Der suizidale Patient als Herausforderung für den Arzt

Eine kritische Reflexion im Lichte der existentialistischen Philosophien von Karl Jaspers, Albert Camus und Jean Améry


Masterarbeit, 2015

70 Seiten, Note: 6.0 (Höchstnote CH)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG

2 DIE HERAUSFORDERUNG FÜR DEN ARZT

3 SELBSTMORD, FREITOD, SUIZID UND SELBSTTÖTUNG
3.1 Eine Begriffsklärung

4 DER SUIZID IN DER PHILOSOPHIEGESCHICHTE: Auswahl
4.1 ANTIKE: Platon, Aristoteles, Seneca (Stoa)
4.2 MITTELALTER: Augustinus, Thomas von Aquin
4.3 AUFKLÄRUNG: Hume, Kant
4.4 19. JAHRHUNDERT: Schopenhauer, Nietzsche

5 DER EXISTENTIALISMUS UND DER TOD ALS ABBRUCH DER EXISTENZ
5.1 KARL JASPERS UND DER SUIZID: Philosophie II. Existenzerhellung
5.2 ALBERT CAMUS UND DER SUIZID: Der Mythos von Sisyphos
5.3 JEAN AMÉRY UND DER SUIZID: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod.

6 REFLEXION DER DREI EXISTENTIALISTISCHEN POSITIONEN

7 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK AUF DIE ÄRZTLICHE PRAXIS

8 LITERATURVERZEICHNIS

1 EINLEITUNG

Die Bedeutung und anhaltende Aktualität des komplexen Phänomens Suizid sowie seine gesellschaftliche Relevanz geht aus unzähligen statistischen Untersuchungen hervor. Wie eine kurze Darstellung der Betrachtungsweise und Problematik des Suizids in der Philosophiegeschichte belegen wird, kann man beim Phänomen Suizid kulturgeschichtlich durchaus von einer anthropologischen Konstante sprechen.

Statistisch betrachtet nehmen sich in der Schweiz jährlich etwa 1‘000 Männer und 350 Frauen das Leben, 10 % davon sind assistierte Suizide. Vorsichtig geschätzt, versuchen sich pro Jahr mehr als 20‘000 Menschen zu töten (vgl. Eichhorn 2006:142). Laut neusten Zahlen des Bundesamtes für Statistik der Schweiz von 2009 (Schweiz. Eidg. 2012) enthalten die Todesursachenmeldungen beim Suizid in 53% der Fälle keine Angaben zu den Begleitkrankheiten. Wenn eine Angabe vorliegt, weisen 56% der Nennungen auf eine Depression hin. Bei den übrigen 44% wird eine körperliche Krankheit genannt. Bei Fällen mit assistiertem Suizid findet sich bezüglich körperlicher Krankheiten ein ähnliches Spektrum wie beim nicht assistierten Suizid. Seit 2003 ist die Anzahl der Suizide in der Schweiz etwa konstant, während die Fälle von Sterbehilfe kontinuierlich zunehmen. 2009 ist ein Fall von Sterbehilfe auf vier Fälle von Suizid zu beobachten. Soviel zu den wichtigsten statistischen Daten, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll.

Mein Interesse an der Thematik des Suizides wurzelt in meiner Profession als Mediziner, die mich in meiner nun fast 35 jährigen Praxiserfahrung wiederholt mit dem Phänomen konfrontiert hat. Besonders während meiner über 20 jährigen Tätigkeit als Amtsarzt der Stadt Luzern, die auch die Durchführung von amtlichen Leichenschauen beinhaltete bin ich in drei bis vier Dutzend Fällen Leichen von Menschen begegnet, die ihr Leben durch einen Suizid beendeten. Unter diesen waren mehrere mit der Beihilfe einer der bekannten Sterbehilfeorganisationen (Exit, Dignitas) durchführt worden. Auch wenn ein Abschiedsbrief vorlag, der technische Vollzug des Suizides abgeklärt, ergänzende Hintergrundinformationen bei Partnern, Verwandten und Hausarzt eingeholt und die Leiche von der Staatsanwaltschaft zur Bestattung freigegeben war, blieb die Frage nach dem eigentlichen Motiv des Suizides oft im Dunkeln verborgen. Bei vielen Suizidfällen lag keine terminale, ein Weiterleben auf unzumutbare Weise einschränkende organische Erkrankung, wie ein fortgeschrittenes Tumorleiden oder eine langjährige psychiatrische Erkrankung, z.B. eine Psychose, vor. Nicht selten handelte es sich um sozial und beruflich engagierte, mitten im Leben stehende Menschen, was die Frage nach dem wirklichen Motiv noch bohrender machte.

Was kann einen Menschen soweit bringen sich umzubringen, was drängt ihn sein Leben vorzeitig und oft mit brutaler Gewalt zu beenden? Diese Fragen stossen an die Grenzen der an einer Krankheitsthese bzw. Krankheitsursache interessierten Wissenschaften. Auf der Suche nach umfassenderen Antworten drängen sie weit über diese hinaus.

Die empirischen Wissenschaften, die Medizin, insbesondere die Psychiatrie, Psychologie und Soziologie, trieben in den letzten hundert Jahren die wissenschaftliche Erforschung des Suizids stark voran und haben ein eigenes Forschungsfeld, die Suizidologie, erschaffen. Der Suizid ist damit längst bei den Wissenschaften angekommen und als ein wissenschaftliches Problem unbestritten. Wie Wittwer schreibt (vgl. Wittwer 2003:17), beherrschen diese Fachwissenschaften den gesellschaftlichen Diskurs um den Suizid und prägen damit ihre Meinungen über ihn. Auf ihren Erkenntnissen aufbauend, konnte sich auch eine fundierte Suizidprävention bzw. eine Postintervention entwickeln. Dank statistischen Untersuchungen haben wir viel über den Suizid gelernt, z. B. dass Arbeitslose und Unverheiratete im Vergleich mit Menschen mit einer Arbeit und/oder Verheirateten, sich häufiger umbringen. Auch die psychologische - psychiatrische Forschung konnte einen Zusammenhang zwischen Suizid, Depressionen und Psychosen finden, woraus sich im Einzelfall für die ärztliche Praxis Konsequenzen ergeben. Bei einer Metaanalyse empirischer Studien kommt Gores (vgl. Wittwer 2003:19) zum Schluss, dass der Anteil psychisch Kranker Suizidenten zwischen 6% und 90% schwankte, was auch von anderen Autoren bestätigt wird. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Studien, die lediglich auf Praxis- und Klinikakten aufbauen, nicht repräsentativ für alle Suizidenten sein können. Dass der Suizid als vielschichtiges Phänomen von den empirischen Wissenschaften nicht umfassend erforscht und nicht befriedigend verstanden werden kann, geht aus dem ihnen inhärenten Mangel hervor, geht ihnen doch das genuin Humane und Subjektive, die eigentliche Dimension der Condition humaine abhanden, ohne die man dem Menschen kaum in einer umfassenden Weise gerecht wird.

Auch nach 3000 Jahren Kulturgeschichte haftet dem Suizid, der Möglichkeit des Menschen sich selbst zu töten, etwas Ominöses, Fragwürdiges und Zweifelhaftes an. Der Suizid ist auch im 21. Jahrhundert weitgehend ein Tabu, wenn auch die aktuelle, in den Medien teilweise sehr heftig geführte Kontroverse um ein selbstbestimmtes Lebensende, ihn ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gezerrt hat. Dass Menschen den Tod, das Ende ihres Lebens mit eigener Hand in allen Epochen gesucht und gefunden haben, mit welchen Motivationen auch immer, bezeugt und belegt eingehend unsere westliche Sittengeschichte. Der Diskurs um die komplexe Problematik des Suizids reicht weit zurück bis in die Antike und setzt sich fort, bis in die unmittelbare Gegenwart.

Für das Individuum ist mit dem Thema Suizid untrennbar das Thema Leben, mit all seinen weit reichenden Implikationen verschränkt. Bekanntlich ist der Mensch das einzige Tier, das sein Leben bewusst beenden kann. Mit diesem Schritt, warum auch immer, fällt er einen moralischen Entscheid, mag dieser in seiner komplexen Konsequenz noch so umstritten sein.

Damit sind wir schliesslich bei der Philosophie angelangt. Man kann sich nun fragen, inwieweit die Philosophie zur Frage des Suizides einen eigenständigen Beitrag leisten kann. Dass diese Antwort völlig anders ausfallen muss als bei einem empirischen Forschungsansatz, erscheint nur konsequent. „In statistischer Hinsicht wissen wir heute alles über den Selbstmord, aber was das Grundproblem angeht, ist man heute kaum weitergekommen und wird auch nicht weiterkommen, solange stillschweigend die Gewissheit herrscht, dass das Leben um jeden Preis besser ist als der Tod.“ (Minois 1996:472). Für eine explizit philosophische Fragestellung ist es also schlussendlich unerheblich, warum sich ein Mensch umbringt, z.B. aus Liebeskummer oder weil er unheilbar krank ist, sondern es geht in der Philosophie um die vernünftigen und moralischen Gründe, die für oder gegen den Suizid sprechen.

Das primäre Ziel meiner Arbeit ist es den Suizid aus einer philosophisch spezifisch existentialistischen Perspektive zu reflektieren. Vorerst (2.) und auf die Thematik einleitend geht es mir um die Profession des Arztes, um seinen gesellschaftlichen Auftrag, seine Position gegenüber seinen Patienten, um seine Pflichten und Unterlassungen. Zudem soll der Ermessensspielraum, der dem Arzt im Zusammenhang mit suizidalen Patienten von der Gesetzeslage in der Schweiz vorgegeben ist, thematisiert werden.

Das Töten der eigenen Person spiegelt sich in einer sehr unterschiedlichen, in der Literatur nicht konsequent gehandhabten Terminologie wieder, so dass eine Klärung der Begriffe Selbstmord, Freitod, Suizid und Selbsttötung vorgenommen werden soll (3.). Ein kurzer Überblick der Geschichte des Suizides in der Philosophie (4.) geschieht in der Absicht, wichtige Positionen bedeutender Philosophen zu skizzieren, dies als Vorbereitung auf die Auseinandersetzung mit der existentialistischen Philosophie (5.) dreier bedeutender moderner Philosophen (5.1 Karl Jaspers, 5.2 Alfred Camus, 5.3 Jean Améry). Es soll versucht werden, ihre auf den Suizid fokussierte begrifflich spezifische existentialistische Perspektive zu beleuchten, speziell ihre Begründungen für und wider den Suizid herauszuarbeiten (6.). Schlussendlich und zusammenfassend, soweit in der Philosophie möglich und zulässig, sollen die drei Philosophien auf ihre potentielle Bedeutung für die ärztliche Praxis untersucht und ein möglicher therapeutischer Nutzen ihrer Erkenntnisse diskutiert werden (7).

2 DIE HERAUSFORDERUNG FÜR DEN ARZT

Wird der Arzt mit einem suizidalen Patienten konfrontiert, so besteht für ihn die grosse Herausforderung darin, dass er in einem Spannungsfeld sich widersprechender Interessen zu einer Entscheidungsfindung bzw. therapeutischen Handlung durchringen muss. Zudem steht er mit seiner Entscheidung unter zeitlichem Druck, was den Entscheidungsprozess zusätzlich erschweren kann. Der Interessenskonflikt ergibt sich aber primär aus dem Wunsch des Patienten, der gemeinhin mit den gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Konventionen, den gegebenen Gesetzen, dem gesellschaftlichen Auftrag des Arztes und dessen Gewissen in Kollision geraten kann. Mit anderen Worten, in der Begegnung mit einem suizidalen Patienten wird der Arzt zu einer heiklen Güterabwägung herausgefordert, der er nach bestem Wissen und Gewissen nachzukommen verpflichtet ist. Einerseits steht er mit seinem Patienten in einem unbestrittenen Rechtsverhältnis, in dessen Ermessenspielraum er seinen therapeutischen Auftrag wahrnehmen muss, anderseits käme er aber seinem ärztlichen Auftrag nicht gebührend nach, würde er den Suizidwunsch seines Patienten grundsätzlich missachten. Auch ist die mögliche gegebene Situation grundverschieden, ist der Arzt mit einem akut Suizid gefährdeten Patienten konfrontiert, den er auch gegen seinen Willen, dies im Sinne eines fürsorglichen Freiheitsentzuges notfallmässig hospitalisieren wird, von der Situation eines wie auch immer chronisch kranken Patienten, der mit dem Wunsch nach einem begleiteten Suizid an ihn herantritt. Die letzte Situation bewahrt für den Arzt das ungleich grössere Konfliktpotential, fordert sie in ihrer irreversiblen Konsequenz ein differenziertes und diffiziles Abwägen aller angesprochenen Aspekte, was für ihn in einem Dilemma münden kann. Unter Ausschluss selbstsüchtiger Beweggründe lässt das Gesetz (vgl. Art.115, Schweiz. Strafgesetzbuch) die Beihilfe zum Suizid bei einem mündigen Patienten grundsätzlich straflos zu, kann aber den Arzt anderseits nicht davor entlasten, die dem Suizidwunsch zugrunde liegenden Krankheiten nach den Möglichkeiten seiner Kunst zu behandeln. Falls der Arzt jede Beihilfe zum Suizid nicht grundsätzlich ablehnt, was ihm als freier Gewissensentscheid immer zusteht, gerät er so nicht selten in einen schwer lösbaren Konflikt, ist doch die Beihilfe zum Suizid traditionell nicht eine primär ärztliche Aufgabe, andererseits ist die Achtung des autonomen Patientenwillens konstituierender Bestandteil der Arzt-Patient-Beziehung. Eine Hilfe für den Arzt bilden hier die berufsethischen Richtlinien der Schweiz. Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW 2005), die sich eines grundsätzlichen moralischen Urteils gegenüber der ärztlichen Beihilfe zum Suizid enthalten und explizit hervorheben, dass sie die zugunsten einer Beihilfe zum Suizid getroffenen Gewissensentscheide des Arztes anerkennt und respektiert.

3 SELBSTMORD, FREITOD, SUIZID UND SELBSTTÖTUNG

3.1 Eine Begriffsklärung

Im ganzen Tierreich ist der Mensch das einzige bekannte Lebewesen, das kraft seiner Reflexionsfähigkeit sich seiner begrenzten Lebensdauer bewusst ist und um die Möglichkeit weiss, sich selbst das Leben zu nehmen. In der philosophischen Debatte (vgl. Wittwer 2003:27) werden unterschiedliche Begriffe verwendet, um die Handlungen zu bezeichnen, durch die Menschen sich töten. Es stellt sich nun die Frage, wie dieses sich selbst töten begrifflich korrekt ausgedrückt werden kann. Meist unbedacht werden in der Alltagssprache verschiedene Begriffe für den selbst herbeigeführten Tod verwendet, die zudem häufig synonym verwendet werden. So spricht man im Deutschen von Selbstmord, Freitod, Selbsttötung, oder man braucht das Fremdwort Suizid. Die folgende Begriffsklärung wird zeigen, dass es von Bedeutung ist, für welchen Begriff man sich entscheidet. Die genannten Begriffe sind keine strengen Synonyma, weisen sie doch verschiedene Denotationen und Konnotationen auf, die im Gebrauch eines Begriffes eine bestimmte Sichtweise auf die Problematik dieser Todesart implizieren.

So unterstellt der Begriff Selbstmord, dass jemand, der sich das Leben genommen hat, ein Verbrechen begangen hat. Dies trifft jedoch weder im alltagssprachlichen, noch im rechtlichen Wortgebrauch zu. Im Schweizerischen Strafgesetzbuch (StGB) wird das Delikt Mord nicht direkt definiert. Es werden jedoch in Art. 111,112 und 113 des StGB die Tatbestände genannt, die bei diesem Delikt erfüllt sein müssen, nämlich jenen der Skrupellosigkeit und der Verwerflichkeit des Beweggrundes, im Zweck der Tat oder in der Art der Ausführung. Es stellt sich nun die Frage, die hier nicht weiter erörtert werden kann, wie ein Individuum diese Tatbestände gegen sich selber anwenden kann. Gemeinhin kann man sagen, dass der Begriff Mord etwas moralisch Abwertendes und auch Widersinniges beinhaltet (vgl. Wittwer 2009:85). Unter einem Mord versteht man gemeinhin eine heimtückische Tötung eines Menschen gegen seinen Willen. Daraus geht hervor, dass niemand sich selbst ermorden kann, weil sich niemand zu sich selber heimtückisch verhalten kann und weil jemand, der sich töten will, auch sterben will.

Dem Begriff Freitod haftet etwas Beschönigendes und Irreführendes an, impliziert er doch, dass jemand die Selbsttötung selbstbestimmt, also selbstbewusst und aus freien Stücken begangen habe. Es stellt sich jedoch hier die Frage, wie frei der betroffene Mensch bei der Entscheidung gehandelt hat. Jede Selbsttötung bedeutet einen Entschluss, nämlich der, sein Leben zu beenden. Dieser Entschluss ist das Resultat eines verborgenen Entscheidungsprozesses, aus dem der Suizid hervorgeht. Inwieweit der Suizid eine freie Entscheidung, oder vielmehr Ausdruck von Not darstellt, bleibt somit fraglich. Von den empirischen Wissenschaften ist es bekannt, dass Selbsttötungshandlungen im Affekt oder unter starkem psychischem Druck begangen werden können. Dies lässt eine Freiheitsunterstellung, wie sie der Begriff Freitod suggeriert, zweifelhaft erscheinen und mag wohl auf einige Fälle zutreffen. Anders verhält es sich mit dem Begriff Selbsttötung. Moralisch wertneutral, kann er sowohl für freie als auch unter Zwang ausgeführte Handlungen verwendet werden.

Ein weiterer in der Wissenschaft gebräuchlicher Begriff ist der des Suizides. Dieser wurzelt sprachlich im lateinischen sui caedere, was mit sich selbst töten übersetzt werden kann. Dieser lateinische Begriff wird nicht nur mit ‚Selbsttötung‘, sondern auch mit ‚Selbstmord‘ in die deutsche Sprache übersetzt (An. d. Verf.: umstrittene Übersetzung des französischen suicide mit Selbstmord in der hier verwendeten Übersetzung des Le mythe de Sisyphe). Durch seinen fremdsprachlichen Verfremdungseffekt schafft der Begriff Suizid alltagssprachlich einen gewissen Abstand und wirkt im Vergleich zu den Begriffen Selbstmord und Freitod sachlich und wertfrei. Wittwer weist zudem auf die Etymologie des Wortes Suizid hin, welche für eine Übersetzung mit dem Wort Selbsttötung spricht (vgl. Wittwer 2003: 28-29). Es wurde erst im 17. Jahrhundert gebildet, dies in Anlehnung an ‚homicidium‘. Philologisch gab es weder im Altgriechischen noch im klassischen Latein ein vergleichbares Kompositum. Abgeleitet ist das Wort vom lateinischen Verb caedere bzw. occidere, das neutral als ‚töten‘ zu übersetzen ist. Der pejorativen deutschen Vokabel ‚morden‘ entspricht eher die lateinische Vokabel ‚necare ‘.

4 DER SUIZID IN DER PHILOSOPHIEGESCHICHTE: Auswahl

4.1 ANTIKE: Platon, Aristoteles, Seneca (Stoa)

Während der ganzen Philosophiegeschichte, von der Antike und bis zum heutigen Tag, wurde das Thema Selbsttötung immer wieder aufgegriffen und kontrovers diskutiert. Seit ihren Anfängen stand und steht im Mittelpunkt des philosophischen Diskurses um die Selbsttötung die Frage, ob es moralisch erlaubt ist, das eigene Leben durch einen Suizid zu beenden.

In der Antike bestritten einige Philosophen bzw. Schulen ein Recht auf Selbsttötung (Pythagoreer, Platon, Aristoteles), andere wiederum verteidigten es (Epikureer, Stoiker, Kyniker) und sie zögerten auch nicht, ihre Theorien in die Tat umzusetzen. So ist es überliefert, dass sich beispielweise die Stoiker Zenon, Kleanthes und Seneca das Leben genommen haben (vgl. Wittwer 2003:299-301).
Platons ( 428- 348 v.Ch.) Verwerfung der Selbsttötung wurzelt in einem religiösen, vorchristlichen Suizidverbot und beruft sich auf die Götterwelt der Antike, die über Leben und Tod herrschen. Diese Argumentation sticht in Platons Dialog Phaidon (Platon 2004:731-811) hervor, der bekanntlich die letzten Tage Sokrates schildert. Der im Gefängnis sitzende Sokrates beantwortet zu Beginn des Dialoges mit seinen Freunden die Frage des abwesenden Euenos, warum er im Gefängnis begonnen habe Gedichte zu schreiben. Im Anschluss lässt er Euenos durch Kebes ausrichten: “Dieses also, o Kebes, sage dem Euneos, und er solle wohlleben und, wenn er klug wäre, mir nachzukommen. Ich gehe aber, wie ihr seht, heute, denn die Athener befehlen es“ (Platon 2004:735). An dieser Stelle thematisiert Sokrates die Frage des Suizids und könnte nach Wittwer (vgl.Wittwer 2003:313) dahin missverstanden werden, dass sein Freund Euenos, die Philosophen allgemein, sich töten sollten. Dann schränkt Sokrates ein: „Und solange wir leben, werden wir, wie sich zeigt, nur dann dem Erkennen am nächsten sein, wenn wir so viel wie möglich nichts mit dem Leibe zu schaffen noch gemein haben, was nicht höchst nötig ist, und wenn wir mit seiner Natur uns nicht anfüllen, sondern uns von ihm rein halten, bis der Gott uns selbst befreit“ (Platon 2004:743). Sokrates meint also eine nur metaphorische Ablösung des Geistes vom Körper, es sei denn ein Wille des Gottes, wie ihm eben geschieht. Er weist hier darauf hin, dass der Philosoph, der reinen Erkenntnis wegen, gewissermassen den Einfluss des Körpers auf den Geist minimieren soll und meint nicht eine Aufforderung zur Selbsttötung, was er mit Nachdruck verneint: “Nur Gewalt wird er (der Philosoph - F.S) sich doch nicht selbst antun; denn dies, sagen sie (die Pythagoreer – F.S), sei nicht recht“ (Platon:736). Mit zwei weiteren Bildern zeigt Sokrates, dass der Mensch nicht selbst über sein Leben verfügt und als Sklave dem Willen der Götter zu gehorchen hat. Er nennt ihn dunkel als in einer Festung eingeschlossen, aus der sich zu entfernen ihm nicht erlaubt ist: „Denn was darüber in den Geheimlehren gesagt wird, dass wir Menschen in einer Feste sind und man sich aus dieser nicht selbst losmachen und davongehen dürfe…dass die Götter unsere Hüter und wir Menschen eine von den Herden der Götter sind“ (Platon 2004:737). Indirekt, in Form einer Frage an Kebes, verweist Sokrates auf ein explizites Suizidverbot: „Aus diese Weise nun wäre es also wohl nicht unvernünftig, dass man nicht eher sich selbst töten dürfe, bis der Gott irgend eine Notwenigkeit dazu verfügt hat, wie die uns gewordene“ (Platon 2004:737). Es gibt nur eine Ausnahme für das Suizidverbot. Als Gefangener, als Eigentum der Götter ist es den Menschen nur mit ihrer Erlaubnis erlaubt und gegönnt, sich umzubringen. Allein die Götter haben das Recht, über Leben und Tod der Menschen zu verfügen. Ein Suizid als Ausdruck einer freien Entscheidung wird von Platon als Vergehen gegen die Götter, als unmoralisch verworfen. In seinem Spätwerk über die Gesetzte, den Nomoi, nimmt Platon im Vergleich zu Phaidon weiter differenzierende Positionen ein. Ohne auf das Werk weiter einzugehen, sollen hier lediglich einige der Deutungsperspektiven erwähnt werden (vgl. Decher 1999:16). So schreibt er, dass der Suizident sich gewaltsam seinem über ihn verhängten Todestag entziehe, dies ohne Beglaubigung durch einen Rechtsspruch der Polis, oder er suizidiere sich, ohne dass ein unentfliehbares Schicksal vorliege, aus Feigheit, oder um sich einer gerechten Strafe zu entziehen. Obwohl sie Sokrates Suizid akzeptiert, ist Platos Philosophie diesbezüglich sehr reserviert, wenn auch beispielweise unerträgliche Entwürdigungen, oder massive Schmerzen, ihn als Notlösung akzeptiert.

Deutlicher noch als bei Platon, fällt das abschlägige Urteil bei seinem Schüler Aristoteles (384-322 v.Ch.) aus. Seine Nikomachische Ethik stellt die Verantwortung, die das einzelne Glied für das Ganze der Polis trägt, ins Zentrum seiner Argumentation gegen die Selbsttötung (vgl. Bormuth 2008:25-26). Während bei Platon für die Beurteilung des Problems des Suizids die schicksalshafte Stellung des Menschen gegenüber den Göttern konstitutiv ist, spielt bei Aristoteles das Mythisch-Religiöse keine Rolle. Aristoteles argumentiert in seinem ethischen Hauptwerk jenseits jeder transzendenten Spekulation und ist ganz in der Immanenz des Gesetzes verankert. Mit seiner legalistischen Position wird er in der Geschichte der Philosophie zum Begründer der sozialethischen Argumentation gegen die Toleranz der Selbsttötung (vgl. Wittwer 2003:342). Wenn auch indirekt, verbietet das Gesetz die Selbsttötung, da sie ein Unrecht gegenüber der Polis und ihren Interessen sei. Der Suizidant begeht gegenüber sich selbst kein Unrecht, da er die Tat freiwillig auf sich nehme, diese sich gegen seine Person und nicht gegen andere Personen richte und nur er die Folgen zu tragen habe. Als Übergeordnete Instanz, die das Gedeihen des einzelnen Menschen von Geburt an fördert, erwarte die Gesellschaft, dass der einmal mündige Mensch seine Kräfte würdig für ihr Fortbestehen zur Verfügung stelle. Aristoteles rückt den Suizidanten in die Nähe des Kriminellen, der mit gutem Grund nach seiner asozialen Tat die Gesellschaft verlässt: „Wer aber viel Schlimmes getan hat, wird wegen seiner Schlechtigkeit gehasst, meidet das Leben und tötet sich selbst“, zitiert Bormuth eine Passage aus der Nikomachischen Ethik (vgl. Bormuth 2008:26). Die Frage nach der Erlaubtheit der Selbsttötung rein rechtsphilosophisch, im Sinne des positiven Rechts behandelnd, darf man annehmen, dass bei Aristoteles rechtliche und moralische Gesichtspunkte weitgehend zusammenfallen (vgl. Wittwer 2003:343). In seiner Position rückt Aristoteles in seiner Stellungnahme zur Selbsttötung in die Nähe von Platon, kennt jedoch im Gegensatz zu ihm keine Ausnahmesituation, womit er praktisch für eine uneingeschränkte Verwerfung des Suizids steht.

Als dritten und letzten Philosophen der Antike einige Anmerkungen zu Seneca (ca.1-65 n.Ch), einem prominenten Vertreter der philosophischen Schule der Stoa (ca. 3.Jh. v.Chr. – 2.Jh. n.Ch.) aus der römischen Kaiserzeit, der sein Leben, wie viele Stoiker, bekanntlich mit einem Suizid beendete. Von bleibender Bedeutung der Stoa, der den eigentlichen Kern ihrer Gesamtlehre bildet, ist ihre Ethik (vgl. Kranz 1955:295). Im Gegensatz zu Aristoteles und seiner formaljuristisch begründeten Ablehnung des Suizids, wird bei der Stoa der Machtanspruch der Polis und der Gemeinschaft auf das einzelne Individuum sehr stark eingeschränkt. Zudem ist die Philosophie der Stoa, als eine Philosophie des richtigen Lebens, stark auf den praktischen Lebensvollzug ausgerichtet, wozu auch die Frage nach einem angemessenen Lebensausgang zu ihren Grundfragen zählt (vgl. Ritter:494). Das freiheitliche Denken dieser Philosophieschule spiegelt sich auch in ihrer Einstellung gegenüber dem Suizid, also in einer Praxis, die dem Menschen die Freiheit einräumt, sein Leben aus eigenem Entschluss und durch seine eigene Hand zu beendigen. Zur Begründung dieser Haltung sei erwähnt, dass die Stoa eine Güterlehre vertrat: “Vom Seienden sind das eine Güter, das andere Übel, das dritte gleichgültige Dinge (vgl. Kranz 1955:297). Auf dieser Wertetafel nimmt die denkende Vernunft den ersten Platz ein, alles Lasterhafte und Ungerechte wird den Übeln zugezählt. Als gleichgültige Dinge werden u.a. auch Gesundheit und Krankheit, aber auch das Leben und der Tod angesehen. Als praktische Konsequenz dieser Ethik geht ihre tolerante Haltung dem Suizid gegenüber indirekt hervor, werden doch Leben und Tod im Kern als unwichtig gewertet.

4.2 MITTELALTER: Augustinus, Thomas von Aquin

Die wichtigsten religiösen Argumente gegen den Suizid gehen auf die christliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Suizid zurück. Augustinus von Hippo (354 – 430 n.Ch.), Kirchengelehrter und Philosoph der Spätantike, nahm im ersten Buch seines Hauptwerks Vom Gottesstaat Stellung zum Suizid (vgl. Stoecker 2006: 4-23). Er nahm die Vorbehalte gegen den Suizid der Antike auf und nutze sie für die Bedürfnisse der erstarkenden Kirche, die sich nicht auf ein ausdrückliches biblisches Verbot des Suizids berufen konnte. Zudem war in der Urkirche der Gedanken das eigene Leben hinzugeben nicht unvertraut, hatten doch Jesus und nach ihm viele Märtyrer, ihr Leben für die Menschheit bzw. für das Christentum und damit ihren Glauben, geopfert. Sich mit der Frage beschäftigend, ob es für Christen unter bestimmten Umständen, z.B. bei drohender Gefangennahme oder Vergewaltigung, erlaubt sei sich das Leben zu nehmen, verneint Augustinus diese Frage ausdrücklich. Sich auf die Mosaischen Zehn Gebote berufend argumentiert er, dass bei der Selbsttötung schliesslich ein Mensch getötet werde, was gegen das fünfte Gebot verstosse, nämlich gegen das ‚Du sollst nicht töten‘. Anerkannte die Stoa noch Ausnahmesituationen, wo der Suizid toleriert wurde, prägte Augustinus ein resolutes Suizidverbot, das bis in die Moderne nachwirkte. Als Verstoss gegen das Tötungsverbot ist der Suizid für Augustin sogar eine Todsünde, die entgegen einem Mord, der vom Täter bereut werden kann, mit der Selbsttötung die Strafe der ewigen Verdammnis in der Hölle auf sich zieht.

Diese drastische Verurteilung des Suizids zieht sich durch das ganze Mittelalter und prägt die scholastische Theologie bis zu ihrem Hauptvertreter, Thomas von Aquin (1225-1274 n.Chr.). Als der prägende Denker im katholischen Mittelalter hat er Augustins Verbot der Selbsttötung in seiner Summa theologiae übernommen und innerhalb seiner Morallehre in seiner Begründung erweitert und vertieft (vgl. Wittwer 2008:301). Der Argumentation von Thomas von Aquin folgend wird ersichtlich, dass der Suizid für ihn ein Verbrechen in dreifachem Sinne darstellt, wobei er formalrechtliche Aspekte mit dem sittlichen Aspekt kombiniert. Naturrechtlich steht der Suizid im Wiederspruch zum Trieb der Selbsterhaltung und ist somit ein Verbrechen des Menschen gegen sich selbst. Sozialethisch folgt Thomas von Aquin der Argumentation Aristoteles und bezeichnet ihn als ein Verbrechen an der Gemeinschaft. Theologisch schliesslich rebelliere die eigenmächtige Handlung der Selbsttötung gegen die rein göttliche Entscheidung über Leben und Tod (vgl. Bormuth 2008:32-33). An dieser Trias der ablehnenden Haltung gegenüber dem Suizid änderte auch die Kirchenspaltung durch die Reformation nichts, übernahmen doch die Reformatoren und der Protestantismus die ablehnende Haltung der katholischen Kirche bis in die Neuzeit.

4.3 AUFKLÄRUNG: Hume, Kant

Seit Beginn der Neuzeit stellten einige kritische Denker die moralische Verwerflichkeit des Suizids wieder in Frage. In der Renaissance und mit Höhepunkt im Zeitalter der Aufklärung wurden wieder die alten stoischen Vorstellungen rezipiert und die theologischen Argumente gegen den Suizid kritisch revidiert, was zu einer neuen philosophischen Debatte für und wider den Suizid führte (vgl. Stoecker 2006: 8-9). Mit Schwerpunkt auf die englische und deutsche Aufklärung sollen hier nun die Positionen ihrer beiden bedeutendsten Exponenten, David Hume und Immanuel Kant näher vorgestellt werden.

Der Schotte David Hume (1711-1776) plädiert in seinem epochalen Essay Über Selbstmord (Hume) , den individuellen Suizidmotiven in aller Breite Aufmerksamkeit zu schenken. Hume bricht mit dem seit der Antike vorherrschenden und vom Christentum übernommenen Tabu, den Suizidentscheid nie aus persönlichen Interessen zu treffen. Von Vernunft und gesundem Menschenverstand geleitet ist der Einzelne in der Lage, sich autonom für den Suizid entscheiden zu können, dies ohne der Gesellschaft Unrecht anzutun. „Wenn er (Anm. d.Verf.: der Selbstmord) kein Verbrechen ist, dann sollten uns sowohl Einsicht wie Mut dazu anhalten, uns von unserem Dasein mit einem Schlag zu befreien, wenn es eine Last wird“ (Hume 2000:98). Um mit seiner provokativen Rechtfertigung der individuellen Freiheit zum Suizid überzeugen zu können, kommt Hume seiner Leserschaft als aufgeklärter Geist insofern entgegen, als er seine Apologie, in Analogie zu Th. v. Aquin, entlang der dreifachen Frage aufgleist, warum der Suizid kein Verbrechen an Gott, der Gesellschaft und sich selbst darstellte (Hume 2000:90). Die Grundlage seiner Argumentation bildet das Postulat, dass es eine göttliche Vorsehung gebe, die Hume mit der Ordnung der Natur gleichsetzt (Hume 2000:93). Als stille Prämisse lenkt sie unmerklich das Denken und Tun des Menschen und schenkt das Vertrauen auf einen fortschreitend guten Gebrauch seiner Urteilskraft, sodass „Alle Ereignisse in einem gewissen Sinn als Handlung des Allmächtigen bezeichnet werden können…“(Hume 2000:91). Nach Hume geniesst der Mensch das göttliche Vertrauen und untersteht nicht ihrer „Verfügungsgewalt über das Leben“, sondern mute ihm die freie Entscheidung zu (vgl. Bormuth 2008:38). Auf dieser Argumentation aufbauend, stellt Hume die brisante Frage, ob die von Gott, Vorsehung bzw. Ordnung der Natur gegebene Urteilsfreiheit auch die Möglichkeit einschliesst, sich das Leben zu nehmen, die er klar bejaht. Ein, kraft seines gottgegebenen Verstandes, Ausdruck der Vorsehung in der Ordnung der Natur, sich tötender Mensch wird das nur bei unerträglichem körperlichem und sozialem Leid, niemals leichtfertig tun. Sollte dies willkürlich geschehen, so wäre es nur Ausdruck seiner pathologischen Natur. Das Leiden ist als Option einer läuternden Bewährung nur dann sinnvoll, wenn es nicht mit „Klugheit und Mut“ zu beheben ist. Hume erachtet die gesellschaftliche Perspektive des Suizids als unerheblich, wenn er sie auch interessendienlich berücksichtigt: „Ein Mensch, der aus dem Leben tritt, fügt der Gesellschaft keinen Schaden zu. Er hört lediglich auf, Gutes zu tun; was, wenn er ein Unrecht ist, ein solches der geringsten Art ist“ (Hume 2000:97). Heikel wird Humes Argumentation gerade im Kontext der heutigen Sterbehilfedebatte, wo sie unmittelbar gesellschaftliche Interessen in den Mittelpunkt stellt: „Aber angenommen, dass es nicht länger in meiner Macht steht, das Interesse der Gesellschaft zu fördern, dass ich eine Last für diese bin, dass mein Leben einige Personen daran hindert, der Gesellschaft viel nützlicher zu sein: In solchen Fällen muss mein Abschied vom Leben nicht nur schuldlos, sondern lobenswert sein“ (Hume 2000:98). Zusammenfassend versucht Hume die antiken und christlichen Zweifel aufzulösen, jene, dass der Mensch im Suizid willkürlich handelt, indem er zuversichtlich auf den gesunden Menschenverstand als Gabe der göttlichen Natur aufbaut. Auf seine Urteilskraft vertrauend, handle der Suizident moralisch, gesellschaftliche Bedenken stehen im Hintergrund. Nach Bormuth (vgl. Bormuth 2008:39-40) entfaltet Hume die Perspektive einer kosmischen Welt, die Kraft ihrer eigenen Gesetzte nicht durch den Suizid eines Einzelnen in ihrer Einheit gestört werden kann, lasse dieser doch nur die Atome seines Körpers in einen ewigen Kreislauf einmünden. Für ihn entfaltet Hume eine „optimistische Anthropologie des aufgeklärten Denkens“. Er vertraut darauf, dass es nur zum kulturellen Nutzen aller sein kann, wenn der Mensch in geistiger Gesundheit zur möglichen Mündigkeit aufschwingt, wenn er am Lebensende seine gewünschte gesellschaftliche und religiöse Passivität aufgebe.

Das christliche Selbstmordverbot auf moralphilosophischer Ebene verschärfend und sich von der liberalen und utilitaristischen Auffassung seines Zeitgenossen Hume distanzierend, lehnt der bedeutendste deutsche Aufklärer, Immanuel Kan t (1724-1804), den Suizid kategorisch ab. Den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu suchen, so Kants Forderung der Aufklärung, bedeutet für die menschliche Autonomie nicht, dass er dem von persönlichen Interessen geleiteten Menschen Vertrauen und Freiraum gewähren würde (vgl. Bormuth 2008: 40-42). Zwei Jahre nach Humes Essay Über Suizid publiziert, distanziert sich Kant in seiner Schrift Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, von jeglicher persönlichen Rechtfertigung des Suizids. Kants moralische Forderung fokussiert sich auf die Ergründung eines notwendigen, für alle Menschen gültigen Gesetztes, das, „wenn es ein solches ist“, konstitutiv mit dem Begriff des Willens verschränkt, nicht empirisch, sondern, so sehr sich Kant auch sträubt, „völlig a priori“, in der Metaphysik verortet ist, nämlich in der Metaphysik der Sitten (Kant 2008:27). Das Problem Kants Gedankengang liegt allerdings in seiner Prämisse, dass es ein unumgängliches Anliegen der menschlichen Vernunft sein müsse, sich am Leben zu erhalten. Ob sich ein solches Vernunfterhaltungsgebot a priori wirklich ableiten lässt, bleibt umstritten (vgl. Stoecker 2006:8). Kant beruft sich auf eine Version des kategorischen Imperativs, die gebietet, „die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person jedes andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel“ zu gebrauchen (Kant 2008: 65). Als Vernunftwesen hat der Mensch immer darauf zu achten, auch immer Zweck der eigenen Handlungen zu sein. Nach Kant kann man also nicht gleichzeitig etwas bezwecken und gezielt vernichten, weshalb der Suizident sich in der Selbsttötung nicht als Zweck, sondern als Mittel zum Zweck behandelt. Kants Pflicht zur Selbsterhaltung verbietet schlechthin die Möglichkeit, gute und schlechte Gründe zum Suizid zu unterscheiden: „Wenn er, um einem beschwerlichen Zustand zu entfliehen, sich selbst zerstört, so bedient er sich seiner Person bloss als eines Mittels zu Erhaltung eines erträglichen Zustandes bis zum Ende des Lebens“ (Kant 2008:65). Mit einer „Pflicht gegen sich selbst“ führt Kant eine starke Freiheitsforderung an, die nicht mit einer Entscheidung für den Suizid vereinbar ist: “Einer, der durch eine Reihe von Übeln, die bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsen ist, einen Überdruss am Leben empfindet, ist noch so weit im Besitze seiner Vernunft, dass er sich selbst fragen kann, ob es auch nicht etwa der Pflicht gegen sich selbst zuwider sei, sich das Leben zu nehmen“ (Kant 2008:54). Jeglicher Autonomie in moralischen Fragen misstrauend, betrachtet er den Menschen als Bündel wechselhafter Neigungen, und bezweifelt jegliche Möglichkeit, den Suizid als persönliche Gewissensentscheidung zu vollziehen.

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Ende der Leseprobe aus 70 Seiten

Details

Titel
Der suizidale Patient als Herausforderung für den Arzt
Untertitel
Eine kritische Reflexion im Lichte der existentialistischen Philosophien von Karl Jaspers, Albert Camus und Jean Améry
Hochschule
Universität Luzern  (Kulturwissenschaftliches Institut)
Veranstaltung
Masterkurs in Philosophie und Medizin
Note
6.0 (Höchstnote CH)
Autor
Jahr
2015
Seiten
70
Katalognummer
V344509
ISBN (eBook)
9783668389472
ISBN (Buch)
9783960950417
Dateigröße
579 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
patient, herausforderung, arzt, eine, reflexion, lichte, philosophien, karl, jaspers, albert, camus, jean, améry
Arbeit zitieren
Flavio Daniele Sepulcri (Autor:in), 2015, Der suizidale Patient als Herausforderung für den Arzt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/344509

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