Die Hauka - Erinnerung als sozialer Prozess


Hausarbeit, 2000

24 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Die Republik Niger
1.1. Die Kolonisierung Nigers
1.2. Kolonialkultur, Steuern und Zwangsarbeit
1.3. Der postkoloniale Niger

2. Die Hauka – Götter der Songhai

3. Das kollektive Gedächtnis – Gegenwart und Performanz des Vergangenen

4. Geschichte, Gedächtnis und Identität

5. Erinnerungsriten

6. Körper und soziales Gedächtnis
6.1. „Incorporating practice“
6.2. „Embodied memories“ und die Macht der Imitation
6.3. Die Hauka als Erinnerungsfiguren

Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Niger (Quelle: www.maps-of-the-world.com, 21. 8.03)

Abb. 2: Die Verschmelzung von europäischem Kolonialherrn und afrikanischem Gott (Quelle: Stoller, Buchumschlag)

Abb. 3: Die Beziehung von Körper und Gedächtnis nach Connerton (eigene Darstellung)

Einleitung

Die hier vorliegende Arbeit stellt eine Auseinandersetzung mit dem sozialen Phänomen Erinnerung in einer kolonialen und postkolonialen Gesellschaft dar. Die Hauka dienen als Beispiel, um den Vorgang des kollektiven Erinnerns unter ethnologischen Aspekten zu untersuchen. Der analytische Schwerpunkt liegt auf dem Zusammenhang von Körper und Erinnerung.

Die Hauka sind eine der Götter-Familien der westafrikanischen Songhai. Sie kamen in den 1920ern während des Kolonialismus zu Angehörigen der Ethnie. Die Zeit, in der die Hauka erstmalig erschienen, war eine Phase, die für die Songhai einen harten aufgezwungenen sozio-kulturellen Wandel bedeutete. Dieser Einschnitt prägte die Erinnerung und die Identität der Betroffenen. Die Erfahrungen der Kolonialzeit gingen bei den Songhai in das sogenannte soziale Gedächtnis[1] ein. Die Hauka erscheinen, indem sie von Medien Besitz ergreifen. Während sie sich im Körper der Medien befinden, imitieren sie die ehemaligen Kolonialherren. Dementsprechend sind die einzelnen Hauka Europäer und meist militärische Personen wie Generäle. In den Besessenheitsritualen und -situationen leben die Erinnerungen an die Vergangenheit in körperlicher Form (embodied memories) wieder auf und werden in gegenwärtige Zusammenhänge gebracht. Die Auswirkungen und Ästhetik ihrer Handlungen, so der Anthropologe Stoller, gehen soweit, dass sie sogar das politische Geschehen unter dem Regierungschef Kountché im postkolonialen Niger beeinflussten (Stoller 1995).

Halbwachs betonte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass Erinnerung kein ausschließlich individueller Prozess ist, sondern untrennbar von dem jeweiligen gesellschaft-lichen Kontext geschieht und benutzte den Begriff „soziales Gedächtnis“ (Halbwachs 1985). Erinnern ist zudem ein elementarer Vorgang der Identitätsbildung. Gemeinsame Erfahrungen, die aus ihnen resultierenden Erinnerungen sowie eine als kollektiv empfundene (oder aufgrund von Machtverhältnissen propagierte) Geschichte bilden Grundlagen für die gegenwärtige Selbstbestimmung von Individuen und Gruppen. Um das Gedenken aufrecht zu erhalten, werden unter anderem Erinnerungsriten (commemorative ceremonies) durchgeführt (Connerton 1998). Die Erinnerungselemente wie die Riten, aber auch Symbole (beispielsweise Denkmäler) sind einer Gruppe zugänglich. Somit übernehmen diese Elemente eine wichtige Rolle im Prozess der gemeinsamen Erinnerung. In ihrer Eigenschaft als manifestiertes soziales Gedächtnis rufen sie aber oft auch Widersprüche und Differenzen hervor, denn Erinnerung ist selektiv. Der Vorgang ist spannungsgeladen, unterliegt moralischen Maßstäben und politisch-gesellschaftlichen Einflüssen. Das gilt sowohl für die Konsequenzen der kollektiven als auch der individuellen Erinnerung.

1. Die Republik Niger

Die Republik Niger (République du Niger) ist ein vollständig vom Festland umschlossener Staat im Westen Afrikas. Sie grenzt im Norden an Algerien und Libyen, im Osten an den Tschad, im Süden an Nigeria und Benin und im Westen an Burkina Faso und Mali. Die Landesfläche beträgt 1 267 000 Quadratkilometer, Hauptstadt des Landes ist Niamey. Der nördliche Landesteil nimmt mehr als die Hälfte der Gesamtfläche der Republik ein und liegt in der Sahara. Es handelt sich um eine Region aus Hochplateaus und Bergen mit nur spärlicher Vegetation, außer in vereinzelten Oasen. Das Klima ist von Dürreperioden geprägt.

Abb. 1: Niger (Quelle: www.maps-of-the-world.com)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Bevölkerung Nigers gehört sechs ethnischen Gruppen an. Die größte bilden die Haussa (56 Prozent), die im Süden des Landes leben und oft landwirtschaftliche Selbstversorger sind. Songhai und Dyerma (Djerma) machen zusammen 22 Prozent der Bevölkerung aus. Die Bevölkerung Nigers beläuft sich auf etwa 10,6 Millionen Einwohner (2002). Die durchschnittliche Bevölkerungs-dichte liegt bei 8,4 Einwohnern pro Quadratkilometer; allerdings leben ungefähr 90 Prozent der Bevölkerung in der Nähe der südlichen Landesgrenze. 21 Prozent der Bevölkerung wohnen heute in Städten.

1.1. Die Kolonisierung Nigers

Im Mittelalter war die Region des heutigen Nigers die wichtigste Karawanenstraße von Nordafrika zu den Haussa-Staaten und den Reichen der Mali und Songhai. Zudem war das Gebiet ein bedeutendes Zentrum des Salzhandels. Daher drangen schon früh islamische Missionare in die Gegend vor. Heute sind ungefähr 80 Prozent der Bevölkerung Nigers Muslime.

Die ersten Kontakte von Afrikanern und Europäern fanden im Zuge des (Sklaven-) Handels und zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert statt (Ki-Zerbo 1993: 241). In der Zeit vom 16. – 19. Jahrhundert kam auf Westafrika durch die europäische Einflussnahme der Prozess einer schmerzhaften Neuordnung zu. Dadurch machten die Küstenstaaten Westafrikas eine beacht-liche, wenn auch instabile Entwicklung durch. Zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert bildeten sich dennoch diverse afrikanische Königreiche, wie beispielsweise 1680 das der Aschanti (Ki-Zerbo 1993: 241). Im Gegensatz zu den großen Reichen des Mittelalters weisen diese jedoch eine begrenztere ethnische Basis auf.

Die späteren Kolonialmächte standen im Gebiet des heutigen Nigers in starker Konkurrenz zueinander. Zwischen 1880 und 1884 kam es zum französisch-britischen Handelskampf am unteren Teil des Flusses Niger. Nach der Aufteilung Afrikas durch die Berliner Konferenz wird Niger ab 1890 französische Kolonie. Die Völker des Niger gehörten zu den letzten, die ihre Souveränität an die Europäer abgeben mussten. Immer wieder stießen die Franzosen (und auch die anderen Kolonialmächte) auf erbitterten Widerstand seitens der Afrikaner. Die Gegenwehr entstand sowohl aus machtpolitischem Kalkül heraus, denn den Afrikanern waren die Absichten der Europäer mit Einhergang des Verlustes an einheimischer Souveränität durchaus bewusst, als auch durch religiöse Absichten. Die Muslime Westafrikas sahen die Europäer als Ungläubige und Barbaren an, die es zu bekämpfen und zu vertreiben galt.

1.2. Kolonialkultur, Steuern und Zwangsarbeit

Der französische Verwaltungsapparat nutzte im Niger Steuern und Zwangsarbeit als Mittel der Disziplinierung und des Regierens. Chiefs wurden instrumentalisiert beziehungsweise neue „traditionelle“ Rollen von den Franzosen zugeschrieben.[2] Durch die Möglichkeit, sich selbst durch Kooperation zu bereichern und Macht zu erhalten, übernahm ein kleiner Teil der Nigerer nicht unwillig diese Posten. In den ersten Jahren der militärischen Verwaltung wurden die Steuern in Form von Nahrung und anderen Bedarfsmitteln der Verwaltung erhoben. Die späteren französischen und nigerischen Mitglieder der Zivilverwaltung zahlten für die Abgaben, der Preis war jedoch weit unter dem des Marktes (Stoller 1995: 101). Die Steuern weiteten sich in den Jahren der Besatzung schnell aus. Es wurden nicht mehr nur einzelne Posten durch sie finanziert, sondern die kolonialen Unterhaltungskosten ganzer Gebiete. Die Steuern konnten in Form von Zwangsarbeit abgeleistet werden. Es gab zwei Arten von Zwangsbeschäftigung (de Sardan nach Stoller 1995: 102): Erstens die Zwangsarbeit, bei der die Kolonialverwaltung den Arbeitern einen Lohn zahlte. Die Arbeitsperiode konnte zwei oder drei Monate dauern. Zweitens gab es die Zwangsrekrutierung. In erster Linie wurden Bewohner ländlicher Gebiete von den Franzosen eingezogen, um im 1. und 2. Weltkrieg auf ihrer Seite zu kämpfen (Ousmane Fodji, ein späterer Hauka-Hohepriester an der Goldküste, wurde gezwungen, im 1. Weltkrieg zu kämpfen). Die staatlich geforderten Abgaben brachten die Monetarisierung rualer Gebiete des Nigers mit sich. Eine Folge davon war, dass aus den kolonialen Praktiken unter den Bewohnern Nigers eine große Immigrationswelle einsetzte. Während der französischen Besatzung immigrierten Tausende, vor allem junge Männer, in Richtung der britischen Zonen (Goldküste). Zwangsarbeit und –rekrution wurde so zu umgehen versucht, aber es hieß oft auch, dass sich unter den Briten schneller das Geld für die Steuern erarbeiten lasse. Die Franzosen ließen die Immigranten gewähren, da für sie nur der Effekt – die letztendliche Einnahme der Steuern – zählte.

Die sozialen und kulturellen Folgen des kolonialen Regimes auf die nigerische Gesellschaft wurden sehr schnell deutlich. Die Gesellschaften Nigers wurden umgeformt. Die Körper waren dabei zentrales Element. Das Bildungswesen wurde beispielsweise offizialisiert. Schulen französischer Tradition wurden eingerichtet. Neue Verhaltensweisen waren somit gefordert: Es galt, bestimmte Kleidung (wie Schuluniformen) zu tragen, die eine neue körperliche Haltung mit sich brachten. Alte Gewohnheiten wurden systematisch eingeführt durch „europäische“ ersetzt, wie unter anderem das Nutzen von Tischen und Stühlen im Alltag. Kontrolle über die Menschen wurde über die Körper ausgeübt. Die Versuche, Macht über die Nigerer zu erhalten, manifestierten sich in physischen, oft gewaltsamen Praktiken.

Wichtig zum Erhalt der französischen Herrschaft war in erster Linie ein reibungsloser Ablauf der kolonialen und gesellschaftlichen Prozesse. Effektivität in jeder Hinsicht wurde die erwünschte Eigenschaft der Kolonialherren. Sie wurde folglich von den Nigerern als eine typisch europäische Eigenschaft eingeordnet: Die Europäer waren in ihrer Eroberung erfolgreich gewesen, besaßen starke Waffen und forderten Effizienz von den von ihnen Unterworfenen (wie beispielsweise die regelmäßigen Zahlungen von Kopfsteuern) (Stoller 1995: 5). Die europäische Effektivität kennzeichnet auch die Hauka. Sie sind Götter, die nicht viele Worte verlieren, sie fordern, wie die Europäer, Respekt und vor allem agieren sie zielgerichtet. Sie erscheinen um Konflikte und Probleme auf lokaler Ebene zu lösen und um somit zu reibungsloseren gesellschaftlichen Prozessen beizutragen.

1.3. Der postkoloniale Niger

Die Zeit des Postkolonialismus ist im Niger, wie auch in vielen anderen Staaten, eine Zeit, die von Zerrissenheit und Machtrangeleien geprägt ist. Mbembe beschreibt die Phase nach der Unabhängigkeit als eine vom Comandament geprägte (Mbembe nach Stoller 1995: 139ff). Comandament ist der französische Begriff für ein koloniales Regime, das eine absolute Macht inne hat, wobei es nur Disziplin und absolutes Gehorsam toleriert. Anstatt dass das Comandament jedoch, so Mbembe, wie zu kolonialen Zeiten Widerstand hervorruft, führt es in den postkolonialen Staaten nicht selten zur „Zombifizierung“[3]: Komplizenschaft und Koexistenz von Machtverquickungen gehen mit einer Erstarrung der Bevölkerung einher. Konsequenz daraus ist die Bereitschaft, ein grausames und brutales Regime über einen Zeitraum hin zu dulden. Gleichzeitig agieren politische Machtfiguren all ihre Bedürfnisse aus und können so als homo ludens par excellence (Mbembe nach Stoller 1995: 140) verstanden werden.

1960 wird Niger zu einer autonomen Republik der Französischen Gemeinschaft und am 3. August 1968 schließlich zu einem unabhängigen Land erklärt. Hamani Diori wird zum Präsidenten der Nationalversammlung gewählt. Wie viele der ersten Präsidenten Afrikas hat er eine enge Verbindung zu der ehemaligen Kolonialmacht (seine Wahl wurde von Frankreich unterstützt). Anfang der 1970er befällt den Niger sowie fünf weitere Staaten der Region eine verheerende Dürrekatastrophe. Diori wird angesichts der Dürre Unfähigkeit vorgeworfen. Seine Versuche, den Staatshaushalt durch enorme Steueranhebungen, vor allem zu Lasten der Bauern, zu sanieren, rufen mehr und mehr Elend hervor. 1974 kommt es zu einem Staatsstreich des Militärs und dem Sturz Dioris. Danach wurde Niger von einem Obersten Militärrat regiert, an dessen Spitze Oberstleutnant und Hauka-Medium Seyni Kountché stand. Wichtigstes Ziel der neuen Regierung war die Wiederbelebung der Wirtschaft des Landes nach der Dürre. Seinen coup d´etat vollzog Kountché auf dem Höhepunkt der Dürre. Nach dem Staatsreich sandte er Konvois mit Hilfsgütern in die ländlichen Gegenden und sicherte sich so Unterstützung in der Bevölkerung. Kountché blieb an der Regierungsspitze, jedoch war bereits sein erstes Regierungsjahr von Unruhen und Putschversuchen gekennzeichnet. Er legte sich systematisch das Image des effektiven und problemorientierten Staatsmannes zu. Kountché war dabei jedoch Mbembes homo ludens par excellence, der seine Macht- und Präsentationslüste frei und grausam ausagierte. Seine Politik bestand vorrangig aus Symbolik: Alle Mitglieder präsentierten sich in Uniformen, Aufmärsche waren an der Tagesordnung. Die „Zombifizierung“ setzte wieder ein. Langfristig war Kountchés Erfolg nicht, politische Konzepte blieben aus. Sein engster Berater, ebenfalls Hauka-Medium, versuchte einen Staatsstreich, der aber erfolglos blieb. Im November 1987 starb Kountché an den Folgen eines Gehirntumors. Sein Nachfolger im Amt des Präsidenten wurde Armeestabschef Ali Seybou. Erst 1993, 33 Jahre nach der Unabhängigkeit, wurden in der Republik Niger freie Wahlen abgehalten. Ein 1995 abgeschlossenes Friedensabkommen beendete Tuareg-Aufstände im Norden des Landes. Das politische Geschehen blieb allerdings weiterhin von Gewalt geprägt wie bei den Putschversuchen der Jahre 1996 und 1999. Die Unruhen führten letztlich dazu, dass ein nationales Versöhnungskomitee einberufen wurde. Es ermöglichte 1999 den Übergang zu einer Zivilregierung. Gleichzeitiger Präsident und Regierungsvorsitzender ist momentan Mamadou Tandja (www.cia.gov/cia/publications/factbook.html).

[...]


[1] In der verwendeten Literatur werden die beiden Begriffe kollektives Gedächtnis (collective memory) und soziales Gedächtnis (social memory) verwendet. Sie stehen für das gleiche Phänomen, daher benutze ich auch die Termini in der Arbeit synonym.

[2] Vergleiche hierzu Hobsbawm, Ranger, 1993: The Invention of Tradition und Ranger, Vaughan, 1993: Legitimacy and the State in 20th Century Afrika.

[3] Stoller führt den Gedanken der „Zombifizierung“ weiter und schreibt, dass ein solcher Zustand auch unter Reagan in den USA vorfindbar gewesen sei (Stoller 1995: 141).

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Die Hauka - Erinnerung als sozialer Prozess
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Ethnologie)
Veranstaltung
Gedächtnis, Erinnerung und die gesellschaftliche Konstruktion von Geschichte
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2000
Seiten
24
Katalognummer
V46465
ISBN (eBook)
9783638436564
ISBN (Buch)
9783638707855
Dateigröße
668 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hauka, Erinnerung, Prozess, Gedächtnis, Erinnerung, Konstruktion, Geschichte
Arbeit zitieren
Julia Dombrowski (Autor:in), 2000, Die Hauka - Erinnerung als sozialer Prozess, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46465

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