Der Werther-Effekt. Das Problem des Medieneinflusses auf Suizidhandlungen unter besonderer Berücksichtigung des Suizids von Kurt Cobain


Diplomarbeit, 2002

218 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1 Einleitung

2 Theoretische Aspekte der Suizidalität
2.1 Grundlagen der Suizidforschung
2.2 Terminologie
2.3 Definition der Suizidalität
2.4 Differenz zwischen Suizid und Suizidversuch
2.5 Epidemiologische Suizidforschung
2.5.1 Repräsentative Erfassung von Suizid und Suizidversuch
2.5.2 Soziologische Suizidtheorie nach Durkheim
2.5.3 Risikogruppen
2.5.4 Resümee epidemiologischer Erkenntnisse
2.6 Klinisch - psychiatrische Erklärungsmodelle
2.6.1 Depression und Suizid
2.6.2 Vererbung und Suizid
2.6.3 Suchterkrankungen und Suizid
2.6.4 Suizidale Entwicklung nach Pöldinger
2.6.5 Das präsuizidale Syndrom
2.6.6 Ärger und Hoffnungslosigkeit als Erklärungskonstrukte
der Suizidalität

2.7 Tiefenpsychologische Ansätze
2.7.1 Sigmund Freuds Suizidtheorie
2.7.2 Selbstdestruktivität als Folge einer Ich - Schwäche
2.7.3 Objektbeziehungspsychologische Erklärungsmodelle
2.7.4 Die narzisstische Krise
2.7.5 Die Entwicklung der narzisstischen Persönlichkeit
2.7.6 Suizidhandlungen im Rahmen narzisstischer Krisen
2.7.7 Narzisstische Suizidalitätsformen


2.8 Lerntheoretische Ansätze
2.8.1 Die klassische Konditionierung
2.8.2 Instrumentelle Konditionierung
2.8.3 Modelllernen

3 Identitätskonstruktion und Suizid
3.1 Der Begriff „Identität“
3.1.1 Identitätsauffassung der Moderne
3.1.2 Postmoderne Identitätsauffassung
3.1.3 Das Konzept der narrativen Identität
3.1.4 Der narrative Ansatz in der Suizidforschung
3.2 Identitätsideen
3.2.1 Retrospektive der Identitätsidee Grunge
3.2.2 Kurt Cobain im Zentrum der Identitätsidee Grunge

4 Massenmedien und Suizid
4.1 Theorien und Konzepte der Massenkommunikation
4.1.1 Wirkansatz
4.1.2 Nutzen - Belohnungsansatz
4.1.3 Der dynamisch - transaktionale Ansatz
4.1.4 Die systemtheoretische Sichtweise
4.1.5 Eine konstruktivistische Perspektive
4.1.6 Kulturtheoretischer Ansatz/ Cultural Studies


4.2 Thesen zur Wirkung medialer Gewaltdarstellungen
4.2.1 Thesen zur Verhinderung realer Gewalt
durch mediale Gewaltmodelle

4.2.2 Thesen zur Begünstigung realer Gewalt
durch mediale Gewaltmodelle

4.2.3 These zur Desensibilisierung durch mediale Gewaltmodelle
4.2.4 Die These der Wirkungslosigkeit
4.2.5 Medienpädagogische Implikationen
4.3 Medieninduzierte Suizidhandlungen:
Gibt es den „Werther - effekt“?

4.3.1 Empirische Evidenz für medieninduzierte Suizidhandlungen
4.3.1.1 Die Studien von D. P. Phillips
4.3.1.2 Eine Studie zur Fernsehserie „Tod eines Schülers“
von A. Schmidtke und H. Häfner

4.3.1.3 Eine Studie zur Fernsehserie „Casualty“ von K. Hawton et al.
4.3.1.4 Der Suizid des Hotel - Sacher - Chefs Gürtler:
Eine Studie von B. Hadinger

4.3.1.5 Der Suizid Uwe Barschels: Eine Studie des Institutes
für Rechtsmedizin der Universität Hamburg

4.3.1.6 „Final Exit“. Eine Studie von P. Mazurk et al.
4.3.1.7 Die Wiener U-Bahnsuizide: Eine Studie von G. Sonneck et al.,
Institut für medizinische Psychologie, Wien

4.3.1.8 Exkurs: Medieneinfluss auf Suizidhandlungen in Japan von
1955 bis 1985. Eine Studie von S. Stack


4.3.2 Ein Medienwirkungsmodell zur Beeinflussung suizidrelevanter Handlungsdeterminanten von Christa Lindner-Braun
4.4 Nachrichtenauswahl: Realität als mediale
Konstruktion

4.4.1 Gatekeeper - Forschung
4.4.2 Nachrichtenwert - Theorie
4.5 Die Berichterstattung zum Suizid Kurt Cobains: Ein Rückblick

5 Das Fallbeispiel MTv
5.1 Forschungsinteresse
5.2 Vorschläge für ein inhaltsanalytisches Untersuchungsdesign
5.3 entwurf für ein Kategorienschema
5.3.1 Formalkriterien
5.3.2 Inhaltliche Kriterien
5.4 Die MTV - Berichterstattung vom 8.April 1995
5.5 Expertinneninterview
5.5.1 Expertinneninterview zum Thema
„Medieneinfluss auf Suizidhandlungen“

5.5.2 Auswertung des Interviews
5.6 Statistische Vergleichsdaten. Die Auswirkungen
des Cobain - Suizids

5.7 Resümierende Interpretation

6 SuizidPrävention
6.1 Suizid: Klischee und Wirklichkeit
6.2 Bereiche der Suizidprävention
6.2.1 Primärprävention
6.2.2 Sekundärprävention
6.2.3 Tertiärprävention


6.3 Richtlinien der Berichterstattung zur
Suizidproblematik

6.3.1 Übergreifende Richtlinien der Suizidberichterstattung
6.3.2 Richtlinien für die spezifische Suizidberichterstattung
6.3.3 Richtlinien zur medialen Vermittlung
suizidpräventiver Informationen

6.3.4 Medieneinfluss auf das Inanspruchnahmeverhalten


6.4 Weiterführende Anregungen

7 Zusammenfassung

8 Literaturverzeichnis

9 Anhang
9.1 Interviewleitfaden und Transkription
des Expertinneninterviews

9.2 Codebogen - Entwurf
9.3 Adressen und Telefonnummern von
Kriseninterventionseinrichtungen

9.4 Internetadressen mit suizidpräventiven Informationen

Verzweiflung befällt zwangsläufig die,
deren Seele aus dem Gleichgewicht ist.

Marc Aurel

1 EINLEITUNG

Es war ein Tag im April 1994. Ich war 18 Jahre alt und den ganzen Tag über gab es kein anderes Gesprächsthema in der Schule und unter Freunden als „Kurt Cobain hat sich umgebracht.“ Die Betroffenheit in meiner Umgebung war groß. Kaum jemand, der nicht eine Nirvana - Platte besaß, kaum jemand, der Cobains verweigernde, vermeintlich rebellische Haltung nicht ein bisschen bewunderte. Damals begann mich eine Frage zu beschäftigen, die mich bis zum heutigen Tage nicht losgelassen hat: Warum nimmt sich ein Mensch das Leben? Was muss passieren, damit die Angst vor der Zukunft, vor dem Leben jeden Erhaltungstrieb negiert?

Und bald schon wurde angesichts von Warnungen, dass Jugendliche Cobain in den Tod folgen könnten, eine neue Frage aufgeworfen: Worauf ist suizidales Nachahmungsverhalten rückzuführen – auf die Beschaffenheit eines medialen Berichts, auf die Prädisposition des Individuums, auf die Wechselwirkung von beidem, oder spielen hier ganz andere Faktoren eine Rolle? Diese Fragestellungen waren wohl rückblickend die Geburtsstunde dieser Arbeit.

Betrachtet man Suizid und Suizidversuch, so erkennt man in ihnen Verhaltensweisen, die nur dem Menschen zukommen. Voraussetzung dafür ist der selbstreflexive Gedanke, der eigenen Existenz durch bewusstes Handeln ein Ende setzen zu können. Lässt man sich auf eine tiefergehende Beschäftigung mit der Suizidproblematik ein, stößt man schnell auf eine unglaubliche Fülle an Literatur: Das Thema spannt sich von der Soziologie zur Anthropologie, von der Medizin zur Psychologie, von der Philosophie zur Religion. Bei all diesen Perspektiven, aus denen der Suizid gesehen wurde, bleibt eines doch immer gleich: Über Suizid zu schreiben ist eine schwierige und heikle Angelegenheit.

Die Auseinandersetzung mit dem Suizid ist die Konfrontation mit einer, grundlegende existentielle Belange berührenden, Materie – dem Tod, und es gibt wohl keinen Menschen, bei dem, wenn er an den Tod denkt, nicht auch Gedanken an die eigene Sterblichkeit aufflackern.

Suizid und Suizidversuche sind seit Menschengedenken heftig umstrittene Verhaltensweisen. Schon in der Bibel, sowohl im Alten, als auch im Neuen Testament, gibt es eine Fülle von Suizidbeschreibungen. Interessant ist, dass, trotz späterer christlicher Sanktionen, Suizid in der Bibel nicht ausdrücklich verboten wird, während im Talmud und Koran Suizid eindeutige Ablehnung erfährt. Auch in der römischen und griechischen Dichtung der antiken Welt finden sich zahlreiche Suiziddarstellungen. Die Bewertung des Suizids ist in dieser kulturellen Epoche vorwiegend an die Einstellungen verschiedener philosophischer Schulen gebunden. War Suizid in der Antike und der Bibel die akzeptable Lösung eines meist unlösbaren Konflikts, so ändert sich diese Sichtweise im Jahre 452, als auf dem Konzil von Arles beschlossen wird, dass der Suizid Ausdruck des „furor diabolicus“[1] ist und damit ein verdammenswertes Verbrechen darstellt. Knapp ein Jahrhundert später wurde die Anordnung getroffen, dass der Leichnam eines Suizidopfers kein Begräbnis nach christlichem Ritus erhalten dürfe. Im Mittelalter führt das enge Bündnis zwischen staatlicher und kirchlicher Gewalt zur Aufnahme des Suizids in die Liste der gesetzlichen Verbrechen. Im Jahre 1790 hebt Frankreich während der französischen Revolution das Suizidverbot auf, Österreich folgt diesem Beispiel erst sechzig Jahre später. Als letztes europäisches Land kippt England 1961 eine gesetzliche Verfügung, nach der Suizid und Mord als gleichgesetzte Verbrechen galten, und Suizidversuche strafrechtlich zu ahnden waren (vgl. Alvarez 1980).

Bis zum heutige Tage ist der Suizid eine Thematik geblieben, über die lieber der Mantel des Schweigens ausgebreitet wird. Dies mag mit der noch nicht allzu lange aufgehobenen Strafandrohung des Staates oder der Ablehnung durch beinahe alle Religionen zusammenhängen, vielleicht ist es aber wirklich so, dass jedem Menschen, wie Karl Menninger (1938) annahm, ein selbstzerstörerisches Potential innewohnt, welches verleugnet werden muss. In Anbetracht der gravierenden Anzahl der Suizide und Suizidversuche in den Industrieländern scheint es jedoch geboten, weitere Anstrengungen zu unternehmen, die Suizidproblematik endgültig zu enttabuisieren. Die Notwendigkeit dieses Vorhabens verdeutlichen folgende Zahlen: Nach Schätzungen der World Health Organisation sterben jährlich mindestens eine halbe Million Menschen an Suizid. Insgesamt kommen in Österreich und Deutschland mehr Menschen durch Suizid, als bei Verkehrsunfällen ums Leben.

Die tatsächlichen Suizidzahlen dürften um ein vielfaches größer sein, wenn man unklare Todesursachen im höheren Lebensalter und als Unfälle deklarierte Todesfälle im jüngeren Lebensalter berücksichtigt (vgl. Schmidtke/ Weinacker/ Löhr 2000).

Auch bei Suizidversuchen wird die Dunkelziffer hoch eingeschätzt – Experten nehmen an, dass die Zahl der Suizidversuche zehn bis dreißig Mal höher ist, als die Anzahl vollendeter Suizide.

Seit der Ausbreitung der modernen Massenmedien, vor allem des Fernsehens, hat eine Facette des Suizidphänomens mehr und mehr Relevanz erhalten - die Frage nach dem Einfluss der Medien auf Suizidhandlungen. An diesem Punkt, der eine wesentliche Problemstellung der Kommunikationswissenschaft benennt, setzt die vorliegende Arbeit an.

Spätestens seit der Serie von Suiziden, die Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ nachfolgten, wissen wir, dass angebotene Suizidmodelle ein äußerst suggestives Phänomen sein können.[2] Wie sieht es aber mit dieser Suggestivkraft in einer Epoche aus, in der Medien zu mächtigen „Sozialisationsagenturen“ herangewachsen sind, in der Rollenmuster und Konfliktlösungsstrategien immer stärker auch anhand medialer Identitätsmodelle erlernt werden?

Die Grunge - Bewegung war solch ein Identitätsangebot, und in ihrem Zentrum stand der Frontman der Rockgruppe Nirvana, Kurt Cobain, der Suizid beging. Verständlicherweise war die Angst vor einer Nachahmungswelle unter Jugendlichen in Folge seines Suizids groß, denn eine breitangelegte mediale Inszenierungsstrategie hatte Cobains Identifikationspotential im Sinne des „Sprachrohrs einer Generation“ mitkonstruiert und vermittelt.

Wie bereits angeklungen, wurde eine Beschäftigung mit der Problematik des medialen Einflusses auf Suizidhandlungen, unter besonderer Berücksichtigung des Suizids von Kurt Cobain, angestrebt. Dies nicht zuletzt deshalb, weil man – natürlich unter Rücksichtnahme auf eine, durch moderne massenmediale Angebote veränderte Kultur – Parallelen zwischen der fiktiven Figur „Werther“ und Kurt Cobain, nicht nur was ihre Anziehungskraft auf ein jugendliches Publikum betrifft, ziehen kann.

Beide verliehen einem kulturellen Klima in verschiedener Form Ausdruck: Goethes „Werther“ versinnbildlichte, als zentrale Figur eines Romans, das Lebensgefühl des Sturm und Drang, Cobain wurde zum „Hauptdarsteller“ einer medialen Inszenierungsstrategie erkoren, welche eine vielbeschworene, ziellose und sinnsuchende Generation X[3] zum Inhalt hatte.

Nachdem die Recherche ergeben hatte, dass bisher die Berichterstattung des Fernsehsenders MTV[4] zum Suizid Cobains noch keiner inhaltsanalytischen Prüfung unterzogen worden war, obwohl MTV beträchtlichen Anteil an der Positionierung Cobains als „Gallionsfigur“ einer Generation hatte, sah die anfängliche Konzeption dieser Arbeit eine inhaltsanalytische Aufarbeitung der MTV - Berichte hinsichtlich der Suiziddarstellung Cobains vor. Dieses Vorhaben musste jedoch wegen der mangelnden Kooperationsbereitschaft der Verantwortlichen bei MTV, die ohne Angabe von Gründen kein Material zur Verfügung stellen wollten, aufgegeben werden. Schließlich konnte mit Hilfe einiger Nirvana - Fansites über das Internet ein einzelner Bericht zum Suizid Cobains aus dem Jahr 1995 aufgefunden werden. Da nun wenigstens dieser vorlag, entschloss ich mich, um einen Einblick in die Suiziddarstellung Cobains an einem Fallbeispiel geben zu können, zumindest ausgewählte inhaltliche und formelle Aspekte dieses Berichts darzulegen.

Für den Fall, dass andere bessere Möglichkeiten haben, an Untersuchungsmaterial von MTV heranzukommen, fasste ich den Entschluss trotz allem Vorschläge und Entwürfe für ein Kategorienschema samt dazugehörigem Codebogen für jene inhaltsanalytischen Forschungen, die letztlich hier nicht durchgeführt werden konnten, zu entwerfen und hierorts vorzustellen.

Damit verlagerte sich das Interesse dieser Arbeit auf die theoretischen und empirischen Aspekte der Suizid-, Identitäts-, und Medienwirkungsforschung zum Thema des Medieneinflusses auf Suizidhandlungen.

Nach der Durchsicht und Aufarbeitung empirischer Studien zum Wirkzusammenhang zwischen Mediendarstellungen und nachfolgenden Suizidhandlungen, wurde ich in der Annahme, von der im folgenden ausgegangen wird, bestärkt, dass bestimmte Darstellungen von Suizid in den Medien einen Auslöseeffekt, der Fachausdruck der Suizidforschung lautet Triggereffekt, haben können.
Das besondere Anliegen dieser Arbeit ist es, eine Klärung jener Faktoren anzustreben, die, im Hinblick auf die Korrelation zwischen Suizid und Medien, die Suizidanfälligkeit fördern oder abschwächen können. Allerdings ist bei solch einem Vorhaben zu bedenken, dass jede suizidale Entwicklung individuell verläuft, und daher empirische Untersuchungen zur Suizidproblematik vorsichtig interpretiert und nicht unzulässig verallgemeinert werden sollten. Letztlich ist jedes Suizidgeschehen für sich viel zu komplex, um es auf eine Ursache, einen Auslöser rückzuführen, der Menschen dazu bringt, sich das Leben zu nehmen, oder um es mit den Worten des berühmten Logotherapeuten Viktor Frankl zu sagen „Jeder lebt und leidet in seinem Stil.“ (Frankl 1990, S. 326)

Dennoch kann der Versuch gemacht werden, sich dem Suizid als multifaktoriellem Phänomen zu nähern, und dieser Intention wird in vorliegender Arbeit im Horizont spezifischer kommunikationswissenschaftlicher Fragestellungen Rechnung getragen. Zielsetzung dieser Arbeit ist die Erstellung eines Kriterienkatalogs, eine verantwortungsvolle mediale Suiziddarstellung im Sinne der Suizidprävention betreffend. Um aber konkrete Empfehlungen zu implementieren, ist einerseits die genaue Kenntnis des Übertragungsmechanismus vom Suizid - Modell zum Nachahmer notwendig, andererseits die Kenntnis konkreter Inhalte und Muster der Nachahmung, einfacher formuliert: Wie wird imitiert und Was wird imitiert? Bei dem Versuch, Antworten auf die Frage nach der Wirkung massenmedial verbreiteter Inhalte zu finden, muss freilich der interdependente Charakter des Verhältnisses zwischen medialer Aufbereitung und der Rezeption eines medialen Angebots, in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext, mitberücksichtigt werden.

Aus diesem Grund werden, um die möglichen Auswirkungen massenmedial vermittelter Suizidmodelle, aus einer, der Komplexität der Suizidproblematik angemessenen, breit gefächerten theoretischen Perspektive verschiedener Einzelwissenschaften beleuchten zu können, neben kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen auch identitätspsychologische, psychoanalytische, klinische und soziologische Theorien zur Entstehung suizidalen Verhaltens miteinbezogen.

Eine Gliederung in folgende Themenkomplexe wurde vorgenommen: Kapitel 2 liefert eine theoretische Explikation über Grundlagen und gegenwärtigen Stand der Suizidforschung. In Kapitel 3 wird das Phänomen der Nachfolgesuizide aus der Sicht der Identitätsforschung besprochen. Dabei wird eine Klärung angestrebt, inwieweit Identitätsarbeit von massenmedialen Angeboten beeinflusst wird, und welche Identifikationsmechanismen bei Nachfolgesuiziden zum Tragen kommen. Zusammenhängend damit wird Hintergründen und Wirkungsweisen eines medial aufbereiteten Identifikationspotentials der Person Kurt Cobain nachgegangen.

Kapitel 4 beschäftigt sich mit der Suiziddarstellung in den Medien. Hier werden empirische Studien zum Suggestiveffekt medial vermittelter Suizidmodelle kritisch reflektiert, verschiedene Konzepte der Medienwirkungsforschung hinsichtlich der Rezeption von Suiziddarstellungen vorgelegt, und jene Faktoren angesprochen, die bei der Nachrichtenauswahl zur Berichterstattung über Suizidhandlungen eine Rolle spielen.

In Kapitel 5 wird das Fallbeispiel MTV, zum Zwecke eines Einblicks in die Suiziddarstellung Kurt Cobains, hinsichtlich inhaltlicher und formeller Aspekte behandelt, darüber hinaus wird, um theoretisches Vorverständnis weiter zu vertiefen, ein Expertinneninterview mit Dr. Boglarka Hadinger, Autorin des Buches „Medien und Selbstmord“, zum Thema des Medieneinflusses auf suizidale Handlungen präsentiert. Zusätzlich werden Vorschläge für ein Untersuchungsdesign, inhaltsanalytische Forschungsarbeiten zu MTV - Berichterstattungen, die Suizidhandlung Cobains betreffend, vorgelegt. Statistische Vergleichsdaten zur kurzfristigen Auswirkung des Cobain Suizids auf die Suizidrate runden den Untersuchungsteil ab.

Kapitel 6 behandelt Maximen der Suizidprävention und liefert, auf der Basis der empirischen Ergebnisse der, in Kapitel 4 besprochenen, Studien, Empfehlungen für Richtlinien, eine, das Risiko suizidaler Nachahmungseffekte eindämmende, mediale Suiziddarstellung anbelangend. Abschließend werden weiterführende Anregungen zum Dialog zwischen der Medienproduktionsseite und Medien- bzw. Suizidforschern, in Anbetracht einer zukünftigen Behandlung der Suizidproblematik, im medialen Diskurs in den Raum gestellt.

Soweit es möglich war, wurde für diese Arbeit auf deutschsprachige Literatur zurückgegriffen, viele Bücher und Studien zur Suizidproblematik existieren aber nur in englischer Sprache. Zitate aus diesen Arbeiten wurden in der Originalsprache belassen. Mögen manchen Lesern die häufigen Literaturverweise innerhalb des Textes störend vorkommen, so liefert diese Zitierweise dem Interessierten, ohne Unterbrechung des Leseflusses, einen sofortigen Hinweis auf die Quelle. Weiters wurde, vor allem bei Berufsbezeichnungen, Wert auf geschlechtsneutrale Schreibweise gelegt.

Während des Schreibens an dieser Arbeit, begann ich mit der Absolvierung des psychotherapeutischen Propädeutikums, um hinsichtlich meines Berufwunsches – einer Tätigkeit im Gebiet der personenzentrierten Psychotherapie – mein Wissen in den beiden, ohnehin stark miteinander verwobenen, Disziplinen Kommunikationswissenschaft und Psychologie weiter zu vertiefen. Im Rahmen der Recherche und Vorarbeit war die propädeutische Weiterbildung, sowie der Kontakt mit Psychologen und Menschen, die aufgrund ihrer Tätigkeit oder persönlicher Erfahrungen von suizidalen Krisen betroffen waren, eine unschätzbare Bereicherung für die Aufarbeitung des Themas „Suizid und Medien“.

Vor dem Beginn der Lektüre möchte ich daher nochmals eindrücklich darauf hinweisen , dass diese Arbeit mit dem Anspruch geschrieben wurde, ein tieferes Verständnis, nicht nur des Medieneinflusses auf Suizidhandlungen, sondern des suizidalen Verhaltens und Erlebens allgemein, zu vermitteln. Dabei verneine ich den Standpunkt, und ich bin mir vieler Gegenstimmen bewusst, Suizid wäre der Ausdruck einer letzten Autonomie oder Freiheit.

Ich bin vielmehr der Ansicht, dass Suizid eine Handlung ist, die tiefen Kummer und enormes psychisches Leid kommuniziert, und wie die Praxis gezeigt hat, äußerst selten aus freiem Entschluss heraus unternommen wird. Meist handelt der suizidgefährdete Mensch aus dem Impuls heraus, einen unerträglichen Schmerz verstummen zu lassen. Insofern sollte sich jeder fragen: Sollen wir uns mit der Tatsache abfinden, dass eine große Anzahl unserer Mitmenschen aus solch extremer Not heraus ihr Leben nicht mehr für lebenswert hält und die Konsequenzen zieht? Meine persönliche Antwort, die ich zum Ausdruck bringen möchte, lautet schlicht und einfach „Nein“.

No one really knows, why human beings commit suicide.

Anton A. Leenars

2 THEORETISCHE ASPEKTE DER SUIZIDALITÄT

2.1 Grundlagen der Suizidforschung

Suizid wurde in der Vergangenheit als soziologisch begründetes Verhalten(Durkheim 1897), als Abschluss einer krankhaften psychischen Entwicklung (Ringel 1953), psychoanalytisch zu interpretierendes Phänomen (Freud 1917), als biologisches Geschehen (Asberg 1976) oder als Ausdruck psychosozialer Krisen (Kaplan 1965) betrachtet.

Konkurrierten obige Auffassungen lange miteinander, so zeichnet sich mehr und mehr eine Integration dieser Ansätze ab. Dennoch, um es gleich vorausschickend zu sagen, kann es die eine allumfassende Theorie suizidalen Verhaltens nicht geben. Suizidale Entwicklungen sind maßgeblich von der individuellen Entwicklungsgeschichte abhängig, so dass Theorien den Einzelfall niemals vollends erklären oder diesem völlig gerecht werden können. Der Mensch als komplexes Wesen kann nicht durch eine einzige Theorie erklärt werden.

Ein eklektischer Ansatz in der Suizidforschung kann aber, zumindest im Hinblick auf mögliche Behandlungs- und Präventionsstrategien, multifaktorielle Einflüsse suizidaler Entwicklung erforschen und beschreiben.

Im Rahmen der Suizidologie werden hermeneutische und empirische Forschungsmethoden angewandt. In der empirischen Suizidforschung werden anhand von statistischen Studien die äußeren Einflussfaktoren des Suizidgeschehens erhoben. Das hermeneutische Erkenntnisinteresse richtet sich dagegen auf die innerpsychischen Bedingungen der Suizidhandlung (vgl. Holderegger 1979).

Durch die gegenseitige Ergänzung beider Forschungsrichtungen wurden zwei Modelle suizidalen Verhaltens formuliert, die sich auch in der suizidprophylaktischen Arbeit bewährt haben: Krankheits- und Krisenmodell. Im Krankheitsmodell wird suizidales Verhalten als Ausdruck einer psychischen Erkrankung verstanden. Das Krisenmodell geht von der Prämisse aus, dass der suizidale Mensch psychisch gesund ist, und suizidales Verhalten bei psychosozial belastenden Situation entsteht.

Die suizidale Krisensituation wird entweder tiefenpsychologisch - psychodynamisch, als Ausdruck einer Selbstwertkrise, verstanden, oder als dysfunktionale Bewältigungsstrategie vor dem Hintergrund eines lerntheoretischen Ansatzes. Beide Erklärungsmodelle, sowohl das krankheits-, als auch das krisenbedingte, werden in den Punkten 2.6, 2.7 und 2.8 dieses Kapitels ausführlich zur Debatte gestellt.

2.2 Terminologie

Im deutschen Sprachgebrauch gibt es mehrere bedeutungsgleiche Begriffe für den Akt der Selbsttötung: das Leben wegwerfen, Schluss machen, Suizid, Freitod, Selbstmord. Einer der gebräuchlichsten ist der Terminus „Selbstmord“, der in einer Vorstufe auf Martin Luthers „sein selbst morden“ aus dem Jahre 1527 zurückgeht. Allgemein gebräuchlich wird der Ausdruck „Selbstmord“ im deutschen Sprachgebrauch zu Beginn des 18.Jahrhunderts. Der darin enthaltene Begriff „Mord“ reflektiert die damalige kirchliche Auffassung des Suizids als moralisch verwerfliche, unrechtmäßige, zu sanktionierende Handlung
(vgl. Hadinger 1994, S. 21).

Ganz anders die Bezeichnung „Freitod“: Sie steht im Zeichen der Überzeugung, dass der Mensch zu jeder Zeit das Recht habe, sich freiwillig für den eigenen Tod zu entscheiden. Als Vertreter dieser Auffassung gelten Arthur Schopenhauer (1882), auf den der Begriff „Freitod“ zurückgeht, sowie Friedrich Nietzsche (1884) und Jean Amery (1976). Amery sieht im Freitod einen Ausweg aus jede Menschlichkeit und Würde entbehrenden Lebensumständen, für Nietzsche ist Suizid ein Akt menschlicher Größe, der Macht über Leben und Tod beweist. Allerdings verkennen diese Lesarten, dass Suizid meist kein Ausdruck freier Willensentscheidung ist, sondern eine unter ungeheurem psychischen Druck gesetzte Handlung.

Im medizinisch - psychiatrischen Sprachgebrauch hat man sich auf die Bezeichnungen „Suizid“ bzw. „Suizidalität“ – etymologisch abgeleitet vom lateinischen „sui caedere“ bzw.

„sui cidium“[5] – geeinigt, weil darin keine ethischen Werturteile zum Ausdruck kommen.[6]

Der Begriff „Suizidalität“ – damit wird die Neigung, Suizid zu begehen bezeichnet – hat für die Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Suizid den Vorteil, dass er ein breites Spektrum umfasst, welches nicht nur Suizidhandlungen beinhaltet, sondern auch
Suizidideen, -phantasien und -ankündigungen (vgl. Dickhaut 1995, S. 15).

Da bei einer ethische Belange berührenden Materie einseitig wertbesetzte Terminologie vermieden werden sollte, werden in der vorliegenden Arbeit, mit Ausnahme wörtlicher Zitate, die Begriffe „Suizid“ und „Suizidalität“ verwendet.

2.3 Definition der Suizidalität

Im wissenschaftlichen Diskurs herrscht schon lange Uneinigkeit vor, wie suizidale Verhaltenweisen zu definieren sind.[7] Für Stengel ist der Suizid jene Tat ist, durch die man tatsächlich seinem Leben ein Ende macht (vgl. Stengel 1969, S. 8). Er will also nur dann von Suizid sprechen, wenn die Suizidhandlung „erfolgreich“ verläuft, nicht aber, wenn ein Suizidversuch unternommen wird, der nicht zum Tode führt.
Eine andere, zutreffendere Definition Stengels deutet suizidale Handlungen als

„[...] eine auf einen kurzen Zeitraum begrenzte, absichtliche Selbstschädigung, von der der Betreffende, der diese Handlung begeht, nicht wissen konnte, ob er sie überleben wird oder nicht.“ (Stengel 1970 zit. n. Bronisch, S. 11)

Diekstra berücksichtigt motivationale Faktoren suizidaler Verhaltensweisen und sieht im Suizid eine Handlung mit tödlichem Ablauf, unternommen durch die betreffenden Personen selbst, im Wissen oder der Erwartung des Ablaufs mit der Absicht, durch den tödlichen Verlauf eine Veränderung zu erzielen (vgl. Diekstra 1981, S. 77). Diekstras Definition ähnelt der Emile Durkheims, jenes Pioniers epidemiologischer Suizidforschung, der noch ausführlich zur Sprache kommen wird.[8] Durkheim spricht von Suizid, wenn der Tod direkt oder indirekt Folge einer positiven oder negativen Handlung ist, ausgelöst durch das Opfer selbst, das vom Resultat dieser Handlung wusste (vgl. Durkheim 1993, S. 27).

Aus Diekstras, Durkheims und Stengels Definitionen ergibt sich, dass suizidales Verhalten eine aktive Intention zur Beendigung des eigenen Lebens beinhaltet. Der Suizidant weiß um die möglichen tödlichen Konsequenzen seiner Handlung. Abermals deutlich macht dies Holdereggers Definition: „Von Suizid sprechen wir, wenn es um eine Handlung geht, durch die sich jemand absichtlich durch eigenes Tun (oder Lassen) tötet.“ (Holderegger 1979, S. 39)

Obige Definitionen schließen jedoch weitgehend selbstschädigende Verhaltensweisen aus, bei denen man von protrahierter Selbsttötung sprechen könnte: Suchtverhalten, Bulimie, risikoreiche Sportarten, gefährdende Autofahrweise etc.. Selbstschädigende Verhaltensformen werden deshalb nicht als Suizidalität klassifiziert, weil kein bewusster, aktiv intendierter Todeswunsch angenommen wird.

Obwohl eine befriedigende Klassifikation des Phänomens „Suizid“ schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, kommen wir für die vorliegende Arbeit darin überein, Suizid als Handlung des Betroffenen für sich selbst als letzten oder besten Ausweg einer, für ihn unerträglichen, Situation anzusehen (vgl. Bronisch 1996, S. 12).

2.4 Differenz zwischen Suizid und Suizidversuch

Wie bereits bei den Versuchen, Suizidhandlungen zu definieren anklingt, bewertet die Suizidforschung Suizid und Suizidversuch als differente soziale und psychologische Phänomene. Erwin Stengel (1961) war der erste, der in empirischen Untersuchungen Typisierungsmerkmale für die Gruppe der Personen mit Suizidversuchen und solchen mit Suizid erstellte.

- Die Gruppe der Suizidversuche ist größer als die der Suizide.
- In der Gruppe der Suizidversuche überwiegen die Frauen, in der Gruppe der Suizide die Männer. Die Anzahl der Suizidversuche ist in jüngerem Alter höher, als die Anzahl der Suizide in der hohen Alterskategorie.
- Die Tendenz der Mitglieder der Personengruppe mit Suizidversuchen in die Gruppe der Suizide überzugehen ist verhältnismäßig gering.[9]

Stengels Erkenntnisse wurden über Jahre hinweg durch empirische Forschungsergebnisse erweitert. Seine Befunde lassen auf den ersten Blick den Schluss zu, dass es sich bei Personen mit Suizid und Suizidversuch um völlig unterschiedliche Gruppen handelt, dennoch gibt es zwischen den beiden Überschneidungen. So steigt mit der Häufigkeit der Suizidversuche die Wahrscheinlichkeit eines vollendeten Suizids. Mögen häufige Suizidversuche gewisse Vorhersagekraft für einen vollendeten Suizid haben, so ist es der Suizidforschung hingegen noch nicht gelungen, allgemeine Prädiktoren zu entdecken, die eine gesicherte Aussage über zukünftiges suizidales Verhalten zulassen.

Zwar gibt es Eigenschaften, etwa bestimmte psychische Strukturen und Persönlichkeitsentwicklungen, die auf spätere Suizidhandlungen hinweisen, allerdings treffen diese auch auf einen hohen Prozentsatz von Personen zu, die niemals suizidale Phasen durchleben (vgl. Bronisch 1996, S. 17).

Den wichtigsten Unterscheidungsfaktor zwischen Suizid und Suizidversuch stellt die Appellfunktion dar (vgl. Stengel 1969). Wo der Suizid eine ausgeprägte Tendenz, sterben zu wollen beinhaltet, überwiegt beim Suizidversuch die Appellwirkung an das soziale Umfeld. Der Suizidversuch wird als „Cry for help“ des Suizidenten gewertet, hinter dem hochgradig kommunikative Wünsche nach Aufmerksamkeit, Zuwendung und Veränderung stehen (vgl. Shneidman/ Farberow 1961).

Lindner-Braun (1971) ist ebenfalls der Ansicht, dass bei einer Vielzahl von Suizidversuchen ein Appell zur Bereinigung einer krisenhaften menschlichen Beziehung vermutet werden muss. Dementsprechend wird ein hoher Prozentsatz suizidaler Handlungen durch Trennungen, drohende Trennungen oder soziale Isolation ausgelöst, und kann demnach als Aufforderung verstanden werden, Bindungen nicht aufzugeben.

Gegenwärtig hat sich in der wissenschaftlichen Literatur bei der Frage nach der Klassifikation von Suizidversuchen eine Definition von Kreitmann durchgesetzt, nach der ein Suizidversuch ein selbstinitiiertes, gewolltes Verhalten eines Patienten ist, der sich verletzt oder eine Substanz in einer Menge nimmt, die eine therapeutische Dosis oder ein gewöhnliches Konsumniveau übersteigt und von welchem er glaubt, sie sei pharmakologisch wirksam
(vgl. Kreitmann 1980, S. 131 ff.).

Kreitmann (1973) prägte auch, in Zusammenarbeit mit Feuerlein (1974), den Begriff „Parasuizid“ für nicht tödlich endendes suizidales Verhalten (vgl. Sonneck 1991, S. 106). Feuerlein (1971) formulierte indessen ein Einteilungsschema parasuizidaler Handlungen, welches sich nach den Motiven des Suizidenten richtet:

- Parasuizidale Pause mit dem Motiv der Zäsur: Dabei handelt es sich nicht um einen Suizidversuch im engeren Sinn. Im Vordergrund steht das Verlangen nach Ruhe und einer Zäsur, ohne das Vorliegen eines eindeutigen Todeswunsches. Meist versuchen die betroffenen Menschen diese Ruhe durch Medikamenten und/ oder Alkoholeinnahme herbeizuführen. Für Suizidforscher liegt die parasuizidale Pause in einem Grenzbereich: einerseits liegt keine Intention zu Sterben vor, andererseits nehmen die Betroffenen die erhöhte Menge einer Substanz ein, von der sie glauben sie sei pharmakologisch wirksam.
Die empirische Forschung gibt jedoch der Kategorisierung als Suizidversuch recht; ein hoher Prozentsatz der Personen mit parasuizidalen Pausen begeht spätere Suizidversuche mit eindeutigen Suizidintentionen (vgl. Felber 1993).

- Parasuizidale Geste mit dem Motiv des Appells: Hier steht der Suizidversuch im Zeichen des Appells an die Mitmenschen. Der Suizidversuch wird so arrangiert, dass eine Rettung durch jene Person, an die sich der Appell richtet, wahrscheinlich ist. Hierbei gibt es viele Vorgehensweisen: bei drohenden Trennungen etwa kann der Suizidversuch in der Wohnung des Partners zu einem Zeitpunkt erfolgen, wo die Chance groß ist, noch rechtzeitig gefunden zu werden. Oder es erfolgt ein Suizidversuch mit Tabletten, die direkt vor der Person, an die ein Appell gerichtet ist, eingenommen werden.
Menschen, die eine parasuizidale Geste mit dem Motiv des Appells unternehmen, weisen eine hohe Wiederholungsrate für alle Arten parasuizidaler Verhaltensmuster auf
(vgl. Felber 1993).

- Parasuizidale Handlung mit dem Motiv der Autoaggression: Bei dieser suizidalen Handlung gibt es eindeutige Intentionen der Betroffenen, zu sterben. Im Vordergrund steht die Autoaggression im Sinne eines missglückten Suizidversuchs. Daher wird, im Gegensatz zur parasuizidalen Pause und parasuizidalem Appell, eine harte Suizidmethode[10] angewandt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit einen letalen Ausgang nimmt. Gleichzeitig verhindert das Arrangement mit ziemlicher Sicherheit ein rechtzeitiges Auffinden.

Feuerleins Einteilung führt zum Problem der Ernsthaftigkeit von Suizidversuchen, für die es drei Indikatoren gibt (vgl. Bronisch 1996, S. 14):

- Die Suizidintention: Wie ausgeprägt ist das Interesse des Suizidenten zu sterben?
- Das Suizidarrangement: Legt der Suizidant es darauf an, nach dem Suizidversuch gefunden zu werden, oder wird ein Ort gewählt, der rasches Auffinden unmöglich macht?
- Die Suizidmethode: Wählt der Suizidant eine weiche Methode (etwa Tabletteneinnahme, oberflächliches Ritzen an den Pulsadern), die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit nicht zum Tod führt, oder eine harte Methode, die mit hoher Wahrscheinlichkeit tödliche Folgen nach sich zieht?

Trotz obiger Indikatoren wird von Suizidforschern aber immer wieder betont, wie prekär die Beurteilung der Ernsthaftigkeit und Gefährlichkeit eines Suizidversuchs ist.[11]
Eine differentialdiagnostische Unterscheidung von Suizid und Suizidversuch kann nur
a posteriori, unter Berücksichtigung aller motivationalen und ursächlichen Faktoren, erfolgen.

2.5 Epidemiologische Suizidforschung

Die Epidemiologie ist die Wissenschaft von der Entstehung, Verbreitung und den sozialen Folgen von Krankheiten, Störungen und Symptomen, in Bezug auf die Kategorien Zeit und Raum. Epidemiologische Suizidforschung stellt die Frage nach der Korrelation zwischen der Suizidhäufigkeit und soziodemographischen Merkmalen, wie Alter, Geschlecht, sozialer Status, u.s.w.. Erforscht werden soll, welche Sozialbezüge dafür verantwortlich sind, dass Individuen mit unterschiedlicher psychischer und sozialer Disposition zu verschiedenen Zeitpunkten eine Suizidhandlung begehen. Um Aussagen über generalisierende Merkmale des Suizidgeschehens machen zu können, benötigt man empirische Daten. Diese werden, um dem Kriterium der Repräsentativität gerecht zu werden, statistisch an größeren Populationen erhoben.

2.5.1 Die repräsentative Erfassung von Suizid und Suizidversuch

Die zuverlässige Erfassung von Suizid und Suizidversuchen ist mitunter problematisch. In Europa erfolgt in der Regel bei Suizidfällen eine Todesursachenfeststellung durch eine medizinische Instanz, die repräsentative Erfassung ermöglicht. Dagegen dürften frühere Statistiken, als Suizid noch religiösen und gesellschaftlichen Sanktionen unterlag, wenig repräsentativ sein. Suizid als Todesursache wurde damals häufig vertuscht.

Heute spielen meist ökonomische Interessen bei der Vertuschung von Suiziden eine Rolle, denn viele Versicherungsgesellschaften verweigern im Falle eines Suizids die Auszahlung von Prämien.

Bei Suizidversuchen gibt es in keinem Land der Welt systematische Erfassung, sodass kaum repräsentative Ergebnisse vorliegen. Die Erhebung von Suizidversuchsraten ist mit Schwierigkeiten verbunden, weil zum einen bei Suizidversuchen die Vertuschungsrate besonders hoch ist, zum anderen die uneinheitliche Definition von Suizidversuchen die Zuordnung erschweren. Suizidversuche können nur dann objektiv erfasst werden, wenn seitens des Suizidenten nach dem Suizidversuch klinische Hilfe in Anspruch genommen wird und der Suizidversuch ausreichend dokumentiert wird. Der Teil, der nach einem Suizidversuch nicht klinisch behandelt wird, kann folglich nicht erfasst werden (vgl. Bronisch 1996, S. 20).

2.5.2 Die soziologische Suizidtheorie nach Durkheim

Emile Durkheim gilt als Begründer der epidemiologischen Suizidforschung mit seinem 1897 erschienen Werk „Le Suicide“. Durkheim war der erste, der die Todesursachenstatiken mehrerer europäischer Länder des 19.Jahrhunderts untersuchte, und dabei auf divergente Suizidraten stieß. Um diese unterschiedlichen Anhäufungen von Suiziden zu begründen, entwickelte er soziologische Theorien suizidaler Verhaltensweisen. Dabei interessierten ihn weniger verstehende Erklärungen, als vielmehr die kausalen Zusammenhänge zwischen den Merkmalen sozialer Strukturen und der Häufigkeit von Suiziden. Durkheim postuliert, dass es innerhalb einer Gesellschaft, eine konstante Suizidrate, die Basissuizidalität gibt, welche bei Veränderungen des Status Quo (z.B. politische oder wirtschaftliche Krisensituationen) dementsprechend instabil ist. Erst nach Abklingen der Krise, wenn die Konstitution einer neuen Ordnung erkennbar ist, erreicht die Suizidrate wieder beständige Werte.

Die Suizidrate selbst steht unter dem Einfluss wesentlicher gesellschaftlicher Dimensionen, nämlich der sozialen Integration und der sozialen Regulation. Der Grad der sozialen Integration einer Gesellschaft, sowie das Einwirken der Gesellschaft auf individuelle Norm- und Wertsetzungen – die soziale Regulation – sind nach Durkheim bestimmend für die Suizidrate. Durkheim beschreibt in beiden Dimensionen bipolare Suizidtypen, die das Ergebnis mangelhafter Adaptation des Individuums an divergente Gesellschaftsformen sind.

Zum Bereich der sozialen Integration zählen der egoistische und altruistische Suizidtypus (vgl. Durkheim 1993, S. 162 ff.):

Der egoistische Suizidtypus: Weist eine Gemeinschaft mangelnde Wert- und Normsetzungen auf, kann es seitens des Individuums zur Ausbildung eines übermäßig ausgeprägten Individualismus kommen. Die Fähigkeit zur sozialen Anpassung des Individuums ist verkümmert. Lebenssinn kann nach Durkheim jedoch nur durch die Zugehörigkeit zur Gesellschaft gefunden und erfüllt werden. Je stärker das innere Band zu einer Gruppe ist, umso größer wird der Rückhalt des Individuums auch in persönlichen Krisensituationen sein. Ist der Mensch infolge seines mangelnden Gemeinschaftssinnes sozial isoliert und nur noch auf sich selbst zurückgeworfen, kann es schließlich zum egoistischen Suizid kommen.

Wie sieht es gegenwärtig mit dem Gemeinschaftssinn als Suizidfaktor aus?

Sicher ist jedenfalls, dass die Scheidungsraten steigen. Ein Großteil der Kinder und Jugendlichen lebt nicht mehr in der Ursprungsfamilie. Das wachsende massenmediale Angebot wird in immer stärkerem Ausmaß zur Ersatztätigkeit für gemeinschaftliche und familiäre Tätigkeiten. Kinder werden von den Medien längst „miterzogen“, und rezipieren in vielen Fällen problematische, nicht altersgerechte Inhalte, bei deren Verarbeitung sie alleingelassen werden. Auch die zunehmende Vereinzelung des Menschen, besonders in Großstädten, kann für Kinder und Jugendliche schwerwiegende Folgen haben. Mangel an Lebens- und Gemeinschaftssinn entspringt vielfach aus dem Gefühl, isoliert zu sein, keinen Platz innerhalb einer Gesellschaft zu finden. Zusammenhängend damit entstehen Orientierungslosigkeit und Aggression, die leider viel zu oft gegen die eigene Person gerichtet wird. Für die Suizidprophylaxe heißt dies, dass gerade in Krisensituationen Betreuung in der Familie, in der Schule oder im Freundeskreis ein Gefühl der Eingebundenheit gibt, welches vor suizidalem Handeln schützen kann.

Der altruististische Suizidtypus stellt den Gegenpol zum egoistischen Typus dar. Genauso wie ein zu geringes Maß an Integration kann zu großer Druck auf das Individuum sich negativ auswirken, und die Entwicklung einer autonomen, selbständigen Persönlichkeit verhindern. Durkheim spricht in diesem Fall von „verkümmerter Identität“. Das Individuum identifiziert sich dermaßen mit den Zielen und Werten der Gemeinschaft, dass Opferbereitschaft besteht (z.B. Suizidattentate). Die Suizidhandlung wird unter solchen Voraussetzungen als Dienst an der Gemeinschaft angesehen.

Von altruistischen Suizidhandlungen kann man, auf Familiensituationen umgelegt, dann sprechen, wenn Kinder und Jugendliche sich in starker Abhängigkeit von einer Familie erleben, die keinen Freiraum für das Werden eines eigenständigen Ichs lassen. Die Betroffenen sehen ihren einzigen Lebenszweck in der Existenz für die Interessen der Familie. Mit ein Grund für Suizidhandlungen kann dann oftmals das Gefühl sein, familiäre Anforderungen nicht erfüllen zu können.

Auch im Bereich der sozialen Regulation stehen sich zwei Suizidtypen gegenüber, nämlich der anomische und der fatalistische Suizidtypus (vgl. Durkheim 1993, S. 273 ff.):

Der anomische Suizidtypus: Da der Mensch als soziales Wesen konzipiert ist, braucht er verpflichtende Gesellschaftsnormen als Orientierung. Geht diese Orientierungshilfe verloren, übernehmen individuelle Normsetzungen diese Aufgabe. Fungieren allgemeinverbindliche Normen nicht mehr als Regulativ, sind die Zielsetzungen des Individuums maß- und ziellos, und weit von Realisierbarkeit entfernt. Die Suizidhandlung kann schließlich der Ausdruck einer frustrierenden Konfrontation mit der Realität sein.

Kinder und Jugendliche befinden sich in ihrem Entwicklungsprozess ständig auf der Suche nach Grenzen, sind aber noch nicht in der Lage, selbst diese Grenzen zu setzen. Deshalb müssen Grenzsetzungen durch allgemeinverbindliche Normen erfolgen, auch um durch Halt und Sicherheit die Angst zu nehmen, ins Grenzenlose abzudriften. Auch der Philosoph Martin Buber (1997) sieht als Voraussetzung für das Lernen von Handlungskompetenz mit Augenmaß den Austausch von Du und Ich, um am Du zum Ich zu werden.

Der fatalistische Suizidtypus steht im Gegensatz zum anomischen Suizidtypus. Hier führen immense Regulierung und Disziplinierung seitens der Gesellschaft zu einer überwertigen Identifikation des Individuums mit gemeinschaftlichen Zielen und Absichten. Die Möglichkeit individueller Lebensplanung werden aufgrund des überstarken Drucks in materieller und moralischer Hinsicht stark eingeschränkt, oder überhaupt nicht wahrgenommen. Ergibt sich für den fatalistischen Charakter eine Situation, in der er das gemeinschaftliche Leistungssoll nicht erfüllen kann, erscheint das eigene Leben nicht mehr lebenswert.

Der fatalistische Charakter begeht Suizid, da er sich nicht mehr in der Lage sieht, gesellschaftlichen Wertvorstellung zu entsprechen.

Dieser Suizidtypus kann nur sehr beschränkt auf gegenwärtige Familiensituationen

– zumindest auf einen Großteil des amerikanischen und mitteleuropäischen Kulturkreises bezogen – umgelegt werden, da die totale Regulierung der Erziehung schon allein wegen der pluralen Einwirkfaktoren auf den Entwicklungsprozess nicht mehr möglich ist. Nichts desto trotz finden sich auch heute noch Familien, in denen rigide Kontrolle und restriktive moralische Einstellungen vorherrschen. Suizidhandlungen, bei denen Extremformen familiärer Kontrolle eine Rolle spielen, werden als Ausweg aus der unerträglichen Internalisierung familiärer Normen angesehen.

Man kann also zwei Gruppen von Suizidhandlungen zusammenfassen:

Beim egoistischen und anomischen Suizid stehen mangelnde soziale Bindungen im Vordergrund. Die Individuation ist aufgrund nicht angenommener oder fehlender gemeinschaftlicher Orientierungshilfen zu stark.

Im Kontrast dazu stehen der altruistische und fatalistische Suizid. Bei diesen Suizidtypen sind soziale Bindungen übermächtig ausgebildet, die Individuation ist aufgrund enger gesellschaftlicher Normen nur schwach ausgeprägt. Die Gesellschaft und ihre Belange werden als höchste Beurteilungsinstanz angesehen, selbst wenn es um die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens geht.

Wie gezeigt wurde, besitzen Durkheims Begrifflichkeiten, auf gegenwärtige gesellschaftliche und familiäre Verhältnisse angewandt, hinsichtlich gewisser Aspekte Reflexionswert, allerdings nur unter der Voraussetzung einer kritischen Auseinandersetzung mit verschiedenen Punkten.[12]

Durkheims Ausklammerung individueller Einflüsse auf das Suizidgeschehen ist unhaltbar. Suizid ist für Durkheim eine soziale Gegebenheit, bei der individuelle Faktoren nur die Anlässe betreffen (vgl. Gerald Hard 1988, S. 104 ff.). Der Mensch als Person verschwindet bei der Frage nach den Suizidursachen hinter den sozialen Tatsachen. Diese Haltung gilt mittlerweile als überholt; so ist die gegenwärtige Suizidforschung der Ansicht, es könne lediglich gezeigt werden, dass bei der Entscheidung zum Suizid soziale Tatsachen miteinfließen

(vgl. Bronisch 1996, S. 66/ Hadinger 1994, S. 39).

Unter diesen Gesichtspunkten wird verständlich, dass Durkheim im Suizid ein deviantes Verhalten ortet, welches die Suizidrate zum Indikator für den pathologischen Charakter einer Gesellschaft macht. Somit reflektiert die Suizidrate den jeweiligen gesellschaftlichen „Gesundheitszustand“. Allerdings muss bei der Beschäftigung mit Durkheims Suizidstudien berücksichtigt werden, dass es zu seiner Zeit keine psychologischen Persönlichkeits- oder Motivationsmodelle gab. Für ein Verständnis des Suizids als multifaktoriellem Geschehen sind tiefenpsychologische Erklärungsansätze aber ebenso unentbehrlich, wie die Einbeziehung individueller und sozialer Einflussfaktoren.

2.5.3 Risikogruppen

Der epidemiologische Suizidforschung gelang es im Verlauf statistischer Langzeitstudien, demographische Gruppen zu benennen, die eine erhöhte Suizidneigung aufweisen. Diese Personengruppen differieren von Kulturkreis zu Kulturkreis und sind innerhalb andauernder gesellschaftlicher Entwicklungen Veränderungen unterworfen (vgl. Ringel 1984). Auch ist die Zugehörigkeit zu einer Gruppe nicht gleichbedeutend mit unmittelbarer Suizidgefahr, da Suizidrisiken wesentlich abhängig sind von der individuellen Entwicklung psychischer Strukturen. Die Ansätze zur Ermittlung von Risikofaktoren kann man danach unterteilen, ob sie empirische Verallgemeinerungen oder umfassendere Erklärungsansätze darstellen.

In der neueren Suizidforschung wird zwischen distalen und proximalen Faktoren unterschieden (vgl. Schmidtke/ Weinacker/ Löhr 2000, S. 72):

Distale Faktoren bilden das Fundament, auf dem sich suizidales Verhalten bilden kann. Sie sind notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen. Sie können als Schwelle angesehen werden, die das Risiko für die Einflüsse von proximalen Faktoren erhöhen.
Proximale Faktoren sind Vorläufer oder Begleitereignisse suizidaler Geschehnisse, und stehen daher zeitlich näher an der suizidalen Handlung. Zu diesen Variablen gehören z.B. Lebensereignisse, Methodenzugriff, etc.
Proximale Faktoren allein sind nicht hinreichend für suizidales Verhalten. Erst die Kombination von distalen und proximalen Faktoren kann suizidale Handlungen bedingen.

Die Suizidologie beschreibt folgende Gruppen mit erhöhten Suizidrisiken
(vgl. Schmidtke /Weinacker/ Löhr 2000, S. 63 ff.):

- Personen, die unter psychischen Erkrankungen leiden: Die Subgruppe der affektiven Psychosen weist das höchste Suizidrisiko auf. 80% der Patienten mit endogenen Depressionen haben Suizidgedanken. Etwa 1/4 der endogen Depressiven setzt Suizidgedanken in die Tat um. Eine weitere Risikogruppe sind Schizophrenieerkrankte Suizid ist die häufigste Todesursache beim vorzeitigen Tod von Schizophrenen. Ihr Suizidanteil ist auch innerhalb klinischer Aufenthalte relativ hoch. Weiters zeigt sich ein hohes Risiko bei Personen, die gerade erst aus stationären Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken entlassen wurden (vgl. Lönnquist 2000).
- Personen mit Suizidankündigungen oder in der Vergangenheit bereits durchgeführten Suizidversuchen: 80 % aller Suizidhandlungen werden zuvor angekündigt. Man geht weiters davon aus, dass das Risiko, dass Personen, die bereits einmal einen Suizidversuch unternommen haben, weitere Suizidversuche unternehmen, außerordentlich hoch ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Menschen zuvor Suizidversuche mit harten oder weichen Methoden unternommen haben (vgl. Bronisch 1996, S. 49).
- Personen, die unter einer Suchterkrankung leiden: Suchterkrankungen bergen ein hohes Suizidrisiko, weil die langfristige Einnahme von Rauschmitteln zu Persönlichkeitsveränderungen, Verlust von sozialen Bindungen und damit zu sozialer Isolation führt. Besonders gefährdet sind Alkoholkranke. In einer von Böcker bereits 1982 durchgeführten Untersuchung gaben nur 45% der befragten Alkoholkranken an, noch keine Suizidgedanken gehabt zu haben.[13] Das Risiko einer Suizidhandlung ist bei Alkoholkranken in mittleren Lebensjahren höher, als in jüngeren Altersgruppen
(vgl. Rossow 1995). Bei Rauschmittelabhängigen liegt die Suizidgefahr 5- bis 50mal höher als bei der Durchschnittsbevölkerung.
-
Alte und Vereinsamte: Die Gefährlichkeit der Suizidmethoden nimmt mit dem Alter vor allem bei Männern zu. Die Suizidrate ist ab dem 65. Lebensjahr 2- bis 3mal so hoch wie bei den 15- bis 35jährigen. Bei alten Menschen wird die Dunkelziffer in der Suizidrate hoch eingeschätzt.[14] Schmidtke und Weinacker (1991) sehen in diesem Zusammenhang eine Verbindung zwischen der Abnahme der Zahlen für weiche Suizidmethoden und unklaren Todesursachen.
- Unheilbar Kranke und chronisch Kranke: Die Suizidgefahr ist wesentlich größer, wenn die Erkrankung mit Schmerzen verbunden ist, und keine Aussicht mehr auf Hilfe besteht. HIV - Infizierte weisen eine 7fach höhere Suizidgefährdung auf. Bei Anorexia Nervosa liegt das Suizidrisiko 20mal über dem der Gesamtbevölkerung. Bei Krebserkrankten ist das Suizidrisiko ebenfalls erhöht, allerdings ist die Suizidrate nach der Diagnose niedriger als gemeinhin angenommen wird (vgl. Schmidtke/ Weinacker/ Löhr 2000).
- Rassisch, religiös und politisch Verfolgte: Sie sind oft Außenfaktoren ausgesetzt, die so großen seelischen Druck ausüben, dass Menschen sich suizidieren, die bis dahin keinerlei erhöhte Suizidgefahr aufweisen (vgl. Ringel 1984).
- Flüchtlinge: Heimatverlust und Anpassungsprobleme führen oft zu tiefgehender Furcht vor der Zukunft, die so übermächtig werden kann, dass als letzter Ausweg der Suizid gewählt wird.[15]
- Menschen in Städten: Urbane Gebiete weisen eine höhere Suizidrate auf als ländliche. Nach den Ergebnisse einer WHO - Studie leben 70% der erfassten Personen mit suizidalen Handlungen in städtischen Gebieten. Die Gründe dafür dürften in der größeren sozialen Isolation des Individuums in urbanen Gebieten zu suchen sein
(vgl. Holderegger 1979, S. 81).
-
Menschen in Haft: Hierzu zählen nicht nur Personen mit längerfristigen Gefängnisstrafen. Auch Menschen in Untersuchungshaft sind erhöht suizidgefährdet. Die Gefängnissituation weist alle Merkmale des präsuizidalen Syndroms auf. Bei Kriminellen kommt meist ein hohes Aggressionspotential, sowie die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuldproblematik hinzu (vgl. Ringel 1984).
- Personen in Ehe- oder Liebeskrisen: Ehe- und Liebeskrisen führen häufig zu Suizidhandlungen. Eine suizidale Handlung hat hier meist Appellcharakter.[16]. Der Partner soll an der Trennung gehindert werden. Scheitern alle Bemühungen, die Beziehung aufrecht zu erhalten, so gehen Suiziddrohungen oder Suizidversuche aufgrund des Trennungsschmerzes und anhaltender aggressiver Tendenzen oft in einen vollendeten Suizid über. Allgemein ist die Suizidgefährdung bei geschiedenen Personen am höchsten. Verheiratete weisen niedrige Suizidraten auf, gefolgt von Ledigen und Verwitweten
(vgl Maris 1981).
- Personen in finanziellen und sozialen Notlagen: Besonders Obdachlosigkeit, plötzlich auftretender finanzieller Notstand, Arbeitsplatzverlust sowie langanhaltende Arbeitslosigkeit können suizidale Krisen auslösen. Brinkmann konnte 1978 durch Repräsentativbefragung Gruppen herausarbeiten, die sich aufgrund von Arbeitslosigkeit besonders belastet fühlten: Alleinstehende Arbeitslose, männliche Arbeitslose, langfristig Arbeitslose, Arbeitslose, die zwischenzeitlich für kurze Zeit Arbeit gefunden hatten, diese aber erneut verloren, sowie Arbeitslose ohne Berufsausbildung (vgl. Brinkmann 1978, S. 75 ff.). Eine weitere Gruppe, die nach dem Arbeitsplatzverlust hoch vulnerabel ist, sind Arbeitnehmer mit psychischen Erkrankungen. Sie sind durch den Verlust von Tagesstrukturierung, Erfolgserleben, Selbstbestätigung und sozialer Einbettung einem höheren Suizidrisiko ausgesetzt (vgl. Häfner 1998). Insgesamt ist zu sagen, dass zwischen Arbeitsverlust und Partnerverlust Parallelen bestehen.
In beiden Fällen gibt es nach dem Verlust eine Trauerreaktion, die im Falle der Arbeitslosigkeit oft noch von der Diskriminierung durch die Umwelt begleitet ist. Der Betroffene verspürt Gefühle der Demütigung, der Hilflosigkeit, der Verbitterung und Auflehnung, die im Zusammenhang mit suizidaler Einengung stehen (vgl. Ringel 1981/ Wacker 1976).
- Junge Menschen: Ihr Prozentsatz an der Suizidrate steigt in aller Welt an. Verantwortlich dafür dürften zunehmend zerrüttete Familienstrukturen sein, die eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung problematischer werden lassen.[17] Dazu kommt noch der gestiegene Anteil der Medien in allen Lebensbereichen. Medien können in ihrer Rolle als „Miterzieher“ negative Entwicklungen beeinflussen , wenn vorrangig destruktive, lebensverneinende, keinerlei Realitätsbezug mehr aufweisende, Rollenbilder und Erwartungen vermittelt werden.[18] Dann kann ein für die Suizidproblematik gefahrvoller Kreislauf in Gang kommen: Escapistisches Verhalten wird gefördert, folglich wird Schwierigkeiten in der realen Welt aus dem Weg gegangen, Problemlösungskapazitäten verkümmern zunehmend, und schließlich werden die Möglichkeiten konstruktiver Lebensgestaltung nur noch eingeengt wahrgenommen (vgl. Ringel/ Földy 1991).
- Personen, in deren Familie Suizide erfolgt sind: Suizid kann ein höchst suggestives Phänomen sein. In Familienkonstellationen, in denen bereits Suizide verübt wurden, ist ein Suizidvorbild vorhanden, welches die Gefahr eines Erlernens suizidaler Verhaltensweisen am unmittelbaren Modell erhöht.[19] Außerdem führt die Schuldproblematik im Zusammenhang mit dem Tode eines Angehörigen häufig zu Selbstbestrafungstendenzen, die zu suizidalen Handlungen drängen (vgl. Ringel 1984).
- Personen in krisenanfälligen biologischen Lebensstadien: Ausprägungen in der Altersverteilung der Suizidstatistiken zeigen, dass in biologischen Krisenzeiten (Pubertät, Wechseljahre)eine höhere Anfälligkeit für Suizidhandlungen besteht (vgl. Holderegger 1979, S. 69).
- Personen nach Autounfällen: Oft kommt es nach Unfällen zu suizidalen Handlungen., selbst wenn diese ohne eigenes Verschulden zustande kamen, und nur minimaler Schaden vorliegt: Offensichtlich ist das Auto in unserer Leistungsgesellschaft als Statussymbol einer der Hauptträger des Selbstwertgefühls geworden, und wird soweit ins eigene Körperschema miteinbezogen, dass seine Beschädigung in manchen Fällen nicht kompensiert werden kann, was einen Zusammenbruch der Persönlichkeit nach sich zieht (vgl. Ringel 1984).

2.5.4 Resümee epidemiologischer Erkenntnisse

Bei einer Durchsicht der neueren Literatur lässt sich feststellen, dass die epidemiologische Forschung in den letzten Jahren wenig neue Erkenntnisse formulieren konnte. Immer noch gilt eine psychische Erkrankung als das höchste Suizidrisiko. Bei der Risikogruppe der psychischen Erkrankungen ist zu beachten, ob die Prozentsätze der Erkrankungen retrospektiv an Stichproben von Suizidenten ermittelt wurden, oder ob aufgrund von Längsschnittstudien für bestimmte Krankheitsgruppen Suizidrisiken angegeben werden. Bei parasuizidalen Handlungen zeigten Untersuchungen einen erhöhten Prozentsatz an Neurosen und Persönlichkeitsstörungen, beim vollendeten Suizid an Psychosen, vorrangig affektiven Störungen und Schizophrenie
(vgl. Schmidtke/ Weinacker/ Löhr 2000).

Im Zusammenhang mit dem Geschlecht, werden bei Männern häufiger Schizophrenie, paranoide Reaktionen und Suchterkrankungen diagnostiziert, bei Frauen mehr affektive Psychosen (vgl. Roy 1982). Bei Suiziden überwiegt immer noch die Anzahl der Männer, bei Suizidversuchen die der Frauen. Allerdings nähert sich die Suizidrate der Frauen seit 1950 im europäischen Vergleich zunehmend der der Männer an (vgl. Diekstra 1992). Erklären lässt sich diese Entwicklung durch die gesellschaftlichen Umbrüche, die in vielen weiblichen Lebensbereichen stattgefunden haben. So wurde eine Beziehung zwischen der steigenden Erwerbsquote und der höheren Suizidrate bei Frauen konstatiert (vgl. Lindner-Braun 1990, S. 384).

Im Hinblick auf die soziale Schicht muss gesagt werden, dass sich hier die Bestimmung schwierig gestaltet. So kann man vom Bildungsstand, vom Einkommensstand oder vom Berufsstand ausgehen. Meist wird bei statistischen Untersuchungen auf ein Schema zurückgegriffen, welches eine Einteilung in Oberschicht, Mittelschicht und Unterschicht vorsieht (vgl. Hollingshead/ Redlich 1958).

Die Zuordnung richtet sich dabei nach dem Prestige verschiedener Berufe, welches, unabhängig von kulturellen Unterschieden in der ganzen Welt, interessanterweise weitgehend übereinstimmt, und dem Ausbildungsstand bei nicht berufstätigen Personen. Eindeutige Ergebnisse für das höhere Suizidrisiko einer sozialen Schicht, konnten nur im Bereich der Suizidversuche für die Unterschicht erhoben werden, bei Suiziden gab es keine erkennbaren Gradienten
(vgl. Kreitmann 1986).

Aufgrund der hoch geschätzten Dunkelziffern, manche Forscher sprechen von 400 %!, steht man der Suizidstatistik bis heute misstrauisch gegenüber (vgl. Welz/ Pohlmeier 1981). Da sich ein Großteil früherer Untersuchungen auf Inanspruchnahmepopulationen bezog, wurden häufig Fehlschlüsse gezogen, so geschehen bei der Schätzung des Anteiles von Suizidenten unter Personen mit Depressionen.[20]
Insbesonders bei der Datenerhebung sind wesentliche Versäumnisse aufzuholen. So gibt es in den meisten europäischen Ländern, mit Ausnahme von Italien, keine offizielle Erfassung des Arbeitsverhältnisses, der Nationalität, sowie der Familiensituation der Suizidenten.
Wie schwierig es ist, die Suizidrate repräsentativ zu erheben, wird am Problem eigenverschuldeter Verkehrsunfälle deutlich.

Auch andere selbstzerstörerische Verhaltensformen, bei denen die Grenze zwischen Suizid und anderen Todesursachen fließend ist, wie Drogensucht oder Alkoholmissbrauch erschweren statistische Erhebungen. Gerade bei den Altersgruppen der Jugendlichen und Adoleszenten dürften sich vermehrt Suizide unter den Drogentoten finden
(vgl. Schmidkte/ Weinacker/ Löhr 2000).
Trotz der erwähnten Unschärfen ist die epidemiologische Forschung bis jetzt immer noch die geeignetste Methode, um Aussagen über die Verteilung von Suizidfällen zu machen, und den Erfolg oder Misserfolg von Präventionsmaßnahmen einzuschätzen.

2.6 Klinisch - psychiatrische Erklärungsmodelle

Erklärungsmodelle dieser Art beruhen auf dem klinisch - psychiatrischen Umgang mit Suizidenten. Vorteil von klinischen Studien ist der direkte Kontakt mit suizidgefährdeten Menschen, durch den Daten für eine diagnostische Klassifikation besser erhoben werden können. Bei vollendeten Suiziden wird in der klinischen Suizidforschung mittlerweile die Methode der psychologische Autopsie, ein nachträgliches durch Ermittlung von Lebensumständen, Angehörigenbefragung, Fremdanamnesen, Aufzeichnungen des Suizidenten u.ä.m., erstelltes Profil des Suizidenten, angewandt, um Informationen zur Lebenssituation eines Suizidopfers vor dem Suizid zu bekommen (vgl. Shneidman 1981).

Der Nachteil psychiatrischer Klassifikations- und Diagnostikprozesse ist, dass diese bei Fehlen eines einheitlichen ätiologischen Konzepts, wie im Falle suizidalen Verhaltens, allein auf dem Prinzip der Definition einer phänomenologisch deskriptiv dargestellten psychischen Störung beruhen (vgl. Ahrens 2000, S. 174). Hinzu kommt die Erhebung klinischer Daten an ausgewählten Populationen, sodass klinisch - psychiatrische Forschungsergebnisse keineswegs ein repräsentatives Gesamtbild der Suizidproblematik liefern. Einige der nun folgenden Krankheitsmodelle wurden bereits als Risikofaktoren für suizidale Handlungen erwähnt.

2.6.1 Depression und Suizid

Depressive Krankheitsbilder sind gekennzeichnet durch eine mindestens zwei Wochen anhaltende depressive Verstimmung oder Freudlosigkeit, sowie eine Anzahl von Symptomen, die diese Stimmung begleiten (z.B. Appetitmangel, Gewichtsverlust, Schlaflosigkeit oder erhöhtes Schlafbedürfnis) (vgl. Bronisch 1996, S. 37 ff.). Damit einhergehen können Gedanken an den Tod, Suizidideen und Suizidversuche. In psychiatrischen Klassifikationssystemen stehen seit jeher Depression und Suizidalität in enger Verbindung. Dabei wird Suizidalität nicht als eigenständiger psychischer Sachverhalt angesehen, sondern als Symptom einer depressiven Störung (vgl. Ahrens 2000, S. 173). Ergebnisse von Langzeituntersuchungen weisen darauf hin, dass 15 % aller depressiven Patienten an Suizid versterben (vgl. Miles 1977). Psychologische Autopsiestudien haben retrospektiv ergeben, dass 40 bis 50 % der Suizidenten unter ausgeprägten depressiven Verstimmungen litten (vgl. Bronisch 1996, S. 39).

In der klinischen Forschung mehrt sich aber in letzter Zeit die Kritik an diesen Zahlen, wenn ein Großteil der Depressiven niemals von Suizidideen oder gar Suizidversuchen während und außerhalb ihrer depressiven Phasen berichtet (vgl. Bronisch/ Wittchen 1994).[21] Auch andere empirische Untersuchungen, sowohl psychologischer als auch biologischer Art konnten keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Suizid und Depression belegen (vgl. Bronisch 1992/ Van Praag 1986). Für suizidales Verhalten kann Depression somit keinesfalls als Hauptursache betrachtet werden, sondern als einer von vielen möglichen Faktoren.

2.6.2 Vererbung und Suizid

Untersuchungen an Zwillingspaaren haben die Hypothese widerlegt, Suizid sei ein erbliches Phänomen (vgl. Holderegger 1979/ Kallmann 1949). Für häufiges Vorkommen von Suizidhandlungen in einer Familie dürften weniger biologischer Erbfolgen oder geschädigtes Erbgut, als vielmehr der Aspekt des erlernten Suizidverhaltens ausschlaggebend sein.[22]

2.6.3 Suchterkrankungen und Suizid

Klinisch werden drei Formen der Suchterkrankung unterschieden: Alkoholabhängigkeit, Medikamentenabhängigkeit und Drogenabhängigkeit. Bei Drogenabhängigkeit liegt das Erkrankungsalter der Konsumenten im Schnitt niedriger als bei Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit, nämlich in der Zeit der Pubertät. Alkohol und Medikamentsucht dagegen manifestiert sich zwischen dem 20. und 30. bzw. 30. und 40. Lebensjahr
(vgl. Bronisch 1996, S. 35). Bei Drogenabhängigen ist es oft schwierig, Suizide nachzuweisen, da zwischen absichtlicher und unabsichtlicher Überdosierung häufig nicht unterschieden werden kann. Gesichert ist, dass Suizidalität bei Suchterkrankungen häufig in engem Zusammenhang mit auftretenden depressiven Verstimmungen, einhergehend mit Wut, Aggression und Hyperaktiviät während des Entzuges steht. Somit ist die Gefahr unvorhergesehener autoaggressiver Ausbrüche, und damit einer Suizidhandlung, gegeben (vgl. Mayfield/ Montgomery 1979).

2.6.4 Suizidale Entwicklung nach Pöldinger

Walter Pöldinger (1968) hat im Verlauf seiner psychiatrisch klinischen Tätigkeit Entwicklungsstufen suizidaler Entwicklung formuliert, die eine Abschätzung der Suizidalität zulassen. Pöldingers Modell gliedert den Ablauf der suizidalen Entwicklung in drei aufeinanderfolgende Stadien:

- Erwägung: In dieser Phase wird die Möglichkeit einer Suizidhandlung als „Problemlöser“ erwogen. Mediale Einflüsse können hier eine entscheidende Rolle spielen. So können mediale Darstellungen suizidaler Handlungen den Entschluss verstärken, Suizid als Ausweg aus einer unlösbar empfundenen Situation in Betracht zu ziehen. Gleichermaßen üben Medienberichte Suggestionskraft hinsichtlich der Suizidmethode aus, wenn über diese ausführlich berichtet wird.

Sind die sozialen Kommunikationschancen des potentiellen Suizidenten zusätzlich eingeschränkt, können durch den fehlenden Austausch mit anderen keine konstruktiven Lösungsvorschläge abseits des medialen Kommunikationsangebots generiert werden. Die Medien sind dann häufig das „Fenster zur Welt“, eine Stellung, die eine Einflussnahme auf den Betroffenen beträchtlich erhöht.

- Nach der Erwägung folgt die Abwägung der Suizidhandlung. Im Suizidenten geht ein schrecklicher Kampf zwischen selbsterhaltenden und selbstzerstörenden Impulsen vor sich. Das Hin- und Hergerissensein zwischen Leben- und Sterbenwollen, führt zu direkten Appellen in Form von Suizidankündigungen. Dieser Cry for Help darf auf keinen Fall ignoriert werden, da er Präventionsbemühungen einen Ansatzpunkt bietet
(vgl. Shneidman/ Farberow 1961).

- Bleiben alle Hilferufe ungehört, wird in Phase drei der Entschluss zur Suizidhandlung gefasst. Exakte Durchführungspläne, hinsichtlich Methode und Ort, werden getroffen. Direkte Suizidankündigungen werden seltener. Insgesamt ist bei den Suizidenten eine Ruhe vor dem Sturm, ein Zustand unheimlicher Stille auffällig, der aus der Entscheidung für den Suizid resultiert. Auch in dieser Phase ist das Suizidgeschehen durch Inanspruchnahme professioneller Hilfe verhinderbar. Gerade bei ängstlich - depressiven Charakteren kann die plötzliche Stille und Gefasstheit von der Umgebung bemerkt werden. Leider wird aus der Beruhigung häufig der falsche Schluss gezogen, dass die Krise überstanden sei. Werden Suizidabsichten vermutet, so gilt es, die betreffende Person klar auf diese anzusprechen, und wenn nötig die Konsultation einer Kriseninterventionseinrichtung nahezulegen.

Der Verlauf der obigen drei Stadien ist abhängig von der psychischen Verfassung der Betroffenen. Besonders Menschen mit neurotischen Störungen befinden sich oft längerfristig in der ambivalenten Phase der Abwägung. Es gibt häufige Suizidankündigungen, da der Widerstreit zwischen Selbsterhaltung und Selbstzerstörung andauert. Dieser Umstand bietet gute Chancen der Suizidverhinderung.

Auch bei depressiven Charakteren ist die suizidale Entwicklung durch ein langes zweites Stadium der Abwägung gekennzeichnet, in dem Mutlosigkeit und Einengung oftmalig mehr und mehr überhandnehmen. Verzweifelt wird ein Ausweg gesucht, der leider viel zu häufig in der Suizidhandlung gefunden wird.

Jugendliche, Menschen mit psychopathologischen Krankheitsbildern, sowie Drogen und Alkoholabhängige neigen zu Kurzschlusshandlungen , bei denen alle drei Stadien ungleich schneller durchlaufen werden. Der rasante Ablauf erschwert die Möglichkeiten einer Suizidprophylaxe erheblich (vgl. Hadinger 1994, S. 28).

2.6.5 Das präsuizidale Syndrom

Als Erwin Ringel 1949 eine Untersuchung an 745 geretteten Selbstmördern durchführt, entdeckt er bei allen Personen eine dem Suizidversuch vorgelagerte ähnliche seelische Befindlichkeit. Ringel (1953) klassifiziert diesen Zustand als präsuizidales Syndrom. An der Entstehung des präsuizidalen Syndroms sind innere und äußere Faktoren beteiligt. Als innere Faktoren bezeichnet Ringel biologische und psychische Dispositionen des Individuums, wie beispielsweise die erbliche Veranlagungen zu depressiven Krankheitsbildern, oder die erfolgten Prägungen. Unter äußeren Faktoren hingegen werden jene verstanden , die an der Sozialisation des Individuums maßgeblich beteiligt sind, wie z.B. Gesellschaft und Umwelt.

Das präsuizidale Syndrom ist gekennzeichnet durch

1) Einengung
2) Aggressionshemmung/ -umkehr
3) Suizidphantasien

Ad 1) Einengung

Ein wesentlicher Faktor des präsuizidalen Syndroms, den Ringel bei allen untersuchten Personen fand, waren verschiedene Einengungsformen:

- Die situative Einengung bezeichnet die Einengung der persönlichen Möglichkeiten durch mehrere ineinander greifende belastende Umstände. Die eigene Person wird als handlungsunfähig gegenüber der, als unüberwindbar empfundenen äußeren Bedrohung erlebt. Dabei beruht die Bedrohung häufig auf einer falschen Situationsbeurteilung der betroffenen Person – d.h. es werden Bedrohungen wahrgenommen, die in Wahrheit oft nicht bestehen oder weniger gravierend sind, als angenommen, die Betroffenen aber sind in der festen Vorstellung gefangen, dass die Situation bedrohliche Ausmaße aufweist. Angesichts der Empfindungen von Ohnmacht und Unfähigkeit die Situation zu beeinflussen, geht jegliches Selbstwertgefühl verloren und der Eindruck nimmt zu, sich in einer Sackgasse zu befinden.

Die situative Einengung allein löst noch kein suizidales Verhalten aus, erst in Wechselwirkung mit den anderen Bausteinen des präsuizidalen Syndroms kann suizidales Handeln erfolgen.

- Die dynamische Einengung resultiert in vielen Fällen aus der situativen und steht in direktem Zusammenhang mit dem Affektverhalten und der Apperzeption von Erlebnis-, Wahrnehmungs- und Denkinhalten.

Innerhalb der dynamischen Einengung werden keine positiven Aspekte des Lebensgeschehens mehr wahrgenommen. Alles wird durch die „schwarze Brille“ gefiltert, konstruktive Lebensgestaltung wird in dieser Phase nicht mehr angestrebt. Die Folge ist ängstlich - depressives resignatives Verhalten, wodurch die Umstände in immer stärkerem Ausmaß als ausweglos angesehen werden.

Eine übermäßige Beschäftigung mit dem eigenen Denken und Fühlen führt zu einer eingeengten Außenwahrnehmung. Jeder Gedanke wird auf die eigene Person gerichtet.

In dieser Verfassung ziehen sich viele Kinder und Jugendliche zurück und beschäftigen sich mit medialen Inhalten, die am ehesten ihrer gedrückten Stimmung entsprechen und diese noch verstärken. Eine plötzlich auftretende Beschäftigung mit Tod oder Suizid in Kombination mit Niedergeschlagenheit kann ein Warnsignal sein.

Wird die fortschreitende dynamische Einengung nicht aufgefangen, sind rationale Überlegungen für und wider Suizid nicht mehr möglich. Die Kontrolle über Gefühle und Einstellungen geht mehr und mehr verloren. Die einseitige negative Sichtweise setzt eine Dynamik in Gang, in der der Suizidgedanke eine Anziehungskraft ausübt, die dazu führt, jeglichen Selbsterhaltungstrieb zu negieren.

- Einengung der Wertwelt: Die genannten Dimensionen führen zu einem gestörten Wertbezug. Personen im präsuizidalen Syndrom fühlen sich wert- und nutzlos. An vielen Menschen nagen in solchen Situationen quälende Selbstzweifel: Wer mag mich?, Was bin ich wert?, Kann ich überhaupt irgendetwas?“

Lebensbereiche, die früher als wertvoll empfunden wurden, sind entwertet. Personen im präsuizidalen Syndrom haben zwar Beziehungen zu umgebenden Menschen, empfinden diese aber als leer und bedeutungslos. Das ist mit ein Grund, warum Gefühle der völligen Einsamkeit auftauchen, die im Rahmen intendierter Suizidhandlungen Triggerfunktion haben.

Geht der Glaube an sich selbst mehr und mehr verloren , werden Ziele, die es zu verwirklichen gäbe, nicht mehr angestrebt. Sich selbst zu verwirklichen ist aber für die Erhaltung des Selbstwertgefühls eine Notwendigkeit. Ein gefährlicher Kreislauf beginnt; denn ohne Wertverwirklichung gibt es keine Selbstverwirklichung, das Selbstwertgefühl wird durch die mangelnde Wertverwirklichung mehr und mehr untergraben. Geschädigtes Selbstwertgefühl führt wiederum oft zu subjektiven Wertvorstellungen, die in keiner Relation mehr mit der Allgemeinheit stehen. An diesem Punkt gerät man leicht in die Rolle des Außenseiters. Bei vielen Menschen potenziert die gesellschaftliche Ablehnung die Empfindung „nichts wert zu sein“, und treibt sie noch tiefer in die soziale Isolation. Zwischenmenschliche Kontakte werden abgeschnitten, ein Umstand, der für die Suizidproblematik von großer Tragweite ist.

Ad 2) Aggressionshemmung/ -umkehr

Suizid ist eine enorm aggressive Handlung. Wie schon bei Freuds (1917) Suizidtheorie ist für Ringel die nach außen blockierte Aggressionsentladung ein wesentlicher Bestandteil des präsuizidalen Syndroms.[23] Äußert sich gehemmte Aggression in einer Suizidhandlung, muss eine Vorentwicklung über einen längeren Zeitraum stattgefunden haben.

In dieser Zeitspanne muss einerseits die Aggressionsentladung nach außen blockiert sein, andererseits ein großes Aggressionspotential angewachsen sein. Für die Betroffenen heißt dies, dass Aggressionen nicht ausgelebt, sondern solange unterdrückt werden, bis eine Aggressionsumkehr gegen die eigene Person in Form einer suizidalen Handlung erfolgt.

Für die Wendung der Aggression gegen die eigene Person gibt es mehrere Motive:

- Der Auslöser einer Aggression erscheint übermächtig. Ein Kampf gegen ihn wäre aussichtslos.
- Die Aggression kann nicht geäußert werden, weil Liebe und Achtung, empfunden für die verletzende Person, blockierend wirkt.
- Aus Angst, die Kontrolle über die eigene Aggression zu verlieren, wird sie unterdrückt.

Ein weiterer Aspekt bedarf der Erwähnung in Verbindung mit dem Faktor Aggression. Das Leben innerhalb der zivilisierten Welt erschwert die Aggressionsentladung. Den Menschen, dessen Aggressionspotentiale gezähmt sind, gibt es erst seit Beginn des Mittelalters

(vgl. Elias 2000). In der Frühzeit war das Überleben innerhalb einer feindlichen Umwelt vom Aggressionspotential abhängig. Diese Kampf- und Fluchtinstinkte wurden aber durch die zunehmende Zivilisierung und die fortschrittlicheren Bemühungen, die Natur zu beherrschen, immer weniger gebraucht. Trotzdem dürften diese Verhaltensformen weniger vergessen, als vielmehr auf andere Ebenen verlagert worden sein. Durch sublimierte Gewaltpotentiale ließe sich auch die anhaltende Faszination der RezipientInnen an Gewaltdarstellungen in Computerspielen, Kino und Fernsehen erklären (vgl. Rathmeyr 1996).

Ad 3) Suizidphantasien

Suizidphantasien sind ein weiteres Merkmal des präsuizidalen Syndroms. Der Gedanke an Suizid ist wohl jedem schon einmal durch den Kopf gegangen. Das Wissen um einen letzten Ausweg, der immer offen steht, kann in schwierigen Situationen entlastend sein. Bedrohlich werden Suizidgedanken dann, wenn sie Eigendynamik entwickeln, und sich in Form von Zwangsgedanken, als Fluchtweg aus einer bitter empfundenen Wirklichkeit, aufdrängen. Die Betroffenen geraten immer tiefer in eine Scheinwelt, die ihnen die Rückkehr in die Realität erschwert.

Die Orientierung des Lebensgeschehens erfolgt nicht mehr an realen Vorgängen, der Wirklichkeitscharakter phantasierter Inhalte hebt kontinuierlich an, die Abhängigkeit von der Phantasie nimmt mehr und mehr zu. Anstrengungen, die problematische Situation zu verändern, werden nicht mehr unternommen, denn die Phantasiewelt verankert sich im Kopf als bessere, friktionsfreiere Realität. Die Sicht auf reale Veränderungschancen wird zunehmend versperrt, und irgendwann sehen die Betroffenen keinen andere Ausweg aus ihrer Situation mehr, als den Suizid.

Suizidphantasien entwickeln sich stufenweise. Anfangs steht die Vorstellung, tot zu sein, im Vordergrund. Der Sterbeakt wird hierbei verneint. Man erlebt sich in der Phantasie auch nach dem Tode als körperlich lebendig. Solche Phantasien stehen in direkter Verbindung mit der verhinderten Abladung der Aggression nach außen. Die Person lebt in der Phantasie seine aufgestauten Aggressionen und Rachegelüste aus.

Die Suizidphantasie kreist dabei oft um die Reaktion der nahestehenden Personen, die man mit dem Suizid „aufzurütteln“ glaubt („Die werden schon sehen, wie weit sie mich getrieben haben, und um mich weinen.“).

Im nächsten Entwicklungsschritt wird bereits konkret erwogen, Suizid zu begehen. Genau umrissene Durchführungspläne des Suizids, Ort und Methodik betreffend, gibt es noch keine. Auch in dieser Phase wollen die meisten Menschen nicht sterben , sondern nur der unerträglichen Situation, in der sie leben, entgehen.

Ganz anders in der dritten Phase: Hier kreisen die Phantasien bereits um exakte Durchführungsmethoden – der Suizid wird bis ins letzte Detail geplant. Der Schritt zur realen Handlung ist dann nicht mehr weit.

Die beschriebenen einzelnen Bestandteile des präsuizidalen Syndroms wirken verstärkend aufeinander ein. Soziale Isolation hemmt die Aggressionsentladung nach außen, Einengungen der Wertwelt fördern depressive Problematiken, Depression führen zu Suizidphantasien, Suizidgedanken rufen ihrerseits Angstzustände hervor. Die von Ringel beschriebene Vorgeschichte suizidaler Krisen betont den Fluchtcharakter suizidaler Handlungen, und hat sich für den Umgang mit Suizidgefährdeten und die Suizidprophylaxe als äußerst tauglich erwiesen.

Suizidauslöser – oft unverständig mit den Worten: „Wie kann man sich wegen so einer Kleinigkeit umbringen“ abgetan – werden durch Ringels präsuizidales Syndrom in einen größeren Bezugsrahmen gesetzt. Bei Ringels Beschreibung des präsuizidalen Status darf aber nicht außer acht gelassen werden, dass eine große Anzahl von Suizidhandlungen Impulshandlungen sind. Der Suizident reagiert aus dem Impuls heraus, einen intensiven seelischen Schmerz zum Verstummen zu bringen.
„Das präsuizidale Syndrom suggeriert aber in jedem Falle eine gewisse Abwägung, Entscheidung, Reflexion des Suizidenten“ (Bronisch 1996, S. 36), die im Falle einer Momenthandlung nicht gegeben ist Auch bei schon längerfristig erwogenen Suizidplänen weist, wie sich in der Praxis gezeigt hat, die Suizidhandlung erheblichen Impulscharakter auf.

2.6.6 Ärger und Hoffnungslosigkeit als Erklärungskonstrukte der Suizidalität

Wie an der Beschreibung klinischer Modelle suizidalen Verhaltens erkennbar wird, beruhten diese bisher vorwiegend auf Aggressions- und Depressionskonstrukten. Neuere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass die Häufigkeit der Suizide bei affektiven Störungen deutlich nach unten korrigiert werden muss (vgl. Blair-West 1997).Dadurch verliert ein Erklärungsmodell, in dem Depression in enger Verbindung mit suizidalem Verhalten steht, an Aussagekraft. Aus klinischer Perspektive sind Definitionsversuche suizidaler Verhaltensweisen durch die Konstrukte Depressivität und Aggressivität nicht mehr ausreichend. Ahrens stellt daher die Frage, welche umfassenderen Konstrukte abseits von Depression und Aggressivität sich für die Definition suizidaler Krisen anbieten (vgl. Ahrens 2000, S. 173 ff.).

Für den Bereich der Depressivität lässt sich das Konstrukt der Hoffnungslosigkeit heranziehen, dass im Kontext suizidalen Verhaltens bereits von Beck (1975, 1985, 1988) explorativ beschrieben wurde.[24] Hoffnungslosigkeit ist deswegen ein wichtiges psychologisches Konstrukt zum Verständnis von suizidalem Verhalten, da es sowohl ein Charakteristikum der Depression ist, aber auch unabhängig von Depressivität und suizidalem Verhalten assoziiert auftritt. Ein allgemeingültigeres Konzept für den Bereich der Aggression zu finden ist komplizierter, dennoch bietet sich das Konstrukt der negativen Emotion des Ärgers an.

Untersuchungen haben gezeigt, dass Ärger eine Reaktion auf Stresssituationen und die Behinderung eigener Zielvorstellungen ist (vgl. Averill 1980/ Weber 1994). Ärger setzt sich aus den Komponenten der Gereiztheit, Unruhe, Unzufriedenheit, Angespanntheit, Dyseuphorie und des aggressives Verhaltens zusammen, denselben Affektqualitäten, die für suizidale Krisen phänomenologisch charakteristisch sind. Ärger eignet sich daher als umfassenderes Konstrukt für die Definition der Affektqualitäten suizidaler Krisen.

Ärger ist eine Primäremotion des psychischen Apparats, deren Auftreten eng an Veränderungen, Verletzungen, Angst und Frustration geknüpft ist. Wo Aggression nur eine der Reaktionsmöglichkeiten auf eine unangenehme Sachlage darstellt, ist Ärger ein Zustand erhöhter körperlicher und kognitiver Alarmbereitschaft, der in die Lage versetzt, durch konstruktives Handeln eine Situation zu meistern. Die Form, in der Ärger ausgedrückt wird, ist dabei abhängig von Kultur und Lernfaktoren. Bandura (1973) und Berkowitz (1993) haben die lang verbreitete Annahme widerlegt, dass Ärger und Aggression unkontrollierbare Triebe sind, vielmehr ist Ärger eine Bereitschaftsreaktion, die die Möglichkeiten der Bewältigung von Herausforderung verstärkt. Pathologischen Charakter nimmt Ärger an, wenn er in chronischer Internalisierung zu Feindseligkeit anwächst, und die Konsequenz daraus soziale Einschränkung ist.

Seit Darwin (1872) Ärger als schwächer ausgeprägte Aggression definierte, wurden Ärger und Aggression weitgehend gleichgesetzt. In der neueren Forschung wird qualitativ zwischen Ärger und Aggression unterschieden, und Aggression als eine Ausdrucksform des Ärgers, neben vielen anderen, definiert (vgl. Tarvis 1989). Aggression ist demnach ein gerichtetes, spezifisches Verhalten, Ärger hingegen eine Emotion.

Selg (1992) ist der Ansicht, dass Ärger die zur Aggression zugehörige Emotion ist. Von Aggression will auch Selg erst dort sprechen, wo gerichtete Verhaltenweisen erkennbar sind. Zielbewusstes Handeln steht daher in Verbindung mit Aggression, Impulsivität gehört zum Ausdruckverhalten des Ärgers. Die suizidale Krise, für die im speziellen Faktoren, wie Impulsivität und Kontrollverlust relevant sind, dürfte demnach näher an Emotion Ärger stehen. Gerade die Definition der suizidspezifischen Aggressivität als unterdrückte, gehemmte Aggression kann deskriptiv als Reizbarkeit, Dyseuphorie oder chronischer Ärger bezeichnet werden (vgl. Ringel 1953).

Damit ist das Argument aufgeworfen, ob die bisherigen, suizidales Verhalten erklärenden Theorien der Aggressivität im Zusammenhang mit suizidalem Verhalten nicht eigentlich Theorien des Ärgers sind.

Ärger wird nicht allein durch äußere Faktoren ausgelöst. Innenfaktoren sind ebenfalls maßgeblich an Ärgeranlässen beteiligt. Bandura (1973) hat gezeigt, dass erfolgte Provokationen und Frustrationen in Gedanken immer wieder reaktiviert werden können.

Das wiederholte Nachgrübeln über den Ärgeranlass ist ein Charakteristikum von Menschen, die an einer Ärgerstörung leiden. Bei Auftreten von Ärger in hoffnungslos attributierten Situationen suchen sie die Schuld für die Frustration, die sich meist aus verhinderten Zielvorstellung ergibt, nicht bei anderen, sondern vorwiegend bei sich selbst. So kann der Ärger nicht durch die Abladung nach außen reduziert werden. Aufstauung der Ärgeremotion führt zur kognitiven Einengung, kognitive Einengung versperrt die Sicht auf konstruktive Lösungswege. An diesem Punkt setzt die Suiziddynamik ein.[25]

Scherer (1985) hat im Kontext der Ärgerstörung die Begriffe „Ärgerstress“ und „Ärgerstabilisierung“ geprägt. Da Ärger als emotionale Reaktion auf Stressbedingungen angesehen wird, wird das Individuum bei großem Stress immer Ärgerstabilisierung anstreben. Schlägt die Herstellung von Homöostase durch Anpassungsregulierung fehl, kommt es zu einer erneuten Bewertung der Ärgersituation. Eine Chronifizierung des Ärgerstresses ist dann zu erwarten, wenn die Ärgerbewältigung mehrmals nicht gelingt.

Im Zustand der Depression ist die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Ärger groß. In Übereinstimmung mit Freud (1917) weist Averill (1982) für die Entstehung von Depressionen auf den Verlust wichtiger Bezugspersonen hin.[26] Wünsche und Erwartungen an den anderen können keine Erfüllung mehr erfahren. Der Beziehungsverlust geht mit Frustration, Depression und Ärger einher. Depressive Menschen sind überdies durch den Verlust adaptiver Verhaltensweisen gekennzeichnet. Sie gehen Herausforderungen aus dem Weg, legen ein ausgeprägtes Flucht- und Vermeidungsverhalten an den Tag. Ärger wird kaum in der Interaktion mit anderen geäußert, wodurch Reaktionen oder positive Verstärkung ausbleibt. Der Entwicklung von Hoffnungslosigkeit wird durch soziales Abgeschnittensein Vorschub geleistet.

Hoffnungslosigkeit stellt für Suizidalität das kognitive Gegenstück zum affektiven Element des Ärgers dar. Das Befinden der Hoffnungslosigkeit ist gekennzeichnet durch stark reduzierte Kompetenz- und Kontingenzerwartungen. Vormals bestehende Zielsetzungen werden aufgegeben, gleichzeitig werden keine neuen ersetzenden Zielsetzungen herausgebildet. Hoffnungslosigkeit entsteht genauso wie Ärger dann, wenn einer Person die Überwindung einer Ist - Soll Differenz nicht gelingt, und sich keine neue stabilen Zielvorstellungen entwickeln.

Kann eine Person notwendige stabile Zielsetzungen nicht herausbilden, kommt es zu einer instabilen, vulnerablen Person - Umwelt - Beziehung, die suizidales Verhalten heraufbeschwören kann.

Eine bestehende Ist - Soll Differenz ist in mehrfacher Hinsicht ein zentrales Merkmal bei der Entwicklung suizidaler Krisen. Das Individuum muss die Erfahrung machen, dass eine stattgefundene Zustandsveränderung zum eigenen Nachteil gereicht. In der internen Attribution wird das Missverhältnis zwischen gegenwärtigem und erwünschtem Zustand der eigenen Person zugeschrieben. Resultierend daraus ergibt sich erhöhte Selbstbeobachtung, die den Zweck verfolgt, den Ist - Zustand mit den enttäuschten Erwartungen zu vergleichen. Der ständige Vergleich zwischen dem Ist und dem Soll ruft negative Affekte hervor. Der Betroffene möchte seinem aversiven emotionalen Zustand durch kognitive Zerstreuung entfliehen.[27]

Der Escapismus vor dem Ist - Zustand geschieht durch eine defokussierte Denkhaltung; so werden z.B. Gedanken an die Zukunft ausgeklammert, oder Entscheidungen vermieden. Es gibt für die suizidale Krise typische Wünsche nach langer Ruhe und tiefem Schlaf. In diesem emotionalen Zustand der Hoffnungslosigkeit, des Ärgers und der Impulsivität mit Fokussierung auf gedankliche Bewegungen mit kurzer Zeitperspektive steigt die Gefahr suizidalen Verhaltens, welches ja oft eine Impulshandlung ist, durch die Betroffene einen unerträglichen Zustand unterbrechen wollen. Dieses Argument wird unterstrichen durch ein Phänomen, welches häufig in Gesprächen mit Patienten nach Suizidversuchen zum Vorschein kommt. Viele von ihnen gaben an, dass sie nicht mehr wüssten, ob sie sterben wollten oder nicht, die meisten dachten nicht an die Konsequenzen ihrer Handlung, sondern wollten einer quälenden Lage entgehen (vgl. Ahrens 2000, S. 192).

Ahrens Konzeptionalisierung der suizidalen Störung mit den Konstrukten Ärger und Hoffnungslosigkeit aus klinisch- psychiatrischer Sicht bietet sich an, zukünftig die ätiologischen Bedingungen suizidaler Verhaltensweisen zu erhellen, und im Bereich psychiatrischer Behandlungs- und Präventivmethoden des Suizids Weiterentwicklungen zu fördern.[28] In Abbildung 1 ist das, aufgrund der vorliegenden Befunde vorgeschlagene, Konzept zur Entwicklung der suizidalen Störung, unter Einbeziehung der Konstrukte Ärger und Hoffnungslosigkeit, zusammenfassend dargestellt.

Wie aus dem Schaubild nochmals hervorgeht, ist, anders als im Großteil bisheriger psychiatrischer Konstrukte, die Funktion einer psychischen Störungen nicht Bedingung, sondern hat , so wie soziale Stressoren, eine Triggerfunktion.

Entwicklungsmodell der suizidalen Störung

Abb. 1: Quelle Ahrens 2000, S. 191

2.7 Tiefenpsychologische Ansätze

Die Tiefenpsychologie erklärt suizidales Verhalten aus der Psychodynamik des Subjekts. Ihr Ziel ist es, zu klären, welche psychischen Mechanismen und unbewussten Vorgänge den Ausschlag für eine Suizidhandlung geben. Gemeinsame Grundlage aller tiefenpsychologischer Suizidtheorien ist Sigmund Freuds Theorie suizidalem Verhaltens.

2.7.1 Sigmund Freuds Suizidtheorie

Suizidalität ist für Freud (1917) das Resultat eines Aggressionskonfliktes. Im Zentrum seiner Überlegungen stehen die Faktoren Depression und Aggression. Der Auslöser eines Aggressionskonfliktes ist nach Freud der Objektverlust. Mit Objektverlust ist nicht unbedingt der Verlust einer wichtigen Bezugsperson gemeint. Auch der psychische Verlust im Zusammenhang mit Trennungen oder Enttäuschungen ist dazu zu rechnen Besonders im Falle einer Trennung kommt es zu Verletzung oder Ablehnung durch die Bezugsperson.
Im „gesunden“ Verlauf der Trauerphase nach dem Verlust, gelingt die Ablösung vom Objekt. Die Freiheit Gefühle, Gedanken und Energien auf ein neues Objekt zu konzentrieren, ist gegeben.
Der depressive Charakter ist allerdings nicht in der Lage, die Ablösung vom Objekt zu vollziehen. Die Objektbeziehung stützt sein Selbstwertgefühl, deswegen kann er nicht „loslassen“. Die Situation des depressiven Mensch ist einengend ; einerseits ruft das Verlassenwerden Gefühle der Wut und Trauer hervor, andererseits kann er diesen Gefühlen keinen Ausdruck verschaffen. Die Aggression wird nicht externalisiert, da die Angst vor einem endgültigen Objektverlust hemmend wirkt.

Der Melancholiker befindet sich damit in einer ständigen Abwehrhandlung gegen seine Aggressionsimpulse. Aufgrund der Unmöglichkeit der Aggressionsauslebung muss er auf die Phantasieebene ausweichen. Zumindest auf dieser Ebene wird es möglich, sich mit dem eigenen Aggressionspotential zu konfrontieren. Sadistische Phantasien sind oftmals das Resultat der Verinnerlichung des Objektbildes. Durch das immer notwendigere Ausweichen auf die Phantasieebene, wo ein Ausleben von Bestrafungstendenzen möglich ist, kommt es zur Selbstschädigung. Erfolgt in dieser Phase eine Suizidhandlung, so ist nicht die eigene Person gemeint, sondern das verlorene Objekt eigentliches Ziel der Tötungsabsicht. Der Aggressionsimpuls ist zu einem Mordimpuls angewachsen, der von der anderen auf die eigene Person zurückgewendet wird.

Freud schrieb selbstzerstörerische Impulse lange Zeit dem Sexualtrieb zu, bevor er in seinem Spätwerk, ab 1920, die Idee eines, im Gegensatz zum Lebenstrieb (Eros) stehenden, Todestriebes (Thanatos) konzipierte, der mit dem Aggressionstrieb verwandt ist. Genauso wie der Lebenstrieb verlangt der Todestrieb nach Befriedigung, demnach trägt jede Art von selbstzerstörerischem Verhalten diesem Befriedigungswunsch Rechnung.[29]

2.7.2 Selbstdestruktivität als Folge einer Ich - Schwäche

Menninger (1938) greift Freuds Konzeption des Todestriebes auf, und erklärt suizidales Verhalten ebenfalls durch einen, dem, Individuum innewohnenden, selbstdestruktiven Trieb. Menningers Konzeption der Selbstdestruktivität unterscheidet sich aber von der Freuds. Bei Freud ist die selbstdestruktive Aggression nicht angeboren, sondern das Resultat eines Gefühlsstadiums, in dem der Melancholiker die Aggression wegen seiner Verlustangst nicht gegen das Objekt wenden kann.

Menninger hingegen sieht Selbstdestruktivität, von Geburt an, als unbewusste Tendenz in der psychischen Struktur verankert. Regulationsprinzip diese Destruktionstriebes ist das Ich.. Kommt es zu einem Zusammenbruch des Ichs, so kann das selbstdestruktive Potential nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden und bricht hervor. Jeder Suizidhandlung geht daher eine Schwächung des Ichs voraus.

Theorien, die Suizidimpulse durch eine Ich - Schwäche erklären, setzen eine besondere Disposition des suizidalen Menschen voraus (vgl. Levin 1965). Ich - Schwäche ist gekennzeichnet durch unzureichend ausgebildete Apperzeption, besonders in den Bereichen des Urteilens, Wahrnehmens und Handelns, weiters durch mangelnden Realitätssinn und eine niedrige Frustrationsschwelle. Daher werden Aggressionsimpulse nicht auf reife Weise verarbeitet, sondern gegen die eigene Person abreagiert.

Konfliktpsychologische Suizidtheorien wie Menningers, die Freuds Modell der Auseinandersetzung zwischen destruktiven und konstruktiven Tendenzen in vereinfachter Weise weiterführen, müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, die Subjekt - Objekt Beziehung nur unzureichend miteinzubeziehen.

Suizidalität wird vorwiegend aus der Perspektive eines innerpsychischen Konflikts zwischen aggressiven Impulsen und dem Über- Ich angesehen. Die suizidale Handlung stellt, durch Wendung der Aggressionsimpulse gegen die eigene Person, eine Lösung dieses Konfliktes dar. Suizidale Impulse enthalten aber sowohl aggressive als auch libidinöse Bestrebungen, die nicht nur der eigenen, sondern auch den umgebenden Personen gegenüber bestehen können. (vgl. Sonneck 2000, S. 225). Nur durch Einbeziehung des Subjekt - Objekt Verhältnisses, werden die Aspekte Fremdaggression (z.B. in Form von Rache oder Erpressung), Aggressionsentladung, Autoaggression und Appellwirkung im Rahmen suizidaler Krisen ausreichend verständlich.

2.7.3 Objektbeziehungspsychologische Erklärungsmodelle

In der Objektpsychologie werden drei kindliche Entwicklungsschritte differenziert (vgl. Sonneck 2000, S. 225 ff.):

1. Präpsychotisches Funktionsniveau

In dieser Phase lernt das Kind zum ersten Mal zwischen Lust und Unlusterfahrungen zu unterscheiden, und bildet so die Kategorien „Gut und Böse“ aus. Die Trennung zwischen „Selbst“ und „Nichtselbst“ ist noch nicht erfolgt, d.h. gibt es noch keine Unterscheidung zwischen eigener und fremder Person (sog. „undifferenzierte Objekt - und Selbstrepräsentanzen“).[30]

2. Borderline - Funktionsniveau

„Selbst“ und „Nichtselbst“ werden voneinander abgegrenzt. Die Dinge werden in zu einem selbst, oder zur Außenwelt gehörig eingeteilt. Die Umwelt erfährt eine Trennung in eine gute und böse Teilwelt. Die zunehmende Differenzierung zwischen der Selbstrepräsentanz (Was macht mich aus?) und der Objektrepräsentanz (Was ist die Umwelt?) nimmt einen wichtigen Platz in der Ich-Entwicklung des Kindes ein.

3. Integrationsprozess

Die sogenannte „Objektkonstanz“ wird ausgebildet. Das Kind lernt, dass weder es selbst noch seine Bezugspersonen nur gut oder nur böse sind. Damit wird die Trennung der Welt in Gut und Böse aufgehoben , die Integration guter und böser Selbst - und Objektrepräsentanzen erfolgt.

2.7.4 Die narzisstische Krise

Henseler (1974) siedelt seine Theorien der Entstehung von suizidalem Verhalten in den drei objektpsychologischen Entwicklungsschritten an. Henseler operiert dabei auf zwei Grundlagen; der Narzissmustheorie Kohuts (1971) und Freuds Narzissmusdefinition. Freud führt den Begriff „Narzissmus“ im Jahr 1914 in die Psychoanalyse ein und versteht darunter „[...] die libidinöse Ergänzung zum Egoismus des Selbsterhaltungstriebes [...]“ (Freud 1975, S. 41).
Henseler definiert Narzissmus als die affektive Einstellung des Individuums zu sich selbst. Suizidale Menschen leiden unter einer narzisstischen Störung, die sich in einem Schwanken zwischen übersteigerten Selbstwertgefühlen und übermäßigen Minderwertigkeitsgefühlen äußert.

Die folgenden typischen Aspekte der narzisstischen Störung lassen sich zur Erklärung von Widersprüchlichkeiten im Verhalten suizidaler Menschen heranziehen
(vgl. Klosinski 1999, S. 68/ Käsler - Heide 2001, S. 41):

- Narzisstisch gestörte Menschen sind in ihrem Selbstwertgefühl stark verunsichert. Sie leben in ständiger Angst davor, in eine hilflose Situation zu geraten, die sie nicht aus eigener Kraft meistern können.
- Solche Menschen sind aufgrund ihres schwach entwickelten Selbstwertgefühls in höchstem Maße verletzbar. Selbst berechtigte Kritik stellt eine nicht zu verwindende Kränkung dar.
- Um ihr schwaches Selbstwertgefühl zu schützen, verleugnen diese Menschen die Realität. Sie idealisieren die eigene Person ebenso wie unterhaltene Beziehungen, die in der Regel äußerst ambivalent und fragil sind.
- Die Überbewertung der eigenen Fähigkeiten führt zum Fehlen eines realitätsgerechten Umgangs mit Aggression. Das eigene aggressive Potential wird für eine hoch zerstörerische Kraft gehalten, die gezügelt werden muss.
- Beim narzisstischen Charakter ist das Vorkommen von Todesphantasien im Zeichen eines Ruhe und Geborgenheit schenkenden Urzustandes häufig.

2.7.5 Die Entwicklung der narzisstischen Persönlichkeit

Ein entscheidender Faktor für die Entstehung der narzisstischen Persönlichkeit ist die
„Ur-Verunsicherung“ (vgl. Hadinger 1994, S. 60).[31] Diese entsteht, wenn der Urzustand einer völligen Geborgenheit mit der Mutter unterbrochen wird. Das Kind erlebt zum ersten Mal Gefühle der Hilflosigkeit und Einsamkeit. Gelingt es den Eltern nicht, das Kind bei dieser existentiellen Erfahrung durch die Evokation von Geborgenheitsgefühlen zu unterstützen, ist die Ausbildung des Urvertrauens empfindlich gestört (vgl.Erickson 1971).
Ohne ein funktionierendes Urvertrauen kann die für die Entwicklung des Kindes notwendige Erforschung der Umwelt nur angstvoll und misstrauisch erfolgen.
Die Erfahrungen im Umgang mit der Realität können dann so demotivierend sein, dass das Kind die Flucht in Phantasiewelten antritt, in denen eigene Person und Umgebung idealisiert werden.

Für die Deformation des Urvertrauens kann eine frühkindliche Störung verantwortlich sein (vgl. Ammon 1974). Häufig weist einer der beiden Elternteile seinerseits eine narzisstische Problematik auf, sodass dem Kind notwendige Zuneigung vorenthalten wird, vor allem wegen des, dem narzisstischen Charakter eigenen, mangelnden Einfühlungsvermögens. Gelingt es den Eltern nicht, ihre Bedürfnisse von denen des Kindes abzugrenzen, wird die, für ein gesundes Selbstwertgefühl unentbehrliche, Konfrontation des Kindes mit eigenen Bedürfnissen, und damit das Entdecken eigener Fähigkeiten unterbunden. Ein Defizit an frühkindlicher Zuwendung erklärt auch das übersteigerte Bedürfnis suizidaler Menschen nach Akzeptanz, sowie die oft pathologische Angst vor dem Verlassenwerden.

2.7.6 Suizidhandlungen im Rahmen narzisstischer Krisen

Bei suizidalen Menschen wird das geschwächte Selbstwertgefühl oft mit Größenphantasien kompensiert. Bei Pubertierenden und Adoleszenten ist aber sowieso eine erhöhte Neigung zu Größenphantasien gegeben. Kommt es im Rahmen verletzender Enttäuschungen oder Kränkungen, etwa bei Trennungskonflikten, zur Entwertung der eigenen Persönlichkeit auf der einen Seite, zu vermehrt reaktiven Größenphantasien auf der anderen, stellen sich extrem entgegensetzte Zustände des Selbstwertgefühls ein (vgl. Klosinski 2000, S. 69).

Der betroffene junge Mensch schwankt zwischen unerreichbaren Idealen und einer tief empfundenen Wertlosigkeit hin und her. Um das Selbstwertgefühl vor einem Zusammenbruch zu schützen, werden Realität und zwischenmenschliche Beziehungen idealisiert. Den unerfüllbar hohen Erwartungen an die eigene Person folgen Empfindungen, ein Versager auf der ganzen Linie zu sein. Phantasien und Idealbilder ersetzen zunehmend die unerträgliche Realität. Ist dies zur Stützung des Selbstwertgefühls nicht ausreichend, erfolgt der Rückzug auf einen Primärzustand, der mit Ruhe, Befreiung und Geborgenheit assoziiert wird. Wird dieser Primärzustand in der Phantasie mit dem Tod gleichgesetzt, kann dies der Beginn einer suizidalen Krise sein. Der Wunsch nach der erneuten Verschmelzung mit dem Primärobjekt führt zur schließlich zur Aufgabe der Individualität. Die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt können nicht mehr eindeutig gezogen werden. Das gekränkte Subjekt kann nicht mehr vom kränkenden Objekt unterschieden werden; Wut und Aggression werden aufgrund verschwimmender Selbstgrenzen gegen die eigene Person gerichtet. Schlussendlich wird die, einer anfänglichen Phantasie erwachsene, aktive Suizidhandlung unternommen, um das narzisstische Gleichgewicht vor einer weiteren Entwertung zu bewahren (vgl. Henseler 1974, S. 84).

2.7.7 Narzisstische Suizidalitätsformen

Kind (1992) hat ein Klassifikationsschemata zur Einteilung verschiedener Suizidalitätsformen im Rahmen narzisstischer Krisen erstellt. Seine Differenzierung beruht auf der Beschaffenheit der Entwicklungsschritte in der Kindheit. Von besonderem Interesse ist dabei, welche Entwicklungsschritte gar nicht oder nur unvollkommen erfolgt sind.

1. Formen der Suizidalität im Übergangsbereich von präpsychotischen zum Borderline - Funktionsniveau:

- Fusionäre Form der Suizidalität: Der Verschmelzungswunsch mit dem Primärobjekt, und damit die Rückkehr in einen harmonischen Urzustand steht im Vordergrund.

- Antifusionäre Form der Suizidalität: Sie stellt die entgegengesetzte Form der fusionären dar. Hier ist die Angst vor dem Verlust der Selbstgrenzen soweit angewachsen, dass die suizidale Handlung die Autonomie des Ichs stabilisieren soll. Die Suizidhandlung gilt in diesem Fall als Ausdruck vollständiger Autonomie, bei der kein anderer zu bestimmen hat

2. Suizidalität im Übergangsbereich vom Borderline - Funktionsniveau zum Niveau des Integrationsprozesses:

Stand bei fusionären bzw. antifusionärer Form noch die Verschmelzung und Abgrenzung zwischen Subjekt und Objekt im Mittelpunkt, so sind in diesem Übergangsbereich angesiedelte Suizidformen bereits von der Trennung zwischen „Selbst“ und „Nichtselbst“ geprägt. Objekte wurden bereits herausgebildet, deren Verbleib ist aber unsicher, sodass der suizidale Mensch in der andauernden Bedrohung des Verlassenwerdens lebt. Die folgenden Suizidformen entstehen aus der Intention der Objektsicherung bzw. -änderung.

- Suizidalität dem Ziel der Objektsicherung (Manipulative Suizidalität): Das Objekt soll durch Suizidandrohungen an der Trennung gehindert werden. Damit übt der suizidale Mensch eine Kontrolle aus, die sein Gegenüber in die eigene ohnmächtige Situation drängt. Empfindungen der Willkür und des Ausgeliefertseins in früheren Objektbeziehungen werden durch den Druck, den eine Suizidandrohung darstellt, auf das Gegenüber übertragen.

[...]


[1] Der lateinische Ausdruck „furor diabolicus“ lässt sich sinngemäß mit „teuflischer Raserei“ übersetzen. Suizid wurde von kirchlicher Seite daher als Ausdruck einer Art teuflischer Besessenheit angesehen.

[2] Daher auch der, von dem amerikanischen Soziologen D.P. Phillips (1974) geprägte, Begriff „Werther - Effekt“ für das Phänomen der Nachfolgesuizide (vgl. Kap.4, Punkt 4.3.1.1).

[3] Die Bezeichnung Generation X für jene Menschen, die zwischen 1961 und 1981 geboren wurde, ersann der kanadische Autor Douglas Coupland (1991). Dabei beschreibt Coupland die Generation X als die
Nach - Baby - Boomer, denen am Ende des Jahrtausend nichts als Fatalismus zu bleiben scheint, wenn sie die Welt betrachten, die ihre Eltern ihnen übergeben. Daher die Bezeichnung X, die im englischen auch für zero (=0) stehen kann. Coupland will damit zum Ausdruck bringen, dass die Zukunftserwartungen der Generation X gleich null sind, was Job und Karriere, angesichts einer Zeit abflauenden wirtschaftlichen Wachstums, sexueller Erfahrungen, angesichts von HIV, Liebe und Geborgenheit, angesichts extrem hoher Scheidungsraten, und des allgemeinen kulturellen und ökologischen Zustands einer auf Kapitalismus ausgerichteten Gesellschaft anbelangt.

[4] MTV steht abgekürzt für Music - Television. Seit seiner Gründung im Jahre 1981 beschäftigt sich MTV hauptsächlich mit dem populärkulturellen Musikangebot, und sendet Musikvideos rund um die Uhr.

[5] Der lateinische Begriff „sui caedere“ bedeutet „sich töten“, „sui cidium“ lässt sich mit „Selbsttötung“ übersetzen.

[6] Karl Jaspers (1962) hat auf die Neutralität des Begriffs Suizid hingewiesen, der allerdings seiner Meinung nach die Betroffenheit dieser Todesart gegenüber abwehrt.

[7] Als weiterführende Literatur zur Problematik der Suiziddefinition sei auf Kuitert (1986) und Douglas (1967) verwiesen.

[8] Vgl. Kap.2, Punkt 2.5.2

[9] Besonders dann, wenn nach dem Suizidversuch mit den PatientInnen im Rahmen einer Nachbehandlung am Aufbau eines neuen Lebensverständnisses gearbeitet wird.

[10] Als „harte Methoden“ werden Suizidmethoden bezeichnet, die mit großer Sicherheit einen tödlichen Ausgang nehmen (Sprung aus großer Höhe, erschießen, erhängen, hohe Dosen pharmakologisch hochwirksamer Substanzen, etc.). Als „weiche Methoden“ benennt man Tabletten-, Drogen- und Alkoholeinnahme, als etwa auch das oberflächliche Ritzen an den Handgelenken (vgl. Bronisch 1996, S. 14).

[11] Der Ausgang eines Suizidversuchs sagt nichts über dessen Ernsthaftigkeit aus (vgl. Sonneck 2000, S. 239).

[12] Holderegger (1979) beschäftigt sich ausführlich mit Suizidtheorien auf Durkheims Grundlagen.

[13] Geschlechtspezifische Differenzen waren nicht ermittelbar (Böcker 1982).

[14] Die Unterscheidung zwischen natürlichem und herbeigeführten Tod ist im Alter speziell bei Anwendung weicher Suizidmethoden schwer zu treffen.

[15] Nach neueren Studien sind in Deutschland ansässige Gastarbeiter und Ausländer in der Suizidrate nicht mehr, wie noch bis vor wenigen Jahren, unterrepräsentiert. Damit scheint sich die Hypothese zu bestätigen, dass suizidales Verhalten in Deutschland geborener Nachfolgegenerationen sich dem der entsprechenden deutschen Altersgruppen angleicht (vgl. Schmidtke/ Weinacker/ Löhr 2000).

[16] Vgl. Kap.2, Punkt 2.4

[17] Lindner-Braun (1990, S. 292 ff.) hat die Auswirkungen sozialer Isolation von Jugendlichen in Zusammenhang mit suizidalem Verhalten untersucht.

[18] Das Medien natürlich auch die Möglichkeit positiver Einflussnahme haben, wird in Kapitel 5 in einem Interview mit Dr. Hadinger besprochen.

[19] Vgl. Kap. 2, Punkt 2.6.2 und Punkt 2.8.3

[20] Vgl. Kap. 2, Punkt 2.8.3

[21] Blair-West (1997) geht nach Berechnungen auf der Grundlage von Prävalenzraten und Todesursachenstatistiken davon aus, dass maximal 6 -8 % aller Patienten mit einer Major Depression an Suizid versterben. Bei der Methode der psychologischen Autopsien zeigt sich ein Schwankungsbereich zwischen 13% und 70% der darauf zurückzuführen ist, dass die Erhebungen in verschiedenen Ländern mit verschiedenen Methoden durchgeführt wurden (vgl. Ahrens 1995).

[22] Die Psychiatrie spricht bei solchen Phänomenen auch von sozialer Vererbung (vgl. Bleuler 1951).

[23] Vgl. Kap. 2, Punkt 2.7.1

[24] Beck (1967) geht davon aus, dass der depressive und hoffnungslose Mensch in Abhängigkeit von der früheren Lerngeschichte eine negative Sicht von sich selbst, seinen Erlebnissen und der Zukunft aufweist. Diese negativen Interpretationsmuster werden durch spezifische Umweltereignisse (bestimmte Verlusterfahrungen) aktiviert.

[25] Vgl. Kap. 2, Punkt 2.6.5

[26] Vgl. Kap. 2, Punkt 2.7.1

[27] Vgl. auch die Escapismusmustheorie von Baumeister (1990), nach der escapistisches Verhalten die Folge einer übermäßigem Konfrontation mit einem hohen Maß an Selbstwahrnehmung ist.

[28] Ahrens Konzept sollte gerade vor dem Hintergrund der hohen Suizidsterblichkeit und des geringen Betrags der depressiven Störung zur Aufklärungsvarianz eine größere Beachtung erfahren.

[29] Diese Überlegungen Freuds sind wohl auch Ausdruck der Erfahrungen angesichts des Ersten Weltkriegs. (vgl. Hadinger 1994, S. 58)

[30] Repräsentanzen sind die inneren Bilder von der eigenen Person und den Objekten (vgl. Sonneck 2000, S. 225).

[31] Diese „Ur -Verunsicherung“ ist für die Ausbildung einer realitätsgerechten Selbst - und Weltwahrnehmung notwendig.

Ende der Leseprobe aus 218 Seiten

Details

Titel
Der Werther-Effekt. Das Problem des Medieneinflusses auf Suizidhandlungen unter besonderer Berücksichtigung des Suizids von Kurt Cobain
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Publistik- und Kommunikationswissenschaft, Schopenhauerstr. 32/ 1180 Wien)
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2002
Seiten
218
Katalognummer
V4820
ISBN (eBook)
9783638129435
Dateigröße
1267 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Suizidhandlungen beruhen nicht allein auf intrapsychischen Prozessen. Äußere Anregungen nehmen im multifaktoriellen Wirkungsgefüge suizidaler Entwicklungen ebenso eine wichtige Rolle ein. In dieser Hinsicht muss der Zusammenhang zwischen medialen Suizidmodellen und suizidalen Nachahmungshandlungen (Werther-Effekt) beachtet werden. Gerade nach dem Suizid des Rockstars Kurt Cobain, der weltweit massenmediales Interesse fand, war die Angst vor einem Werther-Effekt unter Jugendlichen groß. Diese Arbeit ist bestrebt, unter Berücksichtigung des Suizids von Kurt Cobain, jene Faktoren zu klären, die hinsichtlich der Korrelation zwischen Suizid und Medien die Suizidanfälligkeit beeinflussen. Dafür werden theoretische und empirische Befunde zum Werther-Effekt kritisch reflektiert mit dem Ziel der Erstellung eines Kriterienkatalogs, eine verantwortungsvolle mediale Suiziddarstellung im Sinne der Suizidprävention betreffend.
Schlagworte
Werther-Effekt, Problem, Medieneinflusses, Suizidhandlungen, Berücksichtigung, Suizids, Kurt, Cobain
Arbeit zitieren
Clemens Stampf (Autor:in), 2002, Der Werther-Effekt. Das Problem des Medieneinflusses auf Suizidhandlungen unter besonderer Berücksichtigung des Suizids von Kurt Cobain, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/4820

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