Autobiografisches Erinnern von Bildern der persönlichen Lebensumgebung

Eine Interviewstudie zur Verteilung objektgebundener autobiografischer Erinnerungen über die Lebensspanne bei Erwachsenen


Bachelor Thesis, 2013

74 Pages, Grade: 1.3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

Autobiografisches Erinnern von Bildern der persönlichen Lebens- umgebung

1 Zum Verhältnis autobiografischer Erinnerungen und dem Gedächtnis
1.1 Strukturelle Einteilungen und Prozesse des menschlichen Gedächtnisses
1.2 Autobiografisches Gedächtnis als Gegenstand psychologischer Forschung ..
1.2.1 Das System des autobiografischen Wissensbestandes
1.2.2 Erkenntnisse zur Verteilung autobiografischer Erinnerungen über die Lebensspanne
1.2.3 Erhebungsmethoden
1.3 Bilder in Bezug zum autobiografischen Erinnern
1.3.1 Bildbetrachtung
1.3.2 Bilder als medialer Hinweisreiz in autobiografischen Gedächtnis- studien
1.4 Grundlegende Fragestellungen und Hypothese

2 Interviewstudie zur Verteilung objektgebundener autobiografischer Erinnerungen über die Lebensspanne bei Erwachsenen
2.1 Methodisches Vorgehen
2.1.1 Stichprobe
2.1.2 Design und Versuchsmaterial
2.1.3 Ablauf
2.2 Ergebnisse

3 Diskussion

4 Literaturverzeichnis

Anhänge

Zusammenfassung

Autobiografische Erinnerungen Erwachsener verteilen sich in typischer Weise über die Lebensspanne. Kindheitsamnesie, Erinnerungshäufung und Rezenzfunktion sind spezifische Verlaufsbesonderheiten, die systematisch an das Lebensalter gebunden sind. Bisherige Untersuchungen erhoben zur Kennzeichnung der Verteilung entweder verschiedene autobiografische Erinnerungen. Oder es wurden, mit an kulturelles Material gebundenen Erinnerungen, Zusammenhänge zum semantischen Gedächtnis oder semantischen Bereichen des autobiografischen Wissens geprüft. Diese Untersuchung fokussierte objektgebundene autobiografische Erinnerungen und deren Verlaufsbeschreibung über die Lebensspanne. Bestimmte Bilder der realen Lebensumwelt sind über lange Zeit, manche über die Spanne des gesamten Lebens, im Gedächtnis repräsentiert. Resultat war eine deutliche Verdichtung und Verschiebung der Erinnerungshäufung in den Altersbereich zwischen 6 bis 20 Jahren. Die meisten Bilderinnerungen lagen im Enkodierprozess begründet. Die Phasen der Selbstentwicklung in Kindheit und Jugend unterstützen die Aufnahme von selbstbezogenem Bilderinnerungen und bilden für die spätere Reflexion der Selbstentwicklung einen Fundus. Die Erfahrungen mit den Bildern enthalten die Erfahrungen des Menschen mit sich selbst.

Autobiografisches Erinnern von Bildern der persönlichen Lebensumgebung

Viele Menschen umgeben sich in ihrem Zuhause mit Bildern. Manche richten Fotoecken ein oder gestalten ganze Bilderwände. Andere hängen einzelne Bilder wie Poster, Drucke, Malereien hin oder stellen diese auf ihren Schreib- bzw. Nachttisch. Manche Bilder sind erworben, andere selbst hergestellt, wieder andere Geschenke. Im Zuhause der Kindheit sind die meisten Bilder durch die Familie gewählt, später werden sie immer bewusster ausgesucht und manche Bilder werden zu Erinnerungsstücken. Die so Menschen im Laufe des Lebens umgebenden Bilder bildeten in der Untersuchung der vorliegenden Arbeit die Quelle für den Abruf autobiografischer Erinnerungen. Für gewöhnlich kann jede Person zu Bildern der aktuell bewohnten Wohnung einen persönlichen Bezug herstellen. Es kann erinnert werden, woher sie kamen und wie sie ihren Platz bekommen haben. Dagegen steht das Phänomen, dass nicht alle, aber bestimmte Bilder der realen Lebensumwelt über lange Zeit, manche über die Spanne des gesamten Lebens, im Gedächtnis repräsentiert sind.

Fotografien können helfen, sich im Alltag an das eigene Leben zu erinnern. Auch in der psychologischen Forschung stellt das eine Methode dar, um an Gedächtnismaterial zu gelangen, welches zum autobiografischen Gedächtnis gehört (Pohl, 2007). Doch an welche Bilder der persönlichen Lebensumgebung erinnern sich Erwachsene, ohne sie direkt oder mit Hilfe einer Fotografie wieder gesehen zu haben? Und was erzählt die Erinnerung einer Szene mit dem Bild über seinen Betrachter? Wie erklärt er sich selbst, dass dieses Bild Eingang in sein Inneres gefunden hat, und das bleibend?

Verschiedene Gedächtnisforscher, wie Kandel (2012/2012), Pöppel (2006) oder Schacter (1996/2001) interessierten sich bereits für die Zusammenhänge zwischen bildender Kunst und dem Gedächtnis. Kandel beschrieb sie 2012 so: ÄDas, was wir lernen und woran wir uns erinnern, macht uns im Wesentlichen zu dem, was wir sind. Für unsere perzeptuelle und emotionale Reaktion auf Kunst ist das Gedächtnis von grundlegender Bedeutung“ (S.359). Markowitsch (2009) sieht weit betrachtet eine Gemeinsamkeit darin, dass sowohl Bilder der bildenden Kunst als auch das menschliche Gedächtnis sich auf gespeicherte Informationen beziehen. Menschen explizieren Gedächtnisinhalte und können selbst symbolhaltige Kunstwerke gestalten. Das erweitert für sie den Zugang zu neuen Welt- und Selbsterfahrungen (Müller & Knoll, 2007) und Bilder werden dabei zu Gedächtnisträgern. Der Unterschied der bildenden Kunst und des Gedächtnisses liegt laut Markowitsch (2009) in deren Vergänglichkeit. Sein Gedanke von Gehirnen und Denkmälern lässt sich auch auf Bilder beziehen. Bilder und Gehirne sind zwar beide an sich vergänglich. Die Informationen im individuellen Gehirn modifizieren sich allerdings permanent. Und auch die neurobiologische Grundlage verändert sich entwicklungstypisch ein Leben lang. Diese dynamische Veränderung geschieht beim Bild nicht in diesem selbst, sondern nur durch seinen Betrachter und damit in dessen Gehirn.

In der Gedächtnispsychologie sind die Erinnerungen die Einheiten, anhand derer die Organisation und Struktur des autobiografischen Wissensbestandes untersucht und charakterisiert wird (Hillebrandt, 2002). Autobiografisches Erinnern fühlt sich an, als würde das bereits Erfahrene wiedererlebt werden. Dabei können die Ereignisse im Leben zeitlich weit zurück liegen (Pohl, 2007). Die Erinnerungen sind von ganz persönlichem Erleben, persönlichen Ereignissen, Wissen und Vorstellungen erfüllt.

Die Untersuchungen zu strukturellen Besonderheiten der Erinnerungs- verteilung über die Lebensspanne haben durch zahlreiche Studien belegt, dass eine typische Verteilung durch drei Besonderheiten gekennzeichnet ist (Pohl, 2007). Die Kindheitsamnesie betrifft die ersten Jahre des Lebens, aus denen keine persönlichen Erinnerungen berichtet werden können. Der Rezenzeffekt bezieht sich auf die nahe Vergangenheit, aus der die meisten Erinnerungen autobiografischer Art stammen. Und die dritte Besonderheit zeigt sich beim autobiografischen Erinnern Erwachsener ab 35 Jahren (Rubin, Wetzler & Nebes, 1988). Ab diesem Alter gibt es eine Präferenz für Ereignisse aus dem zweiten und dritten Lebensjahrzehnt. Diese Erinnerungshäufung ist Gegenstand vieler Untersuchungen gewesen und Hillebrandt beschrieb es 2002 so, dass es unterdessen leichter sei, den Umstand an sich darzustellen und zu belegen, als diese Häufung erklären zu können. Aktuelle Untersuchungen beschäftigten sich damit, welche Informationsverarbeitungsprozesse für diese Erinnerungshäufung ursächlich sind (Janssen, Chessa & Murre, 2007; Rubin, Rahhal & Poon, 1998). Andere überprüften Zusammenhänge vom Gedächtnissystem zum System des Selbst (Conway & Pleydell-Pearce, 2000; Rathbone, Moulin & Conway, 2008). Die Untersuchung zur vorliegenden Arbeit soll die Forschungsfrage beantworten, ob das Verteilungsmuster der autobiografischen Erinnerungen über die Lebensspanne in typischer Weise auch dann resultiert, wenn die Auswahl von zu schildernden Erinnerungen durch die thematische Vorgabe an den spezifischen Inhalt Bilder der persönlichen Lebensumgebung gebunden wird.

Die Arbeit beginnt im theoretischen Teil mit konzeptionellen Richtungen der Allgemeinen Psychologie zum Gedächtnis. Bezugnehmend auf das hierarchische Organisationsmodell des autobiografischen Wissensbestandes von Conway und Pleydell-Pearce (2000) kennzeichnet der zweite theoretische Teil die Merkmale von autobiografischen Erinnerungen. Deren Verteilung über die Lebensspanne wird als Besonderheit der makrostrukturellen Ebene des autobiografischen Gedächtnisses aufgezeigt. Im dritten Teil wird auf die verschiedene Bedeutung von Bildern soweit eingegangen, dass nachvollziehbar wird, warum sie sich einerseits als Hinweisreiz in Form realer Objekte eigneten und andererseits als bildliche Vorstellung konzeptionell wichtig sind. Im praktischen Teil wird die vorgenommene Interviewstudie in klassischer Weise beschrieben. Die Untersuch- ungsergebnisse wurden einerseits auf die Charakterisierung des Verlaufs der Erinnerungen über die Lebensspanne bezogen. Andererseits wurden die erinnerten Erlebnisse mit einem Bild der realen Lebensumwelt tendenziell darauf untersucht, wie diese Erfahrung der Versuchsteilnehmerinnen und Versuchsteil- nehmer mit sich selbst und dem persönlichem Leben in Beziehung gesetzt wurde. Im letzten Teil schließt sich der Bogen zur Forschungsfrage und die Ergebnisse werden in Beziehung zur theoretischen Verortung der ersten Abschnitte diskutiert.

1 Zum Verhältnis autobiografischer Erinnerungen und dem Gedächtnis

Aus der menschlichen Erfahrung sich erinnern, etwas wiedererkennen und somit Altes von Neuem unterscheiden zu können, wird auf ein Gedächtnis geschlossen. Die Vergangenheitsform im Wort Gedächtnis verweist auf die Bedeutung der Zeitperspektive. Solch eine Begriffserklärung für die lateinische Bezeichnung memoria stammt aus dem Jahr 1720 von dem deutschen Universalgelehrten Christian Wolff, der psychologische Begriffe seinerzeit mit deutschen Bezeichnungen versah: „… Das Gedächtniß ist also nichts anderes als das Vermögen Gedancken, die wir vorhin gehabt haben, wieder zu erkennen, daß wir sie schon gehabt haben, wenn sie uns wieder vorkommen“ (Schönpflug, 2004, S.128f). Über diese Beschreibung hinaus gibt es in der aktuellen Gedächtnis- psychologie mehrere definierte Begriffe und Gedächtnisbereiche innerhalb verschiedener Konzepte und Theorien. Die Auffassung des Gedächtnisses als psychische Funktion mit zeitlichem Bezug ist allerdings nach wie vor grundlegend. Beispielsweise definierte Mack (2011) das Gedächtnis funktionell als den: Äpsychischen Bereich, in dem Erfahrungen ihren gegenwärtigen Vollzug überdauern“ (S.94).

Dem Phänomen, sich an Eindrücke und Erlebnisse des persönlichen Lebens erinnern zu können, steht die Klassifizierung autobiografischer Erinnerungen insofern gegenüber, dass sich die Bezeichnung und theoretische Konzeption aus einer wissenschaftlichen Debatte entwickelt hat (Weber, 1993). Als autobiografisch werden Erinnerungen erst klassifiziert, wenn sie selbst- bezogen und bewusst zugänglich sind und sich komplex darstellen (Hillebrandt, 2002). Um diese Abgrenzung zu anderen Formen der Erinnerung zu verdeut- lichen, werden die theoretischen Konzepte zum Gedächtnis und die zum autobio- grafischen Gedächtnis in den folgenden Abschnitten dargestellt.

1.1 Strukturelle Einteilungen und Prozesse des menschlichen Gedächtnisses

Alltagspsychologisch wird unter Gedächtnis eine Art individueller Speicher verstanden, weil Informationen zu einem späteren Zeitpunkt als dem der Aufnahme abgerufen werden können (Hoffmann, 1995). Auf Speicherung wird geschlossen, weil die Erlebensinhalte auch dann weiter bestehen, wenn diese nicht beachtet, erinnert oder aktiv genutzt werden. Auch psychologische Definitionen, wie die von Fröhlich (2008), stellen die Funktion des Bewahrens der Informationsgehalte in den Focus. Bleibt eine Definition als Speichermetapher stehen, vernachlässigt sie, Ädaß Wahrnehmungen wie Verhaltensweisen durch Gedächtnisleistungen unablässig determiniert werden“ (Hoffmann, 1995, S.227). Der Vorstellung einer passiven Ablage und einer originalgetreuen Reaktivierung von Gedächtnisinhalten steht die Informationsverarbeitungsweise in einem Gedächtnis mit der Fähigkeit zur Selbstorganisation (Köhler, 1924) gegenüber (Van der Meer, 2006b). Die aktuelle kognitive Gedächtnisforschung unterscheidet im Allgemeinen zwischen der Struktur des Gedächtnissystems und innerhalb dieser Struktur ablaufenden Prozesse, um Behaltensleistungen zu erklären und Gedächtnisleistungen vorherzusagen (Engelkamp & Rummer, 2006).

Struktur des Gedächtnissystems

Auf der strukturellen Ebene werden mit den Dimensionen Zeit, Modalität und Bewusstsein unterschiedliche Gedächtnissysteme mit verschiedenen Funktionen als Teilstrukturen konzipiert. Zunächst erfolgt eine systematische Einteilung nach der zeitlichen Verweildauer der Informationen im Gedächtnis. Die Unterscheidung von einem Kurz- und Langzeitspeicher wurde im 19. Jahrhundert von William James (Pohl, 2007) eingeführt und beschreibt noch heute das Phänomen, dass es aktuell verfügbare Gedächtnisinhalte im Gegensatz zu solchen gibt, die latent verfügbar, aber gegenwärtig nicht aktiviert sind (Engelkamp & Rummer, 2006). Diese chronologische Dichotomisierung, die 1968 von Atkinson und Shiffrin als Zwei-Speicher-Modell vorgestellt wurde, fand 1974 eine differenzierte Erweiterung durch Baddeley und Hitch (Pohl, 2007). Anstelle eines Kurzzeitspeichers etablierte sich der, auf die Funktion abzielende, Begriff Arbeitsspeicher. Dieser vereinigt eine zentrale Exekutive, die die Aufmerksam- keitszuwendung mit mehreren modalitäts-spezifischen Hilfssystemen steuert, wie der phonologischen Schleife und dem räumlich-visuellen Notizblock (Pohl, 2007). Das Modell konzipiert das Arbeitsgedächtnis als besonders wichtige Funktions- einheit, die Informationen aus der Umwelt oder aus dem Langzeitgedächtnis für kurze Zeit bereithält, damit diese weiterverarbeitet werden können. Engelkamp und Rummer (2006) verweisen darauf, dass unterdessen auch Modelle konzipiert werden, die das Kurzzeitgedächtnis als aktiven Teil des Langzeitgedächtnisses interpretieren. Diesbezüglich findet sich auch bei Markowitsch (2009) ein quasi- kontinuierliches Schema von Gedächtnis und Zeit.

Eine zweite Differenzierung des Gedächtnisses erklärt Unterschiede in der Behaltensleistung durch verschiedene Informationsaspekte. Es werden Ein- und Ausgangssysteme angenommen, die für bestimmte Informationsarten spezialisiert sind. Erinnerungen werden als Reaktivationen verstanden, die Episodenerfahr- ungen in ihrer Gesamtheit umfassen; neben einer Reaktivation von Bedeutung also zum Beispiel auch sämtliche sensorische und motorische Eindrücke (Engelkamp & Rummer, 2006).

Und drittens erfolgt eine Einteilung des Gedächtnissystems darüber, ob und wie das Bewusstsein an Gedächtnisleistungen beteiligt ist. 1972 unterschied Tulving zunächst zwei Formen des Langzeitgedächtnisses: Einen Speicher für Erinnerungen an Sachinformationen, das semantische Gedächtnis. Und einen für Erinnerungen an Erlebnisse, das episodische Gedächtnis (Pohl, 2007). Das semantische Gedächtnis enthält Erinnerungen in Form von allgemeinem Wissen über Objekte und Ereignisse und das Episodische beinhaltet Erinnerungen an raum-zeitliche Erfahrungen, die die Person gemacht hat. Diesen beiden Ägewusst was“ - Inhalten stellten Cohen und Squire 1980 die spezifischen Ägewusst wie“ - Inhalte in einem dritten System, dem prozeduralen Gedächtnis, gegenüber (Schacter, 1996/2001). Das prozedurale Gedächtnis behält motorische Abläufe, andere ans Verhalten gebundene Leistungen sowie grundsätzlich automatisch ablaufende Vorgänge (Markowitsch, 2009). Auf Cohen und Squire (1980) geht auch die übergeordnete duale Einteilung in deklaratives und non-deklaratives Gedächtnissystem zurück (Schacter, 1996/2001). Die beiden deklarativen Systeme episodisches und semantisches Gedächtnis sind noetisch, d.h. wissens- basiert. Ihre Inhalte sind bewusstseinsfähige Erinnerungen in dem Sinn, dass sie verbalisierbar sind. Die selbstgemachten Erfahrungen des episodischen Gedächtnisses sind entsprechend autonoetisch (Engelkamp & Rummer, 2006). Die Behaltensleistungen der non-deklarativen Gedächtnissysteme, derer sich der Behaltende nicht bewusst ist, werden dieser Einteilung folgend anoetisch bezeichnet. Diese Gedächtnisinhalte werden ohne bewusste Erinnerung abrufbar (Parkin, 1993/1996).

Gedächtnisprozesse

Im Gedächtnissystem unterliegen Informationen vielschichtigen Prozessen. Sie werden Äkontext- und bedürfnisabhängig enkodiert, verarbeitet, gespeichert, erinnert, reproduziert und neu erzeugt“ (Van der Meer, 2006b, S.346). Markowitsch und Welzer (2006) verweisen darauf, dass es Menschen eigen ist, die Informationen zu verarbeiten, die als reaktionsauslösende Wahrnehmungs- reize mit Bedeutung versehen werden. ÄZwischen die unmittelbare Abfolge von Reiz und Reaktion, Impuls und Handlung schiebt sich hier ein Vorgang der Interpretation, der ein optimiertes Ausnutzen der gegebenen Handlungs- möglichkeiten erlaubt“ (Markowitsch & Welzer, 2006, S.35). Die Bedeutung, die Wahrnehmungen beigemessen wird, ist also als reflexiv zu verstehen. Was in der Vergangenheit erlebt und wie es verarbeitet wurde, geht in die Entscheidungen ein, was aus dem Strom der täglichen Ereignisse herausgegriffen und behalten wird (Schacter 1996/2001).

Abbildung 1 differenziert dreistufig den Informationsverarbeitungsprozess, der den Behaltensleistungen zugrundeliegt. Dabei ist Erinnern ein aktiver Rekonstruktionsvorgang. Dieser steht einerseits in Abhängigkeit zu vorab gemachten Erfahrungen und dem daraus resultierenden Vorwissen. Andererseits zum Vergessen, dem dauerhaften oder temporären Informationsverlust (Van der Meer, 2006b).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1. Drei Phasen des Gedächtnisprozesses.

1.2 Autobiografisches Gedächtnis als Gegenstand psychologischer Forschung

Das autobiografische Gedächtnis repräsentiert die individuelle Lebens- geschichte eines Menschen (Hillebrandt, 2002). Es beinhaltet relevante Elemente für subjektive Beschreibungen von Ereignissen und Situationen. Dieses Gedächtnis umfasst die Erinnerungen an Ereignisse, die zeitlich kodiert sowie räumlich gebunden sind und sich durch einen Selbstbezug auszeichnen. Damit verbunden ist das subjektive Gefühl, das erinnerte Ereignis oder spezifische Eindrücke einschließlich der dazugehörigen Gefühle, Gedanken und Begleit- umstände wieder zu erleben (Pohl, 2007). Das Selbst ist dabei einerseits erlebendes Subjekt, andererseits Gegenstand der Erinnerung (Oberauer, Mayr & Kluwe, 2006). Dieser Selbstbezug ist nicht nur Merkmal, sondern auch reflexive Funktion dieser Erinnerungsform: ÄEs ist das autobiographische Gedächtnis, was Ich sagen zuبden Menschen zum Menschen macht, also das Vermögen, können und damit eine einzigartige Person zu meinen, die eine besondere Lebensgeschichte, eine bewußte Gegenwart und eine erwartbare Zukunft hat“ (Markowitsch & Welzer, 2006, S.11). Diese Wechselbeziehung zwischen auto- biografischen Erinnerungen und dem Selbstkonzept spiegelt sich also in der persönlichen Lebensgeschichte. ÄWir sind, was wir erinnern“ (Pohl, 2007, S. 8).

In der Gedächtnispsychologie besteht allerdings weder begriffliche noch definitorische Einigkeit zum autobiografischen Gedächtnis als Forschungs- gegenstand (Oberauer et al., 2006). Im Gegensatz zur experimentellen Gedächt- nisforschung Äführte die Thematik des Alltags- und des (auto-)biographischen Gedächtnisses lange Zeit ein Dasein im Schatten des Paarassoziations- und Wortlistenlernens“ (Strube & Weinert, 1987, S.151). Neben Einflüssen der kognitiven Wende, entwickelte sich aus der Kritik an der bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts dominierenden Forschungsperspektive eine neue Hinwendung zu autobiografischen Erinnerungen (Strube & Weinert, 1987). Die kognitions- wissenschaftliche Sicht des menschlichen Gedächtnisses als bloßes Informations- verarbeitungssystem vernachlässigte die subjektive Erfahrung des Erinnerns von Ereignissen und Episoden aus der Vergangenheit (Schacter, 1996/2001). Eine als autobiografisch erlebte Erinnerung ist aber mit der Überzeugung verbunden, die Episode persönlich erlebt zu haben, dass sie zur eigenen Lebensgeschichte gehört und sie mit Ereignissen zuvor und hernach in Verbindung steht. Die Untersuchungsmethoden im Labor wurden in Frage gestellt, wenn es darum ging, von diesen Ergebnissen Rückschlüsse auf das autobiografische Gedächtnis zu ziehen. Es wurde gefordert, einen Unterschied zwischen dem Alltagsgedächtnis und dem Gedächtnis, wie es sich im Labor bei Gedächtnisaufgaben darstellt, anzuerkennen (Weber, 1993). Die theoretische Frage, ob dieser Ansatz ein weiteres eigenständiges Gedächtnissystem rechtfertige, ist auch gegenwärtig nicht übereinstimmend geklärt (Pohl, 2007). Weber unterschied bereits 1993, neben einer fehlenden Stellungnahme zur theoretischen Verortung, die Position der Gleichsetzung des autobiografischen Gedächtnisses mit dem episodischen System nach Tulving (1972) und die einer autonomen Definition.

Tulving´s Beschreibungen zum episodischen Gedächtnis, als Speicher für die bewusst selbsterlebten Ereignisse, waren 1972 für ihn gleichbedeutend mit der Bezeichnung autobiografisch (Pohl, 2007). Diesem selbst erlebt wird von Vertretern der eigenständigen Definitionen das Erleben individueller Bedeutung entgegengesetzt. Es mache einen Unterschied, ob sich Probanden an Bilder, Wörter oder Filmausschnitte erinnern, die sie im Rahmen einer Untersuchung relativ kurzer Zeitspannen von Stunden bis mehreren Wochen vorgesetzt bekommen oder ob sie sich an solche Dinge erinnern, die sie im individuellen Leben mit persönlicher Relevanz besetzt haben1. Diesbezüglich zitiert Pohl (2007) Baddeley (1992) mit einer eigenen deutschen Übersetzung: ÄWir sollten unterscheiden … zwischen dem Selbst als Erfahrendem und dem Selbst als Gegenstand der Erfahrung“ (S.45). Es macht also einen Unterschied, ob davon erzählt wird ÄIch habe neulich in der Zeitung ein Bild von X gesehen“ oder ÄMir ist schon mal Y passiert“. Infolge dieser Betrachtung wird das autobiografische System (Abbildung 2) als Teilmenge des episodischen Gedächtnisses mit einer Schnittmenge selbstbezogener Inhalte des semantischen Gedächtnisses konzipiert (Pohl, 2007).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2. Klassifikationsansatz der Gedächtnissysteme (modifizierte Darstellung nach Van der Meer (2006b, S.347) bezogen auf das Modell von Squire (1992).

Dass bisher die Diskussion um den Untersuchungsgegenstand des autobio- grafischen Gedächtnisses zu keiner einheitlichen Konzeption führte, wurde in der Wissenschaftsgemeinschaft auch positiv gesehen. Sie führte zu einer Vielzahl an empirischen Arbeiten mit verschiedenen Forschungsschwerpunkten und zu einer Annäherung von grundlagenwissenschaftlichen und praxisrelevanten Themen (Kotre, 1995/1996; Markowitsch & Welzer, 2006; Pohl, 2007). Unter anderem fanden Themengebiete wie Veridikalität und Authentizität von Erinnerungen, die Einteilung von Erinnerungen in verschiedene Klassen, die Merkmale des Abruf- prozesses, die Art der Repräsentation und Organisation von Erinnerungen, sowie die Bedeutung und Funktion der Repräsentation der individuellen Vergangenheit im autobiografischen Gedächtnissystem Interesse (Hillebrandt, 2002).

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den strukturellen Besonderheiten des autobiografischen Wissensbestandes über die Lebensspanne in Verbindung mit der Beschreibung der Prozesse beim Abruf von Erinnerungen. Conway und Rubin schlugen 1993 vor, das autobiografische Gedächtnis anhand einer mikro- und makrostrukturellen Perspektive zu beschreiben und zu analysieren (Conway & Pleydell-Pearce, 2000). Die folgenden Abschnitte beziehen sich auf der Mikroebene einerseits auf die Charakterisierung des Wissensbestandes nach einem Modellvorschlag von Conway und Pleydell-Pearce (2000) und andererseits auf die spezifischen Merkmale autobiografischer Erinnerungen. Daraufhin wird deren Verteilungscharakter über die Lebensspanne als Besonderheit der Makrostruktur sowie die dazugehörigen Erhebungsmethoden vorgestellt.

1.2.1 Das System des autobiografischen Wissensbestandes

Kotre leitete 1996 sein Kapitel zum System des autobiografischen Gedächtnisses mit einer metaphorischen Beschreibung ein, die trotz unterdessen veralteter Speichermedien, eine umfassende Einführung zu hierarchischen Konzeptionen bietet:

Während der Strom der Erinnerungen durch unser Leben fließt, ereignet sich in ihm mancherlei, was den magnetisierten Eisenoxidpartikeln auf einem Tonband fremd wäre. Die Inhalte des Erinnerungsstroms organisieren sich selbst und bilden eine Art von hierarchischem System. Hinsichtlich seiner Präzision und Stabilität bleibt dieses System im Vergleich zu dem einer Computerdiskette sehr blaß. Trotz allem aber handelt es sich dabei um ein System, und an seiner Spitze steht ein Selbst - das Produkt dieser Hierarchie, der Schöpfer des Sinns, den sie einflößt. (S.108)

1992 stellte Conway sein hierarchisches Modell ÄThe autobiographical memory knowledge base” vor. Die Strukturebenen des Modells (Abbildung 3) gelten als empirisch belegt (Conway & Pleydell-Pearce, 2000). Sie verlaufen quer zur Darstellung des autobiografischen Gedächtnisses im Klassifikationsansatz der Gedächtnissysteme in Abbildung 2. Das Modell spezifiziert erstens drei Ebenen, um der Tatsache gerecht zu werden, dass es autobiografische Inhalte gibt, die sehr erlebensnah erinnert werden, daneben aber auch selbstbezogenes Wissen erinnerbar ist, das kategorischer und erlebensferner ist. Zweitens erklärt es die Prozesse, die im Moment des Erinnerns ablaufen, weil das behaltene Erinner- ungsmaterial keinem eins-zu-eins-Abdruck eines dazugehörigen Erlebnisses entspricht und somit keine kompletten Repräsentationen gespeichert sind (Conway & Rubin 1993). Und es bezieht sich drittens auf das Selbstkonzept, weil einerseits definitorisch der Bezug zum Selbst dem autobiografischen Gedächtnis immanent ist und andererseits autobiografische Erinnerungen der Entwicklung des Selbst zugrunde liegen (Pohl, 2007). Die Autoren stellten 2000 diese reziproke Interaktion als ÄSelf-Memory-System“ vor.

Die Ebenen des autobiografischen Wissensbestandes

Die drei Ebenen des autobiografischen Wissensbestandes ergeben sich durch die Spezifität des darin enthaltenen Wissens. Die Basis bildet detailliertes ereignisspezifisches Wissen. Dieses formiert sich auf der darüber liegenden Ebene zu generalisierten Ereignisbeschreibungen. Es umfasst dort viele Erlebnisse in einer Bandbreite von einzelnen Erinnerungen an spezielle Ereignisse bis hin zu zusammen gefassten Wiederholungen. Auf der obersten Ebene finden sich Lebensabschnitte mit dazugehörigen Themen. Abbildung 3 verdeutlicht auch die spezifischen Verbindungen. Die Beschreibungen lehnen sich an die konzep- tionellen Darstellungen der Autoren Conway und Pleydell-Pearce (2000) an.

Die oberste Ebene wird Lifetime Periods genannt und enthält ausgedehnte Zeitspannen mit Beginn und Ende. Hier handelt es sich um Wissen auf einer allgemeinen Ebene, Ädas in erster Linie thematisch strukturiertes autobiogra- fisches Wissen repräsentiert, welches mit spezifischen Lebens-abschnitten unterschiedlicher zeitlicher Ausdehnung korrespondiert“ (Hillebrandt, 2002, S.16). Mit den Lebensthemen sind Haltungen, Kenntnisse, Eigenschaften, selbst- bezogene Absichten und Ziele einer Periode verbunden. Die thematisch getrennten Abschnitte sind als zeitliche Abfolge verinnerlicht, dabei aber nicht scharf voneinander abgegrenzt. Aussagen wie: ÄAls ich in der Schule war…“ oder ÄAls ich mit Y zusammen lebte…“ lassen diese Ebene erkennen. Sie sind in der klaren Ordnung der Ebenen frei von einzelnen Episoden, die den verallgemeinernden Charakter untermauern (Kotre, 1995/1996).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3. Strukturmodell des autobiografischen Wissensbestandes (modifizierte Darstellung nach Conway und Pleydell-Pearce (2000, S.265).

Auf der mittleren Ebene, General Events, finden sich allgemeine Ereignisse in Form von Einzelereignissen wie ein Umzugstag in eine neue Wohnung, längere Ereignisse wie ein bestimmter Urlaub oder sich wiederholende Ereignisse wie ritualisiertes abendliches Vorlesen. Die Formulierung ÄIn der Regel“ weist auf eine allgemeine Erinnerung hin (Kotre, 1995/1996). Die allgemeinen Ereignisse sind kontextgebunden und enthalten distinktive Details. Das Wissen hier ist in seiner Zusammensetzung gleichzeitig spezifischer und heterogener als auf der oberen Ebene. Die Ereignisse umfassen einen mittleren Zeitrahmen von Stunden bis Monaten. Ihre Beziehung untereinander kann chronologisch, hierarchisch oder semantisch sein (Pohl, 2007). Hier sind auch Einzelereignisse unterschiedlicher Themenbereiche verbunden verortet. Die Erinnerungen an die Erstereignisse, wie Autofahren lernen oder die erste romantische Beziehung, erstrecken sich einerseits über einen längeren Zeitraum und gehen mit einer Zielerreichung einher. Andererseits enthalten Beide entsprechende Ersterlebnisse als Einzel- ereignis, wie das erste Mal alleine Autofahren und der erste Kuss. Die Wissensinhalte hier sind persönlich relevant. Sie entsprechen den Themen des Lebens, indem sie die Erlebnisse bereithalten, die diese repräsentieren.

Die unterste Ebene, Event-Specific Knowledge, beinhaltet ereignis- spezifisches Wissen und bezieht sich auf kurzfristige, detailreiche Erfahrungen mit einer Dauer von Sekunden, Minuten bis maximal Stunden. Die Form dieser Erinnerungen ist hauptsächlich sensorischer Art und hält Stimmungen, Gefühle, Gerüche, taktile Eindrücke und mentale bildhafte Vorstellungen bereit. Dieser Wissensbereich enthält die Details, die autobiografische Erinnerungen ausmachen. Sie vermitteln Äletztlich der Person, die sich erinnert, das Gefühl des ‚Sich-Erinnerns‘“ (Hillebrandt, 2002, S.17). Damit geht die Überzeugung einher, das Ereignis selbst erlebt zu haben (Pohl, 2007). Brewer (1988) fand den positiven Zusammenhang, dass je mehr Details eine Erinnerung untermauern, umso korrekter diese ist (Conway & Pleydell-Pearce, 2000). Das bedeutet aber auch, dass eine falsche Erinnerung durch empfundene detailreiche Ausstattung für wahr gehalten werden kann. Diese Überzeugung, etwas selbst erlebt zu haben, kennzeichnet Erinnern aus der Ersten-Person-Perspektive: ÄDas Erinnern ist ein Urteil mit Wahrheitsanspruch (‚so war es‘) und damit wahr oder falsch, was das Verständnis der Unterscheidung: ‚Für - wahr - halten‘ vs. ‚Wahr - sein‘ voraussetzt“ (Mack, 2008 bei Mack, 2011, S. 98).

Drei Modelleigenschaften

Das Modell beinhaltet Annahmen zu den Besonderheiten der Zeit, des Abrufs von Erinnerungen sowie zu Verbindungen zum Selbstsystem. Zeit als chronologische Reihenfolge ist ein Ordnungsmerkmal des autobiografischen Gedächtnisses (Kotre, 1995/1996; Pohl, 2007; Pöppel, 2006). Das Modell enthält einerseits Aussagen zu den unterschiedlichen Zeitspannen, indem es die Erlebenszeiträume auf den Ebenen spezifiziert. Andererseits bezieht es die chronologische Zeit als Strukturmerkmal vor allem auf der oberen Ebene ein. Da scheint sie geeignet, Erlebnisse im Verlauf zu ordnen. Die Reihenfolge von Wohnorten, Beziehungen, Bildungsstationen wird leicht erinnert und als geordnet erlebt oder auch für andere Zuordnungen von Erlebnissen genutzt. Wie das Bild der unteren Ebene in Abbildung 3 verdeutlicht, sind die einzelnen Erlebnisse hier nicht mit einem genauen und eindeutigen Zeitpunkt im Gedächtnis organisiert. Der zeitliche Kontext wird anhand von Bezugspunkten wie Themen oder Bereichen rekonstruiert (Kotre, 1995/1996). Erinnerungen sind eher als Vergegenwärtigung der Vergangenheit zu verstehen. Vor dem Hintergrund des Rekonstruktions- charakters verändert sich jede Erinnerung aufgrund von Wiederholungen und der aktuellen Befindlichkeit und Bewertung. Kotre (1995/1996) beschreibt diesen Zeitaspekt so: ÄErinnerungen, die ihre Bedeutung nur in der Vergangenheit haben, sind tot. Um zu leben, müssen sie von einer Vergangenheit handeln, die in die Gegenwart führt“ (S.241).

Das berührt die nächste Modelleigenschaft, den Abruf autobiografischer Erinnerungen. ÄWas als autobiographische Erinnerung erlebt wird, wird aus den Informationen über Lebensperioden, allgemeine Ereignisse und spezifische Episoden konstruiert“ (Schacter, 1996/2001, S.155). Kotre (1995/1996) analy- sierte die Transkriptionen von erzählten Erinnerungen und stellte fest, dass während des Erzählens von der einen auf die andere Ebene der Gedächtnis- hierarchie gewechselt wird. Wenn auch individuell in der Ausprägung verschieden, sind in allen Erzählungen die drei Ebenen für Besonderes, Allgemeines und generell Thematisches enthalten. Das Besondere an dem Modell von Conway und Pleydell-Pearce (2000) ist die Erklärung, dass auf der untersten Ebene die spezifischen Einzelheiten in Form einer undifferenzierten Ansammlung bereit- stehen. Das ereignisspezifische Wissen an sich ist flüchtig, wenn es sich nicht in die Strukturebene der allgemeinen Ereignisse einbindet. Durch wiederholte Erinnerungen verstärkt sich aber dessen Verbindung. Das wird als eine Ursache dafür gesehen, dass einige Erinnerungen mehr Verbindungen zum ereignisspezifischen Wissen bewahren als andere. Abbildung 3 veranschaulicht diesen Pool. Die kleinen Rechtecke zeigen ereignisspezifisches Wissen, das von der mittleren Ebene als zusammengehörige Bereiche (weiße Kreise) aktiviert und im Laufe des Erinnerungsprozesses gehalten wird. Pohl (2007) beschreibt die Abrufwege nach Conway (1996b) als zyklisch oder direkt. Der zyklische Abrufweg skizziert ein Erinnerungsvorhaben. Die Suche startet auf der obersten Ebene, um einen passenden Lebensabschnitt zu finden. Dazu werden dann auf der Ebene der allgemeinen Ereignisse entsprechende Erlebnisse gesucht und dann die dazugehörigen ereignisspezifischen Details aktiviert. Der direkte Weg beschreibt den Fall, dass ein Hinweisreiz direkt zu Szenen führt, die sich aus Details des ereignisspezifischen Wissens speisen.

Die dritte Eigenschaft des Modells ist der Selbstbezug. Die Frage, durch was sich Erinnerungen in dieser Hierarchie organisieren, wird damit beantwortet. Das diesen Abschnitt einführende Zitat von Kotre verwies bereits auf das Selbst als Produkt dieser Hierarchie. Er schreibt dem Gedächtnis die Aufgabe zu, das Selbst mit Sinn zu versorgen. Aber das Selbst sieht er auch als die Instanz, die Erinnerungen Bedeutung zuweist und somit denen Eingang ins überdauernde Behalten ermöglicht. Auf der höchsten Ebene wird am meisten interpretiert und das Selbstbild findet dort seinen Ausdruck (Kotre, 1995/1996). Beispielsweise könnte die Aussage zu einem Wohnungswechsel hier lauten: ÄIn der Regel habe ich meine Umzüge recht gut organisiert“. Solche expliziten Selbstbeschreibungen schreiben Conway und Pleydell-Pearce (2000) einem Arbeitsselbst (working self) zu, das auf Erfahrungen beruht. Es beinhaltet alle zu einem aktuellen Zeitpunkt bewussten Teilaspekte des Selbst, die situationsspezifisch angesprochen sind. Das Selbst als System mit allem selbstbezogenen Wissen, wird als zu unflexibel gesehen, um auf die sich ständig wandelnden Anforderungen im Alltag effektiv reagieren zu können. Das Arbeitsselbst stellt also die temporär aktive Teilmenge des Selbst dar. Es wird in diesem Konzept als Kontrollstruktur verstanden, die ähnlich der zentralen Exekutive im Arbeitsgedächtnis von Baddeley (1986) darüber wacht, wann welche Erinnerungen wie abgerufen und konstruiert werden (Conway & Pleydell-Pearce, 2000). Andersherum bestimmen die Inhalte des gesamten autobiografischen Wissenssystems den Umfang der Ziele. Dieses reziproke Verhältnis zwischen aktuellen Zielen des Selbst und den abgerufenen Inhalten des autobiografischen Gedächtnisses wird von den Autoren als ÄSelf- Memory System“ beschrieben. Es konzipiert das Arbeitsselbst und den autobiografischen Wissensbestand als konvergente Teile.

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1 Das schließt aber nicht aus, dass für Teilnehmer einer Untersuchung im Labor das Erleben autobiografisch wichtig werden kann.

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Title
Autobiografisches Erinnern von Bildern der persönlichen Lebensumgebung
Subtitle
Eine Interviewstudie zur Verteilung objektgebundener autobiografischer Erinnerungen über die Lebensspanne bei Erwachsenen
College
University of Hagen  (Institut für Psychologie Lehrgebiet Allgemeine und Pädagogische Psychologie)
Grade
1.3
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2013
Pages
74
Catalog Number
V341670
ISBN (eBook)
9783668314313
ISBN (Book)
9783668314320
File size
1828 KB
Language
German
Keywords
Autobiografisches Gedächtnis, autobiografisches Erinnern über die Lebensspanne, bump
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Kristin Stubenrauch (Author), 2013, Autobiografisches Erinnern von Bildern der persönlichen Lebensumgebung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/341670

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Title: Autobiografisches Erinnern von Bildern der persönlichen Lebensumgebung



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