Ungebundenheit, Fraktionsdisziplin und -zwang im Bundestag als komplexes Entscheidungsproblem

Komplexes Entscheiden (Professional Public Decision Making) Band 7


Hausarbeit, 2016

24 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Fraktion und der Abgeordnete
2.1 Der Abgeordnete im Bundestag
2.2 Die Fraktion

3. Die Weisungsungebundenhenheit der Abgeordneten
3.1 Die Ungebundenheit aus demokratischer Sicht
3.2 Die Ungebundenheit aus rechtlicher Sicht

4. Die Fraktionsdisziplin und der Fraktionszwang
4.1 Die Unterscheidung der Begriffe Fraktionsdisziplin und -zwang
4.2 Was versteht man unter Fraktionsdisziplin?
4.3 Der Nutzen der Fraktionsdisziplin
4.4 Mittel zur Durchsetzung der Fraktionsdisziplin
4.5 Fraktionsdisziplin aus rechtlicher Sicht

5. Der Normenkonflikt

6. Fazit

7. Quellen

Tjark Raabe

Vorwort

Im Rahmen der Schriftenreihe „Komplexes Entscheiden (Professional Public Decision Making)“ werden herausragende Seminar- und Abschlussarbeiten von Studentinnen und Studenten sowie Absolventinnen und Absolventen des gleichnamigen Masterstudienganges der Universität Bremen veröffentlicht. Während des Studiums werden einschlägige Theorien, Konzepte und Entscheidungsmodelle aus Philosophie, Politikwissenschaft, Wirtschafts­wissenschaft sowie Rechtswissenschaft analysiert und diskutiert. Die interdisziplinäre Entscheidungsforschung steht dabei im Mittelpunkt des Studiengangprofils

Die ausgewählten Arbeiten befassen sich mit komplexen Entscheidungen im Spannungsfeld von politischen Opportunismen, administrativen Postulaten, wirtschaftlichem Effizienzstreben und rechtlichen Rahmenbedingungen. Aufgrund der inhaltlichen und methodischen Vielschichtigkeit von öffentlichen Entscheidungsprozessen werden gleichermaßen philosophische, ökonomische, politik-, und rechtswissenschaftliche Problemanalysen, Lösungskonzepte und Umsetzungsstrategien untersucht

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Abkürzungsverzeichnis

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Der genutzten Fachliteratur folgend wird in dieser Hausarbeit das generische Maskulinum „der Abgeordnete“ genutzt. Zwar fördert diese Verwendung die Lesbarkeit, spiegelt aber keineswegs die Realität wieder und hat erst recht keinen normativen Anspruch. Der Begriff dient lediglich als terminus technicus, wann immer von „dem Abgeordneten“ zu lesen sein wird, sind selbstverständlich immer alle Abgeordneten jedweden Geschlechts gemeint.

1. Einleitung

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages [sind] an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

(GG, Art. 38., Abs. 1)

Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab.[...]. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.

(Koalitionsvertrag der CDU/ SPD Koalition von 2013, S 128)

Die Abgeordneten des Bundestages stellen die Basis des deutschen politischen Systems dar. Sie haben qua ihres Mandats die Pflicht, sich als Repräsentanten der gesamten deutschen Bevölkerung zu sehen und sind laut dem deutschen Grundgesetz weisungsungebunden, d.h. sie sollen alleine aufgrund ihrer persönlichen Überzeugung handeln. Dies schließt eine Einflussnahme von außen, also etwa durch ihre Partei oder andere Abgeordnete, theoretisch aus. Die politische Praxis im Bundestag sieht, wie der Auszug aus dem aktuellen Koalitionsvertrag zeigt, anders aus: Die Abgeordneten, die der Regierungskoalition angehören, sind zur Fraktionsdisziplin angehalten, d.h. sie sollen sich in Abstimmungen an die festgelegte Koalitionsmeinung halten (vgl. Kapitel 4). Dass die eigene Meinung faktisch immer im Kontext des Individuums und nicht losgelöst von der Realität gebildet wird, ist dabei im Rahmen dieser Arbeit nicht relevant.

In dieser Arbeit soll das Spannungsfeld zwischen Grundgesetz und Fraktionsdisziplin genauer untersucht werden. Hierbei werden zuerst die grundsätzlichen Begriffe geklärt: Die Fraktion und der Abgeordnete werden vorgestellt, wobei insbesondere deren Situierung und ihr Verhältnis zueinander dargelegt werden sollen. Anschließend wird die Weisungsungebundenheit nach Art. 38 GG kritisch untersucht. Danach wird die Fraktionsdisziplin vorgestellt. Bei beiden Themenschwerpunkten soll zum einen deren politische Funktion, zum anderen aber auch deren rechtliche Aspekte herausgearbeitet werden.

Das hier beschriebene Spannungsfeld ist ein Paradebeispiel für das Aufgabengebiet des komplexen Entscheidens im öffentlichen Raum: Es werden die institutionellen Rahmenbedingungen von Handlungen öffentlicher Akteure, in diesem Falle der Bundestagsabgeordneten, nach moralischen, politischen und rechtlichen Aspekten analysiert. Ebenso wird deutlich, dass die Entscheidungen der Abgeordneten an sich schon viele Komplexitätsebenen beinhalten. Darunter können, je nach Tragweite des Themas über das abzustimmen ist, alle „Merkmale komplexer Entscheidungen“ von Dörner fallen: Komplexität, Dynamik, Intransparenz und Unkenntnis bzw. falsche Hypothesen (Dörner 2000: S. 58 ff.). Hinzu kommen noch die Faktoren Vielzelligkeit und hohe Vernetztheit. Diese inhaltliche Entscheidungsebene wird, wie schon oben beschrieben, nicht Bestandteil dieser Arbeit sein. Stattdessen soll eine ausschließlich politische Ebene der Entscheidungsfindung untersucht werden.

Durch die Fraktionsbildung kommt aber noch eine weitere komplexe Metaebene hinzu, die sich ebenfalls der Vielzelligkeit zuordnen lässt: Der Abgeordnete muss sich, nachdem er selbst eine individuelle Entscheidung getroffen hat, überlegen, ob er seine individuelle Entscheidung zugunsten der Mehrheitsmeinung der Koalition zurückstellt, und die Koalitionsverträge achtet, oder ob er die im Grundgesetz festgeschriebene Ungebundenheit in Anspruch nimmt, und dafür etwaige Sanktionen in Kauf nehmen muss.

Die Vernetztheit ergibt sich aus dem politischen Wechselspiel durch eine Vielzahl der Interessen, die in den Fraktionen des Bundestags aufeinanderprallen: So soll der Wahlkreis gut vertreten werden, jedoch muss auch immer mindestens an die Außenwirkung auf Bundesebene, meist auch noch auf der Landesebene gedacht werden. Zusätzlich müssen auch die Meinung eines Koalitionspartners und der Opposition berücksichtigt werden.

Zuerst wird eine Begriffsanalyse zur Fraktionsdisziplin bzw. zum Fraktionszwang durchgeführt, anschließend soll die genaue Funktionsweise erklärt werden. Daraufhin wird der politische Nutzen der Fraktionsdisziplin beleuchtet. Dann wird auf die möglichen Mittel zur Durchsetzung ebendieser eingegangen, um sie letzten Endes aus rechtlicher Sicht zu beurteilen.

Nachdem das gesamte Problemfeld dann ausführlich dargestellt ist, wird der Normenkonflikt zwischen Fraktionsdisziplin und Weisungsungebundenheit behandelt: An welchen Stellen kollidieren beide Konzepte, und wo sind demokratische und rechtliche Probleme?

Letzten Endes soll die Zulässigkeit dieses Normenkonflikts untersucht werden. Gibt es unvereinbare Widersprüche? Gibt es Lösungsansätze für die aufgezeigten Probleme?

2. Die Fraktion und der Abgeordnete

Sowohl die Abgeordneten, als auch die Fraktionen die sie bilden, stellen einen wichtigen Grundpfeiler des deutschen demokratischen Systems dar. Die Abgeordneten sind die direkten Repräsentanten der Wählerschaft, also der nationalen Bevölkerung, und die Fraktionen deren Arbeitseinheiten im Bundestag.

Im folgenden Kapitel werden diese beiden grundlegenden demokratischen Institutionen genauer untersucht: Wie kommen sie zustande, welche Funktion haben sie und welche Aufgaben übernehmen sie?

2.1 Der Abgeordnete im Bundestag

Gewählte Abgeordnete stellen die Grundeinheit eines jeden demokratischen Parlamentes dar. Im deutschen Bundestag sind sie verfassungsmäßig durch die Volkswahl legitimiert (vgl. Bäcker 2011: S. 48), dies geschieht in Deutschland durch die Bundestagswahl. Hierbei können Abgeordnete entweder durch Direktwahl oder durch Listenplätze ihr Mandat erhalten (vgl. BWahlG §42).

Mit dem Erhalt des Mandats wird der Kandidat, sollte er die Wahl annehmen, Mitglied des Bundestags. Die Mitgliedschaft endet mit der jeweiligen Wahlperiode und ist unabhängig von Parteizugehörigkeit und eventueller Fraktionszugehörigkeit. Das Bundestagsmitglied kann sein Mandat nur aus freiem Willen wieder ablegen (vgl. §§ 2-4 AbgG).

Das Mandat im deutschen Bundestag ist frei, dies bedeutet, dass der Mandatsträger weder seiner Partei noch seiner Fraktion oder seinen Wählern unterworfen ist, sondern die gesamte Bevölkerung nach seinem Gewissen vertreten muss (Art. 38 GG).

Mit der Mitgliedschaft im Parlament gehen erst einmal keine verfassungsrechtlichen Aufgaben einher. Tatsächlich folgen damit erst einmal Privilegien wie die Indemnität und finanzielle Entschädigung (Art. 46-48 GG). Die konkrete Aufgabenzuweisung von Seiten der Verfassung ist zuerst direkt an das Parlament gerichtet und betrifft den Abgeordneten damit indirekt (vgl. Bäcker 2009: S. 48).

Die Aufgaben, die er durch diese indirekte Zuweisung erhält, sind allerdings weder vollständig noch unumstritten. Sicher ist, dass das Parlament die Repräsentation des Volkes als Ganzes zu übernehmen hat. Ebenso soll es die Regierung auf Konformität zum Grundgesetz kontrollieren, ist befugt Gesetze zu erlassen und kann aktiv Funktionsträger, z.B. für Ausschüsse wählen; Abgeordnete können sich darüber hinaus auch passiv wählen lassen (vgl. Bäcker 2009: S. 24f, S. 48f).

Faktisch werden diese Pflichten aber durch die Fraktionen erfüllt, so werden z.B. Mitglieder der Ausschüsse durch die Fraktionen bestimmt. Fraktionslose Abgeordnete werden demnach nur in Ausnahmefällen in die Ausschüsse gewählt (GO BT §57, Abs. 2).

2.2 Die Fraktion

Die Fraktionen im Parlament bilden die eigentlichen Arbeitseinheiten des Bundestags. Sie übernehmen die politische Willensbildung der gewählten Mandatsträger. Abgeordnete, die sich ihnen anschließen, verfügen über deutlich mehr Rechte und Kompetenzen als ihre fraktionslosen Kollegen. Eine effektive Ausübung der parlamentarischen Aufgaben eines Abgeordneten ohne den Status eines Fraktionsmitglieds scheint nicht möglich zu sein (vgl. Pfeil 2008, S. 1, S. 7).

Fraktionen werden durch willentliches Zusammenschließen von mindestens fünf Prozent aller Abgeordneten des Bundestag gegründet (GO BT §10 Abs. 1.). Die Abgeordneten, die bei der Gründung anwesend waren, gelten automatisch als Mitglied. Ausserdem können Abgeordnete nach der Gründung auch aus freien Stücken einer Fraktion beitreten, wenn sie beschließt ihn aufzunehmen. Abgeordnete können die Fraktion ebenso aus freiem Willen wieder verlassen (vgl. Bäcker 2009: S. 96).

MandatsträgerInnen mit gemeinsamer (partei-) politischer Auffassung finden sich in den Fraktionen zusammen. Damit nehmen die Fraktionen auf der einen Seite die Funktionen der Parteien im Parlament ein. Es wird versucht, die in der Partei gewünschte Politik parlamentarisch umzusetzen. Somit soll die gesellschaftliche Willensbildung, die durch die Wahl der Abgeordneten stattgefunden hat, in staatliches Handeln umgewandelt werden (vgl. Bäcker 2009: S.17 f). Auf der anderen Seite müssen die Fraktionen aber auch die Aufgaben des Parlaments und der Abgeordneten erfüllen. Wie schon in Kapitel 2.1 beschrieben, sind die meisten Aufgaben rechtlich direkt an das Parlament gerichtet, nicht aber an die Abgeordneten und die Fraktionen. Dennoch fällt es der Fraktion zu, diese Aufgaben zu erfüllen. Eine individuelle Erfüllung der Aufgaben durch einzelne Abgeordnete sei durch die hohe Komplexität kaum möglich (vgl. ebd.: S. 18). Die konkreten parlamentarischen Aufgaben von Fraktionen sind allerdings strittig, es existieren verschiedene Aufgabenkataloge.

Avenarius stellt z.B. fest, dass der Bundestag Beschlüsse über Bundesgesetze fasst, den/die BundeskanzlerIn sowie die Hälfte der MitgliederInnen des Bundesverfassungsgerichts wählt, die Regierung durch Anfragen und Unterausschüsse kontrolliert sowie letztendlich auch dem Haushaltsplan und der Rechtsauslegung der Regierung zustimmt (vgl. Avenarius 2002: S. 47).

Trotz der theoretischen Unsicherheit über die genauen Aufgaben entspricht dieser Katalog dem Alltag im deutschen Bundestag.

3. Die Weisungsungebundenhenheit der Abgeordneten

Bei der Weisungsungebundheit der Abgeordneten handelt es sich um ein hohes Rechtsgut, sie ist im deutschen Grundgesetz festgeschrieben. In diesem Kapitel sollen sowohl die demokratischen und politischen Hintergründe der Ungebundenheit, als auch die rechtlichen Aspekte ebendieser untersucht werden.

3.1 Die Ungebundenheit aus demokratischer Sicht

Die Abgeordneten des Bundestages sind „[...] an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ (GG Art. 38, Abs. 1.). Diese Regelung soll sicherstellen, dass die Abgeordneten unabhängig von äußeren Beeinflussungen sind. Sie sollen tatsächlich so entscheiden, wie es für das Volk, das sie im Vertrauen darauf gewählt hat, am besten ist.

Wenn also jeder Abgeordnete im Bundestag nur seiner eigenen Meinung verpflichtet ist, und die Abgeordneten ihr Mandat aufgrund der Einschätzung der Wähler erhalten hätten, würde ein Abstimmungsergebnis der Gesamtentscheidung der Bundesbevölkerung nahe kommen.

Faktisch kann es aber durchaus zu Beeinflussungen, etwa eben durch die Fraktion oder die Partei kommen. Bisweilen geschieht dies auch durch wirtschaftliche, nicht-politische Institutionen.

Das Recht auf Weisungsungebundenheit schützt das Bundestagsmandat der Abgeordneten. Es kann ihm nicht aufgrund von Ungehorsam gegenüber der Partei oder seiner Fraktion entzogen werden. Es schützt allerdings nicht die Fraktionszugehörigkeit, oder die Ämter, die ein Abgeordneter im Rahmen seiner Fraktionszugehörigkeit inne hat (vgl. Pfeil 2008: S. 280 f, vgl. Kapitel 4.5).

3.2 Die Ungebundenheit aus rechtlicher Sicht

Rechtlich ist die Weisungsungebundenheit, wie schon oben erwähnt, durch die Grundordnung der Bundesrepublik geschützt. Sie sichert das freie, d.h. ungebundene Mandat eines jeden Abgeordneten.

Es ist aber festzuhalten, dass das GG in diesem Falle nur das Mandat des Abgeordneten schützt. Wie in Kapitel 3.1. dargestellt, weitet sich der Geltungsbereich von Art. 38 GG weder auf die Partei- noch die Fraktionsmitgliedschaft des Abgeordneten aus (vgl. Martens 1965: S. 866).

Während ein Ausschluss aus dem Bundestag verfassungswidrig wäre, da er das freie Mandat direkt angreifen würde, kann ein Ausschluss aus einer Fraktion bzw. Partei rechtlich legitim sein (vgl. Bäcker 2009: S. 166 ).

Das Grundgesetz sieht keine konkrete Strafe bei einem direkten Verstoß gegen Art. 38 GG vor. Es ist demnach unklar, wie unzulässige Beeinflussung durch z.B. Zwang geahndet werden kann (vgl. Martens 1964: S. 866).

4. Die Fraktionsdisziplin und der Fraktionszwang

Fraktionsdisziplin bzw. Fraktionszwang werden häufig synonym verwendet. In diesem Kapitel sollen ebendiese genau untersucht werden: Zuerst werden die Begriffe analysiert, anschließend soll der parlamentarische Nutzen geklärt werden. Danach wird auf die Mittel zur Durchsetzung eingegangen, um schließlich noch einmal die rechtliche Perspektive des Zwangs bzw. der Disziplin zu erläutern.

4.1 Die Unterscheidung der Begriffe Fraktionsdisziplin und -zwang

Beide Begriffe, Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin werden synonym verwendet. Dabei nutzen Kritiker derselben häufig das Wort „Zwang“, während die Befürworter eher den Begriff „Disziplin“ nutzen. Wie Martens (1965: S. 865) feststellt, ist die Wahl des Ausdrucks an sich schon wertend; Disziplin weckt positive, Zwang negative Assoziationen.Es ist zusätzlich festzuhalten, dass in den wissenschaftlichen Abhandlungen über diese Thematik beide Begriffe Verwendung finden (vgl. Martens 1965, S. 865; vgl. Pfeil 2008: S. 280f., vgl. Bowler et.al. S. 6f).

Auch eine Differenzierung der Begriffe nach legitimer und unzulässiger Fraktionsdisziplin hat nicht zu einer Änderung im synonymen Gebrauch der Begriffe geführt, obwohl sich dies augenscheinlich anbieten würde.

Im englischsprachigen Raum ist ausschließlich der Terminus „party discipline“ in Gebrauch, ein negativ konnotiertes Synonym wird in der wissenschaftlichen Literatur nicht genutzt ( vgl. Bowler et. al.: 1999 ; vgl. Kam 2009).

Wie in Kapitel 4.4 gezeigt werden wird, gibt es sowohl legitime als auch illegitime Anwendungen und Auslegungen von Fraktionsdisziplin. Pfeil weicht von dieser synonymen Verwendung ab, er nutzt „Disziplin“, wenn Freiwilligkeit des Abgeordneten vorliegt, und „Zwang“, wenn Druckmittel eingesetzt werden (vgl. Pfeil 2008: S. 168). Um die Diskussion übersichtlicher zu gestalten, werde ich in dieser Arbeit den Begriff des Fraktionszwanges dann nutzen, wenn das Maß der legitimen Ausübung der Fraktionsdisziplin überschritten wird, und gegen die grundgesetzlichen Rechte verstößt.

4.2 Was versteht man unter Fraktionsdisziplin?

Der Begriff „Fraktionsdisziplin“ verfügt über keine allgemein anerkannte Definition, auch ist er rechtlich nicht konkret festgelegt. Die meisten Definierungsversuche unterscheiden sich meist in der genauen Auslegung der eventuellen rechtlichen Pflicht des Abgeordneten und des Rechtsstatus dieser Disziplin.

Gemein ist ihnen aber der Inhalt: Die Fraktionsmitglieder sind angehalten sich in Abstimmungen der Meinung der Fraktionsmehrheit unterzuordnen, auch wenn sie in der vorherigen Abstimmung anderer Meinung waren (vgl. Mangold 1950: S. 337; vgl. Martens 1965: S. 865; vgl. Delius et. al. 2013: S. 547).

Im Fraktionsalltag würde das normale Verfahren zur Meinungsfindung wie folgt ablaufen: Die Fraktion befindet sich vor einer Abstimmung im Bundestag. Die einzelnen Abgeordneten tauschen ihre frei gefundenen Meinungen zu den Alternativen der Abstimmung aus. Hierbei wird i.d.R. ersichtlich, ob eine Mehrheit besteht. Sollten sie auch nach Diskussion nicht der Mehrheitsmeinung angehören, so wird erwartet, dass sie aus freier Einsicht die Notwendigkeit einer geschlossenen Fraktionsmeinung anerkennen. Sie werden dementsprechend ihr Wahlverhalten der Mehrheitsmeinung anpassen (vgl. Pfeil 2008: S. 176 f.).

Hierbei kann die Entscheidung des Abgeordneten sowohl völlig frei aus tatsächlicher Einsicht kommen, aber auch auf Einflussnahme seitens der Fraktion beruhen; „[...] die auf ein geschlossenes Agieren inner- und außerhalb des Plenums bedacht ist.“ (Pfeil 2008: S. 177). Beide Alternativen sind legitim (vgl. ebd.).

Diese Einflussnahme ist jedoch, zumindest wenn man von der Disziplin und nicht dem Zwang ausgeht, begrenzt, wie in Kapitel 4.5 noch gezeigt werden wird.

4.3 Der Nutzen der Fraktionsdisziplin

Wenn das durch das Grundgesetz geschützte freie Mandat eines Abgeordneten in Anbetracht der Fraktionsdisziplin relativiert werden kann, lohnt es sich, den politischen Nutzen und die Funktion ebendieser zu untersuchen.

Von Mangold betont schon 1950, dass es im politischen System der BRD für die einzelnen Parteien von großer Bedeutung ist, in voller Stärker hinter einer Entscheidung zu stehen. Dies treffe insbesondere auf Entscheidungen, die das „Interesse des gesamten Volkes“ betreffen. Das Interesse des einzelnen Abgeordneten könnte, entgegen seiner Meinung, diesem übergeordnetem Interesse widersprechen. Wenn die demokratische Mehrheit der Abgeordneten einer Partei einer Meinung sind, wird davon ausgegangen, dass sie das Gemeinwohl widerspiegelt. Die abweichende Einzelmeinung eines Abgeordneten aufzugeben und sich unterzuordnen würde demnach sicherstellen, für das Gesamtwohl zu stimmen (vgl. Mangold 1950: S. 337).

Zusätzlich ist die Funktionsfähigkeit des Parlaments ein wichtiger Faktor:

Eine funktionierende demokratische Staatsorganisation kann sich nur dann entwickeln, wenn das Parlament auf der Grundlage der verfassungsrechtlichen Vorgaben funktions- und arbeitsfähig ist. (Pfeil 2008: S. 180)

Um diese Funktionsfähigkeit zu gewährleisten ist es nötig, dass eine Fraktion, zur Not durch begrenzte Beeinflussung ihrer Mitglieder, ihre Mehrheitsfähigkeit herstellt. Nach Pfeil lässt sich diese Praxis schon aus dem Demokratiegebot in Art 20 GG, sowie Art 24. GG herleiten: Alle Fraktionen unterliegen der Pflicht, über eine demokratische Grundordnung zu verfügen, um das Parlament aufzubauen und Arbeitsfähigkeit herzustellen (vgl. Pfeil 2008: S. 180 f.).

Ein weiterer wichtiger, parteipolitischer Grund für Fraktionsdisziplin liegt in der Glaubwürdigkeit und dem Ruf einer Fraktion, bzw. der damit assoziierten politischen Partei. Die Außenwirkung einer innerlich zerstrittenen Bundestagsfraktion erweckt für den Wähler den Eindruck, die entsprechende Partei wäre handlungsunfähig. Er wird eine Wiederwahl kritisch hinterfragen (vgl. Mitchell 1999: S. 270 f.).

4.4 Mittel zur Durchsetzung der Fraktionsdisziplin

Zur Durchsetzung der Fraktionsdisziplin sind eine Vielzahl von Mitteln denkbar. Von informellem, sozialem Druck bis hin zum Parteiausschluss oder der Drohung des Mandatsverlustes, scheint vieles möglich. Allerdings ist zu beachten, dass von den festgesetzten Mitteln abhängt, ob es sich bei einer etwaigen Einflussnahme um Fraktionsdisziplin oder nicht legitimen Fraktionszwang handelt. Dieser rechtliche Unterschied wird in Kapitel 4.5 genauer untersucht werden.

1.: Zuerst zu nennen ist hier der soziale Druck, eine Art „peer pressure“. Der Abgeordnete möchte, gerade wenn er neu im Parlament ist, nicht negativ auffallen und kann daher ohne Druck von außen seine Meinung der Mehrheit anpassen.
2.: Der nächste Schritt wäre dann eine direkte Einflussnahme von außen, etwa indem die Fraktionsführung auf den abweichenden Abgeordneten einredet und versucht ihn argumentativ zu überzeugen.

Weitergehend ist es denkbar, dass die Fraktionsleitung für den Fall, dass der Abgeordnete nicht einlenkt, Sanktionen androht:

3.: Dem Abgeordneten kann angedroht werden, aus der Fraktion ausgeschlossen zu werden. Dies hätte, wie an früherer Stelle dargelegt, einen weitreichenden Verlust von Rechten und Beteiligungsmöglichkeiten zur Folge.
4.: Es kann ebenfalls mit einem Parteiausschluss gedroht werden. Dies muss nicht zwangsweise mit einem Fraktionsausschluss einhergehen, wird aber meist zusammenhängend angedroht.
5.: Der Abgeordnete kann eingeschüchtert werden, indem man ihm eine Wiederaufstellung zur Wahl als Abgeordneter oder weiteren Ämtern vorenthält.
6.: Ihm kann angedroht werden, sein Bundestagsmandat zu verlieren.

Bei den genannten Möglichkeiten zur Disziplinierung ist festzuhalten, dass die ersten beiden genannten Möglichkeiten noch ohne konkrete Androhung von Strafen ausgeführt werden. Dies ist bei den Punkten 3. - 6. anders: Der oder die Abgeordnete befindet sich in einer konkreten Zwangssituation. Dies ist insbesondere deshalb kritisch zu sehen, da im Deutschen Bundestag die Berufspolitiker, d.h. die Abgeordneten, die den größten Teil oder ihr alleiniges Einkommen aus der Parteiarbeit bzw. den Diäten beziehen, die überwiegende Mehrheit ausmachen. Da die Sanktionen 3. - 6. sich direkt auf die Stellung des Abgeordneten beziehen, ist somit sein alleiniges Einkommen in Gefahr; er wird erpressbar (vgl. Mangold 1950: S. 337).

4.5 Fraktionsdisziplin aus rechtlicher Sicht

Juristisch gesehen kann man die unter 4.4 aufgeführten Mittel zur Sicherung der Fraktionsdisziplin in drei Kategorien unterteilen: Die sanktionslosen Mittel, wie unter 1. und 2. aufgeführt, die Mittel, die sich nicht gegen sein Bundestagsmandat richten, wie unter 3. - 5. beschrieben oder aber Disziplinarmaßnahmen, die sich direkt auf sein Bundestagsmandat beziehen.

Die sanktionslosen Mittel zur Aufrechterhaltung der Fraktionsdisziplin sind nach aktuellem Forschungsstand legitim. Sie sind zum einen, etwa bei „peer pressure“ sehr schwer nachzuweisen, zum anderen beeinträchtigen sie den Abgeordneten nicht durch direkten Zwang in seiner Entscheidungsfindung. Er kann sich entschließen, dem Druck nicht nachzugeben und weiterhin gegen die Koalition abzustimmen.

Die Maßnahmen, die sich direkt gegen das Bundestagsmandat richten, also darauf abzielen, es zu entziehen, sind unzulässig. Sie widersprechen dem freien Mandat des Bundestagsabgeordneten. Es ist verfassungskonform nicht möglich, einem Abgeordnetem sein Mandat zu nehmen. Dies würde der Ungebundenheit des Mandats und damit Art 38 GG zuwiderlaufen (vgl. Delius 1959: S. 866).

Schwieriger sind dagegen die Sanktionsmaßnahmen zu beurteilen, die sich zwar gegen den Abgeordneten, aber nicht gegen sein Mandat richten. Der Ausschluss von Wiederwahl oder aus Fraktion und Partei stellen einen großen Einschnitt für den Abgeordneten dar, insbesondere wenn er sein Haupteinkommen aus seiner politischen Tätigkeit bezieht. Sie sind aber, wenn sie satzungsmäßig festgehalten sind und der demokratischen Grundordnung entsprechen (d.h. wenn die Fraktion darüber abstimmt), rechtmäßig. Die Stellung als Abgeordneter entbindet den Abgeordneten nicht der Rechenschaft gegenüber anderen Mitgliedschaften, wie z.B. seiner Partei (vgl. Martens 1965: S. 866;vgl. Pfeil 2008: S. 169; vgl. Bäcker 2011: S. 178).

Martens hebt außerdem hervor, dass sich die Disziplinarmaßnahmen der Fraktion unter keinen Umständen gegen die private Sphäre des Abgeordneten richten dürfen, sondern lediglich gegen die politische (vgl. Mangold 1965: S. 866).

Zusätzlich stellt Pfeil fest, dass erst die Erfüllung eines Straftatbestandes den Fraktionszwang klar definiert. Mit Ausnahme der Maßnahmen gegen das freie Bundestagsmandat an sich, seien erst (die Androhung von) Straftaten klare Fälle von Fraktionszwang. Satzungsmäßige Disziplinarverfahren dagegen seien zulässig (vgl. Pfeil 2008: S. 169).

Zusammenfassend kann man also schließen: Wenn sich die Disziplinarmaßnahmen, so es denn welche gibt, nicht gegen das Mandat des Abgeordneten richten, sondern gegen seine Angehörigkeit an den anderen genannten Institutionen, sind sie legitim, wenn sie satzungsmäßig festgehalten sind. Obwohl faktisch ein Zwang ausgeübt wird, handelt es sich in diesen Fällen aus juristischer Sicht um gerechtfertigte Mittel zur Wahrung der Arbeitsfähigkeit der Fraktionen. Es ist allerdings nicht möglich, einen Abgeordneten aus dem Bundestag zu entlassen. Sein Mandat kann er nur freiwillig abgeben. Zwangshandlungen sind hier ausgeschlossen.

5. Der Normenkonflikt

Wie in den vorherigen Kapiteln gezeigt wurde, entsteht ein schwerwiegender Normenkonflikt um die Rolle des Abgeordneten in der Fraktion des Bundestags: Zwar ist der Abgeordnete durch sein freies Mandat theoretisch weisungsungebunden und nur seinem Gewissen unterworfen, um die bestmöglichen Entscheidungen für die Bevölkerung zu treffen, faktisch agiert er jedoch in einem politischen Umfeld, in dem er ständig gezwungen ist Kompromisse einzugehen und in Fraktionen zu arbeiten. Diese wiederum haben den intrinsischen Auftrag mehrheitsfähige Beschlüsse zu fassen. Dies wird zusätzlich durch die Satzungen der Fraktionen, die die Fraktionsdisziplin vorschreiben, bestärkt.

Die Fraktionsdisziplin soll, wie in Kapitel 4 gezeigt wurde, in erster Linie sicherstellen, dass die Fraktionen, und damit auch das Parlament, arbeitsfähig sind. Ohne arbeitsfähige Fraktionen kann der Bundestag seinen Aufgaben nicht nachkommen, der Abgeordnete kann demnach auch keine Politik betreiben.

Der Abgeordnete ist also, sollte er nicht der Mehrheitsmeinung seiner Fraktion sein, im Widerspruch zwischen eigener, abweichender Meinung und der Fraktionsdisziplin gefangen.

Sollte er sich dazu entscheiden, wiederholt und trotz Verwarnung, weiterhin nach seiner eigenen Meinung abzustimmen, besteht für ihn die Gefahr, aus der Bundestagsfraktion und seiner Partei ausgeschlossen zu werden. Damit würde er sowohl einen großen Teil seiner parlamentarischen Privilegien als auch seine weitere politische Karriere verlieren. Gerade letzteres stellt für einen Berufspolitiker ein großes materielles Hemmnis dar: Er würde, spätestens mit der nächsten Wahlperiode, seine wichtigste Einnahmequelle verlieren.

Somit steht es dem Abgeordneten zwar theoretisch frei, sich gegen die Mehrheitsmeinung seiner Partei zu wenden, er wird dies aber nur in seltenen und schwerwiegenden Fällen tun, um seine politische Karriere nicht zu gefährden.

6. Fazit

Die Weisungsungebundenheit des parlamentarischen Abgeordneten ist, wie gezeigt wurde, bereits im deutschen Grundgesetz festgehalten. Tatsächlich wird der Schutz dieser Ungebundenheit aber effektiv durch fraktionelle Zwangsmechanismen untergraben.

Dem Abgeordneten, der, wie gezeigt wurde, in seiner Funktion dazu angehalten ist, komplexe Entscheidungen in einem engen, festgesetzten Netz aus Normen zu fällen, wird hiermit sicher nicht geholfen. Die Komplexität der Entscheidung wird durch die zusätzlichen Entscheidungsebenen nur erhöht. Neben den inhaltlichen Aspekten der jeweiligen Entscheidungen können so noch mindestens zwei weitere politische Ebenen hinzukommen: Die Wahlkreis- und die Fraktionspolitische. Der Abgeordnete ist hierdurch gezwungen, seine Aufmerksamkeit aufzuteilen, es besteht die Gefahr, dass die zu treffenden Entscheidungen, qualitativ schlechter werden. Dem komplexen Entscheider wird seine Arbeit somit schwerer gemacht als es eigentlich nötig wäre.

Durch in der Fraktionssatzung festgehaltene Disziplinarmaßnahmen wird auf den Abgeordneten Druck ausgeübt, seine Meinung der Mehrheitsmeinung seiner Fraktion anzupassen. Dieser Druck geht weit über den bloßen Appell der Fraktionsführung auf den Abgeordneten hinaus, ihm droht der Entzug seiner finanziellen Lebensgrundlage.

Die Ausübung des Druckes ist rechtlich legitim, aber unter demokratischen Gesichtspunkten sehr fragwürdig. Wie in Kapitel 5 dargelegt wurde, hat der abweichende Bundestagsabgeordnete im Extremfall nur die Wahl zwischen dem Anpassen seiner Meinung an den Mainstream oder dem Ausschluss aus der Bundestagsfraktion, was gravierende Folgen für ihn hat. Durch das Bestehenbleiben dieser Wahlmöglichkeit sehen einige Autoren die Unabhängigkeit des Abgeordneten umgesetzt, da die Fraktion keinen bindenden Zwang ausüben kann (vgl. Pfeil 2008: S. 280).

Tatsächlich besteht durch die legitime Möglichkeit, den Abgeordneten aus der Fraktion und Partei zu verbannen und ihn von der Wiederwahl auszuschließen, dennoch ein Zwang. Dieser Zwang wirkt sich durch die finanzielle Abhängigkeit des Berufspolitikers von seinem Amt auch indirekt auf die „private Sphäre“ des Abgeordneten aus, und wäre damit nach Martens unzulässig (vgl. Martens 1965: S. ).

Mangolds Vorschlag zur Lösung dieses Problems scheint aus heutiger Sicht nicht mehr durchführbar: Er plädiert für einen deutlich geringeren Anteil von Berufspolitikern im Parlament, dafür aber für mehr Abgeordnete, für die die Politik nur eine Nebeneinkunft darstellt (Mangold 1950: S 336). Durch die hohe Komplexität und dem damit verbunden Zeitaufwand, scheint die Einführung des „Teilzeitpolitikers“ als illusorisch. Insbesondere die Wählerschaft würde vermutlich ein umfassenderes Engagement des gewählten Volksvertreters abverlangen.

Es bleibt festzuhalten, dass der Zwang der auf die Abgeordneten ausgeübt wird, faktisch über die einfachen Mittel der Disziplin hinausgeht. Rechtlich ist dieses Vorgehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt legitim, es wirft jedoch große demokratische Probleme auf: Die demokratische Grundordnung gebietet es, dass sich bei Abstimmungen und Wahlen die Mehrheit durchsetzt. Durch die strikte Anwendung von Fraktionsdisziplin kann es aber zu einer starken Verzerrung des Wahlergebnisses kommen[1] (vgl. Martens 1965: S 866).

Es ist allerdings fraglich, wie der Normenkonflikt in einer parlamentarischen Demokratie zu lösen ist; eine Aufhebung der Ungebundenheit des Mandats wäre mit einem demokratischen Selbstverständnis nicht zu vereinbaren. Daraus folgt, dass die Änderung also vonseiten der Fraktionen kommen muss.

Hierbei ist aber problematisch, dass der rechtliche Charakter, sowohl von politischen Parteien im Bundestag, als auch von Fraktionen selbst, nur sehr lose umschrieben wird. Eine genauere normative Ausführung ist erforderlich, insbesondere das Fraktionsbinnenrecht sollte rechtlich klar umrissen werden.

Als pragmatische Näherung an eine Lösung des Konflikts kann eine verstärkt praktizierte Aufhebung des Fraktionszwangs dienen. Diese Aufhebung wird zur Zeit nur bei besonders wichtigen, kontrovers geführten Abstimmungen eingesetzt, zuletzt bei der Entscheidung zur Sterbehilfe. Rechtlich sind die Bedingungen dafür nicht definiert. Es spräche wenig dagegen, die Nutzung der Aufhebung auch auf weniger gravierende Entscheidungen auszuweiten.

Um die Fraktionen und damit das Parlament dennoch handlungsfähig zu halten, sollte diese Aufhebung erst ab einer bestimmten Bedeutungsschwere der Entscheidung eingeführt werden, und nicht bei jeder Alltagsentscheidung durchgeführt werden.

Problematisch bei dieser Alternative wäre aber, dass im Prinzip eine Verschiebung des Problems stattfinden würde. Eine solche Grenze der Bedeutungsschwere von Entscheidungen wird politisch kaum unstrittig zu definieren sein und bietet neue Angriffsflächen, wie auch nach den Entscheidungen zur Sterbehilfe zu sehen war. Eine solche Grenze wird immer dem berechtigten Vorwurf der Willkür ausgesetzt sein.

Dennoch würde dieser Ansatz mit gut umsetzbaren und bekannten Mitteln für eine deutlich bessere Wahrung der im deutschen Grundgesetz verankerten Ungebundenheit der Abgeordneten im Bundestag sorgen, ohne dass gravierende Änderungen in der Reglementierung des Bundestags nötig wären.

7. Quellen

Avenarius, Hermann (2002): Die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Bundeszentrale für Politische Bildung, 3. Auflage.

Bäcker, Alexandra (2011): Der Ausschuss aus der Bundestagsfraktion. Duncker & Humblot.

Bowler, Shaun; Farrell, David und Katz, Richard (1999): Party Cohesion, Party Discipline and Pariaments. Erschienen in: Bowler, Shaun; Farrell, David und Katz, Richard (Hrsg.): Party Discipline and Parliamentary Government. Ohio State University Press S. 3 -22.

Bundestag, Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung. Quelle: http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-demokratie/39331/bundestag. Zuletzt abgerufen am 20.01.2016.

Dörner, Dietrich, (2000): Die Logik des Mißlingens: Strageisches Denken in komplexen Situationen. Rohwolt.

Kam, Christopher (2009): Party Discipline and Parliamentary Politics. Cambridge University Press.

Mangold, Hermann von (1950): Der Fraktionszwang. Erschienen in: Ehard, Hans; Geiler, Karl; Hallstein, Walter; Schmidt, Eberhard (Hrsg.) Süddeutsche Juristen-Zeitung, Jahrgang 5: S. 336-340. Verlag Lambert Schneider.

Martens, Horst (1965): Freies Mandat oder Fraktionsdisziplin. Erschienen in: Deutsches Verwaltungsblatt, Carl Heimanns Verlag KG, 80. Jahrgang, S. 865 -867.

Mitchell, Paul (1999): Coalition Discipline, Enforcement Mechanisms, and Intraparty Politics. Erschienen in: Bowler, Shaun; Farrell, David und Katz, Richard (Hrsg.): Party Discipline and Parliamentary Government. Ohio State University Press, S. 269 -289.

Pfeil, Hanno (2008): Der Abgeordnete und die Fraktion. Verlag Dr. Kovac.

Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD (2013): Deutschlands Zukunft gestalten. Quelle: https://www.cdu.de/sites/default/files/media/dokumente/koalitionsvertrag.pdf. Zuletzt abgerufen am 18.01.2016.

[...]


[1] Martens Beispiel zeigt, dass es bei zwei Parteien, A (mit 55% der Abgeordneten) und B (mit 44% der Abgeordneten) bei wahrung der Fraktionsdisziplin zu einem Abstimmungsergebniss kommen kann, bei dem insgesamt zwei drittel der Wähler in den fraktionellen Vorwahlen gegen das Ergebniss waren, es aber dennoch eine Mehrheit bekommen kann.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Ungebundenheit, Fraktionsdisziplin und -zwang im Bundestag als komplexes Entscheidungsproblem
Untertitel
Komplexes Entscheiden (Professional Public Decision Making) Band 7
Hochschule
Universität Bremen  (Komplexes Entscheiden (Professional Public Decision Making))
Veranstaltung
Politisches Entscheiden
Note
1,0
Autoren
Jahr
2016
Seiten
24
Katalognummer
V355989
ISBN (eBook)
9783668411630
ISBN (Buch)
9783668411647
Dateigröße
1560 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Fraktionszwang, Fraktionsdisziplin, Komplexes Entscheiden, MdB, Ungebundenheit
Arbeit zitieren
Tjark Raabe (Autor:in)Dagmar Borchers (Herausgeber:in)Maximilian Hohmann (Herausgeber:in)Sandra Kohl (Herausgeber:in), 2016, Ungebundenheit, Fraktionsdisziplin und -zwang im Bundestag als komplexes Entscheidungsproblem, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/355989

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