Die Darstellung des Wahnsinns in E. T. A. Hoffmanns 'Der Sandmann' als rezeptionsästhetisches Mittel zur Erschütterung der Wirklichkeitswahrnehmung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

26 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

I. Einleitung

II. Hauptteil
1. Dämonische Mächte im Sandmann – zwei Perspektiven
1.1. Nathanaels Wahnsinn - Folge einer äußeren Macht oder eines inneren Dämons?
1.2. Die naturphilosophische Sichtweise Schuberts: Nathanael als Empfänger übernatürlicher Kräfte
2. Die Multperspektivität als Mittel zur Verwischung der Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn
2.1. Mehrdeutige Erzählhaltung
2.2. Der Dialog zwischen Autor und Leser

III. Schluss

IV. Literatur

I. Einleitung

In der Literatur der Romantik spielt die Beschäftigung mit der Wahnsinnsthematik eine besondere Rolle. Die literarische Verarbeitung dieses Themas steht in engem Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen psychologischen und psychiatrischen Diskurs dieser Zeit. An diesem Diskurs war offensichtlich auch E. T. A. Hoffmann äußerst interessiert, was sich in vielen seiner Werke zeigt.

In seiner 1815 entstandenen Erzählung Der Sandmann steht der Student Nathanael im Mittelpunkt, der fortschreitend an Wahnsinn leidet und schließlich auch daran zugrunde geht, dass er Realität und Vision nicht mehr trennen kann. Diese Arbeit soll zeigen, dass mit der Darstellung eines Wahnsinnigen nicht der Wahnsinn als Krankheit im Vordergrund steht und etwa Therapiemöglichkeiten vorgestellt würden. Hoffmann nutzt das Thema Wahnsinn vielmehr dazu, um mit den festgelegten Vorstellungen von Normalität und Wahnsinn zu ‚spielen’ und die Wirklichkeitswahrnehmung seiner Rezipienten zu erschüttern.

Im ersten Teil der Arbeit geht es darum, die zwei Deutungsmöglichkeiten, die dem Leser in Bezug auf das ‚wahre’ Geschehen angeboten werden, zu analysieren und auf ihre Plausibilität hin zu untersuchen. Dabei geht es besonders um die Frage, ob man das Auftauchen übernatürlicher Mächte eher auf die übermäßige Phantasietätigkeit und den Wahnsinn Nathanaels zurückführen oder aber ob man den Wahrnehmungen Nathanaels glauben solle. Grundsätzlich öffnet der Text dem Leser also zwei Möglichkeiten, wie die Geschehnisse und damit auch ihre Wahrnehmung durch Nathanael, gedeutet werden können.

Diese unterschiedlichen Erklärungsmöglichkeiten Claras und Nathanaels korrespondieren mit zeitgenössischen Positionen in Bezug auf übernatürliche Phänomene und psychische Krankheit. Im zweiten Teil des ersten Kapitels soll daher ein Blick auf diesen Diskurs geworfen werden, wobei besonders die naturphilosophische Sichtweise berücksichtigt und darauf hingewiesen werden soll, welche Bedeutung Gotthilf Heinrich Schuberts Werk Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft für die Darstellung Nathanaels hat. Ziel dieser Analyse ist auch ein Verständnis für Hoffmanns Sicht auf die von ihm dargestellten unheimlichen, unerklärlichen Erscheinungen.

Schließlich geht es dann im zweiten Kapitel um die Erzähltechnik Hoffmanns, mit der er nicht zuletzt durch den häufigen Wechsel der Perspektive den Leser am Finden einer eindeutigen Interpretation des Gelesenen hindert. Dabei stellt sich die Frage nach der Absicht, die hinter Hoffmanns Verwirrspiel steht. Welche Wirkung erzielt Hoffmann mit seiner Inszenierung des Dialogs zwischen ihm und dem Leser bzw. zwischen Erzähler und Leser? Es gilt letztlich zu analysieren, welche Aussage Hoffmann mit seiner Erzähltechnik trifft, die dem Leser eine Auflösung, im Sinne einer Bestätigung der einen oder der anderen Wahrheit, schuldig bleibt.

II. Hauptteil

1. Dämonische Mächte im Sandmann – zwei Perspektiven

1.1. Nathanaels Wahnsinn - Folge einer äußeren Macht oder eines inneren Dämons?

Nathanael glaubt, in seiner Kindheit das erste Mal in Berührung mit einer dämonischen, äußeren Macht gekommen zu sein. Reizt ihn in frühster Jugend zunächst noch das Wunderbare im Sinne eines Abenteuers (vgl. S. 333), ist der Brief, den Nathanael in der Zeit seines Studiums an Lothar schreibt, ein Zeugnis seiner ernsthaften Angst:

„Ach wie vermochte ich denn Euch zu schreiben, in der zerrissenen Stimmung des Geistes, die mir bisher alle Gedanken verstörte! – Etwas Entsetzliches ist in mein Leben getreten!“[1]

Darauf erklärt er, dass es der Besuch eines Wetterglashändlers war, der ihm diesen „tödlichen Eindruck“ (331) hinterließ.

Er ist sich sicher, dass der Wetterglashändler die Fortsetzung eines dämonischen Wirkens ist, das in seiner Kindheit begonnen hat. Auch wenn sich dieser Dämon Nathanael zu unterschiedlichen Lebensabschnitten unter verschiedenen Namen zeigte (Sandmann, Coppelius, Coppola), bleibt es für ihn immer die gleiche Angst, die darin besteht, dass eine feindliche Macht sein Leben beherrsche und letztendlich zerstören werde. Er differenziert auch bezüglich der Bezeichnung des Dämons nicht zwischen dem Sandmann, der ihn in seiner Kindheit in Angst und Schrecken versetzt hat, dem Advokaten Coppelius, den er später als Sandmann identifiziert, und dem Wetterglashändler Coppola. Selbst als Nathanael in seinem zweiten Brief an Lothar schreibt, es sei nun „gewiß, daß der Wetterglashändler Giuseppe Coppola keineswegs der alte Advokat Coppelius“ sei, wird ein paar Zeilen weiter klar, dass in seinem Innern die beiden Figuren doch identisch bleiben:

„Ganz beruhigt bin ich nicht. Haltet ihr, Du und Clara, mich immerhin für einen düstern Träumer, aber nicht los kann ich den Eindruck werden, den Coppelius’ verfluchtes Gesicht auf mich macht. Ich bin froh, daß er fort ist aus der Stadt, wie mir Spalanzani sagt.“ (342)

Der Leser erfährt aus Nathanaels Sicht, was diesem Unglaubliches in seiner Kindheit geschehen ist und muss auf der Grundlage dieses Erlebnisberichts und dem eigenen Weltbild bezüglich Trennung von Phantasie und Wirklichkeit zu einer Einordnung bzw. Wertung der Ereignisse gelangen.

Nathanaels Beschreibung des Sandmanns lassen den Leser zunächst darauf schließen, dass sich hinter dem Sandmann wirklich die Verkörperung alles Bösen verbirgt. Sein äußeres Erscheinungsbild lässt ihn tatsächlich als etwas Nicht-Menschliches, Dämonisches erscheinen:

„Denke dir einen großen, breitschultrigen Mann mit einem unförmlich dicken Kopf, erdgelbem Gesicht, buschigen grauen Augenbrauen, unter denen ein Paar grünliche Katzenaugen stechend hervorfunkeln, großer, starker über die Oberlippe gezogenen Nase. Das schiefe Maul verzieht sich oft zum hämischen Lachen; [...] Die ganze Figur war überhaupt widrig und abscheulich [...].“ (334f.)

Obwohl Nathanael zu diesem Zeitpunkt weiß, dass es nicht jene Märchengestalt aus dem Ammenmärchen ist, die den Vater regelmäßig besucht, trägt diese Beschreibung märchenhafte Züge, worauf besonders die grünlichen Katzenaugen und das schiefe Maul hinweisen. Aber auch wenn einige Merkmale auf eine diabolische Gestalt hinweisen, ergibt sich kein eindeutig teuflisches Bild, wie Günter Hartung richtig feststellt. Für ihn ist Coppelius „eine aus ‚heterogenen Elementen’ zusammengesetzte Gestalt, an der gerade noch so viele traditionelle Vorstellungselemente beteiligt sind, daß sich die Resultante eines in Menschgestalt erscheinenden ‚teuflischen Prinzips’ ergibt.“[2] Damit erreiche Hoffmann, dass man Coppelius weder als Gestalt einer realen Welt identifizieren, noch der Sphäre des Phantastischen zuordnen könne.[3] Dies entspricht – so könnte man annehmen - der Absicht Hoffmanns, die Ebenen des Wirklichen und des Phantastischen zu verwischen.

E. T. A. Hoffmann war offensichtlich darum bemüht, Coppelius weder zu menschlich noch zu teuflisch darzustellen. Dies belegen möglicherweise auch Änderungen, die er vom Manuskript zur Druckfassung getätigt hat.[4] Dabei ist eine Episode von besonderer Bedeutung, die er in der Druckfassung gestrichen hat. Es fehlt eine Szene aus Nathanaels Kindheit, die das Dämonische an Coppelius stärker gewichtet hätte.[5] Darin taucht Coppelius unerwartet auf und langt Nathanaels Schwester in die Augen. Darauf brechen bei jener Geschwüre an den Augen aus, worauf sie erblindet und drei Wochen später stirbt[6]. Außerdem fehlt ein Detail in der Beschreibung Coppelius’, welches das Teufelsbild wiederum gestört hätte:

„Zur Winterszeit pflegte er ganz weiß zu gehen – selbst Hut, Stock und Uhrband waren von weißer Farbe. Ich glaube, er hätte weiße Schuhe tragen mögen wär das nur irgend Sitte gewesen“[7]

Es überwiegt bei Hoffmann aber eher die Tendenz, „den dämonischen Mächten geringere Einwirkungsmöglichkeiten auf das menschliche Leben zuzugestehen und die Verantwortung des Menschen für sein Schicksal zu betonen.“[8]

Ein heterogenes Bild mit teuflischen und menschlichen Komponenten zu entwerfen, ist aber wohl eher eine Technik E. T. A. Hoffmanns, mit der er den Leser verunsichern möchte, als dass Nathanaels Wahrnehmung wiedergegeben würden. Dieser ist nämlich überzeugt, dass Coppelius ein Abgesandter einer dämonischer Kraft ist, der er hilflos ausgeliefert ist:

„[...] immer sprach er davon, wie jeder Mensch, sich frei wähnend, nur dunklen Mächten zum grausamen Spiel diene, vergeblich lehne man sich dagegen auf, demütig müsse man sich dem fügen, was das Schicksal verhängt habe.“ (346)

Da der Leser bis zum Antwortbrief der Geliebten Clara keine Perspektive als die Nathanaels kennt, ist es für ihn schwer, sich der Sichtweise Nathanaels zu entziehen. Ist diese aber glaubhaft? Es sind jedenfalls, abgesehen von der teilweise teuflischen Physiognomie noch weitere Anzeichen, die Coppelius zu einer dämonischen Figur machen: So besitzt er zum Beispiel die Macht, viele Dinge im Hause der Familie Nathanaels zu beeinflussen[9]: Der Vater, eigentlich autoritäres Familienoberhaupt „betrug sich gegen ihn, als sei er ein höheres Wesen, dessen Unarten man dulden und das man auf jede Weise bei guter Laune halten müsse.“ (335) Nathanael ist nicht nur ein Mal „festgezaubert“ (335, 352), wenn er Coppelius/Coppola sieht und die Mutter ist schon vor den Besuchen des Advokaten von „Traurigkeit“ (334) erfüllt. Der Vater verändert sogar seine Physiognomie als er mit Coppelius zusammen experimentiert: „Ein gräßlicher krampfhafter Schmerz schien seine sanften ehrlichen Züge zum häßlichen widerwärtigen Teufelsbilde verzogen zu haben. Er sah dem Coppelius ähnlich.“ (S. 336)

So sehr diese Beschreibungen den Eindruck erwecken, dass Coppelius nicht der einfache Advokat ist, der allenfalls ein bisschen sonderbar ist, sondern wirklich einer überirdischen Welt entstammt, ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese der Feder Nathanaels entstammen und deshalb nicht unbedingt objektiv sein müssen.[10] Der Leser wird versuchen, an seinem gängigen Begriff von Realität festzuhalten und sich gerade darauf berufen, dass der Erlebnisbericht eine Ausgeburt der Phantasie Nathanaels darstellt. In dieser Sichtweise wird er zunächst auch bestätigt. „Der Antwortbrief der Braut Clara rückt diese Mitteilung [Nathanaels Brief] in die Perspektive, die wir Leser schon längst einzunehmen versucht sind.“[11]

„Gibt es eine dunkle Macht, die so recht feindlich und verräterisch einen Faden in unser Inneres legt, woran sie uns dann festpackt und fortzieht [...] – gibt es eine solche Macht, so muß sie in uns sich, wie wir selbst gestalten, ja unser selbst werden; denn nur so glauben wir an sie und räumen ihr den Platz ein, dessen sie bedarf, um jenes geheime Werk zu vollbringen.“ (340)

Clara verneint den Dämon zwar nicht, statuiert ihn aber in Nathanaels Innerem. Sie kann alles, was Nathanael gesehen hat, rational und psychologisch erklären und befriedigt so das Verlangen des Lesers nach Normalität. Ohne das Phantastische vollkommen zu verneinen bringt sie Klarheit in die Verwirrung des Lesers.[12]

Bei genauerem Hinsehen, kann man jedoch nicht alles „Entsetzliche“ mit der übermäßigen Phantasietätigkeit Nathanaels erklären. Mindestens zwei Aspekte deuten auf die tatsächliche Existenz einer dämonischen Macht hin, die unabhängig von der subjektiven Wahrnehmung Nathanaels zu sehen sind. Zum einen begegnen Nathanael auf seinem Weg in den finalen Wahnsinn, und damit in die Katastrophe zu viele Zufälle, die sich kaum rational erklären lassen. Dazu zählt beispielsweise die Tatsache, dass Nathanaels Wohnung nieder gebrannt ist, als er an seinen Studienort G. zurückkehrt. Dies ist bis dahin nichts Besonderes; dass seine Bücher aber schon in ein anderes Zimmer geräumt wurden, das dem von Spalanzanis Tochter Olimpia direkt gegenüberliegt, ist jedoch schon ein bemerkenswerter ‚Zufall’. Und „Warum taucht Coppelius, der so lange verschwunden war, gerade zu dem Zeitpunkt wieder auf [...], da der aus dem Tollhaus entlassene, geheilte und beschwichtigte Nathanael mit seiner Braut vom Rathausturm ins Land schaut?“[13]

Zum andern ist es bemerkenswert, wie sich alle düstere Vorahnungen Nathanaels bewahrheiten. Er sieht sowohl das Scheitern seiner Beziehung als auch den eigenen Tod vorher. Auf diese Fähigkeit soll im nächsten Abschnitt in Verbindung mit der Naturphilosophie noch näher eingegangen werden.

Die Frage, ob es eine äußere dämonische Macht gibt oder nicht, d. h. ob Nathanael wahnsinnig ist und Clara und der Leser selbst vernünftig oder umgekehrt, beschäftigt den Leser also weiterhin und auch der Erzähler, der sich später einschaltet, muss die Hoffnung des Lesers auf Klärung enttäuschen.

Diese Unsicherheit teilt der ‚normale Leser’ auch mit der wissenschaftlichen Rezeption. Hier versuchen sich einige wissenschaftliche Rezipienten für oder wider die Existenz Coppelius’ zu entscheiden. Günter Hartung sieht im Text zum Beispiel einige Hinweise darauf, dass die Beschreibungen Nathanaels nicht vollständig seiner Phantasie entstammen könnten; hier müsse also wirklich eine teuflische Macht wirken. Seien die Beschreibungen des Coppelius zunächst auch noch realistisch erklärbar, berichte Nathanael im anschließenden Traum-Zustand jedoch von Eindrücken, die nicht ausschließlich aus seinem Innern stammen könnten. Hartung deutet damit auf die Experimentierszene im Zimmer des Vaters hin, von dessen metaphysischem Hintergrund, d. h. von Coppelius’ Streben, Menschen zu reproduzieren, Nathanael nichts wissen könne.[14]

Neben Günter Hartung bejaht auch Werner Obermeit die Existenz einer äußeren Macht in Gestalt des Sandmanns. Er verdeutlicht dies anhand der Geschehnisse, die Nathanael im Studierzimmer des Vaters erlebt. Er sieht auf der einen Seite die phantastisch und visionär erscheinenden Beschreibungen Nathanaels, die der Leser als Einbildungen Nathanaels abtun mag, und auf der anderen Seite die darauf folgenden Darstellungen normaler Ereignisse, d. h. die am Bett sitzende Mutter oder die Beerdigung des Vaters, die den Leser aber keineswegs beruhigen könnten. Dies begründet er folgendermaßen:

„das Sitzen der Mutter am Krankenbette des Sohnes und die Beerdigung des Vaters könne überhaupt nur zustande gekommen sein, wenn sich das, was der Leser als Traum oder Vision oder Wahn Nathanaels verstehen und abtun möchte, wirklich ereignet hat. Die reale Beerdigung des Vaters ist nur denkbar und möglich als Folge der irrealen Erlebnisse Nathanaels.“[15]

Hieraus würden sich jedoch fatale Probleme für den Leser ergeben: Akzeptiere er nur den Teil des Geschehens, der belegt sei und verwerfe den Teil, der auch nur bloße Phantasie Nathanaels sein könnte, so hieße dies, sich für zwei Perspektiven zu entscheiden, die der Erzählung die Einheit nähme und den Leser gewissermaßen zerreiße.[16]

Georg Reuchlein hält die Frage nach der Existenz des Sandmanns für unerheblich. Er schließt sich gewissermaßen Clara an, wenn er sagt, Nathanael wehre sich nicht gegen die bösen Mächte.

„Mag Coppelius/Coppola auch mehr sein als eine bloß zwielichtige, scharlatanartige Gestalt, mögen ihm auch, wie dies zumindest in der Handschrift tendenziell suggeriert wird, ‚übersinnliche’ (magnetisch-dämonische) Kräfte zukommen, so könnte er doch Nathanael nicht ins Verderben ziehen, wenn ihm dieser [...] gleichsam auf halbem Wege entgegen käme.“[17]

Dennoch scheint es mir sinnvoll, die Diskussion für oder wider eine dämonische Macht auch im nächsten Abschnitt weiter im Blick zu behalten, wenn es darum geht, die Position E. T. A. Hoffmanns zu übernatürlichen Phänomenen näher zu untersuchen. Dafür lohnt es sich, einen Blick auf die Quelle zu werfen, die ihn veranlasst hat, in seinen Werken häufig parapsychologische Phänomene aufzugreifen: Gotthilf Heinrich Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft.

1.2. Die naturphilosophische Sichtweise Schuberts: Nathanael als Empfänger übernatürlicher Kräfte

Hoffmann war offensichtlich am psychologischen bzw. psychopathologischen Diskurs seiner Zeit äußerst interessiert, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass er das Wahnsinnsmotiv in auffallender Häufigkeit in seine Werke integriert. Neben dem Interesse am Wahnsinn als Krankheit, verfolgt er auch den zeitgenössischen Diskurs um mystische Lehren und übernatürliche Phänomene. Abgesehen von der Verarbeitung der psychopathologischen Schriften von Reil[18] und Pinel[19], die wesentliche Grundlage für die Schilderung des Krankheitsbildes Nathanaels bildeten[20], wird im Sandmann besonders die Auseinandersetzung mit den naturphilosophischen Positionen Gotthilf Heinrich Schuberts deutlich. Schuberts Werk basiert auf der Annahme des triadischen geschichtsphilosophischen Modells, das davon ausgeht, dass es eine Urzeit gegeben habe, in der sich der Mensch im Einklang mit sich selbst und mit der Natur befand. Diesem Zustand sei eine Zeit der Entzweiung gefolgt, in der die ursprüngliche Harmonie zwischen Mensch und Natur verloren gegangen sei.[21]

Das älteste Verhältniß des Menschen zu der Natur, die lebendige Harmonie des Einzelnen mit dem Ganzen, der Zusammenhang eines jetzigen Daseyns mit einem zukünftigen höheren, und wie sich der Keim des neuen zukünftigen Lebens in der Mitte des jetzigen allmälig entfalte, werden demnach die Hauptgegenstände dieser meiner Arbeit seyn.[22]

Diesem Zitat zufolge ist Schubert also der Überzeugung, dass der Mensch in einem bestimmten Zustand diese Einheit von Mensch und Natur wieder herstellen könne. Er beschreibt in seinem Buch Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, dass man eine Ahnung dieses höheren Lebens „im Traume oder in einem dem Traume ähnlichen Zustand“[23] erfahren könne und sich dem Menschen dort Wahrheiten erschlössen, die ihm sonst nicht zugänglich seien. Er ist sich weiterhin sicher, dass der Mensch im somnambulen Zustand Zukünftiges vorausahnen könne.

Es drängt sich die Vermutung auf, dass Nathanael das Beispiel einer solchen Person darstellt, die in träumerischen Zuständen zu besonderen Dingen fähig ist. Genauso wie Schubert glaubt auch Nathanael an eine Bindung des Menschen an übernatürliche, höhere Mächte:

[...]


[1] E. T. A. Hoffmann, Der Sandmann, in: Sämtliche Werke, Band 1: Fantasie- und Nachtstücke, nach dem Text der Erstdrucke, Darmstadt 1962, S. 331. Alle hier angeführten Zitate des Primärtextes beziehen sich auf diese Ausgabe, die Seitenangaben werden im Folgenden in Klammern hinter die zitierten Textstellen gestellt.

[2] Günter Hartung: Anatomie des Sandmanns, in Weimarer Beiträge 23 (1977), Heft 9, S. 59

[3] Vgl. ebd. S. 58

[4] Vgl. auch Hans-Georg Werner, E. T. A. Hoffmann, Darstellung und Deutung der Wirklichkeit im dichterischen Werk, Berlin und Weimar 1971, S. 113.

[5] Sowohl Hartung als auch Hohoff weisen jedoch darauf hin, dass dieser Aspekt nicht der einzige Grund für die Änderung dieser Episoden gewesen sei. Die Änderungen seien eher darin begründet, dass in der ursprünglichen Fassung die Ereignisfolge gestört worden wäre und außerdem der Tod der unschuldigen Schwester Moral und Sinn der Geschichte entstellt hätte. (vgl. Hartmann, S. 63 und Hohoff, S. 213ff. Die Änderungen in der Druckfassung greift auch Ernst Fedor Hoffmann auf, vgl. ders.: Zu E. T. A. Hoffmanns „Sandmann“, in Monatshefte 54 (1962), S. 248.)

[6] Vgl. v. Maassen, Lesarten des Sandmanns, in: E. T. A Hoffmann, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 3, S. 359.

[7] Ebd., S. 356f.

[8] Werner, E. T. A. Hoffmann, S. 217

[9] Vgl. auch Brunhilde Janßen, Spuk und Wahnsinn, Zur Genese und Charakteristik phantastischer Literatur in der Romantik, aufgezeigt an den „Nachtstücken“ von E.T.A. Hoffmann, Phil. Diss. Frankfurt am Main, Bern, New York: 1986, S. 29.

[10] Vgl. auch Werner Obermeit, Psychologie um 1800, Inaugural-Dissertation, Berlin 1978, S. 204.

[11] Wolfgang Preisendanz, Eines matt geschliffnen Spiegels dunkler Widerschein, in: Festschrift für Jost Trier zum 70. Geburtstag, hrsg. von William Foerste und Karl-Heinz Borck, Köln, Graz 1964, S. 411-429, hier S. 422.

[12] Vgl. Obermeit, Psychologie um 1800, S. 210.

[13] Preisendanz, Eines matt geschliffnen Spiegels, S. 425.

[14] Hartung, S. 59f.

[15] Obermeit, Psychologie um 1800, S. 207.

[16] Vgl. ebd., S. 208

[17] Georg Reuchlein, Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur, Zur Entwicklung der Wahnsinnsthematik in der deutschen Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, München 1986, S. 328.

[18] J. C. Reil: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle 1803.

[19] Philippe Pinel: Traité medico-philosophique sur l’aliéntation mentale ou la manie. Paris 1801.

[20] auf die psychopathologischen Hintergründe soll hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden. Eine gründliche Analyse des Zusammenhangs zwischen diesen psychopathologischen Standardwerken und der literarischen Verarbeitung im Sandmann findet sich z. B. bei Ulrich Hohoff, E. T. A. Hoffmann, Der Sandmann, Textkritik, Edition, Kommentar, Berlin/ New York 1988, S. 307, 313f.

[21] Vgl. Brigitte Feldges, Ulrich Stadler: E.T.A. Hoffmann, Epoche – Werk – Wirkung, München 1986, S. 24.

[22] Schubert, Ansichten, S. 3.

[23] Ebd., S. 352.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Die Darstellung des Wahnsinns in E. T. A. Hoffmanns 'Der Sandmann' als rezeptionsästhetisches Mittel zur Erschütterung der Wirklichkeitswahrnehmung
Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Veranstaltung
Hauptseminar: Literatur und Psychiatrie in Romantik und Vormärz
Note
1
Autor
Jahr
2004
Seiten
26
Katalognummer
V35787
ISBN (eBook)
9783638356022
ISBN (Buch)
9783656734680
Dateigröße
531 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Darstellung, Wahnsinns, Hoffmanns, Sandmann, Mittel, Erschütterung, Wirklichkeitswahrnehmung, Hauptseminar, Literatur, Psychiatrie, Romantik, Vormärz
Arbeit zitieren
Christine Beier (Autor:in), 2004, Die Darstellung des Wahnsinns in E. T. A. Hoffmanns 'Der Sandmann' als rezeptionsästhetisches Mittel zur Erschütterung der Wirklichkeitswahrnehmung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/35787

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