Väter und Töchter in der deutschen Literatur

Darstellung der Beziehung anhand ausgewählter Werke


Facharbeit (Schule), 2009

30 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.1. Vorwort
1.2. Die Ermordung der Virginia durch ihren Vater Lucius Virginius zu ihrem Schutz

2. Hauptteil
2.1. ,,Emilia Galotti“ von Gotthold Ephraim Lessing
2.1.1. Informationen zum Werk: Lessings Stellungnahme zur Konzeption des Werkes
2.1.2. Inhalt des Trauerspiels
2.1.3. Die Vaterfigur ,,Odoardo Galotti“ als gespaltene Persönlichkeit
2.1.4. Die unmündige Tochterfigur ,,Emilia Galotti“
2.1.5. Vater-Tochter-Beziehung: Der Mord des Vaters an der Tochter auf ihren Wunsch hin
2.2. ,,Maria Magdalena“ von Friedrich Hebbel
2.2.1 Informationen zum Werk: Die Entstehung des endgültigen Titels
2.2.2. Inhalt des bürgerlichen Trauerspiels
2.2.3. Die dominante Vaterfigur ,,Meister Anton“
2.2.4. Die Tochterfigur ,,Klara“ als Opfer ihrer Umwelt
2.2.5 Vater-Tochter-Beziehung: Klaras Selbstmord als Konsequenz des vom Vater verlangten Eides
2.3. ,,Miss Sara Sampson“ von Gotthold Ephraim Lessing
2.3.1 Informationen zum Werk: Das typische bürgerliche Trauerspiel
2.3.2 Inhalt des Stückes
2.3.3 Die Vaterfigur ,,Sir William Sampson“ als Idealbild eines Vaters
2.3.4 Die Tochterfigur ,,Miss Sara Sampson“ als selbständige Person
2.3.5 Vater-Tochter-Beziehung: Die Schuldgefühle Saras gegenüber dem Vater und die Vergebung
2.4. ,,Homo Faber“ von Max Frisch
2.4.1 Informationen zum Werk: Der Autor Max Frisch
2.4.2 Inhalt des Romans
2.4.3 Die Vaterfigur ,,Walter Faber“ und seine Wandlung
2.4.4 Die Tochterfigur ,,Elisabeth Piper“ als Gegenteil zu ihrem Vater
2.4.5 Vater-Tochter-Beziehung: Die auf Unwissenheit beruhende körperliche Liebe

3. Schluss: Psychologische Beurteilung der Beziehungen aus heutiger Sicht

4. Anhang
4.1 Literaturverzeichnis
4.2 Anmerkungen / Literaturhinweise

1. Einleitung

1.1. Vorwort

Das Thema meiner Facharbeit lautet ,,Väter und Töchter in der deutschen Literatur“. Um mich ihm zu nähern, habe ich zunächst von einer befreundeten Literaturzirkel- Leiterin eine Liste mit Büchern erbeten, die eine solche Familiensituation behandeln bzw. beinhalten, und diese unter dem Gesichtspunkt meines Themas gelesen. Nach und nach habe ich mich auf vier Werke festgelegt, um diese weiter zu bearbeiten.

In jedem der Werke kommt die Tochterfigur tragisch zu Tode. Zwar habe ich die vier Bücher zunächst nicht absichtlich aus diesem Grund ausgewählt, fand das Motiv dann jedoch so interessant, dass ich bei meiner Auswahl blieb und auch als Einleitung eine solche Konstellation heranziehe.

Zufällig ist der Verfasser zweier ausgewählter Werke Gotthold Ephraim Lessing. Diese Tatsache ließ mich zunächst überlegen, ob ich der Abwechslung halber eines der beiden Bücher austauschen sollte, habe mich dann jedoch aus folgenden Gründen dagegen entschieden:

- Die Vater – Tochter – Beziehungen in den betreffenden Werken ,,Miss Sara Sampson“ und ,,Emilia Galotti“ sind keineswegs von gleicher Art. Die Abwechslung der Buchauswahl schien mir daher nicht in Gefahr.

- Zudem finde ich beide Fälle sehr interessant und mit Hilfe einer im Internet gefundenen Sekundärliteratur gut zu beschreiben, so dass ich bei der Auswahl der Lessing – Stücke blieb.

Der nächste Schritt meiner Arbeitsweise war das Festlegen der Reihenfolge, in der ich die Bücher erörtern wollte. Aus einigen Alternativen – chronologisch etwa, oder nach ihren Autoren geordnet – wählte ich die, die Werke in einen Sinnzusammenhang zu bringen und als Überleitung jeweils Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzuführen. Dies erschien mir als beste Form der Gliederung.

Um eine passende Einleitung zu verfassen, suchte ich ein antikes Beispiel für eine berühmte Vater – Tochter – Beziehung. Die Behandlung der deutschen Literatur folgt im Anschluss daran als Hauptteil. Der Schluss besteht schließlich aus einer weiteren Ebene, auf der ich mein Thema behandeln will: Die vier Vater-Tochter-Beziehungen (bzw. das Verhalten der jeweiligen Väter und Töchter) aus moderner, psychologischer Sicht.

So viel zu meiner Arbeitsweise an der nun folgenden Facharbeit.

1.2. Die Ermordung der Virginia durch ihren Vater Lucius Virginius zu ihrem Schutz

,, Kind, dies einzige Mittel blieb mir, deine Freiheit zu retten!“ 1

Mit diesen Worten durchbohrt Lucius Virginius, kurz: Virginius, die Brust seiner Tochter Virginia mit einem Messer.

So beschreibt Titus Livius, 49 v Chr. bis 17 v Chr., ein römischer Historiker zur Zeit des Augustus, in seinem Werk „Libri ab urbe condita III“ den tragischen Ausgang eines Familienschicksals.

Virginius, ein römischer Centurio, hatte seine Tochter Virginia dem ehemaligen Tribunen Lucius Icilius anvertraut und die Verlobung bereits gefeiert. Appius Claudius jedoch, ein Decemvir, wollte sie verführen und beauftragte daher einen seiner Klienten, das Mädchen als seine Sklavin zu beanspruchen. Er selbst als Decemvir würde das Urteil darüber fällen und die Tochter so an sich reißen. Da der Vater abwesend war, und die Menschenmenge auf dem Forum gegen ein sofortiges Urteil protestierte, musste er am Tag der Verhandlung festlegen, dass das Mädchen zunächst bei Verwandten bleiben, und die Verhandlung am nächsten Tag weitergeführt werden sollte. Falls der Vater nicht rechtzeitig aus dem Feldlager zurück wäre, sollte Virginia jedoch in jedem Falle dem Kläger gehören. Gegen dieses Urteil lehnten sich sowohl ihr Verlobter als auch ihr Großonkel Numitorius auf, konnten aber nichts ausrichten. Alles, was sie tun konnten, war, nach dem Vater schnellstmöglich zu schicken.

Am nächsten Tag erschien der Vater glücklicherweise pünktlich zum Gerichtstermin auf dem Forum Romanum. Claudius entschied jedoch trotzdem, der Kläger dürfe das Mädchen als Sklavin in Anspruch nehmen, da er sie selbstverständlich für sich gewinnen wollte.

Um eine derartige Schande zu verhindern, und da er keine andere Möglichkeit mehr sah, seine Tochter vor Claudius zu schützen, entriss der Vater in rasender Ohnmacht einem in der Menge stehenden Fleischer das Messer und tötete sie. Dabei schrie er:

,, Auf dich, Appius, und dein Haupt lade ich den Fluch dieses Blutes!!“ 2

,,Ihr Tod ist der Anlass zu einem Volksaufstand“ 3, der einen Umsturz der herrschenden Gesellschaft und des Staatsgefüges zur Folge hatte. Das System der Decemviri wurde vom Konsulat abgelöst.

2. Hauptteil

Das Motiv des Livius, ein Vater, der die Tochter - in direkter oder indirekter Weise - tötet, kommt in der Literatur sehr häufig vor. Vier dieser Fälle sollen nun im Hauptteil untersucht werden.

2.1.,,Emilia Galotti“ von Gotthold Ephraim Lessing

2.1.1.Informationen zum Werk: Lessings Stellungnahme zur Konzeption des Werkes

So behandelt auch Gotthold Ephraim Lessing, 1729 – 1781, den Stoff in seinem Trauerspiel ,,Emilia Galotti“. Er befasst sich jedoch nur mit dem eigentlichen Familienschicksal und versucht, eine unpolitische Konzeption beizubehalten. In einem Brief an Friedrich Nicolai vom 21.1.1758 beschreibt er die Gründe dafür:

,,Er – der junge Tragikus (d.h. Lessing selbst) hat nämlich die Geschichte der römischen Virginia von allem dem abgesondert, was sie für die ganze Stadt interessant machte; er hat geglaubt, dass das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werter ist, als ihr Leben, für sich schon tragisch genug, und fähig genug sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgte“ 4

Trotzdem wurde „Emilia Galotti“„eines der ersten politischen Dramen der neueren deutschen Literatur, dessen Einfluss, zum Beispiel auf Schillers Jugendwerk, bedeutend war.“ 5 Es wurde 1757 begonnen, 1771/72 vollendet und schließlich am 13.3.1772 in Braunschweig uraufgeführt.

2.1.2. Inhalt des Trauerspiels

Das Drama beginnt mit dem Prinz von Guastalla, Hettore Gonzaga, dessen Liebe zur Gräfin Orsina in dem Moment erkaltet, in dem er Emilia Galotti „mit ihrer Mutter in einer Vegghia traf“ 6. Unglücklicherweise ist diese bereits dem Grafen Appiani versprochen. Um die Hochzeit zu verhindern, lässt der Prinz seinem Kammerdiener Marinelli freie Hand. Dieser plant einen Anschlag auf die Hochzeitskutsche, dem der Graf zum Opfer fällt. Die auch in der Kutsche befindliche Emilia Galotti wird zum Schloss des Prinzen gebracht, und auch die Mutter trifft dort ein. Diese durchschaut den Plan des Prinzen bzw. Marinellis, auf diese Weise den Kontakt zwischen Emilia und dem Prinzen knüpfen zu wollen. Als auch die Gräfin Orsina sowie der Vater Emilias, Odoardo Galotti, eintreffen, steckt sie ihm einen Dolch zu, um den Prinzen zu töten. Der Vater jedoch ersticht stattdessen seine Tochter Emilia auf ihre Bitte hin, um sie ,,von der Schande zu retten“ 7

2.1.3. Die Vaterfigur ,,Odoardo Galotti“ als gespaltene Persönlichkeit

Zunächst soll die Reaktion des Vaters auf den Mord an seiner Tochter untersucht werden. Die Tat geschieht im Affekt, so scheint es, nachdem sie ihm vorwirft, „solcher Väter gibt es keine mehr!“ 8 die ihre Tochter vor der Schande bewahren. Ihr Text spielt hier auf den in der Einleitung erwähnten Virginius und das Messer des Fleischers an:

„Ehedem wohl gab es einen Vater, der, seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten, den besten Stahl ins Herz senkte – ihr zum zweiten das Leben gab.“ 9

Um ihr zu beweisen, dass auch er ein solcher Vater ist, der seine Tochter ihr zu Liebe umbringt, tötet er sie, um gleich darauf zu erschrecken: „Gott, was hab ich getan!“10. Erst nach der Tat beginnt er, über die Tragweite seiner Handlung zu reflektieren. Den Mord, den er mit dem Stolz, sie zu retten, ausführt, bereut er gleichzeitig. Diese Zwiespältigkeit Odoardos zeigt sich in all seinen Auftritten.

In seinem ersten Auftritt (II.2.) wird Odoardo Galotti zunächst als liebevoller Ehemann und besorgter Vater dargestellt.

Er überrascht seine Frau Claudia mit einem spontanen Besuch und entkräftet auch ihre Zweifel, ob dies tatsächlich „nur eine Überraschung sein soll“ 11 die keinen weiteren Hintergrund hat. Doch allein diese argwöhnische Vermutung seiner Frau weist darauf hin, dass der schöne Schein der Ehe trügerisch sein könnte, und im Vorfeld eventuell bereits Dinge vorgefallen sind, die Claudia misstrauisch werden lassen, wenn Odoardo so auffallend freundlich ist.

Weiterhin wirkt er zunächst ehrlich besorgt, als Claudia auf seine Frage nach Emilia, die er ,,beschäftigt mit dem Putze“ 12 vermutet, erklärt, dass sie sich in der Kirche befände und ohne Begleitung das Haus verlassen habe. Doch sofort kommt der wahre Grund für seine Besorgnis zum Vorschein: Sein Vertrauen in Emilia ist gering, er hat Angst, sie könne einen „Fehltritt“ 13 begehen.

Auch in seinem zweiten Auftritt (II.4.) zeigt Odoardo negative und gespaltene Charaktereigenschaften.

So erwartet er zunächst dringend die Rückkehr Emilias aus der Kirche – nicht jedoch, weil er sich in väterlicher Liebe nach ihr sehnt, sondern wegen seines bevorstehenden Gesprächs mit dem Grafen Appiani, zu dem er nicht zu spät kommen will. Er kann es kaum erwarten, „diesen würdigen jungen Mann (seinen) Sohn zu nennen.“ 14, und es scheint ihm wichtiger zu sein, ihn in seiner Familie begrüßen zu können, als seine Tochter in guten Händen zu wissen. Dies könnte ein Hinweis auf eine gemilderte Art der Zwangsverheiratung sein, die der Vater und der Graf beschlossen haben 15.

Während Odoardo auf seinem Landsitz lebt, wohnen Claudia und Emilia in der Stadt. Diese Tatsache wirft er seiner Frau mit der Begründung vor, sie würde die Ablenkungen des Alltags der Zeit mit ihrem Mann vorziehen. Stattdessen hatte sich Claudia dafür entschieden, in der Stadt zu wohnen, um Emilia eine gute Erziehung zukommen zu lassen. Zu Recht nennt sie deshalb seinen Vorwurf „ungerecht“ 16.

Auf die Erzählung Claudias, dass Emilia sich mit dem Prinzen getroffen hat und er „von ihrer Munterkeit und ihrem Witze so bezaubert“ 17 zeigte, reagiert er entsetzt. Das schlimmste, was ihm passieren könnte, wäre die Aufhebung des Bundes mit dem edlen Grafen Appiani zugunsten des Prinzen, der nur ein „Wollüstling“ 18 sei.

Der folgende Monolog Claudias, in dem sie ihn einen Mann der rauen Tugend nennt (vgl. II.5.), lässt seine hohen Moralvorstellungen deutlich werden : „Alles scheint (ihm) verdächtig, alles strafbar!“ 19

Nachdem der Überfall auf die Kutsche geschehen, der Graf verwundet und Claudia und Emilia auf dem Schloss des Prinzen sind, erscheint erst hier Odoardo wieder. Er konnte weder die schicksalhafte Begegnung Emilias mit dem Prinzen verhindern, noch den Angriff Marinellis. Er ,,ist der abwesende Vater.“ 20

Claudias Einschätzung von Odoardos Charakter ist auch deutlich in jenem Auftritt (IV.6+7) erkennbar. Der Kammerdiener des Prinzen, Marinelli, hatte ihn davor gewarnt, sich auf ein Gespräch mit Gräfin Orsina einzulassen, da diese nicht zurechnungsfähig sei 21 – ein Hinweis, der selbstverständlich Odoardo davon abhalten sollte, die Wahrheit über den Hintergrund des Überfalls zu erkennen. Er jedoch geht sofort auf sie ein, als sie ihn neugierig machen will. Sein misstrauischer Verstand sagt ihm, ,,so spricht keine Wahnwitzige“ 22, und als er erfährt, dass Graf Appiani bei dem Angriff nicht nur verwundet, sondern getötet wurde 23, und dass seine Tochter Emilia außerdem vom Prinzen verführt werden soll, erwacht die Mordlust in ihm. Dieses Bedürfnis kann Orsina erfüllen, indem sie ihm einen Dolch gibt 24, mit dem er den Prinzen töten soll.

In den folgenden Monologen Odoardos (V.2, V.4, V.6.) sowie in seinen Unterhaltungen mit Claudia (IV.8), Marinelli (V.3.), dem Prinzen (V.5.) und schließlich Emilia selbst (V.7.) wird seine Ratlosigkeit deutlich 25. Diese gipfelt schließlich in der Ermordung der falschen Person: Nicht ihr Entführer, sondern die unschuldige Tochter muss sterben. Sie soll nun charakterisiert werden.

2.1.4. Die unmündige Tochterfigur ,,Emilia Galotti“

Emilia ist ein Mädchen voller Tugend, Nächstenliebe und Gehorsamspflicht, gleichzeitig jedoch unselbständig und nicht in der Lage, ihr Schicksal selbst zu beeinflussen. Diese Eigenschaften sollen im Folgenden anhand einiger Szenenbeispiele erläutert werden.

An der Tatsache, dass der Prinz für sie schwärmt, trägt sie keine Schuld durch eine etwaige Verführung ihrerseits oder Ähnliches. Er traf sie zunächst „mit ihrer Mutter in einer Vegghia“ 26 und wurde dann durch ein Portrait des Malers Conti, ein „Studium der weiblichen Schönheit“ 27 an ihre Reize erinnert. Als er ihr am Tag ihrer Hochzeit auflauert und sie in der Kirche anspricht, fühlt sie sich von ihm verfolgt und hat Schuldgefühle, weil sie ihre Andacht nicht ausführen kann (II.6.). Sie fühlt sich keineswegs geschmeichelt von seinen Komplimenten über ihre „Schönheit“ 28 was ihre große Tugendhaftigkeit verdeutlicht.

Dieser Charakterzug gibt ihr auch das Gefühl, dass sie ihrem Verlobten von dem Vorfall am Hochzeitstag erzählen sollte. Da ihre Mutter ihr jedoch davon abrät und Emilia „keinen Willen gegen den Ihrigen“ 29 hat, handelt sie entgegen ihres eigenen Empfindens, „lieber vor ihm nichts auf dem Herzen“ 30 haben zu wollen. Sie erscheint hier als unmündige und stark durch die Gehorsamspflicht gegenüber ihren Eltern geprägte Figur 31.

Doch nicht nur bei ihrer Mutter kann sie nicht auf ihren Willen bestehen. Auch zuvor schon, beim Aufeinandertreffen mit dem Prinzen in der Kirche, erweist sie sich als schwach und nicht durchsetzungsfähig. Anstatt ihn abzuweisen, lässt sie sich im Gebet durch sein Flüstern ablenken 32, hat ,,nicht das Herz, einen zweiten (Blick) auf ihn zu richten“ 33, flieht schließlich vor ihm, verliert dabei sogar fast ihren Verstand 34 und erreicht vollkommen aufgelöst ihre Mutter.

Nach dem Überfall auf ihre Hochzeitskutsche, in der sie sich mit ihrer Mutter und dem Bräutigam befand, wird sie von Battista, einem Bediensteten Marinellis, zum Prinzen in dessen nahegelegenes Lustschloss ,,Dosalo“ gebracht. Hier zeigt sich ihre selbstlose Nächstenliebe in der Sorge um ihre Mutter wie folgt:

„Aber ich erschrecke, mich allein gerettet zu sehen. Meine Mutter ist noch in Gefahr. Hinter uns ward sogar geschossen. Sie ist vielleicht tot; – und ich lebe? – Verzeihen Sie. Ich muss fort; ich muss wieder hin, - wo ich gleich hätte bleiben sollen.“ 35

Nachdem Marinelli sie am Verlassen des Schlosses gehindert und sie in ein Hinterzimmer gebracht hat, erscheint Emilia erst wieder, als ihr Vater den Plan zur Ermordung des Prinzen schon geschmiedet hat. Da Odoardo schon am Morgen des Hochzeitstages die Ankunft Emilias nicht abgewartet hat, und auch im weiteren Verlauf der Geschichte nie anwesend war, stellt der Auftritt V.7. das erste Aufeinandertreffen von Vater Odoardo und seiner Tochter Emilia im ganzen Stück dar und soll deshalb zur Analyse ihrer Beziehung zueinander im nächsten Punkt bearbeitet werden.

2.1.5. Vater-Tochter-Beziehung: Der Mord des Vaters an der Tochter auf ihren Wunsch hin

Odoardo Galotti hat Emilia zu einer „idealen, tugendhaften Tochter“ 36 erzogen, die seine strengen Moralvorstellungen als unabänderliche Gesetze ansieht. Dem Prinzen jedoch gelingt es, dieses System ins Wanken zu bringen. So hat Odoardo große Angst davor, dass sie ihre Schuldlosigkeit verlieren könnte, wenn sie weiterhin mit dem Prinzen in Kontakt stünde.

Aber auch die Tochter selbst hat Angst, dass sie ihre Unschuld verlieren könnte. Sie geht dabei, anders als der Vater, nicht allein vom körperlichen, sondern auch vom geistigen Verlangen aus, das sie in ihrer Schwäche für den Prinzen empfinden könnte. Sie interpretiert den christlichen Glauben so streng, dass in Gedanken „sündigen wollen auch sündigen“ 37 sei.

Der Monolog des Vaters (V.6.) deutet das schreckliche Ende des Trauerspiels an. Hier ,,äußert er erstmals den Gedanken, Emilia zu töten“ 38. Gleich darauf jedoch verwirft er die Überlegung wieder, ohne sie sich richtig einzugestehen, mit den Worten: ,,Hab ich das Herz, es mir zu sagen? – Da denk ich so was! So was, was sich nur denken lässt! – Grässlich! Fort, Fort!“ 39.

Im Auftritt V.7. dann, beim ersten Zusammentreffen der beiden, erkennt Odoardo seine sonst so herzliche Tochter nicht wieder. Sie hat im Ausnahmezustand des Überfalls seine Gefühllosigkeit angenommen, die er zuvor mit den Worten „Weinen konnt‘ ich nie“ 40 verdeutlicht hat. Emilia ist in dieser Situation vollkommen gleichgültig, ob „nichts verloren oder alles“ 41 verloren ist.

Doch als sie zu sich kommt und – vielleicht zum ersten mal in ihrem jungen Leben – dafür eintritt, nicht zu ,,Leiden, was man nicht sollte“ 42, freut sich Odoardo sehr über diese Wandlung und lässt sich sogar darüber aus, dass die Natur die Frauen zu ihrem Meisterstück gemacht hat, und dass an ihnen fast alles besser sei als an den Männern 43.

In diesem Moment, als Emilia endlich für ihre eigene Meinung eintreten will, erscheint ihr der Selbstmord als einzige Möglichkeit, sich aus der Gefangenschaft zwischen der Strenge des Elternhauses und der Verführung des Prinzen zu befreien. Sie bittet Odoardo um den Dolch und versucht, sich damit zu erstechen. Er jedoch erkennt rechtzeitig, dass diese Waffe „nicht für (ihre) Hand“ ist 44 und nimmt ihn ihr wieder.

Schließlich will Emilia ihre erste eigene Entscheidung, ihren Tod, mit aller Gewalt durchsetzen. Und so provoziert sie ihren Vater so lange, bis er ihr ihren Wunsch erfüllen will und sie ersticht.

Dem Prinzen, der die Tat mit ,,Entsetzen“ 45 sieht und Odoardo einen grausamen Vater nennt 46, verdeutlicht dieser zuletzt, dass Emilia seinen Verführungen nun nicht mehr erliegen wird und weiterhin, dass er den Mord nicht mit seinem Selbstmord begleichen wird, sondern sich ,,selbst in das Gefängnis“ 47 liefern und ihn vor dem jüngsten Gericht erwarten wird. Seine eigene Schuld ist ihm demnach keineswegs bewusst, wodurch sich das Verhältnis zu seiner Tochter auch nach ihrem Tod nicht mehr positiv verändern wird.

2.2.,,Maria Magdalena“ von Friedrich Hebbel

2.2.1 Informationen zum Werk: Die Entstehung des endgültigen Titels

Auf den Tag genau 74 Jahre nach der Uraufführung von ,,Emilia Galotti“ wurde am 13.3.1846 in Königsberg 48 ein weiteres Beispiel der dramatischen Umsetzung einer Vater–Tochter–Beziehung uraufgeführt. Das bürgerliche Trauerspiel von Friedrich Hebbel (1813-1863) trägt im heutigen Sprachgebrauch den Titel ,,Maria Magdalena“, wurde jedoch im Original aufgrund eines Druckfehlers unter ,,Maria Magdalene“ bekannt.

Das Thema des Dramas ist jedoch keineswegs die biblische Frauengestalt an der Seite Jesu, sondern die tragische Beziehung der Tischlertochter Klara zu ihrer Umwelt 49. Und da „Klara“ 50, der zunächst von Hebbel vorgeschlagene Titel, dem Verleger des Buches zu uninteressant erschien, wurde es schließlich unter ,,Maria Magdalene“ veröffentlicht (siehe Titelblatt).

2.2.2. Inhalt des bürgerlichen Trauerspiels

Die Familie, um die Hebbel sein Drama aufbaut, besteht aus Vater Anton, einem strengen Tischlermeister, seiner Frau, die namenlos bleibt, was auf ihre untergeordnete Rolle in der Familie aufmerksam macht, der Tochter Klara sowie ihrem Bruder Karl, der sich gegen die väterlichen Gesetze auflehnt.

Klara ist schwanger von Kassierer Leonhard, der sie in der Absicht, das väterliche Vermögen bei der Heirat als Mitgift zu erhalten, verführt hat. Trotz ihrer Verlobung mit ihm empfindet sie jedoch keine Liebe für ihn. Bald darauf erscheint der Sekretär wieder im Ort, Klaras Jugendliebe, mit dem sie sich auch jetzt noch eine Beziehung wünscht. Dieser Wunsch aber muss aufgrund ihrer Verlobung und ihrer Schwangerschaft unerfüllt bleiben.

Als der Bruder Karl eines Juwelendiebstahls bezichtigt wird und die Gerichtsdiener ihn im Haus der Familie suchen, erleidet die auf mysteriöse Art bereits seit der Verführung Klaras kranke Mutter 51 einen Schock und stirbt. Von seinem Sohn derart enttäuscht und von seiner Frau verlassen wünscht sich Vater Anton nun, dass seine Tochter Klara bei ihm bleibt. Er verlangt von ihr, zu schwören, dass sie noch unschuldig ist, woraufhin Klara aufgrund ihrer Schwangerschaft den Eid umformuliert und schwört, dass sie ihm „ nie Schande machen“ 52 will. Mit diesem Schwur akzeptiert sie bereits im ersten Akt ihren Selbstmord als zwingende Konsequenz, falls sie nicht bald von Leonhard geheiratet werden sollte.

Da dieser jedoch vom Verlust des väterlichen Vermögens erfahren hat, löst er die Verlobung mit Klara in einem Brief auf. Auch im Gespräch kann sie ihn weder dazu bringen, zu ihr zurückzukehren, noch kann sie ihm glaubhaft versichern, sich andernfalls das Leben zu nehmen. Nachdem sie zur Ausführung dieses Planes aufgebrochen ist, fordert der Sekretär Leonhard zu einem Schießduell heraus und tötet ihn.

Als Klara im Brunnen ertrunken aufgefunden wird, und sie so ihre Drohung wahr gemacht hat, lieber eine Selbst- und Kindsmörderin als eine Vatermörderin zu sein 53, versteht Meister Anton ,,die Welt nicht mehr“ 54.

[...]


1 Livius „Libri ab urbe condita III“ Kapitel 48 http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=3528&kapitel=19&cHash=dd5a0382292#gb_found (am 22.1.09)

2 Livius „Libri ab urbe condita III“ Kapitel 48 http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=3528&kapitel=19&cHash=dd5a0382292#gb_found (am 22.1.09)

3 KLL Band 8, Seite 3077

4 Draws-Volk Kapitel „0. Einleitung“ (keine Seitenzahlen)

5 KLL Band 8, Seite 3077

6 Emilia S. 8, Z. 36f

7 Emilia S. 70, Z. 35f

8 Emilia S. 70, Z. 38

9 Emilia S. 70, Z. 34ff

10 Emilia S. 70, Z. 40

11 Emilia S. 18, Z. 10f

12 Emilia S. 18, Z. 17

13 Emilia S. 18, Z. 23

14 Emilia S. 21, Z. 9f

15 vgl. Buchkremer S. 12 und S. 23

16 Emilia S. 21, Z. 23

17 Emilia S. 22., Z. 21f

18 Emilia S. 22, Z. 32

19 Emilia S. 23, Z. 2f

20 Buchkremer S.7

21 vgl. Emilia S. 56, Z. 8ff

22 Emilia S. 56, Z. 36

23 vgl. Emilia S. 57, Z. 17f

24 vgl. Emilia S. 58, Z. 12f

25 vgl. Buchkremer S.7

26 Emilia S. 8, Z. 36f

27 Emilia S. 10, Z. 2f

28 Emilia S. 24, Z.12

29 Emilia S.26, Z. 5f

30 Emilia S.26, Z. 1f

31 vgl. Buchkremer S. 12

32 vgl. Emilia S.24, Z.1ff

33 Emilia S. 25, Z. 2f

34 vgl. Emilia S. 25, Z. 13f

35 Emilia S. 38, Z. 27ff

36 Buchkremer S.19

37 Emilia S. 23, Z. 29

38 Buchkremer S. 18

39 Emilia S. 68, Z.15f

40 Emilia S. 62, Z. 11

41 Emilia S. 68, Z. 25f

42 Emilia S. 69, Z. 22

43 vgl. Emilia S. 69, Z. 25ff

44 Emilia S. 70, Z. 24f

45 Emilia S. 71, Z. 4

46 vgl. Emilia S. 71, Z. 6

47 Emilia S. 71, Z. 22f

48 vgl. KLL Band 14, S. 6029

49 vgl. KLL Band 14, S. 6029

50 vgl. Maria S. 57

51 vgl. Maria S. 13, Z. 17ff

52 Maria S. 26, Z. 29f

53 vgl. Maria S. 44, Z. 34ff

54 Maria S. 53, Z. 31

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Väter und Töchter in der deutschen Literatur
Untertitel
Darstellung der Beziehung anhand ausgewählter Werke
Hochschule
Gymnasium Neubiberg
Veranstaltung
Leistungskurs Deutsch
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
30
Katalognummer
V355410
ISBN (eBook)
9783668415980
ISBN (Buch)
9783668415997
Dateigröße
958 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Vater, Väter, Tochter, Töchter, Familie, Familienbeziehungen, Beziehung, Emilia Galotti, Lessing, Homo Faber, Max Frisch, Miss Sara Sampson, Maria Magdalena, Hebbel, Germanistik, Literatur
Arbeit zitieren
Sandra Lill (Autor:in), 2009, Väter und Töchter in der deutschen Literatur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/355410

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