geschichte:

ÄGeschichte nicht nur theoretisch und abstrakt zu erfassen, sondern auch in den Auswirkungen für die Betroffenen mitzuempfinden. Durch die Neuerschaffung und die damit verbundene Intensivierung der Erinnerung, jeweils auf der Gegenwartsebene basierend, diese betreffend, werden verlorene, von außen her zerstörte oder verdrängte Erfahrungen, Gefühle und Gedanken in ihrer historischen und gesellschaftlichen Bedeutung als substantiell, als zum Verständnis von Gegenwart, zum Erfahren von Geschichte unabdingbar, zur Selbstbestimmung - und dadurch Bestimmung anderer - dienend begriffen.“12

Ihre Intention ist, Erinnerungen Äneu zu erschaffen“, um ihren Lesern die Fähigkeit zu vermitteln, auch bei der Konfrontation mit einem fremden archaischen Stoff, die Botschaft auf ihre eigene Gegenwart übertragen zu können und somit die versteckte Wahrheit, die sich dahinter verbirgt, zu erfassen.13

Durch das tragische Schicksal Kassandras werden die Leser mitgenommen und sensibilisiert, sodass in ihnen das Bedürfnis geweckt wird ein ähnliches Schicksal zu verhindern d.h. sich den gegenwärtigen Mächten der atomaren Politik zu widersetzen. Christa Wolf lädt also mit der Erzählung Kassandra ihre Leser dazu ein, sich mit einer mythologisch verschlüsselten Form der eigenen Wirklichkeit auseinanderzusetzen und den ÄSpuren[en] [auf den Grund zu gehen], die die Ereignisse in unserm Innern hinterlassen“.14

4. Analogie vom Mythos Kassandra mit der historischen Gegenwart und die Kritik an der DDR

Christa Wolf, die als Autorin weltweit anerkannt war, genoss in der DDR trotz ihrer kritischen Haltung eine Sonderstellung. Deshalb durfte sie Gastdozenturen außerhalb der DDR wahrnehmen. Ab 1982 hielt sie die Poetik Vorlesungen an der Frankfurter Goethe Universität, in denen sie sich auf Kassandra fokussierte. Ihre Vorlesungen gestaltete sie im übertragenen Sinn in Form einer Reise in das Geschehen des Mythos. In ihrer Erzählung übt Christa Wolf keine direkte Kritik an der DDR aus. Vielmehr stellt sie Parallelen zwischen dem Mythos und ihrer Gegenwart her, um die Aktualität des Kassandrastoffes deutlich zu machen.

Ein wesentliches Merkmal, das Christa Wolf in ihren Vorlesungen mehrmals erwähnt, ist der Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat. Also die Unterdrückung einer Gesellschaftsform, in der Frauen über eine Machtposition verfügen, durch ein System, das von Männern dominiert wird. Hekabe, die anfangs noch eine gleichberechtigte Position neben ihrem Mann, dem König Priamos, besitzt, verliert nach und nach ihr Mitspracherecht. Das patriarchale Denken und Handeln, welches durch Besitzdenken, Hierarchien, Herrschaftsdenken, Aggressivität und Unterdrückung der Frau gekennzeichnet ist, setzt sich im Mythosgeschehen durch.15 Aber auch in ihrer aktuellen politischen Gegenwart beobachtet die Autorin patriarchale Merkmale.

Für das Wettrüsten der beiden Großmächte, USA und Sowjetunion, macht sie vor allem die männlichen Politiker verantwortlich.16 Die Frauen werden in der Antike, aber auch in der Gegenwart aus allen politisch relevanten Entscheidungsprozessen ausgeschlossen.

Bei der Suche nach den Anfängen des männlichen Machtstrebens, begegnen ihr Äpatriarchalische Strukturen des Denkens und Regierens“17 die sich über 3000 Jahre nicht verändert haben.

Auch die Machtinhaber und deren Ideologien haben sich im Verlauf der Zeit nicht

[...]


1 Vgl. Leis, Mario: Christa Wolf, Kassandra. Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler. Stuttgart: Reclam, 2008, S. 49-50

2 Vgl. Matzkowski, Bernd: Erläuterungen und Materialien. Bd. 372, 2008, 4. Aufl., S. 9-10

3 Vgl. Der Brockhaus. In drei Bänden. Dritte, völlig neu bearbeitete Auflage. Leipzig, Mannheim: F.A. Brockhaus, 2004. (Bd. 2.), S. 724, Artikel Mythos

4 Jamme, Christoph: ÄGott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991, S. 17

5 Roser, Birgit: Mythenbehandlung und Kompositionstechnik in Christa Wolfs ÄMedea. Stimmen“. Frankfurt/Main: Lang, 2000, S. 21

6 Vgl. ebd., S. 29

7 Engelhardt, Michael v./Rohrwasser, Michael: Kassandra - Odysseus - Prometheus. Modelle der Mythosrezeption in der DDR-Literatur. In: L’80 (Juni 1985) Heft 34, S. 51

8 Frank, Manfred: Der kommende Gott. Vorlesung über die Neue Mythologie, Teil 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982 (=edition suhrkamp, Bd. 1142), S. 40.

9 Vgl. Roser, Birgit: Mythenbehandlung und Kompositionstechnik in Christa Wolfs ÄMedea. Stimmen“, 2000, S. 31

10 Vgl. Ranke-Graves, Robert von: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung. Hamburg: Rowohlt, 1984, S. 18-19

11 Wolf, Christa: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter PoetikVorlesungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2008, S. 152

12 Renolder, Klemens: Utopie und Geschichtsbewusstsein, Versuche zur Poetik Christa Wolfs. Stuttgart: Akademischer Verlag, 1981, S. 20

13 Vgl. Risse, Stefanie: Wahrnehmung und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung ÄKassandra“. Pfaffenweiler: Centaurus-Verlagsgesellschaft, 1986, S. 103

14 Wolf, Christa: Nachdenken über Christa T., 12.Aufl., Darmstadt und Neuwied: Luchterhand, 1979, S.167

15 Vgl. Hellberg, Wolf Dieter: Lektürehilfen Christa Wolf, ÄKassandra“. Stuttgart: Klett Lernen und Wissen, 2007, S. 71

16 Wolf, Christa: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter PoetikVorlesungen. 2008, S. 154

17 Ebd.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
"Kassandra" von Christa Wolf. Der Mythos "Kassandra" als Mittel der Kritik an der DDR
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen  (Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Proseminar - Mythos Kassandra
Note
1,7
Jahr
2014
Seiten
13
Katalognummer
V315044
ISBN (eBook)
9783668135741
ISBN (Buch)
9783668135758
Dateigröße
591 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kassandra, christa, wolf, mythos, mittel, kritik
Arbeit zitieren
Anonym, 2014, "Kassandra" von Christa Wolf. Der Mythos "Kassandra" als Mittel der Kritik an der DDR, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/315044

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