Parastaatlichkeit und Ökonomien des Krieges


Diplomarbeit, 2004

182 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. Konzepte und Begriffe zum Verständnis von Staatlichkeit in konfliktiven Ordnungen
1.1 Zwei Ordnungsbegriffe
1.1.1 Der allgemeine Ordnungsbegriff
1.1.2 Der empirische Ordnungsbegriff
1.2 Prekäre Staatlichkeit
1.2.1 Der „starke Staat“
1.2.2 Quasistaaten zwischen empirischer und juristischer Staatlichkeit
1.3 Analyse und Interpretation quasi-staatlicher Ordnungen
1.3.1 Das Konzept von Joel Migdal
1.3.2 Zur Internen Struktur von Quasistaaten
1.3.2.1 Informalität und Patrimonialismus als Organisationsprinzipien quasistaatlicher Ordnung
1.3.2.1.1 Vom Neopatrimonialismus zum Post-Adjustment-State
1.3.2.1.2 Prozesse der Exklusion/Kooptation
1.3.2.1.3 Ethnische und klassenspezifische Separierung
1.3.2.1.4 Korruption
1.4 Kriegsökonomien als wirtschaftliche Organisationsform
1.4.1 Krieg, Rente und Reproduktion
1.4.1.1 Von „winning-hearts-and minds “ zur „ shadow economy
1.4.1.2 „Schattenökonomien“ und externe Alimentation
1.4.2 Veränderte Akteursbeziehungen
1.4.3 Zusammenfassung
1.5 Zwischenfazit

2. Parastaatlichkeit und Politische Ökonomien des Krieges in Angola und Kolumbien
2.1 Zur historischen Konfliktgenese
2.1.1 Angolas Weg zur Parastaatlichkeit
2.1.2 Kolumbien – Geschichte einer Dreiecksbeziehung
2.2 „Offiziell und Juristisch“ vs. „Inoffziell und empirisch“ – Staatsfunktionen und Quasistaatlichkeit im Vergleich
2.2.1 Partielle Territorialität – Angola
2.2.1 Partielle Territorialität – Kolumbien
2.2.2 Soziale Beziehungen – Angola
2.2.2 Soziale Beziehungen – Kolumbien
2.2.3 Ressourcenmobilisierung und Ressourcenverwendung - Angola
2.2.3 Ressourcenmobilisierung und Ressourcenverwendung - Kolumbien
2.2.4 Zwischenfazit
2.3 Interne Struktur und Ordnung der parastaatlichen Akteure
2.3.1. Die Innere Ordnung der UNITA bis 1990/1991
2.3.1.1 Die Rolle traditionaler Akteure
2.3.1.2 Die Führungsriege und das Militär
2.3.1.3 Exklusion, ethnische Separierung und Korruption
2.3.2 Zum Vergleich: Gegenwärtige Interne Ordnung und Legitimität bei FARC und AUC
2.3.2.1 Die Abwesenheit traditionaler Akteure
2.3.2.2 Mafiotisches Beziehungsmanagement und selektives „Gemeinwohl“
2.3.3 UNITA und FARC/AUC – Divergierende Entwicklungen in den Neunziger Jahren
2.3.3.1 Interner Zerfall der UNITA
2.4 Ökonomien des Krieges in Angola und Kolumbien
2.4.1 Angola: Vom Stellvertreterkrieg zum „ resource war
2.4.1.1 Externe Patronage und politische Renten
2.4.1.2 Oil and Diamonds: Grundlagen und Funktionsweise einer Kriegsökonomie
a. Art der Ressourcen/Primärgüter und deren geographische Verteilung
b. Der Aufbau informeller Vertriebsstrukturen
c. Ein Kontext der Regulationslosigkeit
2.4.1.3 Zwischenfazit
2.4.2 Zum Vergleich: die Politische Ökonomie des Krieges in Kolumbien
a. Die „Ressource“ Kokain und deren geographische Verteilung
b. Charakter und Struktur informeller Vertriebsstrukturen
c. Regulation und Regulationslosigkeit
2.4.2.1 Zwischenfazit
2.5 Kriegsökonomischer Kontext und interne Ordnung
2.5.1 Hybridisierung und Niedergang der UNITA-Ordnung
2.5.2 Die Kontinuität parastaatlicher Ordnungsformen in Kolumbien
2.5.3 Zwischenfazit

3. Schlussbetrachtungen

Literaturverzeichnis

Anhang

Abkürzungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

0. Einleitung

Der Beginn des bipolaren Zeitalters markierte zugleich den zeitlichen Eckstein für die Dekolonisation vieler Staaten, die im Zuge mehrerer Entkolonisierungswellen in die völkerrechtlich verbriefte Unabhängigkeit entlassen wurden. Die formale Unabhängigkeit wurde rechtlich garantiert, genauso wie „the principle of self-determination as an unqualified human right of all colonial people.“[1] Souveränität wurde im Rahmen der UN-Charta als Hauptausdruck dessen betrachtet, was man als Staatenrecht interpretiert und es anderen Teilnehmern der Internationalen Beziehungen verwehrt, sich beispielsweise unter Berufung auf „Menschenrechte“ in die inneren Angelegenheiten jener neu entstandenen Nationen einzumischen. Dies implizierte jedoch nicht nur „Rechte“, sich um das eigene innere nation-building kümmern zu dürfen, sondern auch „Pflichten“, sich um dieses kümmern zu müssen, notfalls ohne externe Unterstützung.

An vielfältigen Stellen erwies sich nun diese postkoloniale Entwicklung keineswegs als verheissungsvoll, sondern vielmehr als ordnungspolitisches Fiasko, da es insbesondere in afrikanischen Staaten, aber auch in südostasiatischen und in geringerem Masse in lateinamerikanischen Nationen (obgleich schon auf früherer Stufe dekolonisiert) zu Stagnation, Involution und Zerfall von Ordnung kam. Befreiungsbewegungen führten oftmals ihr eigenes Volk von einer Knechtschaft in eine andere, Konkurrenz um Macht, Pfründe und politischen Einfluss liessen durchaus einzuräumende Errungenschaften der Imperialismuszeit verblassen und mochten den Eindruck nicht verwehren, dass der Fall in Chaos und Anarchie für viele Länder nicht aufzuhalten sei. Von „Afropessimismus“ war allerorts die Rede[2]. Die Hoffnung der Modernisierungstheorie, qua aufholender Entwicklung die einstige abendländische Erfolgsstory noch einmal – zeitlich und geographisch versetzt – beschreiten zu können, schien enttäuscht. Stattdessen machte sich Entwicklungspessimismus und die Feststellung von Anarchie und Chaos, folglich jedweder Abwesenheit von Ordnung breit.[3] Eine koloniale Vergangenheit, starke ethnonationalistische Tendenzen im Innern: nicht alle „prekären“ Staaten teilen jedoch dieses historische Erbe (obgleich dennoch deren Schicksal), andere existieren teilweise länger als so manche europäische Nation – das Repertoire an begründenden Variablen muss folglich wesentlich breiter ausfallen.

Im Mittelpunkt des empirischen Teils steht die Betrachtung von Ordnung – und der Wandel derselben in Angola und Kolumbien. Jener südwestafrikanische Staat bietet einen exemplarischen Fall dafür, wie das Ende der kolonialen Abhängigkeit von Portugal 1975 keineswegs ein Ende von Leid und Entbehrung brachte, sondern vielmehr einen jahrzehntelang währenden inneren Bürgerkrieg, der offenkundig Millionen Opfer forderte, den Zerfall jeder Form von konventioneller Ordnung, den Rückfall in Barbarei und anachronistisches Kriegsherrentum – und dies alles unter der Patronage auswärtiger Mächte. Auch Kolumbien hält reichhaltig Anschauungsmaterial für einen Zustand dar, in dem Staatlichkeit allenfalls auf dem Papier besteht, im Inneren jedoch auf den ersten Blick kaum zu durchschauende Gewaltstrukturen existieren, der Rekurs auf (scheinbar) irrationale Gewalt als einzige Ausdrucksform gesellschaftlicher Koexistenz besteht. Und obgleich Kolumbien schon 1810 die Unabhängigkeit de jure erlangt hatte, teilt es das Schicksal vieler Staaten im 20. Jahrhundert, dem Status eines failed state sehr nahe zu kommen.

Beide Fallbeispiele – Angola und Kolumbien – werden uns im Laufe der Betrachtungen, speziell im empirischen Teil der Arbeit weiter begleiten, allerdings unter völlig anderen Interpretationsmustern, die sich von der Perzeption zerfallender und kriegszerrütteter Staaten – wie sie viele Jahrzehnte vorherrschte – als „anarchisch“ und „chaotisch“ wesentlich unterscheiden. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Darstellung der Spezifika sozialer Ordnungsstrukturen in beiden Fällen. Es wird zuerst darum gehen aufzuzeigen, dass der scheinbare Zerfall von Ordnungen, wie sie vielerorts in den letzten Jahrzehnten aufgetreten ist, keineswegs im Sinne von Kaplan eine Hinwendung zu Unordnung und „systemischer Entropie“[4] war, sondern zur Entstehung neuer Ordnungsstrukturen geführt hat, die alternative Regulierungs- u. Reproduktionsformen hervorgebracht haben und hervorbringen mussten. Das Grundanliegen der Begriffsdiskussion um „alternative Ordnungen“ ist es anlehnend an William Reno[5], von der Universalität des abendländischen Verständnisses von politischer Herrschaft abzugehen und soziale Entwicklungen in zahlreichen prekären Ordnungen dieser Welt als kontingent, kontextbezogen und keineswegs einlinig zu betrachten. An einer zentralen Stelle steht folglich der Begriff der „Ordnung“, konkreter: der sozialen Ordnung eines Gesellschaftssystems[6]. Ordnung kann negativ als die Abwesenheit von Kontingenz, Beliebigkeit und Anarchie, positiv als das Vorhandensein von handlungsregulierenden Strukturen gesehen werden, die zeitlich konstant, formal konsistent sind und über entsprechende Reproduktionsmuster verfügen. Ordnung und die sie konstituierenden Institutionen definieren sich mithin über „[…] Komplexe von Handlungs-Regeln, Handlungs-Normen oder generalisierten Verhaltenserwartungen […]“[7]. Anlehnend an jene einfache Definition von Ordnung sowie an die Begriffstriade von „zeitlicher Konstanz, formaler Struktur und Reproduktion“ soll eine Arbeitsdefinition von „sozialer Ordnung“[8] aufgestellt werden, die für das Anliegen dieser Arbeit geeignet und auch genügend ist – in der dafür geeignetesten Form: nämlich der einer nominalistischen Definition. Schon auf dieser Ebene höchster Abstraktion wird deutlich, dass sich ideale von nicht-idealen Ordnungen unterscheiden können.

Darauffolgend soll die These vom „Rückfall in Anarchie und Chaos“ zurückgewiesen und wie oben schon erwähnt dargestellt werden, dass sich auch in konfliktiven oder kollabierenden Staaten und Sozialsystemen[9] Ordnungen sui generis[10] herausbilden, denen eine spezifische Rationalität inhärent ist[11], die sich durch andere Strukturen einerseits, aber auch Reproduktionslogiken andererseits im Vergleich zu „funktionierenden Staaten“ im Sinne der Demokratien des Westens auszeichnen. Rationales Verhalten hört mit der Erosion von zentralem Gewaltmonopol und dem Auftreten von Gewalt keineswegs auf. Solcherlei Ordnungen bilden „funktionale Äquivalente“ aus, die für die Aufrechterhaltung von Strukturen und Regelkonstanz verantwortlich sind – diese herauszufinden ist ein weiteres zentrales Anliegen des folgenden Textes. Wie analysiert man konfliktive social orders ? Wie verschieben sich die Beziehungen der Akteure zueinander? Welche Rolle nimmt das politische System ein? Wie organisiert sich die Koexistenz paralleler Machtzentren und Intermediäre[12] ? Welche ökonomischen Reproduktionslogiken treten auf?

Auf der einen Seite geht es darum, analytische Hilfsinstrumente, Modelle und gegebenenfalls Idealtypen in Anlehnung an Max Weber zu finden, die im Sinne einer komplexitätsreduzierenden Abstraktion von der Realität das Verständnis sozialer Vorgänge und Strukturen erleichtern. In der Tat gibt es etliche Konzepte, die uns Hilfestellung bieten können, und sich dem interessierenden Sachverhalt von verschiedenen Seiten nähern. Robert Jacksons Konzept der „Quasi-Staaten“ soll bemüht werden, um den speziellen Charakter von Ordnungen zu verstehen, die entweder über „juristische Staatlichkeit“, oder aber „empirische Staatlichkeit“ verfügen, jedoch nicht beides gemeinsam.[13] Joel Migdal stellt in seinem Werk vier Kategorien auf, anhand derer man das Funktionieren einer staatlichen Ordnung messen kann. Wenn bspw. als zentrale Kategorie „totale und abschliessende territoriale Kontrolle“[14] als ein Beispiel aufgeführt wird, so lässt die Erkenntnis territorialer Fragmentierung wie in Kolumbien entsprechende Schlüsse in Bezug auf die Qualität staatlicher Ordnungsausübung zu. In der Zusammenschau mehrerer solcher Kategorien lässt sich ein hinreichendes Bild des Charakters sozialer Ordnung zeichnen. Dabei wird ersichtlich werden, dass sich diese Ordnungskategorien auf substaatlicher Ebene reproduzieren können und in Wettstreit miteinander treten, sich eine Veränderung von zentralisierten zu dezentralisierten Strukturen abzeichnet.

Die internen Beziehungsmuster solcher Strukturen lassen sich anhand eines idealtypischen Konzeptes beschreiben, welches für unsere Belange grosse Erklärungsmacht besitzt: Patrimonialismus und die damit erfolgende Definition der Rollen von Eliten[15]. Der Patrimonialismus in dekolonisierten quasistaatlichen Gesellschaften stellt jedoch meist keine Reinform, sondern oftmals eine Hybridform dar, welche durch den Begriff des Neo-patrimonialismus beschrieben wird und sich durch die Koexistenz konkurrierender und sich gegenseitig interpenetrierender Ordnungslogiken auszeichnet. So finden sich neben prebendalen Beziehungsmustern gleichermassen Elemente rationaler Bürokratie, die in einem Beziehungsverhältnis zueinanderstehen. Diese Hybridformen existieren nach dem Zerfall zentralstaatlicher Ordnung teils weiter, bzw. desintegrieren sich mangels Kooptationsfähigkeit wichtiger Akteure und Gruppen. Dabei lassen sich nun neopatrimoniale Strukturen auf verschiedene „Dimensionen“ münzen. So beziehen sich Brinkerhoff und Goldsmith[16] u.a. auf drei Parameter, an deren Ausprägung sich patrimoniale und klientelistische Strukturen erfassen lassen: rent-seeking und Korruption, ethnische Separierung sowie allgemeine Exklusion: Parameter, deren Aufarbeitung in Anlehnung an beide oben genannte Autoren auch für den Zweck dieser Arbeit dienlich sein kann. Dort, wo neopatrimoniale Netze erodieren, kommt es zu Verteilungskonflikten, die die neopatrimoniale Ordnung infrage stellen und zu konfliktiven Ordnungen führen.

Haben wir mit obigen Überlegungen versucht, die quasistaatlichen internen Ordnungsstrukturen konzeptionell zu erfassen, nämlich jene der einzelnen kollektiven Akteure wie des Staates, einer intermediären Ordnung, einer Rebellenorganisation etc., so gilt es danach, die Beziehungen zwischen diesen einzelnen Ordnungen zu betrachten und zu analyiseren. Es wird sich zeigen, dass in Kriegsökonomien der Kampf um Ressourcen im Mittelpunkt steht, und sich dabei multidimensionale Beziehungsnetze etablieren, die auch das internationale System einbeziehen. Die Erklärung der politischen und sozialen Ordnung bedient sich im wesentlichen strukturalistischer Erklärungsmuster, es geht um das Aufzeigen von Strukturen und Bestimmungsfaktoren. Die andere (nicht minder interessante) bezieht sich also auf die wirtschaftlichen (kriegsökonomischen) Ordnungsmuster, die in der letzte Dekade durch eine wahre Publikationsflut unter dem Label der „Kriegsökonomien“ bekannt geworden sind. Hierbei liegt der Fokus stärker auf einer akteursorientierten Perspektive, die den einzelnen rational handelnden (individuellen oder kollektiven) Akteur zum zentralen Gegenstand hat. Autoren wie William Reno, David Keen oder Philippe Le Billon beschreiben in zahlreichen Werken, wie sich Volkswirtschaften in war economies transformieren, welche speziellen Logiken sie ausbilden und unterstellen dabei eben jenen eine spezifische Rationalität, die auf der „Gier“ der Eliten und Kriegsteilnehmer basiert, Krieg und Konflikt folglich als favorablen, Frieden und rechtsstaatliche Ordnung als dysfunktionalen Zustand ansehen. Diese Ansätze beschreiben folglich die zweite Dimension „konfliktiver Ordnungen“, die es zu berücksichtigen gilt, und die den Blick nun auch auf externe Faktoren ausweiten: Die betreffenden Staaten und Ländern reproduzieren sich nur unter Bezug auf einen Weltmarkt, eine „globalisierte Ordnung“, allerdings oftmals nicht auf legalen Pfaden, sondern mit dem Handwerkszeug von Schattenökonomien, die sich bspw. durch illegale oder kriminalisierte Handelsnetzwerke auszeichnen und als profitgenerierende Defektionsstrategien Verwirklichung suchen. Interessant ist hierbei die Frage, inwiefern Globalisierung und neoliberale „Freihandelsdoktrin“ die Entstehung von Kriegen und Konflikten in den Ländern der Dritten Welt[17] beeinflussen, will sagen: die Reproduktion konfliktiver Ordnungen eventuell erst ermöglichen: Peter Lock hat ein Drei-Sektoren-Modell entwickelt, welches die Weltwirtschaft in drei, auf eigenen Reproduktionslogiken basierende Abschnitte teilt, die jedoch miteinander interagieren und sich gegenseitig stabilisieren.[18] Solcherlei veränderte Reproduktionslogiken haben jedoch nicht nur eine Bereicherung der Eliten an der Oberfläche zur Konsequenz, sondern führen aufgrund der damit verbundenen Veränderungen des realwirtschaftlichen Substrats auch zur Veränderung der relativen ökonomischen Positionen aller anderen Gesellschaftsteilnehmer. Menschen in konfliktiven Ordnungen werden wesentliche Zugriffsmöglichkeiten (entitlements) entzogen, andere wiederum profitieren von einer durch den Krieg hervorgerufenen Situation. Der Krieg stellt gewissermassen die „soziale Pyramide auf den Kopf“[19].

Es kommt also zusammenfassend zur Herausbildung von übergreifenden Ordnungsstrukturen, die weder einer reinen ökonomischen Logik (wie von einigen Vertretern des economic approach behauptet[20]) folgen noch als chaotische oder anarchische hobbessche Kriegszustände angesehen werden können, sondern in einer Verschränkung sowohl der politischen als auch der ökonomischen Dimension Ordnungs- u. Funktionsäquivalente ausbilden, die zu anderen Verteilungsresultaten (outputs) und Interessenartikulationen (inputs)[21] führen und ein weiterführendes Interesse an schwelenden und langwierigen Konflikten hegen können. Dabei stellt sich als ein bedeutendes Ordnungsäquivalent jenes der Gewalt heraus[22] ; Gewalt dient als rational angewandtes Regulativ für zahlreiche gesellschaftliche Transaktionen und Relationen.

Solcherlei Ordnungen stehen jedoch stets in einem Beziehungsverhältnis zu externen Einflüssen, gewissermassen kann interne Struktur und Stabilität durch äusseren Einfluss modifiziert werden. Die Analyse und Charakterisierung interner Ordnungsstrukturen und deren Beineinflussung seitens externer Entwicklungen soll im empirischen Teil auf zwei interessante Fälle angewandt werden. Hier gilt es zu Beginn anhand von Fallstudien zu untersuchen, inwiefern analytische Konstrukte wie Patrimonialismus oder Kriegsökonomien auf die reale Situation in diesen Staaten anwendbar sind, folglich Erklärungskraft beinhalten.

Zeitlicher Gegenstand soll die angolanische Geschichte seit der Unabhängigkeit 1975 sowie die kolumbianische seit der Gründung der FARC 1964 sein. In beiden Staaten bildeten sich im betrachteten Zeitraum prekäre soziale und ökonomische Ordnungen aus, die durch Krieg, Konflikt und permanenten Staatszerfall gekennzeichnet waren. Grundlegend für beide Fälle ist das Erscheinen mehrerer quasistaatlicher Gebilde[23] auf dem Territorium eines formal souveränen anerkannten Staates, deren Beziehungen stets konfliktuell und allenfalls in Interimsphasen als friedlich zu bezeichnen sind. Es stehen sich meist der Staat (als Ausdruck einer neopatrimonialen (Angola) oder formal-demorkatischen Ordnung (Kolumbien)) und sogenannte insurgent social orders[24] gegenüber, deren Organisationen patrimonial-prebendaler Logik folgen.

Beide historische Fälle verfügen über zahlreiche strukturelle Gemeinsamkeiten und gemeinsame funktionale Äquivalente, jedoch auch interessante Unterschiede, die sich in verschiedenen „Stabilitätsgraden“ und Ausprägungen insbesondere nach dem Ende des bipolaren Weltgegensatzes widerspiegeln. Die „Kriegsökonomie“ Kolumbien mit ihrer spezifischen multizentrischen sozialen Ordnung weist bis heute grosse Stabilität auf, die sich selbst im Schatten des Plan Colombia nur schwerlich aufzulösen scheint. Angola erlebte hingegen insbesondere in der zweiten Hälfte der Neunziger Jahre einige Veränderungen in Bezug auf Konfliktstruktur und -intensität. Dies trifft insbesondere auf die insurgent social order der UNITA zu, die zunehmender Erosion ausgesetzt war. So mancher Betrachter sieht die Ursache dafür im Tode des charismatischen Rebellenführers Jonas Savimbi im Jahre 2002[25], der in Angola zahlreiche Hoffnungen auf Frieden neu entfachte. Es wird zu ergründen sein, inwiefern es mit dem Ende der auswärtigen Patronagestrukturen und den weltpolitischen Veränderungen nach dem Fall der Berliner Mauer zu Verwerfungen innerhalb der UNITA-Führung und damit zu einer Veränderung der Konfliktdynamik kam – und dies im Falle der kolumbianischen Bürgerkriegsakteure so nicht festgestellt werden konnte. In den gesamten folgenden Betrachtungen kommt Entwicklung, Rolle und Struktur der parastaatlichen Akteure herausragende Bedeutung zu.

1. Konzepte und Begriffe zum Verständnis von Staatlichkeit in konfliktiven Ordnungen

1.1 Zwei Ordnungsbegriffe

Unter Ordnung kann man vieles verstehen, welches sich in zahlreichen assoziativen Begriffen manifestiert: Stabilität, Konstanz, Regelhaftigkeit, Erwartungsverlässlichkeit. Ordnung bedeutet auf niedrigster formaler Ebene die Antithese zu Chaos und Anarchie, funktionalistisch gesprochen zu Kontingenz und Entropie[26]. Eine solche Negativdefinition bietet aber keinerlei Hilfestellung, da sie als „ catch-all Konzept“ auf alles und nichts anwendbar ist und deshalb weiterer Konkretisierung bedarf. Allerdings kann es nicht Gegenstand der folgenden Überlegungen sein, einen abschliessenden, vollständigen und „essentialistischen“ Ordnungsbegriff zu entwerfen, sondern es wird ein Ordnungsbegriff angestrebt, mit dem sich „arbeiten“ lässt, gewissermassen eine Arbeitshypothese, die einige wichtige Konzepte enthält und auf konkrete Fälle anwendbar ist. Sie sollte einen Grundkonsens widerspiegeln, gegebenenfalls jedoch weiter konkretisierbar und ergänzungsbedürftig sein. Ziel ist folglich eine nominalistische Definition von Ordnung, die pragmatisch und angemessen ist. Nominalistische Definitionen zeichnen sich durch ihren „Vereinbarungscharakter“ und deren Unabgeschlossenheit aus; grundlegendes Kriterium ist dabei nicht, den wahren Kern der Dinge zu erfassen, sondern einen pragmatischen Konsens zu finden, der heuristische Funktionen erfüllt.

1.1.1 Der allgemeine Ordnungsbegriff

Dieter Fuchs betrachtet soziale Ordnungen in erste Linie unter dem Aspekt ihrer Integrationsfähigkeit, die imstande ist, isolierte Akteure zusammenzubinden, in reziproke Verhältnisse zu setzen und dadurch nach aussen wahrnehmbare Strukturen zu erschaffen. Der Grad von Integration kann dabei variabel sein, manche Gesellschaften erscheinen integrierter als andere; so stellt der Autor verschiedene Operationalisierungsmöglichkeiten auf, anhand derer sich Integrationsgrade bestimmen lassen[27]. So verweisst Fuchs auf verschiedene Variablen, wie das Mass von Gewaltfreiheit zwischen Ordnungskonstituenten, den Grad von Koordinierung zwischen diesen, oder die allgemeine Akzeptanz von sozialen Normen und Regulatorien.[28]

Grundsätzlich ist ein Mindestmass von Integration notwendig, obgleich damit zu Beginn keine Aussagen über Asymmetrie oder Ausgeglichenheit reziproker Beziehungen getroffen werden. Ein solches Mindestmass sollte stets Kräfte der Differenzierung ausbalancieren[29], die als zweites wesentliches Charakteristikum von Ordnung angesehen werden können. Insbesondere moderne Gesellschaften zeichnen sich – wie durch zahllose soziologische Studien hinreichend belegt – durch hohe Grade von interner Differenzierung aus, gewissermassen als Respons auf arbeitsteilige Prozesse, die ohne gegenläufige Integrationsprozesse zur Destabilisierung, Erosion, schliesslich zur „Desintegration“ von Ordnung führen können. Eine konfliktive Ordnung beispielsweise – gleich in welchem historischen oder sozialen Kontext betrachtet – zeichnet sich durch Akteurskonstellationen aus, deren übermässige Asymmetrie in Bezug auf entitlements zur Unmöglichkeit der Herbeiführung von Konsens führt, vormals integrative Strukturen erodiert und Strukturäquivalente erzeugt, die die „neue Asymmetrie“ befestigen. Ordnung bekommt hier also ein wenig den Charakter eines „formalen Gerüstes“, welches verschiedenartig gestaltbar ist, Akteure in differenzierte Beziehungen zu einander setzt und sich auf verschiedene Weisen reproduziert. D.h. trifft man Aussagen über Art und Weise von Symmetrie/Asymmetrie[30], versucht man, spezifische Strukturen zu analysieren unter eventuell normativen Aspekten wie dem Gerechtigkeits-Gleicheits- trade-off (in Bezug auf die soziale Ebene), unter Reproduktions- u. Distributionsaspekten, so verlässt man die Ebene einfachster analytischer Abstraktion und beginnt damit, die Wie-Beschaffenheit von Ordnungen zu charakterisieren, d.h. inhaltliche und materiale Wertungen zu treffen.

Ordnungen zeichnen sich dabei u.a. durch zeitliche Konstanz aus. Kurzfristige Ad-Hoc -Konstellationen, Änderungen externer Einflüsse oder unterschiedliches kontextangepasstes Verhalten von Akteuren – all das in moderatem Masse – indizieren noch keinen „Ordnungswandel“. Andererseits ist es zweifelsohne gerechtfertigt, den Übergang von einem totalitären Cäsarismus zu einem parlamentarischem Mehrheitssystem inklusive geänderter politischer Kultur und Legitimitätsverständis als „Neuordnung“ zu verstehen, da es sich eben nicht nur um kurzfristige Ad-Hoc -Anpassungen handelt, sondern um eine grundsätzliche Neudefinition der Akteure untereinander, deren Beziehungen und Symmetrien. Der Übergang von traditionalen Herrschaften mittelalterlicher Prägung zu modernen arbeitsteiligen Gesellschaften nebst Trennung von privat-bürgerlicher und öffentlicher Sphäre kann ebenfalls als profunder Ordnungswandel angesehen werden wie – so nachfolgend argumentiert werden soll – der Zerfall von Staaten und die Konstituierung einer Ordnung sui generis in der Zerfallsperiode.

Der zeitlichen Konstanz tritt d5e formale Struktur als zweites Definitionskriterium gegenüber. Formale Konsistenz als Unterpunkt bezieht sich auf die innere Vereinbarkeit von Strukturen und Reproduktionslogiken. Hier wäre es angebracht, „reine Ordnungen“ von „hybriden Ordnungen“ zu unterscheiden, da hybride Formen sich per definitionem durch formale Inkonsistenz auszeichnen, verschiedene Strukturen und Reproduktionsmuster nebeneinander existieren lassen. Auch darauf wird später einzugehen sein – am deutlichsten am Beispiel der angolanischen UNITA – da sich die betrachteten empirischen Ordnungen vom „Ideal“ formaler Konsistenz entfernt haben, und gemäss dem Diktum der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ modernen historischen Entwicklungen Rechnung tragen müssen.

1.1.2 Der empirische Ordnungsbegriff

Schliesslich müssen sich Ordnungen reproduzieren können, sowohl zur Wahrung von zeitlicher Konstanz wie auch formaler Struktur, da sich jede Ordnung durch Erwartungsstabilität und Vorhersehbarkeit auszeichnet, und es zur Aufrechterhaltung desselben eines materialen Substrates bedarf. Unter „materialem Substrat“ soll jedoch nicht allein der materielle Reproduktionsprozess verstanden werden. Dietrich Jung hält in Anlehnung an Norbert Elias fest, dass […]social reproduction theoretically comprises three elementary functions all empirical societies have to fulfill – the control of physical force, the guarantee of material means, and the production and preservation of symbolic means of orientation.“[31] Durch diese Definition und den Rekurs auf soziale Reproduktion haben wir uns vom isolierten abstrakten Ordnungsbegriff entfernt und eine Eingrenzung vorgenommen: es geht um soziale Ordnungen, die tatsächlich existieren (empirische Gesellschaften), die für soziale Ordnungen bestandsnotwendige Funktionen im Sinne ihrer Reproduktion erfüllen müssen. Jung bezieht sich dabei auf drei konkrete Kategorien, die sich speziellen Bereichen zuordnen lassen:

Die Kontrolle physischer Gewalt ist konstitutiv für das politische System, denn gemäss Max Weber zeichnen sich Staatsapparate eben durch jene Fähigkeit aus, sich das Gewaltmonopol anzueignen und dieses zu monopolisieren.[32] Jung spricht von „ control of physical force“ – der Begriff der Kontrolle impliziert die Vorhersehbarkeit und zielgerichtete Durchführbarkeit von Gewalt, in den Händen einer dafür vorgesehenen Institution, die nicht bereit und qua Verfassung und Gesetz nicht verpflichtet ist, diese Kontrolle aus den Händen zu geben bzw. zu teilen. Kontrollierte Gewalt zeichnet sich darüber hinaus auf den ersten Blick durch wohl definierte Beziehungen zwischen den Akteuren des sozialen Systems aus, die nicht situationsabhängig ausser Kraft gesetzt werden können, sondern fortbestehen und dazu führen, dass Gewalt an sich gewissermassen zum Garanten, zum Treuhänder von politischer Ordnung gemacht wird, keineswegs jedoch zum allgegenwärtigen und permanenten Definiens: Die Anwendung kontrollierter physischer Gewalt wird zur Ausnahme, besteht als Option fort. Sie weicht jedoch einem Beziehungsverhältnis, welches auf Regeln und Normen zu deren Instandhaltung rekurriert und schliesslich etwas einbezieht, welches bei Weber als Legitimität gilt und die Bereitschaft der „Ordnungsteilnehmer“ beeinflusst, diese Ordnung aufrechtzuerhalten. Politische Ordnung lebt von Anerkennung und Autorität, „ein unabhängig von allem Interesse bestehendes Recht auf “Gehorsam” gegenüber den tatsächlichen Beherrschten“[33]. Dieses Recht definiert sich folglich über den Legitimitätsbegriff, auf den an anderer Stelle noch einmal gründlicher einzugehen sein wird.

Diese Vorstellung der Substitution von Gewalt durch Legitimität gehört jedoch einem besonderen Ordnungsverständnis an, so wie es Max Weber insbesondere auf jene abendländischen Industriegesellschaften münzte, die nach rational-bürokratischen Massstäben organisiert und funktional gegliedert waren. Einen Konsens der Beherrschten vorauszusetzen – bei Weber definiert sich Legitimität durch jenen faktischen Konsens, weniger durch normativen Gehalt – heisst gleichzeitig, eine Ordnung als eine spezifische zu qualifizieren. Es soll also suggeriert werden, dass auch andere Ordnungen möglich sind, dass ein formaler Ordnungsbegriff, wie er hier an dieser Stelle erst einmal aufgestellt werden soll, verschiedene Ausformungen umfassen kann. Wo Gewalt nicht durch Legitimität substituiert wird, wo Gewalt selbst als alltägliches Interaktionsmedium auftritt und die Beziehungen der Gesellschaftsteilnehmer reguliert – kann man da noch von der Möglichkeit von Ordnung sprechen? Wie beurteilt man einen Fall, in dem keine unilineare Legitimität zwischen Staat

und Volk, Herrschern und Beherrschten im Weberschen Sinne auftritt, sondern Legitimitätsbeziehungen nur partiell existieren (bspw. in identitären Gruppen, Ethnien etc), auf der Makroebene jedoch Gewaltbeziehungen vorherrschen? Auch hier lässt sich von Ordnung sprechen, da zeitliche Konstanz, formale Struktur sowie Reproduktionsmechanismen denkbar sein können. Es wird folglich angenommen, dass es alternative Formen von Ordnungen gibt, die dem weberschen Ideal im Sinne einer rational-legalen Herrschaftsgestaltung nicht entsprechen und auf andere Strukturprinzipien zurückgreifen. Die Kontrolle physischer Zwangsgewalt lässt sich fragmentiert, dezentralisiert oder generell als nur teilweise vorhanden denken.

Jung spricht an zweiter Stelle von der Fähigkeit, die materielle Subsistenz zu erhalten und damit soziale Reproduktion zu ermöglichen. Neben den politischen Aspekt tritt sozusagen das materielle Substrat einer Gesellschaft, der wirtschaftliche Bereich, der bei Parsons bspw. mit der Aufgabe der adaptation, der Systemanpassung, betraut wird. Analysiert man soziale Ordnungen, kommt man nicht umhin, wirtschaftliche Transaktionsprozesse zu begutachten und zu fragen, wie das Überleben des Gemeinwesens gesichert wird, welche makroökonomischen und mikroökonomischen Mechanismen zur Geltung kommen und wie sich schliesslich das politische System selbst reproduziert. Hier findet sich das abendländische Ideal im produktiven Steuerstaat, der – gemanagt durch eine auf rationalen Prinzipien basierende Bürokratie – öffentliche Güter universell bereitstellt, Rahmenbedingungen für privatwirtschaftliche Tätigkeit schafft und sich über Zwangsabgaben reproduziert. Physische Grundlage einer solchen Ordnung ist eine allgemeine Produktionsfunktion, die sich aus Arbeit, Kapital und Fixwerten nährt und gesellschaftlichen Wohlstand eben durch Produktion erschafft. Sowohl Neoklassik als auch Keynesianismus setzen sich explizit mit dieser Art von Ordnung auseinander, und ebenfalls der Grossteil des theoretischen und empirischen Instrumentariums kreist um diese Sachverhalte. Aber auch hier kommt wieder unser formaler Begriff von Ordnung zum tragen, der allumfassender ist und den Anspruch übernimmt, auch „nicht-ideale“ Wirtschaftsordnungen erklären zu können. Ist materielle Subsistenz ohne Produktion denkbar? Ist sie denkbar in Ordnungen, in denen Produktion und damit die Schaffung von Werten existiert, aber vielleicht nur marginalen Raum einnimmt? Soziale Reproduktion ist denkbar auf der Basis der Extraktion von Ressourcen, im Rahmen der Ausnutzung von künstlich geschaffenen Preisdifferenzen, die hohe „ trading gains “ ermöglichen oder im extremsten Fall durch Ausplünderung und Raub[34]. Abseits aller normativer Bewertungen kann in diesen Fällen von Ordnung gesprochen werden, solange Erwartungstabilität besteht, also „[…] Komplexe von Handlungs-Regeln, Handlungs-Normen oder generalisierten Verhaltenserwartungen […].“[35]

Verbleibt schliesslich die Bezugnahme auf jene Sphäre, die sich der „ production and preservation of symbolic means of orientation “ verschreibt und als drittes postuliertes Standbein von sozialer Reproduktion betrachtet werden kann. Man spricht von der kulturellen Sphäre, vom normativen Überbau oder von Zivilreligion und rekurriert damit nolens volens auf Talcott Parsons Systematik. Er betrachtet das kulturelle Wertsystem als normativen Garanten gesellschaftlicher Ordnung, der sich über den Transmissionsriemen des „Latent Pattern Maintenance “ (als vierte systemische Grundfunktion) auf das gesamte Sozialsystem projiziert. Neben der politischen Struktur und der ökonomischen Reproduktion zeichnen Symbole, Identitäten, Werte und Normen für die Fortexistenz einer sozialen Ordnung verantwortlich, und es scheint fraglich, ob Ordnungen ohne dies existieren können[36]. „ Symbolic means of Orientation “ beziehen sich auf allgemeine soziale Normen, die sich von erzwingbaren und der Kontrolle physischer Gewalt unterworfenen Gesetzen durch deren Flexibilität und traditionelle Eingelebtheit unterscheiden. Normen und Werte erhalten sich über Konsens, durch Überzeugung und persönlichen Glauben und münden ihrerseits wieder in den Begriff der Legitimität, deren Ausprägung auch den Charakter sozialer Ordnungen prägt. Der Legitimitätsbegriff spielte schon weiter oben in Bezug auf das politische System eine Rolle, meint auch hier den Glauben an die Rechtmässigkeit einer Ordnung, weniger deren normative Wahrhaftigkeit. In modernen Gesellschaften westlicher Prägung besteht sowohl horizontale wie auch vertikale Legitimität[37] die wiederum auf historischen Entwicklungen basieren. Auch dies beschreibt eher wohl einen Idealfall, da sich symbolische Orientierungen und Werte auch anders äussern können, in dem bspw. nicht das politische System oder die zivilgesellschaftliche Ordnung als Bezugspunkt gewählt wird, sondern bspw. die Ethnie, in dem nicht der Nation „Referenz erwiesen“ wird, sondern der partikularen Gemeinschaft. Friedensdiskurse, die auf gegenseitiger Toleranz und friedlicher Koexistenz basieren, können durch Kriegsdiskurse[38] abgelöst werden, die zur Herausbildung anderer konfliktueller Ordnungen führen, diese jedoch ihrerseits legitimieren durch Rekurs auf Xenophobie, Deprivationsgefühle, Minoritätenhass etc. Auch hier ein ähnliches Bild: Der Ordnungsdiskurs verläuft nie nur in eine Richtung, ein formaler Begriff von Ordnung hält viele „Überraschungen“ bereit und umfasst materielle diverse Dimensionen.

Wir können festhalten: Eine jede Ordnung, genauer: eine jede empirische Ordnung verfügt über grundlegende Eigenschaften, die die Reproduktion dieser Ordnungen bedingen. Zeitliche Konstanz, formale Struktur und soziale Reproduktion, die sich entsprechend der Definition von Jung auf drei Dimensionen verteilt, die jedoch verschiedene Ausprägungen annehmen können. Auch dort, wo das abendländische Ideal rational bürokratischer Verwaltung, volkswirtschaftlicher Wertschöpfung und universeller Legitimität gebrochen, eingeschränkt oder ganz aufgehoben ist, können soziale Ordnungen bestehen. Dabei ist jedoch eines hinzuzufügen: Die innere Struktur von Ordnungen steht stets in einem Verhältnis zu äusseren Einflüssen (sofern man das Diktum der „geschlossenen Ordnung“ als empirisch nicht (mehr) relevant ansehen will). Ähnliche interne strukturelle Faktoren können trotzdem zu unterschiedlichen Entwicklungen führen, sofern sich die externen Beeinflussungen unterscheiden. Schliesslich definieren sich Ordnungen nicht allein durch das Vorhandensein formaler Strukturen, sondern ebenfalls über das konkrete Handeln Einzelner, welches immer einen Rest an Kontingenz bewahrt - Struktur-u. Akteursperspektive sind folglich in Zusammenschau zu bringen. Darüberhinaus lassen sich auch unterschiedliche Entwicklungspfade innerhalb der Kategorie „konfliktive Ordnung“ bzw. „ weak state “ erklären: Die unterschiedliche Entwicklung unserer beiden empirischen Untersuchungsfälle – Kolumbien und Angola – soll anhand dieser Aspekte zum Ende hin erläutert werden.

Haben wir nun einen Ordnungsbegriff aufgestellt, der gewissermassen eine heuristische Leitschnur darstellt und behauptet, dass es alternative Formen von Ordnung gibt (ohne Rekurs auf die „Chaos-Lesart“), so gilt es in den folgenden Kapiteln, jene „alternativen Ordnungen“ genauer zu betrachten, die uns hier interessieren: Soziale Ordnungen in zerfallenden Staaten.

1.2 Prekäre Staatlichkeit

Die Bezugnahme auf Dietrich Jungs Definition von sozialer Reproduktion in empirischen Ordnungen weist uns für die nächsten Seiten den Weg: Unsere „empirischen Ordnungen“ sollen jene sein, die sich heute in vielen Staaten der Dritten Welt finden und vom oben implizit beschriebenen Ideal okzidentaler Prägung abweichen. Es handelt sich um Ordnungen, deren Ausprägungen konfliktiv sind, in welchen Gewalt als funktionales Äquivalent offen zutage tritt, die von Kriegen und menschlichem Leid gezeichnet sind und – so die These – alternative Formen von Ordnung hervorbringen. Um gewaltbasierte konfliktive Ordnungen zu verstehen, ist es durchaus nützlich, einen Blick auf staatliche Ordnungen zu werfen, die sich in der Nachkriegszeit konstituierten und vielerorts den zeitlich vorangegangen Nährboden für spätere Konfliktordnungen bildeten. Es wird sich u.a. in Rekurs auf den Begriff des „Quasi-staates“ zeigen, dass sich Strukturelemente jener postkolonialen Nachkriegsordnungen auch in den hier interessierenden Konfliktformationen finden.

Die Ordnungs- bzw. Staatsbildung in zahlreichen Staaten der Dritten Welt nach dem Ende der Kolonialisierung verlief unter der Ägide eines formalisierten und negativen Friedensbegriffes, der als Grundpfeiler des internationalen Systems die absolute Achtung von Souveränität und die Wahrung friedlicher systemischer Koexistenz etablierte[39]. Staatsbildung folgte Schemata, die teilweise auf ererbten Verwaltungsstrukturen des Kolonialismus basierten, teilweise indigene und traditionale Einflüsse und Strukturen mit einbezogen und zu sozialen Ordnungen führten, die über wesentliche Charakteristika sogenannter strong states entweder gar nicht oder nur eingeschränkt verfügten.

1.2.1 Der „starke Staat“

Der Begriff des strong state[40] steht gewissermassen als spiegelbildlicher Bezugspunkt am anderen Ende der Skala und beschreibt eine Ordnung, in der sich politische, wirtschaftliche und kulturelle Dimensionen auf bestimmte historisch determinierte Weise herausgebildet haben und der sich als generelles Entwicklungsvorbild im Sinne einer durchkapitalisierten Weltordnung versteht. Für Max Weber steht dieser Begriff des Staates synonym zum Begriff des „okzidentalen Staates“, da er dessen Existenz nur im Abendland verortet.[41] Im Sinne der obigen formalen Dreigliederung sozialer Reproduktionsmechanismen können ein staatliches Gewaltmonopol als spezielle Form der Organisation von Kontrolle physischer Macht, das Vorhandensein eines auf Produktion und Akkumulation basierenden Tauschsystems und die Existenz einer auf Legitimität und nationaler Identität gründenden Staatsidee mit all ihren Untergliederungen angesehen werden.[42]

Der Monopolanspruch des politischen Systems auf „Gewaltausübung“ kann als historisches Ergebnis einer ausserordentlichen Entwicklung angesehen werden, die auf einem schrittweisen Entzug von Gewaltautonomie aus den Händen einzelner Individuen bzw. Gruppen basiert. Die autonome Ordnung ändert sich hin zu einer heteronomen Ordnung[43], in welcher dem einzelnen das Recht zur „juristischen Selbsthilfe“ entzogen und auf einen überindividuellen sanktionsbewehrten Punkt hin zentriert wird. Starke Staaten schöpfen ihre vermeintliche Stärke aus jenem Zustand, der als Entpunkt eines Enteignungsprozesses gesehen werden kann. Enteignet wurde die Kompetenz zu autonomer Rechtsetzung und resultiert im Idealzustand in einer hohen Stabilität und innergesellschaftlichen Kohäsion. Der Grundgedanke des Gewaltmonopols liegt in der Zentralisierung der Disposition über Gewalt, unterliegt nicht der Kontingenz einzelner Akteure, sondern der Vorhersehbarkeit umfassender gesetzlicher Regelwerke.[44] Insofern ist diese Form des Gewaltmonopols in zweierlei Hinsicht jedoch eingeschränkt: auf innerstaatlicher Seite durch demokratische und rechtsstaatliche Verfahren, von aussen durch Völkerrecht und Einbindung in internationale Regime und Organisationen.[45] Ein solcher Zustand führt auf politischer Ebene zur Wahrnehmung von Stabilität und „Stärke“, da Krieg und Konflikte grösstenteils vermieden werden können und der Staat sich über seine Sicherungsaufgaben hinaus Leistungsaufgaben, will sagen: der Bereitstellung öffentlicher Güter[46], zuwenden kann.

Herrschaft gilt in starken Staaten als stark rationalisiert und unpersönlichen Beziehungsverhältnissen unterworfen, woraus sich auch die Definition des Elitenbegriffes ableitet: Eliten in starken Staaten sollen als funktional differenzierte Eliten gelten, d.h. politische Eliten existieren (im Idealfall) neben wirtschaftlichen Eliten, reproduzieren sich über leistungsbezogene Gehälter und Einkommen und unterliegen der Trennung von Amt und Aneignungsdimension. Und obgleich es wesentlichen Erkenntnissen der Rational Choice - Theorien im Gefolge der Arbeiten von James Buchanan und Anthony Downs zuwiderlaufen würde, Eigennutz und Renteninteressen der Eliten zu leugnen, so zeichnen sich doch politische Systeme in demokratisch-bürokratischen Staaten durch eine allgemeine, freilich eigennutzorientierte Sorge um das Gemeinwohl und die Bereitstellung öffentlicher Güter aus. Verantwortlich zeichnen dafür verfassungsmässig verankerte Regeln und Bestimmungen[47], die individuelle Rationalität wie auch kollektive Rationalität teilweise in Kongruenz bringen können[48].

In der ökonomischen Dimension zeigt sich diese Kongruenz u.a. in der Bereitstellung gemeinwohlorientierter Güter, die die Ausgabenseite des politischen Systems betreffen und damit eine grundlegende Aussage über die Art und Weise der Verwendung von Ressourcen treffen.[49] Dem steht anlehnend an das volkswirtschaftliche Kreislaufmodell eine entsprechende Einnahmenseite gegenüber, bei welcher sich die Ressourcenmobilisierung in Form von Steuererhebungen und öffentlichen Zwangsabgaben äussert. Der Staat im Anschluss an wirtschaftliche Produktions-u. Reproduktionsmuster gilt als Treuhänder dieser Abgaben und transformiert diese qua bürokratischer Aufgabenverteilung in oben genannte öffentliche Güter. Sowohl ausgaben- wie auch einnahmenbezogene Aspekte unterliegen dabei nicht der vorbehaltlosen Disposition der Eliten, sondern der Gesetzgebung des Parlaments als auch der allgemeinen Kontrolle der Judikatur, der Rechnungshöfe etc. Steuerliche Einnahmen sind hingegen nur dann möglich und effizient, sofern die Volkswirtschaft wie weiter oben erwähnt auf Produktion und kontinuierlicher Wertschöpfung basiert. Diese Wertschöpfung dient im Groben als Bemessungsgrundlage für Zwangsabgaben, die der starke Steuerstaat per definitionem erhebt. Ein weiteres Charakteristikum wirtschaftlicher Reproduktionsmuster in „starken Staaten“ bezieht sich auf die spezielle Form der Tauschverhältnisse, die sich mit der Entwicklung des okzidentalen Kapitalismus herausgebildet haben und auf der zweckrationalen Akkumulation von Werten und damit verbundenen Derivaten basiert. Solcherlei „ social orders “ zeichnen sich durch unpersönliche Tauschprozesse aus, wobei zwischen den Tauschpartnern nicht das normative Prinzip der Reziprozität gilt, sondern jenes der durch äussere gesetzliche Bestimmungen forcierte Prinzip der Pflicht zur Vertragseinhaltung, die wiederum auf der tatsächlichen Äquivalenz von Werten basiert. Eine solche unpersönliche „Tauschsphäre“ in modernen Gesellschaften gilt als dominantes Strukturprinzip im System, obgleich auf zahlreichen Ebenen – man rufe sich hierbei Habermas Diktum der Lebenswelt in Erinnerung – andere Transaktionsformen bestehen, seien es Schenkungen in Familien oder karitative Fürsorge in kirchlichen Organisationen, denen keine Äquivalenzlogik zugrunde liegt.

Starke Staaten zeichnen sich folglich durch eine politische Ökonomie aus, in welcher wirtschaftliche und politische Sphäre zwar vielfältig interpenetrieren, jedoch politische Ämter per se nicht als Positionen zur Aneignung von Renten dienen[50]. Entsprechend kann in weiterer Betrachtung auch von einer speziellen politisch-ökonomischen Logik des Krieges gesprochen werden, dem starke Staaten in Kriegszeiten unterliegen und die darin besteht, volkswirtschaftliche Wertschöpfungsprozesse für Kriegsziele dienstbar zu machen. Daraus resultiert sowohl klassischer Begriff als auch klassisches Verständnis von „ war economies “: „In the conventional meaning political economies of war refer to the historic relationship between state formation and the mobilization of economic means to support war efforts, in turn securing state survival.“[51] Starke Staaten bemühen Kriegsökonomien folglich im instrumentalistischen Sinne, um politische Ziele zu erreichen und dafür allgemeinen Konsens zu erzielen. Es darf an dieser Stelle nicht vergessen werden, dass die Ursprünge des Steuerprinzips auf die perzipierte Notwendigkeit zurückgehen, Kriege führen zu können. Steuern waren zuallererst Kriegssteuern und brachten in diesem Rahmen die gegenseitige Verflechtung von politischer (Interesse von Macht- u. Integritätserhalt) und wirtschaftlicher (instrumentelle Akkumulation) Sphäre zum Ausdruck.[52]

Schliesslich lassen sich auf der Ebene von Legitimität und „ symbolic means of orientation “ einzelne Aspekte als charakteristisch betrachten. Starke Staaten weisen sich durch das Vorhandensein einer „Staatsidee“ auf, einem commitment des Grossteils der Bevölkerung zum Staat (im Sinne von Legitimität), die stärker und bedeutender ist als andere Loyalitäten und Identitäten und soziale Existenz predeterminiert.[53] Staatlichkeit äussert sich nicht allein als nach aussen hin ersichtliche Struktur, sondern besitzt eine Innendimension, eine Staatsidee, die in den Köpfen der Menschen präsent ist, zu einer „Kolonisation der menschlichen Psyche“[54] führt. So schliesst die Existenz eines normativ abgesicherten Grundrechtskataloges, einer Verfassung oder eines kompetenten politischen Systems keineswegs alternative Zugehörigkeitsgefühle aus, etwa zu religiösen Gemeinschaften, ethnischen Gruppen oder im kleinsten Rahmen Familien und interpersonellen Beziehungen. In der Regel treten sie jedoch nicht in offensive Konkurrenz zur Loyalität dem politischen System gegenüber und gefährden keineswegs die vertikale Legitimität. Darüberhinaus verfügt eine solche allgemein geteilte Staatsidee über etwas, das ich an dieser Stelle „kontrafaktische Resistenz“ nennen will und sich auf Gedanken bezieht, die von David Easton in seinen systemtheoretischen Überlegungen formuliert wurden[55]. Ein als legitim anerkanntes politisches System wird stets auf der Inputseite auf support angewiesen sein, also auf grundlegende Unterstützungsleistungen seitens der Regierten, wobei dieser support in einem doppelten Sinne verstanden werden kann. Auf der einen Seite in direktem Bezug zur jeweiligen „ policy “, zum realitätswirksamen outcome eines Implementationsprozesses: Unterstützungsleistungen werden mobilisiert durch „gefällige“ Politik, durch Darbringung von öffentlichen Gütern, mit anderen Worten: durch eine aktuale Politik, die die demands der Bevölkerung zufrieden stellt. Auf der anderen Seite existiert jedoch eine weitere Dimension von support, die in Anlehnung an David Easton insbesondere von Demokratietheoretikern wie Larry Diamond[56] aufgenommen wurde und welche durch den Begriff des diffuse support umschrieben wird. Diese Art von Unterstützung beschreibt die kontrafaktische Dimension von Legitimität, da hierbei Unterstützungsleistungen einem System auch dann nicht entzogen werden, wenn die „Tagespolitik“ grundlegenden d emands betreffender Gruppen und Individuen zuwiderläuft. Kennzeichnend für den hier angewandten Idealtypus des strong state ist nun ein solches Mass an kontrafaktischer Unterstützung, die jedoch nur existieren kann, wenn ein genuiner Glaube an die Rechtmässigkeit von Herrschaft und Regierung besteht. Solcherlei Systeme gelten dann als konsolidiert, wenn ein ausreichender diffuse support vorhanden ist[57]. Dieser nun soll als unabhängig von unmittelbaren empirischen Resultaten angesehen werden und existiert selbst dann fort, wenn durch für das System dysfunktionale Defektionsstrategien ein grösserer individueller Nutzen erzielt werden kann. So ist der Glaube an die Rechtmässigkeit der Verfassung, an die Relevanz eines Grundrechtskatalogs oder an die Strukturprinzipien einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung als ein Ausdruck dieser weiterführenden Form von Legitimität zu verstehen. Freilich – dies muss hinzugefügt werden – bestehen beide Dimensionen – spezifische wie auch diffuse „Unterstützungsleistungen“ – nicht unabhängig voneinander, sondern begrenzen einander gegenseitig. Ein politisches System, welches normativ verankert ist, jedoch dauerhaft dysfunktionale Resultate und outcomes produziert, wird gelegentlich auch jedes Mass an kontrafaktischer Resistenz einbüssen. Dennoch kann das Vorhandensein beider „Formen“ von Legitimität als spezifisch für „starke Staaten“ angesehen werden und trägt zu Stabilität und Ordnung entscheidend bei. Dort jedoch, wo „ symbolic means of orientation “ erodieren, Legitimität abhanden kommt, treten Repression und Gewalt als „Ordnungsäquivalente“ auf, meist von Eliten angewandt zur Erhaltung des status quo.

Alle drei Dimensionen, politisches, wirtschaftliches und kulturelles Kapital erscheinen zentralisiert und auf oberster Ebene im modernen Anstaltsstaat zusammengefasst. Die Gesamtheit der drei funktionellen Faktoren in den oben genannten Ausprägungen bilden gewissermassen das „symbolische“ Kapital, welches moderne Staaten, starke Staaten, abschliessend legitimiert[58]. Diese spezifische Form von Ordnung kann deshalb als zentrisch betrachtet werden, basierend auf positiv-rechtlicher Formalität und den Dispositionen kontingenter Akteure entzogen. Die Regulationsmacht des „starken Nationalstaates“ ist sehr hoch, idealtypisch freilich, da Prozesse der Globalisierung operationelle Souveränität partiell enziehen. Das Verständnis alternativer Ordnung lässt sich nun gewissermassen ex negativo gewinnen, in dem angenommen wird, dass all jene genannten für starke Staaten definitorischen Variablen und Merkmale auch andere Ausprägungen annehmen können und damit die Suche nach verschiedenartigen Strukturmerkmalen und Charakteristika verlangen, einschliesslich der Begründung neuer Begriffe.

1.2.2 Quasistaaten zwischen empirischer und juristischer Staatlichkeit

Starke Staaten „funktionieren“ – und konstituieren damit einen Ordnungsbegriff, der qua wirtschaftliche Effizienz, good governance und universelle Legitimationsmuster als Inbegriff einer positiven Ordnung gilt. Im Jungschen Sinne erfüllen strong states also jene ordnungskonstituierenden Aufgaben im Sinne moderner Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, die für ein synergetisches Zusammenleben von Regierten und Regierenden, Masse und Elite so bedeutsam sind. Jenes Konzept galt lange Zeit als Eckstein der Modernisierungstheorien, die Entwicklung als unilinearen und empathielos-alternativlosen Weg konzipierten und Formen indigener Ordnung als traditionell, anarchisch oder generell anachronistisch einordneten.

An diesem lange Zeit vorherrschenden Paradigma wurde nun auch eine spezielle Vorstellung von Staatlichkeit festgemacht, anhand derer sich Ordnungen messen und interpretieren lassen konnten. Eine Ordnung, die als zentrale Komponente die Herrschaft über ein Territorium ihr eigen nennt, ist unweigerlich an die Integrität und Unverletzlichkeit dieses Territoriums gebunden. Der staatliche Ordnungsbegriff ist an die Herrschaft und Verfügungsgewalt eben dieses Territoriums geknüpft, einen Aspekt, den bspw. Joel Migdal als konsituierend hervorhebt[59]. Starke Staaten – so kann ergänzend hinzugefügt werden – sind in klassischer Denkweise ohne festes völkerrechtlich abgesichertes Territorium nicht denkbar und können die drei ihnen zugedachten primären Aufgaben[60] nicht ohne jenes erfüllen, welches nach Jellinek den Staat im westphälischen Zeitalter unter anderem auszeichnete.[61]

Der Begriff der territorialen Integrität steht in Zusammenhang mit jenem der Souveränität, der Integrität und Unverletzlichkeit garantiert. Dabei ist zum einen von der formalen Souveräntiät die Rede, die sich auf die allgemeine Anerkennung staatlicher Grenzen bezieht und dem klassischen Souveränitätsverständnis entspricht. Formale Souveränität wird völkerrechtlich gewährleistet und entwickelte sich in den Jahrhunderten nach dem Friedensschluss von Münster und Osnabrück bis zu jenem modernen Verständnis fort, welches normativ die geltende internationale Ordnung im Sinne des Nichtinterventionsprinzips und der Gewaltfreiheit definiert. Von diesem Verständnis blieben auch jene Gesellschaften und Ordnungen nicht unberührt, die den Koloniestatus abstreiften und die Unabhängigkeit im Rahmen der zwei grossen Dekolonisierungswellen nach 1945 erstritten. Wie an anderer Stelle erwähnt, zeigte sich, dass allerdings das Vorhandensein von formaler Souveränität nicht immer auch die Präsenz des Schwesterprinzips, nämlich operationeller Souveränität[62], mit einbezog. Viele Gesellschaften genossen zwar formale Immunität und Unverletzlichkeit ihrer Grenzen, ohne jedoch operationelle Souveränität – insbesondere im afrikanischen Kontext – bereitzustellen. Dort nun, wo formale Souveränität nach aussen hin zwar existent ist, operationelle Souveränität nach innen hingegen fehlt, Staaten einerseits stark, andererseits insbesondere in der Bereitstellung öffentlicher Güter, Schaffung von volkswirtschaftlichem Wohlstand und der Wahrung von Menschenrechten schwach sind, lässt sich gemäss Robert Jackson von einem Fehlen empirischer Staatlichkeit (empirical statehood) sprechen.[63] [64] Zahlreiche nachkoloniale Ordnungen, wie bspw. Angola oder das früher entkolonialisierte Kolumbien, vollzogen zwar den Weg in die juristische Unabhängigkeit und gewannen juridical statehood[65], etablierten jedoch interne Ordnungsstrukturen und Reproduktionsmuster, die sich vom klassischen „Paradigma“ des starken Staates westlicher Prägung unterschieden. „That post-colonial international guarantee has brought into existence a significant number of insubstantial or marginal or even nominal states: what for lack of a better term might be called “quasi-states” of which some have clearly failed, or collapsed, and cease to be “states” in any significant empirical meaning of the term.“[66]

Jackson nennt nun diese Formen sozialer Ordnung „Quasistaaten“, wobei das Präfix „ quasi “ weniger ein Ähnlichkeitsverhältnis ausdrücken soll, sondern vielmehr auf die Tatsache rekurriert, dass damit bezeichnete Ordnungen internationale Anerkennung geniessen und auch im diplomatischen Verkehr als Staaten registriert sind[67], folglich allen anderen Staaten als gleichwertig hinzugerechnet werden.

Im modernen Völkerrechtsverständnis nun definiert sich Staatlichkeit durch empirische Strukturelemente im obigen Sinne, Anerkennung seitens Dritter – also anderer Staaten, den Vereinten Nationen etc – gilt jedoch als deklaratorisch, keineswegs als konstitutiv (wie im klassischen Völkerrecht)[68] und wird für die Definition von Staatlichkeit in abnehmenden Masse herangezogen. De jure wird empirischer Staatlichkeit mehr „Definitionsmacht“ zugewiesen als juristischer Staatlichkeit. Insofern ist Jacksons Bezeichnung durchaus irreführend, da sich eben diese Quasistaaten durch eine „Schlagseite“ hin zu juristischer Staatlichkeit auszeichnen und dem Präfix „ quasi “ nur bedingt gerecht werden. Andererseits – in einer de facto- Perspektive – bestimmt internationale Anerkennung nicht nur den aussenpolitischen Status eines Staates, die Chance, diplomatisch Gehör zu erhalten, sondern auch über die formale Sphäre des Weltwirtschaftssystems den Zugriff auf Ressourcen, Unterstützungsleistungen und Investitionen. Staatlichkeit erscheint als von aussen am „Leben“ erhalten und alimentiert.[69] Die verschiedenen patrimonialen Beziehungen, die im Zeitalter der Bipolarität das Aussenverhältnis vieler Staaten bspw. in Afrika prägten und auf die später noch einmal eingegangen wird, legen Zeugnis von der Bedeutung juristischer Staatlichkeit ab und legitimieren die Anwendung des Begriffs der „Quasistaaten“.

Welche heuristischen Aussagen kann man zusammenfassend und weiterführend dem Quasi-staatenkonzept nun entnehmen? In der Konzeption Jacksons erscheinen solche Ordnungen im grossen Stile aussenbestimmt und verdanken ihre Existenz einem kompromisslosen Nachkriegsregelwerk, welches auf dem Gedanken der Selbstbestimmung und Souveränität basiert.[70] Dieses Verständnis erscheint rein formal, und obgleich im „Westen“ ein grundlegendes Verständnis von Staatlichkeit in Theorie und Praxis präsent ist, kommt dieses jedoch in der Gestaltung der postkolonialen Ordnung nicht zum Tragen.[71] Jackson geht soweit und stellt fest, dass „[…]quasi-states are creatures and their elites are the beneficiaries of non-competitive international norms.“[72] Er betrachtet sie also als „konstruierte Objekte“, die ihre Entstehung – aufbauend auf der Erbmasse des Kolonialismus – willkürlichen Grenzziehungen, selektivem Einfluss der „europäischen Moderne“ und schliesslich völkerrechtlichem Diktat verdanken. Sie erscheinen nicht als gewachsen im Sinne der historisch-genetischen Entwicklung der westeuropäischen Staaten, sondern als modernisierungstheoretisch unter Zugzwang gestellt. So betrachtet Jackson die Entwicklung der abendländischen Staaten als eine Entwicklung hin zur Demokratie, Demokratie galt als Ergebnis, Resultat einer spezifischen sozioökonomischen Entwicklung, welche die Prerequisiten für Demokratie bereitstellte.[73] Quasistaaten zeichnen sich durch eine Umkehrung des Prozesses aus, in dem Demokratie an den Anfang gesetzt wird – all dies symbolisiert durch den verheissungsvollen „elektoralen Auftakt“ – und die sozioökonomische Entwicklung „nachziehen“ soll. Ergebnis ist jedoch nur selten eine funktionsfähige freiheitlich-demokratische Ordnung, eine „liberale Demokratie“ bei Larry Diamond, sondern eben eine elektorale Demokratie, die über ein Lippenbekenntnis nicht hinauskommt[74] – mit verhängnisvollen Folgen.

Juristische Staatlichkeit wird garantiert, Demokratie gefordert, aber institutionelle Kapazitäten zur „Funktionserfüllung“ fehlen, denn: Die Aussenbestimmung erscheint als halbherzig, inkonsequent durchgeführt, da gleichzeitig im Innern traditionale und vormoderne Strukturmerkmale überdauern und Wirkmächtigkeit entfalten. Wurde die Aufgabe der Staatlichkeitsdefinition nach aussen hin der internationalen Ordnung übertragen, so waren die einzelnen entstandenen Ordnungen für die interne Dimension selbst verantwortlich. Das Spezifikum von Quasistaaten liegt darin, dass sich diese die drei Elementarfunktionen[75] im Sinne von Elias/Jung erst erarbeiten müssen[76], und dass jener Prozess der „Erarbeitung“ im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, Formalität und Informalität stattfindet und es konsequenterweise zur Herausbildung hybrider Formen der Bearbeitung der drei Elementarfunktionen kam.

Quasistaatliche Politik ist deshalb eine Politik, in dem sich die Eliten bewusst als „ beneficiaries “ dieser hybriden Formen von Ordnung, und keineswegs als Erfüllungsgehilfen rational-verrechtlichter Politik verstehen, da ihnen die Fremdmandatierung zum „ nation-building “ weitläufige Spielräume eigener Politikgestaltung überlässt. Diese Politikgestaltung erweist sich als fragmentarisch, selektiv und regionalistisch, fern dem Gedanken eines Bourdieuschen Staatesgeistes, da sich mangels institutioneller Kapazitäten Eliten eher von anderen Loyalitäten und Identitäten her einen Nutzen versprechen. Klientelistische Netzwerke erscheinen sowohl den Strukturen als auch den Dispositionen der Eliten angemessener als eine gesamtgesellschaftliche unter der Ägide positiven Rechts stehende Integration.

Quasi-staaten sind also in Jacksons Verständnis „unfertige Staaten“, in unserem Verständnis – so die These – alternative Ordnungen mit alternativen Formen der ökonomischen Reproduktion, der politischen Entscheidung, der symbolischen Kommunikation, kurz: der drei oben genannten Elementarfunktionen. Sie unterscheiden sich von strong states durch eine zwar vorhanden juristische Staatlichkeit, jedoch durch das Fehlen (idealtypisch) bzw. partielle Vorhandensein (realtypisch) einer empirischen Staatlichkeit nach westlichem Verständnis. Es wird nun jedoch sehr schnell deutlich, dass eine direkte argumentative Verbindung zwischen dem Vorhandensein eines Quasistaates und dem historischen Fakt der Dekolonisation – im ausschliesslichen Sinne – in die Irre führt. Bejarano/Pizarro weisen in ihrem Essay am Beispiel Kolumbiens daraufhin, dass nicht alle Quasistaaten im Bannkreis der Dekolonisationslogik entstanden sind[77], sondern auch dort existieren, wo formale demokratische Strukturen schon einen längeren Zeitraum bestehen. Auch diese mögen Benefiteure eines formalen Souveränitätsverständnisses zwar sein, wurden jedoch nicht notwendigerweise künstlich auf dem völkerrechtlichen Reissbrett entworfen. Auch sie zeichnen sich jedoch durch eine degenerierte empirische Staatlichkeit aus, der auf internationalem Parkett eine vollständige juristische gegenübersteht.

Ist es nun denkbar, dass sich alternative Ordnungen durch das Gegenteil auszeichnen können? Durch fehlende juristische Staatlichkeit, aber durch funktionierende empirische Staatlichkeit? Der Gedanke wäre nur konsequent, einerseits in Bezug auf den Anspruch der Arbeit, alternative Ordnungen umfassend darzustellen und „alle Optionen offenzulassen“, andererseits durch unsere empirischen Fallbeispiele, bspw. Angola, wo der MPLA-geführte Staat Ausdruck eines Quasistaates ist im Sinne einer neopatrimonialen Ordnung[78] ist, die UNITA als konkurrierende Ordnung jedoch per definitionem nicht als Quasistaat angesehen werden kann. Es sind Ordnungen denkbar, die völkerrechtlich keine hundertprozentige Anerkennung geniessen, Staatsfunktionen jedoch oft besser ausführen als Quasistaaten im Jacksonschen Sinne. Kirsti Stuvoy argumentiert dafür, das Konzept des quasi-state auch auf solche Ordnungen anzuwenden, in dem sie das Differenzkriterium zwischen „Staat“ und „Quasistaat“ auf deren pauschale Unterschiedlichkeit reduziert und den Begriff als heuristischen Bezugspunkt in ihre Analyse der sozialen Ordnung der UNITA hinüberrettet[79]. Stuvoy bietet dafür den Begriff der „ insurgent social order “ an, der inhaltlich bezeichnend ist und die Vorstellung einer Ordnung impliziert, die sich einer anderen widersetzt bzw. mit dieser in ein Konkurrenzverhältnis tritt. Weiterhin präsentieren Paul Kingston und Ian Spears in ihrem hochaktuellen Werk[80] anhand verschiedener Fallbeispiele einen Quasistaaten-begriff, der sich gewissermassen inoffiziell auf substaatlicher Ebene entfaltet und damit den Jacksonschen Begriff auf andere Analyseebenen hin extrapoliert. „ States within states “ sind für die beiden Autoren Konglomerate, die sich durch eine höhere politische, wirtschaftliche und normative Integrationskraft auszeichen als das „ host-system “ selbst und damit den Kategorien von Elias/Jung eher als letzteres gerecht werden.

Insurgent social orders entstehen dann, wenn gewisse Aspekte von hybrider Staatlichkeit erodieren, die Regierung bzw. die herrschende politische Partei nicht mehr in der Lage ist, die für Quasistaaten (im folgenden zu ergründenten) typischen gesellschaftlichen Strukturen und Funktionen aufrechtzuerhalten. Legitimität wird zunehmend durch Repression und Gewalt als funktionales Ordnungsäquivalent ersetzt und führt zur Entstehung einer dezentralen Ordnung, die sich meist durch ein Konkurrenzverhältnis zwischen einer völkerrechtlich legitimierten quasistaatlichen Ordnung und einer (oder mehrerer) ebenfalls als quasistaatlich zu charakterisierenden parastaatlichen Ordnung[81] auszeichnet. Die dabei entstehenden Ordnungen (ob auf staatlicher oder „Rebellen“-seite) zeichnen sich ihrerseits durch ähnliche Strukturmerkmale und Funktionen aus wie der historisch vorhergegangene oder parallel weiterexistierende „offizielle“ Quasistaat, weisen sich aber oftmals durch höhere empirische Staatlichkeit aus; die Beziehung zwischen ihnen sind jedoch meist konfliktiv-kriegerischer Natur.

1.3 Analyse und Interpretation quasi-staatlicher Ordnungen

1.3.1 Das Konzept von Joel Migdal

Die Entwicklung hin zu einer[82] dezentralen Ordnung wird dann wahrscheinlich, wenn der ursprüngliche Zentralstaat nicht mehr in der Lage oder willens ist, ihm zugedachte Aufgaben adäquat auszuführen und das Gewaltmonopol aufrecht zu erhalten. Dies impliziert im Jungschen Sinne die politische, ökonomische und wertreproduzierende Sphäre als Ausdruck von Staatlichkeit und Ordnung. Indikator und Voraussetzung für politische Implementations- u. Regulierungstätigkeiten ist dabei die abschliessende und umfassende Kontrolle über ein spezifisches Territorium.[83] Dabei meint Kontrolle nicht allein im negativen Sinne den Erhalt von Integrität und die Bekämpfung von zentrifugalen Tendenzen anhand der Drohung von Gewalt, sondern auch das positive Management von Ordnung im Sinne der Bereitstellung von Infrastruktur, Institutionen und allgemeinen Rahmenbedingungen zur Etablierung gesellschaftlicher Interaktionsprozesse.[84] Für Migdal ist die Fähigkeit, die Gesellschaft zu „penetrieren“, also Präsenz auf allen Ebenen zu zeigen, Grundbedingung für territoriale Integrität. So nennt er als operationalisierbare Grössen etwa den Zugang breiter Bevölkerungsschichten zu Schulen, die Versorgung mit einem funktionierenden Trinkwassersystem oder die Ärztedichte als relative Grösse.[85] Dort, wo Ausbildungsmöglichkeiten fehlen oder regulierende Institutionen nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen können, dort sinken die Opportunitätskosten für Aufstand, Rebellion und anti-staatliche Aggression.

Theda Skocpol sieht bspw. in den Koordinationsfähigkeiten des Staates über Strukturen und Organisationen sozusagen die Quintessenz von Staatlichkeit, sowie in der mit Territorialität verbundenen Fähigkeit, militärische, administrative und politische Funktionen adäquat wahrzunehmen.[86] Positives Management und negative „Absicherung“ stellen nun für Migdal komplementäre Grössen dar und sind nicht in Form eines trade-off verrechenbar. Fehlende militärische oder polizeiliche Kontrolle liefert Institutionen äusseren oder inneren Aggressoren aus, wie andererseits der Mangel an Versorgung mit öffentlichen Gütern klassische Versorgungsnetze sprengen und zu „ grievances “ führen kann, die sich gewaltsam äussern können. Hier mag man argumentieren, dass der „Ordnungshüter“ negative Kontrolle durch Anwendung von polizeilicher oder militärischer Gewalt erzwingen kann, indem Legitimität durch Repression ersetzt wird, Repression also als funktionales Äquivalent für Legitimität gewissermassen einspringt. In der Tat – so wird noch zu zeigen sein – liest sich die Geschichte der UNITA in Angola als eine des Übergangs von Legitimitäts- hin zu auf Repression basierenden Beziehungen zur Bevölkerung, ohne dass anfangs eine Zäsur in der Variable territoriale Integrität zu finden wäre. Repression gilt als gangbar, da sie als ultima ratio zur Bestandssicherung von Ordnung dient, mithin von Eliten als Instrument von „ politics of survival[87] angesehen wird. Migdals Kategorisierung orientiert sich jedoch im wesentlichen an „legitimer Staatlichkeit“, betrachtet auf totaler Repression basierende Ordnungen mithin als solche, die ihrer Staatlichkeit verlustig gegangen sind.

Hingegen konstatiert Rotberg eine Hierarchie territorialer Aufgaben, und stellt an erste Stelle die Wahrung von Sicherheit und Schutz vor Aggression: „The state’s prime function is to provide that political good of security—to prevent cross-border invasions and infiltrations, and any loss of territory […]The delivery of a range of other desirable political goods becomes possible when a reasonable measure of security has been sustained.“[88] Sekundäre Güter, „ other desirable political goods “, sind dann jene Inhalte positiven Managements, die aus der Gemeinwohlverpflichtung, dem Desiderat zum Schutz der Menschenrechte und der Bereitstellung öffentlicher Güter herrühren. Sie sind gleichsam Indikatoren für das Funktionieren territorialer Staatlichkeit, wobei sich Rotberg exemplarisch auf die Qualität infrastruktureller Netze bezieht. Je stärker die Infrastruktur vernachlässigt wird, Strassen nicht gebaut, zerstörte Eisenbahnschienen nicht repariert werden, desto deutlicher wird die fehlende Bereitschaft des Staates bzw. der politischen Ordnung, positives Ordnungsmanagement durchzuführen. Gleich ob hierarchisch oder komplementär, das Funktionieren einer Gesellschaftsordnung richtet sich erstens nach der Art und Weise territorialer Kontrolle und „Penetration“, zweitens nach der institutionellen und infrastrukturellen Gestaltung.

Der Gedanke einer institutionellen Penetration von Gesellschaft ist aufs engste mit jener zweiten Kategorie verknüpft, die sich am besten unter die Jungsche Kategorie „ preservation of symbolic means of orientation[89] subsumieren lässt und den Legitimitätsgedanken mit umfasst. Garant für das Funktionieren einer sozialen Ordnung ist nicht allein positives institutionelles Management, sondern ebenfalls normatives Management, welches das explizite oder latente Feedback der Zivilbevölkerung zum Gegenstand hat. Die Ausübung des politischen Gewaltmonopols greift nicht allein auf Mittel der immediate coercion[90], sondern gleichsam der Legitimitätsbeschaffung zurück. Nach Migdal ist „ the ability to regulate social relationships[91] grundlegend für soziale Ordnungen, da solche ohne „regulierte Beziehungen“per se keine Ordnungen darstellen, zwischen beiden Aspekten eine tautologische Beziehung besteht. Im engeren Sinne umfasst jedoch diese „Regulationsfähigkeit“ legitimes „Beziehungsmanagement“, welches eine partizipative Dimension seitens der Beherrschten einschliesst. Funktionierende social orders zeichnen sich folglich durch ein gewisses Mass an spezifischem und diffusem support sowie auch durch ein genuines Vertrauen in das staatliche Gewaltmonopol aus, welches jedoch oft – anders als in starken Staaten – nicht auf dem Glauben an eine demokratisch rational-rechtsstaatliche Ordnung basiert, sondern – wie Brinkerhoff und Goldsmith darstellen[92] – oft durch die Einbindung in patrimoniale Netzwerke oder durch den Rekurs auf Traditionalität und Überlieferung erzielt wird.[93] Partizipation kann selbst darin bestehen, durch Gehorsam oder compliance im minimalistischen Sinne zur Bestandserhaltung der Ordnung beizutragen. Die Wahrnehmung der Regierung in der Öffentlichkeit, Daten zur Strafverfolgung, die Entwicklung der Wahlbeteiligung, die Ausprägung nichtstaatlicher Gewalt und politischer Rebellionen und der Grad der Korruption[94] geben auf einer zweidimensionalen Skala Indikatoren wieder, die den Erfolg eines Gemeinwesens im Bereich von normativem Beziehungsmanagement widerspiegeln. Auch hier lässt sich anhand von Je-Desto-Aussagen die „Qualität“ von Ordnung begutachten, denn je geringer das Ansehen der Regierung in der Öffentlichkeit, desto höher die Gefahr einer Erosion von Legitimität, kurz: je schwieriger es sich für den Staat gestaltet, Sozialbeziehungen zu kontrollieren und durch Legitimität dauerhaft zu untermauern, desto prekärer die (künftige) Funktionalität einer solchen Ordnung.

Darüberhinaus kann es Anliegen der Herrschenden bzw. der politischen Elite einer sozialen Ordnung sein, normativ-identitäre Gemeinplätze zu schaffen, die für die Innen- wie auch Aussenperzeption einer Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe bestimmend sind. Soziale Beziehungen können so gestaltet werden, dass sich der Glaube an die Rechtmässigkeit von Ordnung weiterentwickelt zu nationalistischem oder ethnozentrischem Gedankengut. Eine kollektive Identität kann sich herausbilden – oft auch als Ausdruck eines historischen Atavismus – die nur mit „Ausschluss-prinzip“ funktionieren kann: man grenzt sich von anderen Gruppen oder Staaten ab, gewinnt dadurch innere Kohäsion, grösseren Zusammenhalt und oftmals effizientere Kontrolle. Je stärker sich solcherlei Identitäten entwickeln, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass pazifistische in konfliktive Ordnungen übergehen können, Friedensdiskurse durch Kriegsdiskurse abgelöst werden.[95]

Zusammenfassend folglich bietet es sich bei der Betrachtung der „ social relationships “ an, auf die drei Parameter

- autonome vs. Heteronome Ordnung und die Akzeptanz des Gewaltmonopols
- Partizipation im parteilichen und zivilgesellschaftlichen Bereich
- der Glaube an Legitimität und Rechtmässigkeit von Ordnung

zurückzugreifen und deren Ausprägungen zu beleuchten.

Jene zwei Kategorien bei Migdal, die sich mit der Gestaltung physisch-materieller Subsistenz befassen, sind jene der Ressourcenmobilisierung und der Ressourcenverwendung.[96] Es handelt sich um zwei fundamentale Kategorien, die weiter oben in den Ausführungen über strong states schon eine Rolle spielten und selbstredend für die physische Reproduktion einer Ordnung verantwortlich sind. Die Art und Weise, wie Ressourcen verwendet werden, gibt Auskunft über die Organisation zwischen den Akteuren, deren grundlegende entitlements sowie deren Stellung im gesellschaftlichen Reproduktionssystem. Ressourcen können gemeinwohlorientiert oder selektiv rentenschaffend, investiv oder parasitär-konsumptiv eingesetzt werden. Sie können in öffentliche Ausgaben transformiert oder in persönliches Bereicherungsstreben pervertiert werden. Sie können der Bevölkerung als ganzer in formaler Gleichheit zukommen oder Teil partikular-klienteler Netze werden. Kurz: Auch hier lässt sich eine analytische zweidimensionale Skala erschaffen, die als klar voneinander geschiedene Extrempunkte einerseits Gemeinwohlbezug, andererseits Partikulargruppenbezug bzw. „Veruntreuung“ annehmen. Viele Staaten des subsaharischen Afrika gelten als Paradebeispiele für Systeme, die das entwicklungspolitisch angedachte Ziel gemeinwohlorientierter „Ressourcenabgabe“ über die Jahrzehnte klar verfehlt und in Netzwerke klientelistischer Pfründenwirtschaft transformiert haben. Insofern kann dies jedoch noch nicht als Ausdruck einer „verminderten“ Funktionalität der sozialen Ordnung auch im Migdalschen Sinne gelten, da jener oftmals vorgefundene Typus des neopatrimonialen Staates innere Stabilität und teilweise auf Repression basierende „geordnete Verhältnisse“ vorweisen konnte. Patrimoniale Verteilungsstrukturen können – wenn auch nicht im westlich-wertenden Verständnis – als mögliche Ordnungsgaranten und Systemstabilisatoren dienen. Denkbar ist jedoch eine Situation, in welcher selbst jene notwendigen Ressourcen zum „Management“ patrimonialer Strukturen verlustig gehen und es zur Erosion klientelistischer „Konsenssysteme“ kommt. Ressourcen bzw. deren Deprivation erhalten konfliktschaffenden Charakter, der im Zusammenbruch der vorherigen sozialen Ordnungen und der Neukonstituierung dezentraler Ordnungsmuster besteht, sprich: Kriegsökonomien, deren zentraler Parameter, wie noch gezeigt wird, der Konflikt um Ressourcen ist.[97]

Mit dem zentralen Begriff der „Ressource“, die – knapp oder im Überfluss vorhanden – im zentralen Akteursinteresse steht, betreten wir den Bereich der Mobiliserung von Ressourcen und der Generierung von Einkommen. Dort, wo Ausgaben getätigt werden, müssen Einnahmen gegengerechnet werden; das klassische Buchhaltungsprinzip zeigt sich nicht allein wirkmächtig in Bezug auf die strong states, sondern – so das Postulat – alternative Ordnungsformen gehorchen wirtschaftsmathematischer Logik in gleicher Weise. Und in dem Masse, wie Ausgaben unterschiedlich (sektoral, personal, regional etc.) gestaltet werden können, existieren auch diverse „Aneignungsformen“, die zur Generierung von Einkommen führen. Je nach Analyseparameter lassen sich verschiedene Klassifikationen aufführen. Dabei – wie oben dargestellt – behält sich der produktive Staat westlicher Prägung eine primordiale Einnahmequelle vor, nämlich sich Ressourcen qua Besteuerung anzueignen, die quantitativ marginal durch privatwirtschaftliche Tätigkeit des Staates, Nettokreditaufnahme oder alternative Abgabeformen flankiert werden.

Einnahmen können nun auch auf andere Art und Weise erwirtschaftet werden, deren Ausprägung und Art zentral für die Beurteilung des „Funktionierens“ einer sozialen Ordnung sind. Wo – pauschal gesprochen – nichts produziert wird, gewinnt das Prinzip der Rente an Bedeutung, es bilden sich auf Renteneinkommen basierende Staaten, wie jene im Einzugsbereich des Petrolismus oder andere ressourcenreiche Staaten wie Angola oder die Demokratische Republik Kongo, die sich die Differentialrente zunutze machen und ihre Einkommen hauptsächlich extraktiv-exportorientiert erwirtschaften. Agenten der Mobilisierung sind dabei nicht immer die Staaten als formale Akteure im Rahmen formalwirtschaftlicher Prozesse, sondern die personelle Elite, das sich bereichernde Individuum, welches sich Ressourcen aneignet und informal verteilt. Generell lässt sich ein trade off[98] zwischen formalen und informalen Formen der Wertschöpfung feststellen, wobei sich informale Prozesse weiter in reine Subsistenzökonomien und kriminelle Reproduktionsmuster unterscheiden lassen, die gemeinhin als informalisierte Schattenökonomien[99] bezeichnet werden. Ressourcen können weiterhin intern erwirtschaftet werden oder etwa durch externe Alimentation etwa in Form von Entwicklungshilfe, Direktinvestitionen oder öffentliche Kreditnahme. Philippe Le Billon unterscheidet verschiedene Formen von Ressourcenaneignung nach technischen und regionalen Parametern[100], David Keen konstatiert insbesondere in Kriegsökonomien zahlreiche informelle und kriminelle Praktiken von Aneignung, von regulationsfreien informellen Handelsbeziehungen bis hin zu Raub und Plünderung auf niedrigster lokaler Ebene[101], Peter Lock schliesslich weist auf die bedeutende Rolle einer alimentierenden Diaspora hin, die spezifische konfliktive Ordnungen durch externen Ressourcenzufluss am Leben erhalten kann.[102]

Diese alternativen Formen von Ressourcenerwirtschaftung, die nicht formellen Regulatorien unterliegen, sondern sich durch funktionale Äquivalente wie Korruption oder Gewalt reproduzieren, kennzeichnen die Beziehungen zwischen quasistaatlichen Akteuren in dezentralen Kriegsökonomien. Im Migdalschen Sinne repräsentiert die Kriegsökonomie das „untere Ende“ einer analytischen Skala der Ressourcenerwirtschaftung, die die Dysfunktionalität des offiziellen Staates auf wirtschaftlicher Ebene unterstreicht. Am Beispiel von Angola und Kolumbien werden auf späteren Seiten noch einmal theoretische wie empirische Sachverhalte der „ war-economy “- Problematik erläutert.

Verliert der Zentralstaat nun vollständig oder partiell seine Kontrolle über das Territorium, kommt es zur Erosion von flächendeckenden Institutionen, zum Entzug von Legitimität oder zum Raub von Ressourcen, so prognostiziert man in klassischer Manier ein Ende von Ordnung und Staatlichkeit, da auch die aufstrebenden „parallelen“ Akteure als Agenten von Chaos und Anarchie angesehen werden. Es soll jedoch hier in Anlehnung an William Reno die These vertreten werden, dass der Verlust von zentraler Territorialität zur Generierung dezentraler Ordnungen führen kann. In diesen einverleiben sich verschiedene Akteure eigene Hoheitsgebiete, üben selektive Kontrolle über einen bestimmten Teil des Landes aus und führen zur Bildung von territorialen Einheiten sui generis.

Es entstehen im Rahmen eines Autoritätstransfers einzelne quasistaatliche Ordnungen, in denen sich die Migdalschen Kategorien sozusagen auf „niedrigerem“ Niveau reproduzieren, territoriale Kontrolle, Mobilisierung und Verwendung von Ressourcen etc. nicht mehr zentrale Aufgaben des Staates sind, sondern nun in den Kompetenzbereich von Intermediären[103] fallen und von diesen gegen äussere Einflussnahme vehement verteidigt werden. Diese „Entitäten“ kommen der Weberschen/Jacksonschen Vorstellung von empirischer Staatlichkeit näher als das offizielle politische System und bedingen dessen Erosion.[104] „It is this failure of new states emerging from decolonization which has, in fact, set the stage for groups to organize themselves along bases which reflect more viable alternatives.“[105] Alternativen, die einem rationalen Kontextkalkül entspringen, führen nicht zu Anarchie und Chaos, sondern etablieren ihrerseits gangbare Ordnungen, wie Ian Spears argumentiert: „I argue that the apocalyptic literature which speculates on the prospects of state breakdown and collapse may well be misplaced [referring to an article by Robert Kaplan, with the suggestive title “The Coming Anarchy”.] While quasi-states break down, these changes do not necessarily have to entail anarchy. On the contrary, the breakdown of large , arbitrary state units may eventually give way to more coherent and viable (though not always benevolent) political entities.“[106] Territorialität und Souveränität werden jedoch zu flexiblen Kategorien, die je nach Kontext und Situation anders gehandhabt werden. Sich bekämpfende Gruppierungen können in einem anderen Moment in ökonomische Austauschprozesse eintreten, mit wiederum anderen Akteuren, wie transnationalen Konzernen oder militärischen Sicherheitsunternehmen Netzwerkstrukturen zum Zwecke gegenseitiger Bereicherung bilden.

Reno zeigt dies sehr eindrucksvoll am Beispiel von Sierra Leone, in dem die herrschende Klasse sowohl Souveränität als auch bürokratische Strukturen aufgegeben und zu Ordnungsformen gefunden hat, die dem klassischen Verständnis von juristischer Staatlichkeit keineswegs mehr entsprachen.[107] Der dortige Diktator Valentino Strasser übertrug eine Vielzahl von Staatsfunktionen an ausländische Privatunternehmen wie auch NGOs und entledigte sich damit grundlegender Verantwortlichkeiten, die mit territorialer und institutioneller Kontrolle einhergehen.[108] Aufgrund externer Einflüsse, die im Kapitel über Kriegsökonomien eingehender beleuchtet werden sollen, kamen die Eliten zur Überzeugung, aus dem alten patrimonialen Rentensystem mangels Ressourcen ausscheiden und sich nach Substituten umsehen zu müssen, die deren Interessen weiterhin dienlich sein könnten. Die „disziplinierende Wirkung des europäischen Modells von Territorialität und Nationalität“[109] konnte in dem Moment nicht mehr disziplinierend wirken, als sich aussenpolitische Parameter änderten und alternative Ordnungsstrukturen für die Eliten einen höheren Nutzen erhielten. Mit anderen Worten: die Opportunitätskosten, die bei einem Verlust von Staatlichkeit und zentraler Kontrolle und den damit einhergehenden Konsequenzen entstehen, waren hinreichend gering, um alternative polit-ökonomische Agenden umzusetzen. „Ein Krisenmanagement diesen Ausmaßes zwingt zu Experimenten[…]“[110] Und ein solches Experiment besteht in der Aufgabe territorialer Kontrolle zugunsten von ökonomisch-rationaler Logik folgenden Netzwerkstrukturen oder zur Reproduktion von Staatlichkeit auf „intermediärer“ Ebene.[111]

1.3.2 Zur Internen Struktur von Quasistaaten

Der Begriff des „Quasi-staates“ – wenn auch analytisch unscharf – soll weiterhin Leitmotiv für unsere Absicht sein, alternative Ordnungsformen und deren Beziehungen zu einander zu analysieren. Wir nehmen an, dass ein juristisch anerkannter Staat um so mehr seiner empirischen Staatlichkeit verlustig geht, desto weniger er in der Lage ist, jene Elementarfunktionen (Gewaltmonopol/heteronome Ordnung, ökonomische reproduktion, konsensuelle Legitimität) auf zentralisierter Basis auszufüllen, die Joel Migdal in vier operationalisierbare Kategorien unterteilt hat. Wir nehmen weiterhin an, dass spiegelbildlich zur Erosion zentralstaatlicher Funktionalität konkurrierende Akteure auf den Plan treten, die partiellen Anspruch auf das Gewaltmonopol erheben und zur Fragmentierung von Territorialität, Legitimitätsmustern und Reproduktionskreisläufen beitragen.[112] So es nicht deren Ziel ist, den pro-forma -Zentralstaat zu übernehmen bzw. sich durch sezessionistische Absichten völkerrechtlich zu verselbständigen, werden sie bestrebt sein, funktionelle entitlements an sich zu reissen und die letzten Überreste staatlicher Autorität streitig zu machen. Als konstituierende Elemente einer dezentralen, von lokalen Eliten[113] geprägten Ordnung treten sie in konfliktive Beziehungsverhältnisse zueinander. Grundlegend für jedes externe „Beziehungsmanagement“ jedoch – wie auch für jeden offiziell anerkannten Nationalstaat – ist eine innere Ordnung, die die einzelnen Akteure im Sinne kollektiver Rationalität und Legitimität bindet, Handlungsfähigkeit erzeugt und tatsächliche oder potentielle Defektion einzelner Akteure unterbindet. Mit anderen Worten: jene proto-staatlichen[114] oder quasistaatlichen Akteure sind nicht von der Pflicht entbunden, die grundlegenden Jungschen Elementarfunktionen zur Herstellung und Beibehaltung von Ordnung zu erfüllen. Ein Organisationsprinzip, welches jene Funktionen strukturiert, politische, ökonomische wie auch normative Sphäre zusammenbindet ist jenes des Patrimonialismus. Er soll als hauptsächliches Strukturelement quasistaatlicher Ordnungen gelten, in Abgrenzung von legal-rationaler Organisation westlicher Prägung, im Sinne des Überwiegens informaler Beziehungen über formale Regulation.

[...]


[1] Jackson, Robert H., Quasi-states: Sovereignty, International Relations, and the Third World. Cambridge: Cambridge University Press 1990, S. 22

[2] Erdmann, Gero, Neopatrimonialismus – Der Übergang zur Demokratie ist nicht gelungen, 2000, http://www.dse.de/zeitschr/ez1001-6.htm

[3] Jene These des Rückfalls in vorzivilisierte Zustände wird prophetisch von Robert Kaplan vertreten, der in neomalthusianischer Sicht den Rückfall in Anarchie und Chaos aus Bevölkerungsexplosion und Hungersnöten ableitet und jedwede ökonomische Rationalität von Konflikten bestreitet. Vgl. Kaplan, Robert D., The Coming Anarchy –How Scarcity, Crime, Overpopulation, Tribalism and Disease are Rapidly Destroying The Social Fabric of Our Planet, New York, 1994

[4] Kaplan (1994; 44 ff)

[5] Reno, William, Welthandel, Warlords und die Wiedererfindung des Afrikanischen Staates, Welttrends Nr. 14, 1997, S. 8-30, http://www.bpb.de/files/D64RWG.pdf

[6] Gesellschaft bzw. gesellschaftliches System soll hier als Synonym zur Totalität von Ordnung gelten, als der Bezugspunkt unsere Betrachtungen. Der Gesellschaftsbegriff wird hier im „weiteren Sinne“ betrachtet, nicht im differenzierteren „engeren“ Sinne wie bspw. bei Ferdinand Tönnies, der Gesellschaften von Gemeinschaften qua entsprechender Differenzierungsmerkmale (Modernität vs. Tradition) unterscheidet.

[7] Fuchs, Dieter, Soziale Integration und politische Institutionen in modernen Gesellschaften, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, FS III 99-203, http://skylla.wz-berlin.de/pdf/1999/iii99-203.pdf, S. 18

[8] Der Begriff des „Sozialen“ bzw. der „Sozialen Ordnung“, der hier zur Anwendung kommt, rekurriert auf die Begriffsdefinition von Kirsti Stuvoy und bezeichnet das gesamte System im Sinne eines Konglomerats von politischen Strukturen, wirtschaftlichen Reproduktionsmustern und symbolischen Wertkontexten. Die Verwendung des Begriffs bezieht sich folglich nicht auf engere oder speziellere Definitionen, die bspw. eine Begriffsidentität von „Sozialem System“ und „Redistributionssphäre“ darstellen. Auch nicht im Sinne einer funktionalistischen Untergliederung (wie bei Talcott Parsons) in personales, soziales und kulturelles System. Vgl. Stuvoy, Kirsti, War Economies and the Social Order of Insurgencies. An Analysis of the Internal Structure of UNITA´s War Economy, Arbeitspapier Nr. 3/2002 der Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung der Universität Hamburg

[9] Zerfallende Staaten, schwache Staaten, kollabierende Staaten: Das Begriffsinventar zur Beschreibung ähnlicher Sachverhalte ist reichhaltig und in der entsprechenden Literatur in verschiedenen Ausprägungen zu finden. In der Tat existieren Systematiken, die weak states von failed states oder collapsed states anhand von diversen Indikatoren unterscheiden. Vgl. diesbezügl.: Rotberg, Robert I., Failed States, Collapsed States, Weak States: Causes and Indicators, http://www.brook.edu/press/books/chapter_1/statefailureandstateweaknessinatimeofterror.pdf, 2003

[10] Kingston, Paul/ Spears, Ian S., States Within States Incipient Political Entities in the Post-Cold War Era, 2004

[11] so z.B. Duffield, Mark, Post-Modern Conflict: Warlords, Post-Adjustment States and Private Protection, in: Civil Wars, Bd.1, 1998, S. 67

[12] Die Bezeichnung „Intermediäre“ bezieht sich auf meist parastaatliche Soziale Ordnungen, die neben dem Staatsapparat als solchem bestehen können, sich prototypisch als „ insurgent social orders “ manifestieren und zumeist über die Herrschaft über bestimmte Territorin ein zum Staat „paralleles“ Gewaltmonopol anmelden. Solcherlei gestaltete Ordnungen kennzeichnen sich durch ein „[…]zerbrechliches Gefüge eher horizontal organisierter parastaatlicher und intermediärer Einrichtungen und Organisationen […]“ Vgl. Trotha, Trutz von, Die Zukunft liegt in Afrika. Vom Zerfall des Staates, von der Vorherrschaft der konzentrischen Ordnung und vom Aufstieg der Parastaatlichkeit, in: Leviathan, 28 Jg., 2000, S. 253-279

[13] Jackson (1990)

[14] Migdal, Joel S., Strong Societies and Weak States. State-Society Relations and State Capabilities in the Third World, Princeton/New Jersey 1988, S. 4f.

[15] Der Elitenbegriff bezieht sich im Grundverständnis dieser Arbeit auf eine funktionale Machtelite, die im Sinne des Patrimonialismus politische und wirtschaftliche Ambitionen in sich vereint, Führungspositionen innerhalb einer sozialen Ordnung einnimmt und sich von dem Gros der Bevölkerung durch aussergewöhnlichen Ressourcenzugriff qua hohen Organisationspotentials auszeichnet.

[16] Brinkerhoff, Derick W./ Goldsmith, Arthur A., Clientelism, Patrimonialism and Democratic Governance:

An Overview and Framework for Assessment and Programming, U.S. Agency for International Development Office of Democracy and Governance under Strategic Policy and Institutional Reform, Dezember 2002

[17] Obgleich der Sprachgebrauch hinreichend „etabliert“ ist , soll dennoch der zweifellosen Klarheit halber noch einmal darauf hingewiesen werden, dass der Begriff „Dritte Welt“ einen Konventionsbegriff darstellt und eine Vielzahl von Staaten in meist südlichen Regionen dieser Erde umfasst, die sich von den industrialisierten Staaten Westeuropas und Nordamerikas durch zahlreiche Differenzindikatoren wie geringe Wirtschaftsleistung, Armut, klientelistische Herrschaftspraktiken etc. auszeichnen. Eine genaue Definition wie umfassende Darstellung dieser Indikatoren ist jedoch nicht Ziel dieser Arbeit. Drittweltstaaten konzipierten sich als „dritten“ Raum jenseits der kapitalistischen und kommunistischen Staaten im Sinne von Neutralität und Blockfreiheit.

[18] Lock, Peter, Kriegsökonomie und Schattenglobalisierung, in: Ruf, Werner (Hg): Politische Ökonomie der Gewalt. Staatszerfall und die Privatisierung von Gewalt und Krieg, Opladen 2003, im Internet unter: www.peter-lock.de/txt/l-lock1.html

[19] Münkler, Herfried, Die Neuen Kriege, 2002, S. 140

[20] Ein ökonomischer „Determinismus“ wird von einigen Vertretern des economic approach vertreten – etwa Paul Collier (Vgl. Collier, Paul/ Hoeffner, Anke, Greed and Grievance in Civil War, World Bank, Oktober 2001) der allerdings wesentliche andere Faktoren ausser Acht lässt. Es wird bspw. behauptet, dass „ greed “ das eigentliche Motiv vieler Konflikte ist, ohne jedoch zu explizieren, weshalb selektive quasi-öffentliche Güter bereitgestellt werden, oder ohne die kontextuelle Rolle sozialer Strukturen zu erfassen. Vgl. Ehrke, Michael, Zur politischen Ökonomie post-nationalstaatlicher Konflikte, 2003b , Im Internet unter: http://library.fes.de/fulltext/id/01184.htm, S 148 ff

[21] in Anlehnung an David Eastons funktionalistisches Modell, Vgl. Easton, DAVID, A Framework for Political Analysis, Prentice-Hall, Inc., Englewood Cliffs NJ 1965, S. 48-50.

[22] Elwert, Georg, Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, In: Trotha, Trutz von, ed.): Soziologie der Gewalt, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 37/1997. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1997

[23] Quasistaatliche Ordnungen sui generis bildeten in Angola die UNITA und in Kolumbien die Guerilla-Organisationen (FARC und ELN) sowie die paramilitärischen Verbände. Es kann auch von parallelstaatlichen Ordnungen gesprochen werden, die im räumlichen wie funktionalen Sinne autonome Räume jenseits der staatlichen Sphäre einnehmen.

[24] Vgl. Stuvoy (2002)

[25] Bridgeland, Fred, Jonas Savimbi: A Key to Africa, London: Hodder and Stoughton, 1986. Aufgrund der charismatischen Eigenschaften des langjährigen UNITA-Führers Savimbi läge die Vermutung nahe, dass die Erosion der UNITA unmittelbar mit seinem Tode zusammenhängt. In der Tat fanden jedoch zahlreiche strukturelle Veränderung schon lange vorher statt. Vgl. Vorliegender Text, S. 150 ff

[26] Vgl. Parsons, Talcott, The Social System, New York, 1951, Parsons elaborierte in seinem wohl berühmtesten Werk einen Entwurf, der sich von seiner früheren voluntaristischen Handlungstheorie distanzierte und die Eliminierung von Kontingenz durch die Einführung des Rollenbegriffes und der Institutionen beabsichtigte. Ordnung und Erwartungsverlässlichkeit galten bei ihm nicht allein als instrumentelle, sondern teiweise als teleologische Ziele, die ihren Sinn in sich selbst fänden.

[27] Vgl. Fuchs (1999, S.4 ff)

[28] ebenda (1999, S.9 ff)

[29] ebenda (1999, S. 9)

[30] Vgl. O’DonNell, Guillermo , On the State, Democratization and Some Conceptual Problems: A Latin American View with Glances at Some Postcommunist Countries, in: Counterpoints, Notre Dame, University of Notre Dame Press, 1999, S. 135, O´Donnell macht die Existenz von symmetrischen Beziehungen nicht zur Grundlage einer Definition von Ordnung, konzediert vielmehr die Möglichkeit von Ordnung unter Asymmetrie.

[31] Jung, Dietrich, The Political Sociology of World Society, European Journal of International Relations, 7/4, 2001, S. 452

[32] Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Verstehenden Soziologie, Tübingen, 1988 (original 1922)

[33] Weber (1980, S. 542)

[34] Le Billon, Phillippe , The Political Economy of Resource Wars, in: Cilliers, Jakkie/ Dietrich, Christian (Hg.): Angola’s War Economy. The Role of Oil and Diamonds, Johannesburg, 2000a, S. 38, Le Billon unterscheidet verschiedene Strukturformen einer Ökonomie, u.a. klassifiziert er eine legale Sphäre, eine graue Sphäre wie auch eine Sphäre der Informalität und Kriminalität, die auf verschiedene Prinzipien der Aneignung basieren.

[35] Fuchs (1999, S. 18)

[36] Interessant sind etwa hier Ansätze der neueren Rational-Choice -Theorien, insbesondere im Gefolge von James Buchanan, die die Genese des Staates und damit konstitutiver Elemente sozialer Ordnung allein auf individualistisches Nutzenkalkül – im Sinne des methodologischen Individualismus – zurückführen und dies zusätzlich anthropologisch (mit dem Konzept des homo oeconomicus) zu untermauern suchen. Buchanan selbst wies interessanterweise seine radikalen Annahmen in späteren Werken zurück und gestand zu, dass eine „Verfassung der Freiheit“ ohne Rekurs auf normative commitments nicht existieren könne. Vgl. Buchanan, James/ Tullock, Gordon, The Calculus of Consent, Michigan 2001 (Org. 1964); Petersen, Thomas, Die ökonomische Theorie der Politik und die Verfassung der Freiheit, Köln 1998, S. 40 ff

[37] Horizontale Legitimität bezieht sich auf das Akzeptanzverhältnis zwischen Regierung und Regierten, Staatsapparat und Zivilgesellschaft; vertikale Legitimität hingegen auf jenes zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, bspw. Ethnien oder Konfessionen. Vgl. Ohlson, Thomas/ Söderberg, Mimmi, From Intra-State War To Democratic Peace in Weak States, http://www.pcr.uu.se/publications/UPRP_pdf/UPRP_NO_5.pdf, 2002, S. 7;

[38] Zur Problematik von „Diskursen“ in Bürgerkriegen Vgl. Jackson, Richard, The Social Construction of Internal War: Towards a Framework of Understanding, 2002, http://www.interdisciplinary.net/jackson%20paper.pdf, S. 7 ff

[39] Wolfgang Kersting sieht eben in der Existenz eines solchen Friedensbegriffes die Ursache für das grösstenteils auf friedlicher Koexistenz basierende internationale System der Nachkriegszeit. Vgl. Kersting, Wolfgang, Bewaffnete Intervention als Menschenrechtsschutz, in: Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, Frankfurt/Main 2000

[40] Noch eine Anmerkung zur Anwendung von Begriffen: Wenn von „ strong states “, „ insurgend social orders “, „ weak states “, „Patrimonialismus“ etc. die Rede ist, so befinden sich diese meist auf einer analytischen Betrachtungsebene, d.h. es handelt sich um analytische Begriffe, die in der Realität keine identische Entsprechung besitzen. Auf Max Weber geht dabei die Konzeption der „Idealtypen“ zurück, die insbesondere in den Sozialwissenschaften zur Anwendung kommen und für ein abstrahierendes (und damit ordnendes) Verständnis der Realität vonnöten sind. Idealtypen besitzen dabei eine heuristische Funktion und sollen uns ermöglichen, komplexe Sachverhalte durch Vereinfachung auf wesentliche Strukturmerkmale hinreichend zu verstehen.

[41] Weber (1980, S. 815)

[42] Einschränkend kann gesagt werden, dass der Begriff des „starken Staates“ mit den hier dargestellten Charakteristika idealtypischen Charakter aufweist, da dieser zahlreichen Vermeinschaftungs-u. Supranationalisierungsprozessen ausgesetzt ist. Es ist mithin legitim, von einem postwestphälischen System zu sprechen.

[43] Trotha, Trutz von, Distanz und Nähe. Über Politik, Recht und Gesellschaft zwischen Selbsthilfe und Gewaltmonopol, Tübing 1986, 16 ff

[44] Vgl. auch Skocpol, Theda, Social Revolutions in the Modern World, Cambridge, 1994, S. 322 – Skocpols Staatsverständnis in Anlehnung an Max Weber.

[45] Jung (2001, S. 149)

[46] Der Begriff des Öffentlichen Gutes kann in einer engeren und einer weiteren Dimension gelesen werden, wobei die „weitere“ Dimension auch den Aspekt der Sicherheit mit einbezieht und jedwede Leistung bzw. Gewährleistung betrifft, die private Akteure nicht leisten können bzw. aufgrund fehlender Anreize nicht leisten wollen. In diesem Sprachgebrauch bezieht sich jedoch „Öffentliches Gut“ auf nicht exklusive Gegenstände und Leistungen, die vom Staat gemeinwohlrelevant erbracht werden und die öffentliche Sphäre eines Gemeinwesens strukturieren, die sich eben von der privaten Sphäre durch Nicht-exklusivität abtrennt.

[47] Vgl. Buchanan/Tullock (2001)

[48] So kann das alternierende Wahlsystem als Mechanismus verstanden werden, den Hang zur Defektion von Eliten einzuschränken, in dem künftige Mehrheitsverhältnisse unbekannt sind und damit die eigene Position ebenfalls. Parallelen zu Rawls original position werden deutlich, in dem die Unvorhersehbarkeit zukünftiger Ereignisse Akteure in compliance zwingen und damit kollektive (gemeinwohlorientierte) wie auch individuelle Rationalität zur Deckung bringen kann.

[49] Ressourcenmobilisierung wie auch Ressourcenverwendung stellen bspw. zwei wichtige erklärende Variablen im Staatskonzept von Joe Migdal dar, auf die im späteren Verlauf der Arbeit noch ein wenig genauer eingegangen werden soll. Vgl. MIGDAL (1988)

[50] Gegenteiliges findet in patrimonialen Systemen Staat - Genaueres im Kapitel über Patrimonialismus S. 36 ff

[51] Douma, Pyt S., Political Economy of Internal Conflict: A Review of Contemporary Trends and Issues, Netherlands Institute of International Relations “Clingendael”, Conflict Research Unit, 2001, S. 10 f

[52] Vgl. Münkler (2002, S. 109)

[53] „[…]strong states exist as a ‘hegemonic idea’, accepted and naturalized in the minds of the population such that they consider the state as natural as the landscape around them; they cannot imagine their lives without it […]“ Migdal, Joel, Why Do So Many States Stay Intact?, 1998, S. 12

[54] Conrad, Burkhard, In-/formale Politik – zur Politik der Weltgesellschaft, http://www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/Ipw/Akuf/publ/ap1-03.pdf, 1/2003

[55] Vgl. Easton (1965, S. 273 f)

[56] Vgl Diamond, Larry, Three Paradoxes of Democracy, in: Diamond, Larry, The Global Resurgence of Democracy, Baltimore 1996, S. 111-123

[57] „In essence, consolidation is the process of achieving broad and deep legitimation, such that all significant political actors, at both the elite and mass levels, believe that the democratic regime is the most right and appropriate for their society, better than any other realistic alternative they can imagine“ (Diamond 1996, S. 117)

[58] Bourdieu, Pierre, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt/Main, 1998, S. 99

[59] Migdal (1988, S. 12 ff)

[60] Basierend auf Jungs Dreigliederung.

[61] Es gibt alternative Möglichkeiten, empirische Ordnungen zu beschreiben und zu strukturieren, ebenso die Konzeption des strong state. Neben der Jungschen Definition sind auch andere Schwerpunkte und Unterteilungsmöglichkeiten denkbar, wie jene von Migdal (1988), auf die sich später noch bezogen werden soll und der andere Kategoriensysteme zur Beurteilung aufstellt. Zentraler Begriff hierbei sind Territorialität und Ressourcenmanagement (Input - wie auch Output -Dimension). Der analytischen Klarheit halber werden jedoch kontextabhängig die verschiedenen Konzepte in Zusammenhang gebracht. So kann territoriale Integrität als sinnverwandter Sachverhalt zu „ control of physical force “, also den funktionellen Imperativen des politischen Systems, betrachtet werden. In anderen Konzeptionen (wie bei Jellinek) werden territoriale Integrität einerseits, und Staatsgewalt andererseits als analytisch getrennte Kategorien gehandelt.

[62] Vgl. Keohane, Robert O., Hobbes’s Dilemma and Institutional Change in World Politics: Sovereignty in International Society, in Holm/Sorensen (1995, S.170 ff) Operationelle Souveränität meint gewissermassen „Souveränität nach innen“ und beschreibt die tatsächliche Handlungsfähigkeit des Staates gegenüber internen Akteuren. Sie bezieht sich insbesondere auf die Fähigkeit des Staates, systemerhaltende Funktionen zu erfüllen in Sinne sozialer Reproduktion. (siehe oben) Robert Keohane nimmt einer weitere Differenzierung vor und betachtet solche Staaten als operational souverän, die Souveränität teilen (etwa im Zuge von Vergemeinschaftung und Supranationalisierung) und von dieser Teilung im Sinne höherer Steuerungskapazitäten auch profitieren können.

[63] Vgl. auch Holm, Hans Henrik, Sorensen, Georg, Whose World Order? Uneven Globalization and the End of the Cold War, Westview Press, Boulder CO 1995, S. 196

[64] Ein anderer Begriff für empirische Staatlichkeit wäre soziologische Staatlichkeit, die Jackson der legalen (juristischen) Staatlichkeit gegenüberstellt. Vgl. Jackson (1990, S. 26 f), Vgl. auch Jackson (1998, S. 2)

[65] Jackson (1990, S. 27), juristische Staatlichkeit gilt bei Jackson als spiegelbildliches Prinzip zur internationalen “Doktrin” der Nicht-intervention.

[66] ebenda, S. 10 ff

[67] ebenda, S. 21

[68] Vgl. Jackson (1998, S. 3); Delbrück, Jost in Dahm, Georg/Delbrück, Jost/Wolfrum, Rüdiger, Völkerrecht, Band I,1, Die Grundlagen. Die Völkerrechtssubjekte, De Gruyter Verlag, Berlin und New York, 2. Aufl. 1989, S. 186-189

[69] Vgl. Stuvoy (2002, S. 94) am Beispiel der Kriegsparteien in Angola. Der Wegfall externer Alimentation, so soll später argumentiert werden, resultiert in einer Veränderung interner Strukturen.

[70] Im weiteren Sinne sieht Jackson die Entstehung von Quasistaaten der Nachkriegsordnung in einer inkonsequenten Auslegung der UN-Charta begründet, die zwar juristische Staatlichkeit ohne Ansehen der Gesellschaftsordnung fordert, allerdings mit der Bedingung verknüpft, dass diese Staaten gemäss Art. 4 (1) UN Charta grundlegende Staatsfunktionen erfüllen können. Vgl. Jackson (1998, S. S.3)

[71] Jung (2001, S. 420)

[72] Jackson (1990, S. 21)

[73] „Ganz anders als in Europa, wo der Nationalstaat spätes Resultat der gewaltsamen Durchsetzung bürgerlicher Lebensverhältnisse ist, ist die staatliche Verfasstheit für die Länder der Dritten Welt festgeschriebene Voraussetzung für die kapitalistische Entwicklung und den inneren Konsolidierungsprozess. Staat und Nation sind hier nicht als Resultat eines langen gewaltsamen Integrationsprozesses zu einer neuen Integrationsebene zusammengewachsen. Der Territorialstaat ist hier vielmehr ererbte Voraussetzung für eine nachholende innere Konsolidierung, er ist die vorgegebene Form, unter der sich der heterogene Inhalt dieser häufig „künstlichen“ Gebilde zu entwickeln hat“, Vgl. Siegelberg, Jens, Kapitalismus und Krieg. Eine Theorie des Krieges in der Weltgesellschaft, 1994, S. 137 f

[74] Diamond (1996, S. 120)

[75] Ist im weiteren Verlauf der Betrachtungen von „Elementarfunktionen“ die Rede, so beziehen sich diese stets auf das Kategoriensystem von Elias/Jung bzw. von Migdal.

[76] Ein Desiderat, dem auch Jackson als konsequenter Anti-Interventionist anhängt, Vgl. Jackson, Robert, Surrogate Sovereignty? Great Power Responsibility and "Failed States", Institute of International Relations, University of British Columbia, Working Paper, No.25, November 1998

[77] Bejarano, Anna/ Pizarro, Eduardo, “The Coming Anarchy”: The Partial Collapse of the State and the Emergence of Aspiring State Makers in Colombia, 2002, S. 2

[78] Zum Begriff des Neopatrimonialismus S. 36 ff

[79] Vgl. Stuvoy (2002, S. 23 ff)

[80] Kingston/Spears (2004)

[81] „parastaatlich“ ist dabei der allgemeinere und umfassendere Begriffe, bringt er doch zum Ausdruck, dass ein Akteur neben dem Staat innerhalb dessen offiziellen Territoriums existiert. „Quasi-staatlich“ oder „proto-staatlich“ sind hingegen engere, qualitative Begriffe, die eine heuristische Aussage über den Charakter dieser Akteure treffen.

[82] Die Kategorien von Migdal lassen sich auf analytischer Ebene in den Elementarfunktionen sozialer Ordnungen nach Elias/Jung verorten, unterscheiden sich von diesen aber durch höhere Operationalisierbarkeit und Konkretheit. So geben Betrachtungen über Ressourcenverwendung- u. mobiliserung Aufschluss über eine Teilmenge der basalen Kategorie „ guarantee of physical means “.

[83] Migdal (1988, S. 5),

[84] ebenda, S. 26 ff, vgl. auch Rotberg (2003, S. 3 ff)

[85] Überlegungen in Bezug auf die Ausprägungen diverser funktioneller Variablen liegen in operationalisierter Form verschiedenen Statistiken und Indices zugrunde. Indikatoren wie das Pro-Kopf-Einkommen, der Gini-Koeffizient, Indices wie der Human Development Index oder der Freedom House Index politischer Freiheit können als Beispiele angeführt werden.

[86] Vgl. Skocpol, Theda, States and Social Revolutions, 1979, S. 29

[87] Vgl. Migdal (1988, S. 227-229) Migdal konzipiert Eliten als Rezeptoren interner und externer Drücke und Anforderungen, die durch „crisis management“ versuchen, diese zu neutralisieren. In Abwesenheit fest verankerter normativer Kontexte heiligt der Zweck jedwedes Mittel und führt zur Anwendung von repressiv-menschenrechtsverletzenden policies.

[88] Vgl Rotberg (2003, S. 3)

[89] Jung (2001, S. 452; 455 f)

[90] ebenda, S. 394 ff. Jung sieht die Notwendigkeit zu unmittelbarem instrumentellen Zwang in den modernen Gesellschaften als unzeitgemäss und verpönt und konstatiert eine zunehmende Zuwendung zu Mitteln der allgemeinen Legitimitätsbeschaffung. Er zeigt dies am Beispiel der modernen Kriege (nicht ohne einen „westlichen Bias“), deren zugrundelegende Mobiliserung weniger auf „ emergency coercion “, als vielmehr auf „ long-term legitimization “ basiert. Insbesondere in demokratischen Staaten ist Kriegsführung zur Funktion parlamentarischer und damit demokratischer Zustimmung geworden.

[91] Migdal (1988, S. 29)

[92] Beide Autoren betrachten Klientelismus und Patronage samt deren Subkategorien als sowohl funktional wie auch dysfunktional, abhängig von verschiedenen Kontextfaktoren (Geschichte, Subsistenzsysteme etc.) So können bspw. interethnische Konflikte durch klientele Strukturen entschärft und auf eine friedliche Basis gestellt werden. Vgl. Brinkerhoff/Goldsmith (2002, S. 20)

[93] An dieser Stelle sei auf Max Webers drei klassische Idealtypen von Herrschaft zu verweisen, legale, charismatische und traditionale Herrschaft, die in einer anderen Lesart als drei Idealtypen von „Legitimitätsbeschaffung“ seitens des politischen Systems angesehen werden können. Vgl. Weber (1980, S. 549 iVm S. 124 ff)

[94] Hierbei sollte man sich jedoch vor einer eindimensionalen Betrachtungsweise hüten: Korruption wird von einigen Autoren keineswegs immer als dysfunktional für legitime Ordnungen angesehen, sondern kann durchaus – abhängig von verschiedenen Variablen – als funktional im Sinne von integrationsschaffend und konfliktvermindernd angesehen werden. Siehe auch das Kapitel über Patrimonialismus, S. 36; Vgl. Brinkerhoff, Goldsmith (2002), weiterhin Le Billon, Philippe, Buying Peace of Fuelling war: The Role of Corruption in Armed Conflicts, Journal of International Development Nr. 15, 2003, S. 413-426

[95] Jackson, Richard (2002, S. 7 ff)

[96] Migdal (1988, S. 207 ff)

[97] Vgl. e.g. Le Billon, Philippe, The political ecology of war: natural resources and armed conflicts, Political Geography 20, 2001b, S 561–584, S. 562 ff in Bezug auf die instrumentelle Rolle von Ressourcen.

[98] Wobei es hierbei auch zu Komplementaritätsbeziehungen kommen kann, sowohl im Rahmen der Kriegsökonomie wie auch im Verhältnis zu externen Akteuren. Vgl. Lock (2003)

[99] Reno, William, Corruption and State Politics, 1995, S. 9 -10

[100] Vgl. Le Billon, Philippe, The Political Economy of War: What Relief Agencies Need to Know, Humanitarian Practice Network 33, 2000, insb. S. 6 ff; http://www.odihpn.org/pdfbin/networkpaper033.pdf

[101] Vgl. Keen, David , The Economic Functions of Violence in Civil War, 1998; Keen betrachtet die Mobilisierung und Aneignung von Ressourcen als zentrales Argument gegen die Anarchiethese, betont jedoch, dass solcherlei Interessen nicht offen zutage treten, sondern „ vested interests “ (S.10) darstellen und sich damit von der formalen Reproduktionssphäre abgrenzen.

[102] Lock (2003, S. 4 ff)

[103] Vgl. Trotha (2000, S. 270 ff)

[104] Bejarano, Anna/ Pizarro, Eduardo, “The Coming Anarchy”: The Partial Collapse of the State and the Emergence of Aspiring State Makers in Colombia, 2002, http://ccasls.concordia.ca/contents/anarchy.htm, S. 1

[105] Vgl. Kingston/Spears (2004, S. 2)

[106] ebenda, S. 2, Bejarano und Pizarro setzen sich kritisch mit den Aussagen von Spears auseinander und werfen ihm einen „afrikanischen Bias “ vor, da Spears als einen der Hauptgründe für Staatenzerfall deren willkürliche „Territorialität“ im Rahmen postkolonialer Grenzziehung sieht. Diese können jedoch keineswegs auf Lateinamerika (insb. Kolumbien) zutreffen (Bejarano/Pizarro (2002, S. 2), da die lateinamerikanischen Staaten schon wesentlich länger der internationalen Staatengemeinschaft angehören (ebenda, S. 3 ff). Da sich diese Arbeit nicht allein als „phänomenologisches Betrachtung“ versteht, sondern auch Ursächlichkeiten zugrunde legt, wird dieser Fakt als „einschränkende Variable“ in den komparativen Betrachtungen zwischen Angola und Kolumbien weiter unten eine Rolle spielen.

[107] Vgl. Reno 1997

[108] ebenda, S. 17, Reno verweist u.a. auf die NGO U.S.-Food Aid, die ein Drittel des Landes mit Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütern zur Überlebenssicherung versorgte und damit sozusagen eine Migdalsche Funktion stellvertretend für herkömmliche administrative Netze ausführte.

[109] ebenda, S. 10

[110] ebenda, S. 16

[111] Vgl. Duffield (1998, S. 76)

[112] Vgl. O´Donnell (1999, S. 138)

[113] As lokale Elite soll hier eine in erster Linie politisch, wirtschaftlich und/ oder militärisch führende Gruppe bezeichnet werden, die ihre Macht auf einem territorial begrenzten Gebiet parallel zum Staat ausübt. Sie steht intermediär zwischen dem einzelnen Individuum und der zentralstaatlichen Elite, kann sowohl administrative wie auch autonome Funktionen (Warlords, quasistaatliche Gebilde) wahrnehmen.

[114] Vgl. Bejarano/Pizarro (2002, S. 19) Die beiden Autoren differenzieren verschiedene „Staatsbegriffe“, gemessen an qualitativem und quantitativem Ausmass, wie sie tatsächlichen (empirischen) Staaten nahekommen. Protostaaten unterscheiden sich danach von Quasistaaten, in dem sie einen geringeren Grad an Staatlichkeit im Sinne der Erfüllung der Elementarfunktionen besitzen.

Ende der Leseprobe aus 182 Seiten

Details

Titel
Parastaatlichkeit und Ökonomien des Krieges
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Politikwissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
182
Katalognummer
V38116
ISBN (eBook)
9783638372862
ISBN (Buch)
9783638705530
Dateigröße
2901 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Parastaatlichkeit, Krieges
Arbeit zitieren
Andreas Hahn (Autor:in), 2004, Parastaatlichkeit und Ökonomien des Krieges, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/38116

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