Gibt es Legasthenie noch? Kritische Betrachtung und theoretische Modelle zum Lese-Rechtschreib-Problem


Diplomarbeit, 2005

110 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

II Vorwort

III Einleitung

1. Definitionsversuche des Begriffes Legasthenie

2. Gibt es Legasthenie noch?
2.1 Die Geschichte der Legasthenieforschung
2.2 Die unglückliche Auswahl des Begriffes
2.3 Wie häufig ist LRS?

3. Der Entwicklungsprozess von Lesen und Schreiben
3.1 Vorraussetzungen für das Lesen- und Schreibenlernen
3.2 Der Entwicklungsprozess des Lesens
3.2.1 Die fünf Stufen
3.3 Der Entwicklungsprozess des Schreibens
3.3.1 Die sechs Stufen
3.4 Die Gedächtnissysteme
3.4.1 Der sensorische Informationsspeicher
3.4.2 Das Kurzzeitgedächtnis
3.4.3 Das Langzeitgedächtnis

4. Was ist nun LRS?
4.1 Die Suche nach den Ursachen
4.1.1 Die Primärsymptomatik
4.2 LRS – weder Krankheit noch Behinderung
4.3 Ist LRS und Lese-Rechtschreib-Schwäche dasselbe?

5. Erscheinungsformen von LRS
5.1 Kennzeichen im Bereich Lesen und Schreiben
5.2 Gibt es Begleiterscheinungen?
5.3 Das Problem von LRS und Sehen
5.3.1 Die Anstrengungsprobleme
5.3.2 Die subjektive Seh-Unruhe
5.4 Die Wirkung von Farben auf das Lesen
5.5 Gibt es Probleme auch in Fremdsprachen?

6. Wie kann LRS festgestellt werden?
6.1 Die klassischen Diagnostiken
6.1.1 Der Lesetest
6.1.2 Der Rechtschreibtest
6.1.3 Der Intelligenztest
6.1.4 Der Wahrnehmungstest
6.1.5 Der Konzentrationstest
6.1.6 Der Test zur Überprüfung von Motorik und Körperschema
6.2 Informelle Verfahren
6.3 Früherkennung von LRS im Vorschulalter

7. Der richtige Umgang mit betroffenen Kindern
7.1 Alles rund um die Schule
7.1.1 Schulrechtliche Bestimmungen
7.1.2 Gehirngerechtes Lernen
7.1.3 Sensorische Integration
7.1.4 Gestaltung des Unterrichts und Materials
7.1.5 Der Salzburger Lese- und Rechtschreibtest
7.2 Eltern können helfen

8. Wie kann außerschulisch und –familiär geholfen werden?
8.1 Grundprinzipien für eine Therapie
8.1.1 Ermittlung der Therapiebereiche
8.1.2 Die Psyche des Kindes
8.2 Traditionelle Behandlungsmethoden
8.2.1 Das Marbuger Rechtschreibtraining von Schulte-Körne u. Mathwig
8.3 Alternative Behandlungsmethoden
8.3.1 verstecktes Schielen/Prismenbrille
8.3.2 Magnetfeldtherapie
8.3.3 Bach-Blütentherapie

9. Nachwort

10. Abbildungsverzeichnis

11. Literaturverzeichnis

12. Anhang

II Vorwort

Es ist Montag. Ein Tag wie jeder andere auch. Simon kommt gegen 13 Uhr von der Schule nach Hause. Seine Mutter sitzt bereits ungeduldig mit dem Mittagessen am Tisch und wartet bis Simon seine Schulsachen ins Zimmer getragen hat, um anschließend mit ihm zu essen. Mehrmals ermahnt sie ihn, sich zu beeilen, da sie am Nachmittag noch sehr viel zu erledigen hat. Während des Essens fragt sie Simon immer wieder nach dem Verlauf des Schultages, doch Simon antwortet nicht und gibt nur ein leises Brummen von sich. Die Mutter ist über die Antworten ihres Sohnes verärgert. Nach dem Essen macht sich Simon auf den Weg in sein Zimmer, um zu spielen, als plötzlich seine Mutter laut aus der Küche ruft: „Simon! Zuerst Hausaufgaben machen!“ Wütend geht er mit seinen Schulsachen zurück in die Küche und setzt sich gelangweilt an den Tisch. Er nimmt seine Farbstifte und beginnt zu zeichnen. „Ist das deine Hausübung?“, ermahnt ihn die Mutter. Seufzend legt er die Stifte zur Seite und blättert in seinen Büchern. Die Mutter wird in der Zwischenzeit immer ungeduldiger und setzt sich verärgert zu Simon. „Also, welche Hausübung hat euch die Lehrerin heute aufgegeben?“, fragt sie ihn und blättert in seinem Hausaufgabenheft. „Na, hier steht es ja! Du sollst die Übungswörter ins Heft übertragen und die Geschichte im Buch lesen! Also du kannst gleich damit anfangen, mir die Geschichte vorzulesen!“ Simon schlägt das Buch auf und beginnt zu lesen. Stotternd schleppt er sich von Wort zu Wort während die Mutter bemerkt, dass es ohne ihre Hilfe nicht geht. Sie setzt sich neben ihn, um ihm zu helfen. „Also noch einmal von vorne! Du wirst ja wohl diese paar Zeilen lesen können!“ Simon beginnt von vorne. Mühsam liest er ein Wort nach dem anderen. Er weiß schon längst nicht mehr, was er da liest und hört auf. Die Mutter versucht ihm zu helfen und spricht ihm Wort für Wort vor. Die ungeduldige Stimme der Mutter macht Simon nervös und er versucht sie abzulenken. „Nun pass doch endlich einmal auf! Jeden Tag die selbe Prozedur! Diese Wörter hast du doch schon so oft gelesen und noch immer kannst du sie nicht!“, nörgelt sie. Nach einer halben Stunde und zahlreichen Ermahnungen hat Simon es endlich geschafft, die Geschichte zu lesen. Er ist erschöpft und lehnt sich zurück. „Die Schreibaufgabe machen wir, wenn wir am Abend zurück kommen. Dafür haben wir jetzt keine Zeit mehr!“ sagt seine Mutter, während sie eilig ihres Sachen zusammenpackt. Simon beginnt heimlich zu weinen. Er hat Angst davor, am Abend wieder zu versagen. Ein ungutes Gefühl steigt in ihm hoch. Er denkt an die ermahnenden Sätze seiner Eltern, die er am Abend wieder hören wird: „Du musst einfach mehr üben! Du bist doch nicht dumm! Warum stellst du dich so an! Deine Lehrerin sagt auch, dass du nur zu faul bist! So geht das nicht weiter!“ Simon versteht schon lange die Welt nicht mehr. Er bemüht sich so sehr und trotzdem macht er alles falsch. Immer wieder schimpfen die Eltern und die Lehrerin mit ihm. „Warum versteht mich keiner?“, denkt sich Simon. „Ich will doch lesen und schreiben, aber es ist so schwierig für mich! Ich habe Angst vor der Schule und den ganzen Hausaufgaben! Ich will nicht mehr!“

Eine Geschichte wie diese hat mich dazu veranlasst, das Thema Legasthenie für meine Diplomarbeit zu wählen. Ich bin der Meinung, dass die Gesellschaft allgemein zu wenig über dieses Phänomen informiert ist und darüber aufgeklärt werden soll, um Situationen wie die von Simon zu vermeiden. Vor allem Lehrer und Eltern sollten sich damit ausgiebig auseinandersetzen, was besonders auch mich als zukünftige Lehrerin und hoffentlich auch Mutter betrifft. Legasthenie ist im Sprachgebrauch der meisten Menschen zwar vorhanden, doch leider umfasst dieser Begriff lange nicht die umfassende Problematik und das verzweigte System. Aussagen wie „Ein Legastheniker ist dumm!“ oder „Ist Legasthenie nicht eine Behinderung?“ haben mich schockiert und mich in meiner Entscheidung, eine umfassende und informierende Arbeit über Legasthenie zu verfassen, bestärkt. Ich habe versucht, alle wichtigen Faktoren dieses Phänomens zusammenzufassen und ich stelle diese Arbeit all denjenigen zur Verfügung, die gewillt sind, Legasthenie zu verstehen, diese Kinder zu unterstützen und ihnen dadurch das Leben zu erleichtern.

Im Zuge dessen möchte ich meine Diplomarbeit meinen Eltern widmen, die es mir ermöglicht haben, meinen Traum Lehrerin zu werden zu verwirklichen. Ohne ihre finanzielle und psychische Unterstützung hätte ich dies nicht geschafft. Die zahlreichen Gespräche mit ihnen haben mich in meiner Ausbildung bestärkt und dazu geführt, dass ich mit voller Freude in mein Berufsleben starten kann.

Bedanken möchte ich mich besonders bei meiner Schwester Manuela, die mir über viele Hürden hinweggeholfen hat und meine negativen Gedanken während des Studiums immer ins Positive gelenkt hat. Ein weiterer Dank gilt auch meinem engsten Freundeskreis, der mich bei allen Vorgängen unterstützt hat und mir immer zur Seite gestanden ist. Danke auch an Helga Ratzenböck und Sabine, die für die Perfektion dieser Arbeit viel beigetragen haben.

III Einleitung

„Legasthenie“ – Was ist das eigentlich genau? Eine Frage die trotz intensiver Untersuchungen und zahlreichen Berichten immer noch gestellt wird. Auch LehrerInnen sind nicht genügend aufgeklärt über den Begriff der Legasthenie und vor allem ihre Entwicklung, die eigentlich auf die Schwierigkeiten eines Kindes in Lesen und Rechtschreiben aufmerksam werden sollten. Eltern nehmen das Kind, welches mit diesem Problem umgehen muss oft gar nicht ernst und beschreiben ihr Kind gegebenenfalls als dumm, nicht intelligent oder sogar schwachsinnig (,,Das ist eben so, da können wir auch nichts machen.").

Viele Jahre war das Thema Legasthenie in den Schulen ein Tabuthema. Seit Mitte der neunziger Jahre gibt es in Bezug auf diese Erscheinung bei Schulkindern eine große Wende. Immer häufiger wird nun auf das Problem der Legasthenie bei Kindern eingegangen, doch leider verstehen viele nicht, was eigentlich hinter dieser „Krankheit“ - ?, „Behinderung“ - ?, „Schwäche“ - ?, „Störung“ - ? oder was immer es auch ist, wirklich steckt.

In meiner Diplomarbeit möchte ich mich mit dem gesamten Ausmaß der Legasthenie auseinandersetzen.

Nachdem ich einige Definitionsversuche des Begriffs Legasthenie miteinander vergleiche und versuche zu bewerten, befasse ich mich mit der geschichtlichen Entwicklung und den Fortschritten der Forschung in Bezug auf dieses Phänomen. Der nachfolgende Punkt behandelt die Auswahl des Begriffs, dessen Folgeerscheinungen und die Häufigkeit. Die genaue Erläuterung der Entwicklungsprozesse von Lesen und Schreiben sowie die Erklärung über die Funktion und Zusammenarbeit unserer drei Gedächtnissysteme soll es erleichtern, die Auswirkungen und Uraschen von Legeasthenie zu verstehen. Im Folgenden gehe ich auf die Ursachenklärung ein, die anschließend Aufschluss darüber gibt, ob es sich bei Legasthenie um eine Krankheit, Behinderung, etc. handelt. Die Unterscheidung zwischen Legasthenie und Lese- Rechtschreib – Schwäche erleichtert es, die Erscheinungsformen bzw. Kennzeichen von Legasthenie genauer zu kategorisieren und zu erläutern. Damit man sich über den Umfang von Legasthenie bewusst wird und erkennt, welche plausiblen Erklärungen oft dahinter stecken, habe ich das Kapitel Legasthenie und Sehen mit in die Arbeit eingeschlossen. Weiters gehe ich auf die Feststellungsmöglichkeiten ein, wobei ich eine Untergliederung in klassische Diagnostiken, informelle Verfahren und Früherkennung im Vorschulalter vorgenommen habe. Ein Einblick in die schulrechtlichen Bestimmungen, in geeignete Lernmethoden und in die Unterrichtsgestaltung zeigt auf, wie wichtig und umfangreich der richtige Umgang mit betroffenen Kindern ist. Anhand des Salzburger Lese-Rechtschreib-Tests stelle ich ein mögliches Diagnose- und Förderungsprogramm für Schule und Eltern vor. Abschließend gehe ich auf die Vielfältigkeit und Möglichkeiten einer Therapie und deren Umfang ein.

1. Definitionsversuche des Begriffes Legasthenie

Das Wort „Legasthenie“ geht auf das lateinische „legere“ = lesen und das griechische „auOsvzd‘ = Krankheit/Schwäche oder auf die zwei griechischen Wörter „legein“ = sprechen und „astheneia“ = Schwäche zurück und lässt sich somit ganz einfach als „Leseschwäche“ übersetzen.

So einfach und einsichtig die Übersetzung von Legasthenie ist, so zahlreich sind jedoch die Definitionen und Bezeichnungen, die in unterschiedlicher Weise den Problemkreis zu umschreiben versuchen.

Im Zuge der Auseinandersetzung mit der richtigen Definition des Begriffes Legasthenie können zahlreiche Auflistungen erwähnt werden, wobei nur einige nachfolgende Interpretationen als Meinung einer etwas breiteren Menschengruppe angegeben werden. Es ist auch zu erwähnen, dass der Stand der Wissenschaft in Bezug auf die Erforschung nach den Ursachen von Legasthenie noch nicht am Ende angelangt ist und daher die Definitionen durch die Ansichten unterschiedlichster Personen, wie Mediziner, Pädagogen, etc. verstärkt auf die jeweilige persönliche Einstellung und deren Berufsstand ausgerichtet sind.

Die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) lautet:[1]

International ist die Legasthenie als „umschriebene Entwicklungsstörung des Lesens und Schreibens“ definiert. Dies bedeutet, dass biologische Ursachen das Erlernen von Funktionen beeinträchtigen oder verzögern, die mit der Reifung des zentralen Nervensystems verbunden sind. Diese Funktionen müssen aber bis zum Einschulungsalter intakt sein, damit das Kind störungsfrei lesen lernen kann. Die Einschränkungen werden lange vor der Geburt im Entwicklungsgeschehen angelegt (genetisch bedingte familiäre Legasthenie) oder sie entstehen im zeitlichen Umkreis der Geburt durch eine Schädigung, etwa durch Sauerstoffmangel. Anregungen der Sprachentwicklung durch das Elternhaus und Einflüsse der elterlichen Erziehung haben lediglich zusätzliche Bedeutung.

Um die Lesestörung näher zu definieren, gibt es die allgemein anerkannte Definition nach ICD- 10 der WHO. Die ICD-10 ist die “International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems” - 10. Revision. Diese wurde von der Weltgesundheitsorganisation erstellt und ist Teil der Familie der internationalen gesundheitsrelevanten Klassifikationen.

Die Definition der WHO nach ICD10:

„Das Hauptmerkmal ist eine umschriebene und eindeutige Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, durch Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Mit Lesestörungen gehen häufig Rechtschreibstörungen einher.“

Dr. Astrid Kopp-Duller definiert den Begriff Legasthenie in ihrem Buch „Der legasthene Mensch“ folgendermaßen:2

„Ein legasthener Mensch, bei guter oder durchschnittlicher Intelligenz, nimmt seine Umwelt differenziert anders wahr, seine Aufmerksamkeit lässt, wenn er auf Symbole, wie Buchstaben oder Zahlen trifft, nach, da er sie durch differenzierte Teilleistungen anders empfindet als nicht legasthene Menschen, dadurch ergeben sich Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens, Schreibens oder auch Rechnens.“

Definition nach Biglmaier:3

„Wir verstehen unter Legasthenie eine spezielle Störung in der Beziehung zwischen dem geschriebenen oder gedruckten und dem ausgesprochenen oder erkannten Wort. Sie ist an überdurchschnittlich häufigen und schwerwiegenden Lesefehlern und meist verzögertem Lesetempo zu erkennen. Im einzelnen finden wir beim Lesen des Legasthenikers: sinnlose Wörter, erratendes Lesen, sehr viele Umstellungen, Auslassungen, Hinzufügungen, Verwechslung von Buchstaben, erschwerte Analyse und Synthese; schlechte Rechtschreibleistungen sind der Ausdruck derselben Schwierigkeiten auf schriftlichem Gebiet. Von der Legasthenie sprechen wir aber nur dann, wenn die Leseschwäche nicht auf Organfehler, Minderbegabung oder ungünstige Umweltverhältnisse zurückzuführen ist.“

Dumont stellt folgende Begriffsbestimmung auf:4

„Legasthenie bedeutet, als Folge einer Störung im Rekodierungsmechanismus, beim Lesen und Schreiben im Rückstand sein. Die Störung liegt dennoch in der Unfähigkeit, einen geschriebenen Buchstaben in einen gesprochenen Laut umzuwandeln, wie es beim Lesen notwendig ist, oder umgekehrt, einen Laut in einen geschriebenen Buchstaben umzuwandeln, wie es beim Schreiben geschieht.“

Dumont ist der Ansicht, dass diese Störung ihren Ursprung in einer gestörten oder verlangsamten Sprachentwicklung hat.

Während Kuipers und Weggelaar und ebenso die Waldorfpädagogik Legasthenie als Entwicklungsstörung ansehen, deutet Glöckler Legasthenie als eine Störung im Zusammenwirken der Sinne untereinander und der Sinne mit dem Denken.

Hermann betont 1959 die Erblichkeit und das familiäre Vorkommen der Störung in seiner Definition. Die Häufigkeit wird mit 10 % angegeben. „Wortblindheit“ (erstmaliger Begriff für Legasthenie im Jahr 1877) besteht - neben anderen Erscheinungsformen einer Symbolschwäche - im Umgang mit Noten, Zahlen, Morsezeichen und Stenographie. Trotz speziellem Unterricht bleibt sie bis ins Erwachsenenalter bestehen.5

Der Versuch, die angeführten Begriffsbestimmungen über Legasthenie zu einer Definition zusammen zu führen, stößt teilweise auf widersprüchliche Aussagen. Während manchmal die erbliche Störung in Betracht gezogen wird, weist eine andere Definition darauf hin, dass Legasthenie nicht vererbbar ist und häufig von Umwelt- und Persönlichkeitsfaktoren bestimmt wird. Eine einheitliche Meinung wird allerdings hinsichtlich der Auswirkung der Legasthenie auf das Lesen und Schreiben und dessen Begleiterscheinungen vertreten.

Durch diese voneinander abweichenden Definitionen kann keine einheitliche und für die Allgemeinheit bestimmte und „richtige“ Begriffsbestimmung festgelegt werden. Es sollte jedoch beachtet werden, dass trotz verschiedener Ausgangspunkte der Forscher, uneinheitlicher Definitionen und Abgrenzungen, unterschiedlicher therapeutischer Erfahrungen und der Teilerkenntnisse der Wissenschaft Legasthenie in gewissem Sinne vorhanden ist, und diese „Lese-Schreib-Störung“, je nach Individuum, dessen Stärken und Schwächen, individuell, über unterschiedlichen Zeitraum und mit verschiedenen Maßnahmen gefördert werden muss. Jeder betroffene Mensch hat somit seine eigene Legasthenie und seine persönliche Geschichte dazu.

2. Gibt es Legasthenie noch?

Die Beantwortung der Frage „Gibt es Legasthenie noch?“ verlangt eine breitgefächerte und intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff und dem Verlauf des Forschungsstandes. Da alleine die Bestimmungen dieses Phänomens stark voneinander abweichen, ist sich die Frage zu stellen, ob der Begriff „Legasthenie“ glücklich gewählt und wie weit und intensiv er bereits erforscht wurde. Dass eine Lese-Schreib-Schwäche vorhanden ist, kann allerdings mit Sicherheit gesagt werden.

2.1 Die Geschichte der Legasthenieforschung

In Zusammenhang mit der Legasthenieforschung werden häufig berühmte Namen erwähnt, wie z.B. Albert Einstein oder Friedrich der Große. Obwohl es erst seit ca. 100 Jahren eine genormte Rechtschreibung gibt, analysierte man bereits damals mangelhaftes Deutsch und fehlerhafte Anpassung an Konventionen. So ist ein Brief von Friedrich dem Großen an seine Mutter ein Beweis dafür, dass es auch schon vor vielen Jahren Anzeichen von gewissen Mängeln in Bezug auf die deutsche Sprache gegeben hat:6

„Mama sei so gnädig und mache mein complimend an meine libe swester und bedanke ihr die gutheit das sie mich so einen so chönen briv geschriben hat. Papa aber meint daß sie nicht deüch scheiben kann.“

Um einen genauen Einblick in den Forschungsstand und dessen Entwicklung zu gewinnen, ist es notwendig, auf die Wurzeln und den Verlauf der Legasthenieforschung zurückzublicken:7

1877

Bei genauen Recherchen findet man die ersten Publikationen über die damals so genannten „merkwürdigen Erscheinungen beim Lesen von mehrsilbigen Wörtern und falsches Schreiben von Diktaten“ im Jahr 1877. Zu diesem Zeitpunkt taucht eine erstmalige Bezeichnung für Legasthenie als so genannte „Wortblindheit“ (in Dänemark bis heute verwendet) auf, die einem Neurologen namens „Kussmaul“ an seinem eigenen Kind auffällt.

Die Ärzte Morgan, Kerr, Berkham und Hinshelwood schließen sich der Meinung Kussmauls 1896 an und sind genauso wie er über die laufend auftretenden Schwierigkeiten bei der Benennung von bestimmten Buchstaben und Wörtern erstaunt. Für lange Zeit wird angenommen, dass der Defekt im „Lesezentrum des Gehirns“ liegen muss. Man bezeichnet dies auch als „partielle Idiotie“ im Zusammenhang mit „normaler“ Intelligenz bis hin zum Schwachsinn.

1928

Der Neurologe Paul Ranschburg thematisiert erstmals den Begriff Legasthenie, den er für “leichte Fälle“ verwendet und „schwere Fälle“ automatisch als Hilfsschüler abqualifiziert. Er spricht von mangelnder Intelligenz und von Ausdrücken wie „partielle Idiotie“ oder „partieller Intelligenzdefekt“, die bis heute negative Begleiterscheinungen mit sich tragen. Ranschburg deutet auf eine nachhaltige Rückständigkeit höheren Grades in der geistigen Entwicklung des Kindes hin. Durch diese Abgrenzung bleibt die Legasthenie ein Problem der Sonderschule und rückt erst nach dem 2. Weltkrieg zurück Richtung Normalschule.

1937

Die Psychologin Lotte Mach vergleicht im Jahr 1937 in einer Arbeit die Fehler der Leseschwachen mit „normalen Schülern“ und bringt sowohl eine Aufzählung der Fehlermöglichkeiten als auch einen Erklärungsversuch in ihre Forschungen ein.

Die Schwierigkeiten beim Lesevorgang führen sie auf ein geringes optisches Unterscheidungsvermögen für bestimmte Materialien und ein geringes Gedächtnis für optische Gebilde zurück. Mach spricht gegen eine Sonderschuleinweisung aber für gesonderten Unterricht.

Der Leitsatz “Children with reading difficulties are under a severe handicap in modern society“ unterstreicht die soziologische Bedeutung des Lesens und wird nach dem zweiten Weltkrieg auch im deutschsprachigen Raum wirksam.

1945

Bevor es 1945 zu einer erstmaligen Problemauflistung und Symptombeschreibung –

- Verzögerung im Erlernen der Kulturtechniken
- Vertauschen/Verwechseln von Buchstaben
- Buchstabenauslassung
- Sprachentwicklungsverzögerung und Probleme beim Lautieren
- Häufung der Probleme im familiären Bereich
- des Phänomens kommt, sind zahlreiche Psychologen, Pädagogen und Neurologen, wie F. J. Schonell am Forschungsstand beteiligt, die noch von einer so genannten „Minimal Brain Damage“ sprechen. Dieser Ausdruck verliert jedoch allmählich seine Bedeutung, indem ersichtlich wird, dass es sich bei der Leseschwierigkeit auch um eine bestehende Verschiedenheit von Typen und Formen handelt.

1951

Die Definition nach Linder im Jahr 1951 befreit die Betroffenen mit folgender Beschreibung endlich von der Rolle der Sonderschüler:8

„Unter Legasthenie verstehen wir eine spezielle, aus dem Rahmen der übrigen Leistungen fallende Schwäche im Erlernen des Lesens (und indirekt auch des selbstständigen, orthografischen Schreibens) bei sonst intakter oder - im Verhältnis zur Lesefähigkeit - relativ guter Intelligenz.“

Das negativ begleitete Vorurteil, dass Legasthenie auf mangelnde Intelligenz zurückzuführen ist, wird abgeschwächt und von nun an als Teilleistungsschwäche identifiziert.

1960/1970

Es kommt zur Differenzierung zweier Arten von Legasthenie:

- die literale Legasthenie (eine sehr seltene Schwerstform)
- die verbale Legasthenie (10 – 15 % der Bevölkerung sind davon betroffen)

Die Schwerpunkte werden als symptomorientiert angesehen. Fehler beim Erlernen der Rechtschreibung sind auf milieuabhängige Faktoren zurückzuführen, Legasthenie ist ein Fehler der Unterrichtsmethode.

Bevor es zur endgültigen Einstellungsveränderung der Forschung kommt, wird Legasthenie zu einem der meist diskutierten Themen in der Schule und stellt für Ärzte und Psychologen eine Krankheit dar, für deren Behandlung die Krankenkassen zuständig sind.

1986

Zu diesem Zeitpunkt werden die ersten Ansätze zur Früherkennung und Frühbehandlung von Legasthenie im Anfangsunterricht gesetzt. Mit der Devise „Legasthenie verhindern“ setzt Christine Mann einen wichtigen Punkt in der Forschungsarbeit und bietet erstmalig konkrete Hilfen und Anleitungen zur Bewältigung der Probleme beim Schreiben und Lesen an.

Nach jahrelanger Forschungsarbeit wird Legasthenie als eine anlage- oder entwicklungsbedingte Teilleistungsstörung, die vom Gehirn ausgeht, angesehen.

Probleme tauchen vor allem im Erwerb und Gebrauch

- des Lesens,
- der Sprache,
- des Schreibens,
- des Denkens und auch
- der mathematischen Fähigkeiten auf.

1998

Die amerikanische Legastheniewissenschafterin Dr. Sally Shaywitz zeigt auf, dass bei Hirnmessungen die Ergebnisse legasthener Menschen anders ausfallen als bei Menschen ohne Legasthenie.

2000

Dr. Paula Tallal, eine amerikanische Wissenschafterin, weist auf die Notwendigkeit der völlig intakten und einwandfreien Funktionen der optischen und akustischen Sinneswahrnehmung als Vorraussetzung zur Erlernung der Kulturtechniken hin.

Die Wurzeln der Legasthenieforschung liegen bereits viele Jahre zurück, und bis heute sind die Ursachen der Legasthenie nicht genau festgelegt. So unsicher die Ursachenklärung ist, so klar ist jedoch, dass keiner alleine die Schuld daran trägt oder tragen kann, weder die Mutter-Kind-Beziehung, das Elternhaus noch die Schule. Dieses Phänomen nimmt einfach ein viel zu großes Spektrum ein, an dem zahlreiche Faktoren wie das Gehirn, Umwelt, Erziehung, etc. beteiligt sind. Insgesamt besteht die Hoffnung, dass sich die Gesellschaft weiterhin mit den Schwierigkeiten lese- und schreib- schwacher Kinder auseinandersetzt, denn es lassen sich viele neue Wege entdecken, wie diesen Kindern besser geholfen werden kann. Die Anstrengung wird sich für alle Beteiligten mit Sicherheit lohnen.

2.2 Die unglückliche Auswahl des Begriffes

„Legasthenie“, besser als Leseschwäche definiert, ist ein viel komplexeres und umfassenderes Gebiet, als das Wort an sich selbst auszudrücken vermag.

Seit vielen Jahren gibt es Untersuchungen auf dem Gebiet dieses Phänomens. Tatsache ist, dass differenzierte Aufmerksamkeit, differenzierte Funktionen oder Teilleistungen Fehler beim Schreiben und Lesen entstehen lassen, jedoch ist dies ein viel zu kompliziertes Problem, da die Wurzeln vielfältig und verflochten sind.

Diese breitgefächerte Problematik also mit einem Begriff auszudrücken, ist sehr gewagt und leider bei vielen Menschen unserer Gesellschaft ein Wort, das ohne Nachzudenken ohne zu wissen was es bedeutet und umfasst, im Sprachgebrauch vorhanden. Die Menschen verwenden diesen Begriff wie jedes andere Wort, wobei es zu vielen Missverständnissen kommt:

Der Ausdruck Legasthenie klingt für viele zwar bedrohlich, dafür aber medizinischer und weckt ein Gefühl der Heilungsmöglichkeit durch ärztliche Kunst. Besonders betroffene Personengruppen lassen sich hier in die Irre führen. Den Kindern nützt es aber kaum in erhoffter Weise, denn eine alleinige medizinische Behandlung bringt leider keine Lösung. Die Möglichkeiten der Therapien und Förderungen sind zu differenziert und müssen zu sehr auf das einzelne Kind abgestimmt werden, als dass wir für Legasthenie eine „Allheilmethode“ festlegen können. Legasthenie ist keine Krankheit, die wir mit Medikamenten beseitigen können, sondern erfordert eine intensive Auseinandersetzung.

Wie auch oft angenommen sind Legastheniker nicht dumm! Der Begriff wird leider oft als Ausrede von Eltern für „dumme oder faule Kinder“ missbraucht. Folglich entstehen Unsicherheit und Abneigung bei den Betroffenen. Dieses Phänomen stellt zwar einen weiten Problenkreis dar, dennoch zeigen betroffene Kinder nicht selten hervorragende Qualitäten in Bezug auf soziales Einfühlungsvermögen, Verständnis, Toleranz und Hilfsbereitschaft, etc. die über ihre persönliche Altersentwicklung hinausgehen. Wer also der Ansicht ist, dass diesen Kindern trotz allem die Kulturtechniken nicht beigebracht werden können und sie in ihrer Intelligenz eingeschränkt sind, der irrt, denn mit viel Zeit, Verständnis, zahlreichen Vertiefungs- und Wiederholungsphasen sowie ausgewählten Lehrmethoden und Hilfen von allen Seiten (vor allem Eltern und Schule) können auch diese Kinder Lesen und Schreiben lernen.

Mit dem Begriff Legasthenie wird also bei weitem nicht die umfassende Problematik bedacht, die wirklich dahinter steht. Dass eine Lese-Schreib-Störung mit Sicherheit existiert, wurde bereits erwähnt. Wie immer man diese bezeichnet, ob als differenzierte Wahrnehmung, Lernstörung oder Teilleistungsprobleme, bleibt jedem selbst überlassen. Wichtig ist nur, den Ausdruck „Legasthenie“ nicht zu missbrauchen und sich ein Bild von diesem verwurzelten Phänomen zu machen, bevor man sich eine Meinung darüber bildet und Wortspielereien mit dem Begriff beginnt, ohne zu bemerken, welcher „Schaden“ dabei entstehen kann und welche Vorbelastung dieser Begriff aus früheren Zeiten mit sich trägt.

Auf der Suche nach dem nun „richtigen‘ und „idealen“ Begriff für eine Lese - Schreib- Schwäche stößt man auf mehrere Möglichkeiten:

- Legasthenie

Aus dem Lateinischen und Griechischen mit „Leseschwäche“ übersetzt und vor allem in medizinischen Bereichen vorhanden.

- Dyslexie

Dieser Begriff ist international gebräuchlicher als Legasthenie, lässt sich jedoch aus dem Lateinischen und Griechischen gleich übersetzen wie Legasthenie.

- Entwicklungsstörung

Eine sehr allgemeine Bezeichnung. Es sind hier auch nur alle Abweichungen vom Entwicklungsverlauf eines gesunden Kindes gemeint, also z.B. in der motorischen, sprachlichen, geistigen oder seelischen Entwicklung.

- Teilleistungsschwächen oder Teilleistungsstörungen

Dieser Begriff hat sich in den letzten Jahren eingebürgert und wird bei vielen Medizinern und Psychologen auch als „Minimale cerebrale Dysfunktion“ bezeichnet.

- LRS

Dies ist eine Abkürzung für Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten/Schwäche.

- Lernstörungen
- Differenzierte Wahrnehmung

Da keine dieser Bezeichnungen die richtige Aussagekraft besitzt, nennen wir das Phänomen Legasthenie einfach LRS im folgenden Sinn,

L ANGSAM R EIFT S ICHERHEIT beim Lesen und Schreiben –

denn dies ist eine Bezeichnung, die den „besonderen Kindern“, gerecht wird.9

2.3 Wie häufig ist LRS?

Nachdem in den vorangegangenen Punkten gezeigt wurde, dass LRS in gewissem Sinne existiert, beschäftigen wir uns kurz mit der prozentuell auftretenden Häufigkeit und dem ländlichen Vorkommen.

„Die Zahl der Schulkinder mit LRS des 2. und 3. Schuljahres ist bei bis zu 7 % anzunehmen, wobei 4 % der Kinder schwere umschriebene Beeinträchtigungen im Lesen und Rechtschreiben haben. In der Population der Schüler im Alter zwischen 6 und 18 Jahren, die irgendeine psychosoziale Beratung aufsuchen, wird bei 8 % eine Legasthenie diagnostiziert.“10

Diese Statistik kann mit Sicherheit widerlegt werden, denn die Häufigkeit von LRS kann niemand festlegen, und die Frage ist daher sehr schwer zu beantworten. Es ist zwar so gut wie in jeder Literatur, die LRS behandelt, eine prozentuelle Zahlenangabe zu finden, diese ist jedoch mit großer Sorgfalt zu behandeln. Die Problematik ergibt sich aufgrund der unterschiedlich, stark durch wissenschaftliche und persönliche Erfahrungen, Einstellungen und Erwartungen, geprägten Begriffsdefinitionen (siehe Kapitel 1).

Versucht man eine möglichst genaue und für sich übereinstimmende Lösung zu finden, ist zuvor immer abzuwägen, von wem diese Statistik aufgestellt wurde und wie weit die eigene Meinung mit der Meinung dieser Person übereinstimmt, denn diese prozentuellen Angaben sind immer durch unterschiedliche Ansichten über LRS entstanden.

Bei einer Statistik über LRS ist demnach auch immer Folgendes abzuschätzen:11

- Zählt man in dieser Statistik nur schwere oder auch leichte Fälle?
- Wurden die gezählten SchülerInnen von Fachleuten oder von Laien als Legastheniker eingestuft?
- Waren die Kinder bereits in Behandlung?

Obwohl die Wissenschaft schon lange auf diesem Gebiet forscht, können keine genauen Zahlenangaben aufgelistet werden. Die Anzeichen bei LRS sind zwar bei jedem Menschen ähnlich, verlaufen sich aber in ihrem unterschiedlichen Ausklang, d.h. jeder Betroffene hat seine individuelle LRS.

Aufgrund der abweichenden Ansichten und Einstellungen gegenüber LRS reichen die Zahlenangaben einer Häufigkeit in den einzelnen Statistiken von 5 bis 15 % pro Schule oder auch pro Klasse in Bezug auf „schwere“ und „leichte“ Fälle.

Abschließend ist zu erwähnen, dass LRS in allen Ländern und Sprachen vorkommt und international bekannt ist. Obwohl die Störung überall auf der Welt vorgefunden wird, ist man sich noch nicht sicher, ob ihre Häufigkeit durch die Art der Sprache und die Art der geschriebenen Schrift beeinflusst wird.

3. Der Entwicklungsprozess von Lesen und Schreiben

Das Erlernen des Lesens und Schreibens stellt für Kinder neben der Aneignung der mündlichen Sprache eine große Herausforderung dar. Täglich sind die Kinder, auch schon vor Schuleintritt, mit grafischen Schriftzeichen konfrontiert, die sie anfangs nur anhand der Farbe oder Schriftgröße identifizieren können.

Das Vorlesen durch ein Familienmitglied, das Stöbern in Zeitschriften oder das Anschauen von Schulheften der älteren Geschwister dienen bereits als Vorstufe der Lese- und Schreibentwicklung, denn es wird angenommen, dass die Kinder bereits in dieser Phase eine Sensibilität für die Merkmale graphischer Texte entwickeln.12

Die Frage, die sich am häufigsten in Bezug auf LRS stellt ist:

Was sind die legastheniespezifischen Fehler?

In den letzten Forschungsjahren von LRS wurde erkannt, dass die Anzeichen von LRS zwar bei vielen Menschen in gewisser Hinsicht übereinstimmen, jedoch nicht immer den selben Entwicklungsprozess durchlaufen. Die Fehler, die bei einem Kind mit LRS auftreten, sind keine typischen Fehler sondern Schwierigkeiten, die bei jedem in einer anderen Art und Weise vorkommen.

Um die auftretenden Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben besser verstehen zu können, ist es wichtig, über den Entwicklungsprozess der Kulturtechniken Bescheid zu wissen.

Dies soll nachfolgend auch dazu beitragen, dass besonders Lehrer und Eltern

- Hilfe bei der Beurteilung von Kindern mit LRS erlangen.
- die notwendige Hilfe geben können.
- die gegebenenfalls therapeutische Hilfestellung einleiten können.1 3

3.1 Voraussetzungen für das Lesen- und Schreibenlernen

Bei Schuleintritt bringen die Kinder viel Lernfreude mit und wollen mit voller Begeisterung Lesen und Schreiben lernen. Die Aufgabe des Lehrers ist es, diese Freude aufrecht zu erhalten und den Unterricht so zu gestalten, dass er den Bedürfnissen des Kindes sowie dem schulischen Lernen entspricht. Die Kinder müssen in Bezug auf ihre Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse dort abgeholt werden, wo sie sich befinden. Jedes Kind bringt verschiedene Vorerfahrungen mit, und diese müssen dem entsprechend auch gefördert werden.

Um das Erlernen des Lesens und des Schreibens zu erleichtern bzw. zu ermöglichen, müssen jedoch gewisse Voraussetzungen bei jedem Kind gegeben sein:

- Seh- und Hörfähigkeit
- Gleichgewicht und motorische Koordination
- integrative Verarbeitung der sensorischen Informationen
- Koordination der Sinne und der Motorik
- Sprache, Sprachverarbeitung und kognitive Sprachanalyse14

Neben diesen organischen (z.B. Sehen, Hören, ...) und kognitiven (z.B. Verarbeiten, Wahrnehmen, ...) Bedingungen spielen auch folgende Faktoren eine entscheidende Rolle:

- das Schriftsystem
- Logogramme = 1 Zeichen – 1 Wort
- Syllabogramme = 1 Zeichen – 1 Silbe
- alphabetische Schrift = 1 Zeichen – 1 Laut
- der Kulturkreis

In jedem Kulturkreis ist festgelegt, ab welchem Zeitpunkt das Kind die Kulturtechniken erlernen darf/kann.

- die Voraussetzungen seitens des Kindes

Der Prozess des Lesens und Schreibens führt bei unterschiedlichen Kindern verschiedener Kulturkreise zu abwechselnden Ergebnissen in sich von einander unterscheidenden Zeitspannen.15

3.2 Der Entwicklungsprozess des Lesens

Ein Großteil der Schulanfänger besitzt bereits Vorkenntnisse im Lesen. Der Leseunterricht beginnt daher nicht, so wie in vielen andere Schulfächern, bei Null. Die Kinder können häufig einzelne Wörter, wie z.B. Taxi, Stop oder den eigenen Namen erlesen, jedoch meist nur anhand der charakteristischen Merkmale dieses Wortes, z.B. TAXI am X. Sie analysieren sozusagen bereits von selbst.16

3.2.1 Die fünf Stufen

Bei der Entwicklung des Lesens lässt sich eine gewisse Systematik erkennen und in folgende Stufen gliedern:17

Entwicklungsstufe 1: „Als ob Vorlesen“

In dieser Stufe stellt der Buchstabe für das Kind ein besonderes Zeichen dar. Das Kind ahmt die Verhaltensweisen z.B. der Mutter, des Vaters nach, die es sich bei Beobachtungen abgeschaut hat. Das Kind tut so, als lese es etwas vor, hält das Buch dabei oft verkehrt herum und versucht die korrekten Bewegungen dazu zu machen, z.B. Bewegungen mit den Lippen, umblättern, etc. Es murmelt dabei vor sich hin und erfindet Geschichten.

Entwicklungsstufe 2: „Naiv ganzheitliches Lesen“

In dieser Entwicklungsstufe versucht das Kind naiv ganzheitlich oder anders gesagt ganzheitlich logografisch zu lesen. Es findet hier noch kein direktes Lesen und keine Einsicht in die Buchstaben-Laut-Beziehung statt. Das Kind kann jedoch Wörter oder auch Firmenzeichen benennen, wobei das Symbolverständnis über das Benennen von Bildern hinaus geht. In einer etwas späteren Phase kann das Kind ein Wort auch ohne Sinnbild an ihrem Wortumriss festlegen z.B. TAXI am X oder Coca Cola an der bekannten Schlinge. Kinder lernen auch einen Großteil der Wörter auswendig, so erfolgt im Groben ein lexikalischer Zugang zum Wort.

Entwicklungsstufe 3: „Entdecken des alphabetischen Prinzips“

Das Kind beginnt die Wörter anhand des alphabetischen Prinzips zu entziffern.

Es wird ihm bewusst, dass es nicht den Namen des Wortes, sondern die einzelnen Buchstabenlaute (Phoneme) zum Lesen benötigt. Das Kind kann Wörter oder auch Sätze durch das Benennen der Buchstaben mit Lautelementen Schritt für Schritt erlesen, wobei die Bedeutung des Wortes/Satzes noch im Hintergrund steht. Kinder versuchen das Wort meist anhand der Anfangsbuchstaben zu entziffern. Oft orientiert sich das Kind auch noch am Sinnbild bekannter Wörter, wobei es bei fremden Vokabeln noch häufig zu Lesefehlern kommen kann.

Entwicklungsstufe 4: „Konsequent alphabetische Strategie“

In dieser Stufe, circa ein halbes Jahr nach Schuleintritt, entwickelt das Kind im Gegensatz zum naiv ganzheitlichen Lesen eine alphabetisch indirekte Strategie. Die Wörter werden von links nach rechts mit den bekannten Phonemen zusammengesetzt, erlesen. Es erkennt inzwischen die meisten Buchstaben und Laute. Die Bedeutung entschlüsseln zu können steht noch immer im Hintergrund.

Entwicklungsstufe 5: „Flüssig sinnentnehmendes Lesen“

Diese letzte Entwicklungsstufe stellt das flüssige und sinnentnehmende Lesen dar. Obwohl das Lesen dem Kind dennoch Mühe bereitet, benötigt es von nun an weniger Aufmerksamkeit und Konzentration als in den vorangegangenen Stufen und kann sich somit mehr auf den Inhalt des Textes konzentrieren. Das Kind erkennt mehrgliedrige Schriftzeichen und beginnt die Silben zu nutzen (Spa - zier - gang).

3.3 Der Entwicklungsprozess des Schreibens

Wie auch im Bereich Lesen bringen die Kinder in Bezug auf das Schreiben Vorkenntnisse und verschiedenste Voraussetzungen von zu Hause mit in die Schule. Wichtig im Schreibunterricht ist, dass das Niveau des Unterrichts an die Vorerfahrungen des Kindes anknüpft und jeden einzelnen Schüler in richtiger Art und Weise fördert.

3.3.1 Die sechs Stufen

Folglich wird der verlaufende Entwicklungsprozess in sechs Stufen gegliedert:18

Entwicklungsstufe 1: „Die Kritzelphase“

In dieser Phase, auch vorkommunikative Stufe genannt, stellt der Buchstabe, wie auch in der ersten Stufe des Lesenlernens, für das Kind ein besonderes Zeichen dar, der sich von den Bildern unterscheidet. Das Kind experimentiert mit unterschiedlichen Schreibgeräten und Unterlagen und erzeugt schriftzeichenähnliche Gebilde. Dem Kind ist zwar bewusst, dass es keine für Erwachsene lesbare Schrift erzeugt, beobachtet jedoch mit großem Interesse den durch unterschiedlichen Geschwindigkeitsrhythmus und abwechselnde Ausgangsrichtungen soeben entstandenen Gegenstand. Dass die Schrift eine kommunikative Bedeutung hat, ist dem Kind nicht klar.

Entwicklungsstufe 2: „Pseudowörter“

Ab dem Zeitpunkt dieser vorphonetischen Stufe (circa 2. bis 4. Lebensjahr) entdeckt das Kind den Zusammenhang zwischen der gesprochenen und geschriebenen Sprache. Durch das Kritzeln und gleichzeitige Sprechen enträtselt es die große Bedeutung zwischen Schrift und Sprache und erkennt, dass prinzipiell Geschriebenes auch lesbar sein muss. Das Kind schreibt (meist Großantiqua) sozusagen schon einzelne Wörter und in der Folge auch Sätze, d.h. nach jedem „geschriebenen“ Wort hebt es den Stift vom Papier.

Diesem folgt, dass das Kind gewisse Wörter, nach genauer Vorgabe eines Könners selbstständig schreibt, wobei die Buchstaben ohne Bezug zum Laut auswendig gelernt werden.

Entwicklungsstufe 3: „Beginnende phonemische Strategie“

In der Situation der phonemischen Strategie oder auch halbphonetischen Phase (4. bis 6. Lebensjahr) beginnt das Kind die gekritzelte Sprache in die Schrift zu übersetzen, indem es den Zusammenhang zwischen gesprochener und geschriebener Sprache und dessen kleinsten Einheiten, den Buchstaben und Lauten, zu verstehen versucht. Beim Versuch, die Buchstaben eines bekannten Wortes in richtiger Reihenfolge nieder zu schreiben, kommt es häufig zu Buchstabenhinzufügungen und -auslassungen sowie zu Fehlern in der Raumlagebeziehung und der Reihenfolge der Schriftzeichen. Gewisse prägnante Wortteile ersetzen oft die gesamte Wortstruktur (z.B. PP = Puppe, FST = Faust, MS = Maus). Auch die sogenannte „Skelettstruktur“, in der sich das Kind an der Artikulation des Wortes orientiert und Konsonanten leichter wahrnimmt als Vokale (z.B. Slt = Salat), kennzeichnet diese Entwicklungsstufe.

Vielen Kindern ist jedoch klar, dass sie nicht alle Laute niedergeschrieben haben, was die Aussage eines achtjährigen Mädchens wiederspiegelt:

„Bei Schwein schreibe ich das „w“ nicht, weil wir das noch nicht gelernt haben!“

Entwicklungsstufe 4: „Die entfaltete phonemische Strategie“

Die „Skelettschreibung“ hält nicht lange an, wenn sie überhaupt in vollem Ausmaß aufgetreten ist. Das Kind entwickelt in dieser phonetischen Phase die Fähigkeit, immer vollständiger zu schreiben und die Lautfolge in die entsprechenden Grapheme zu übersetzen, wobei es noch zu Abweichungen in der richtigen Reihenfolge, Buchstabenverwechslungen und Wiederholungen kommen kann (z.B. Prot, Karote, rot wein, ...). Das Kind orientiert sich hier vorwiegend an der eigenen Artikulation (,‚Schreibe wie du sprichst“), also an der Umgangssprache und spricht die Wörter während des Schreibens langsam und mehrmals vor. Durch das gedehnte Sprechen entstehen andersartige Laute und daraus auch falsche Wörter, z.B. „esch“ statt „ich“ oder „ben“ statt „bin“.

Entwicklungsstufe 5: „Die voll entfaltete phonemische Strategie“

Auf dieser Stufe orientiert sich das Kind nicht nur an der Lautfolge, sondern beachtet schon gewisse Rechtschreibregeln. Es ist gewillt, das Wort richtig zu schreiben, wobei es noch viele Hürden überwinden muss. Das Kind erkennt, dass die Lautfolge von der richtigen Schreibweise abweichen kann, wobei die Regelungen oft auch dort angewendet werden, wo sie nicht gefordert sind. Typische Rechtschreibfehler wie „Rhe“ statt „Reh“, „er vragt“ statt „er fragt“ oder „mier“ statt „mir“ treten auf.

MIER GEFELF ES JIA NEFT ME. EJ MÜJTE EN DI ESTE GLASE.

(„Mir gefällt es hier nicht mehr. Ich möchte in die erste Klasse.“)

Entwicklungsstufe 6: „Aneignung der Dudenschreibweise“

Diese letzte Entwicklungsstufe ist gekennzeichnet durch die überwiegenden automatisierten Lernwörter und die Verständnisentwicklung für die Übereinkünfte der Rechtschreibung. Diese Phase kann sehr spät eintreten.

Um die Entwicklungsprozesse noch einmal übersichtlich zu verdeutlichen und zusammen zu fassen, folgt eine Gegenüberstellung der beiden Kulturtechniken:

[...]


[1] URL:http://www.duden.de/index2html

2 Dr. Astrid Kopp-Duller 1998, S.17

3 URL:http://www.wissen24.de/vorschau/6698.html

4 URL:http://www.wissen24.de/vorschau/6698.html

5 vgl. URL:http://www.wissen24.de/vorschau/6698.html

6 Ingrid M. Naegele 1991, S.30

7 vgl. URL:http://www.legasthenie.com/Geschichte

8 URL:http://www.legasthenie.com/Geschichte

9 vgl. Ingrid M. Naegele 1991, S.10

10 Dipl.-Psych. Dr. Edith Klasen 1995, S.21-22

11 vgl. Dipl.-Psych. Dr. Edith Klasen 1995, S.21

12 vgl. Klicpera/Schabmann 2003, S.19

13 vgl. Nicole Ramacher-Faasen 1997, S.15

14 Nicole Ramacher-Faasen 1997, S.11

15 vgl. Skriptum Hannelore Stöger, S.2

16 vgl. Skriptum Hannelore Stöger, S.3

17 vgl. Nicole Ramacher-Faasen 1997, S.22

18 vgl. Nicole Ramacher-Faasen 1997, S.16-20 und Skriptum Hannelore Stöger, S.5-6

Ende der Leseprobe aus 110 Seiten

Details

Titel
Gibt es Legasthenie noch? Kritische Betrachtung und theoretische Modelle zum Lese-Rechtschreib-Problem
Hochschule
Private Pädagogische Hochschule der Diözese Linz
Note
1
Autor
Jahr
2005
Seiten
110
Katalognummer
V40501
ISBN (eBook)
9783638390019
ISBN (Buch)
9783656246022
Dateigröße
1065 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gibt, Legasthenie, Kritische, Betrachtung, Modelle, Lese-Rechtschreib-Problem
Arbeit zitieren
Doris Lindner (Autor:in), 2005, Gibt es Legasthenie noch? Kritische Betrachtung und theoretische Modelle zum Lese-Rechtschreib-Problem, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40501

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