Die Darstellung des Pilatus im Lukasevangelium unter narratologischen Gesichtspunkten


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

42 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Literaturverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Lukasevangelium als Erzählung

3. Das Drei-Ebenen-Modell der Erzählung

4. Die Erzählung
4.1 Story
4.1.1 Vorbemerkung
4.1.2 Handlungsverlauf
4.1.3 Figuren
4.1.3.1 Begriffsbestimmung
4.1.3.2 Status
4.1.3.3 Komplexität
4.1.3.4 Funktion
4.1.3.5 Attribute der Figuren
4.1.4 Setting
4.1.5 Story-Aspekte im Lukasevangelium
4.2 Erzähldiskurs
4.2.1 Der Text als Kommunikation
4.2.2 Der implizite Autor
4.2.3 Der implizite Leser
4.2.4 Erzählinstanz
4.2.4.1 Begriffsbestimmung
4.2.4.2 Kommunikationsebene des Erzählens
4.2.4.3 Beteiligung der Erzählinstanz am Geschehen
4.2.4.4 Grad der Involviertheit der Erzählinstanz
4.2.4.5 Zuverlässigkeit der Erzählstimme
4.2.5 Erzähladressat
4.3 Erzählakt
4.3.1 Vorbemerkung
4.3.2 Zeit
4.3.2.1 Erzählzeit versus erzählte Zeit
4.3.2.2 Erzählgeschwindigkeit
4.3.2.3 Chronologische Ordnung
4.3.2.4 Frequenz
4.3.3 Modus
4.3.3.1 Distanz zu Ereignissen
4.3.3.2 Distanz zu Worten
4.3.4 Fokalisierung
4.3.5 Figurencharakterisierung

5. Pontius Pilatus in narratologischer Sicht
5.1 Pilatus und das Wort Gottes
5.2 Pilatus, der Grausame?
5.3 Pilatus, der Umsichtige
5.4 Pilatus, Verteidiger und Richter

6. Schlussbetrachtung

7. Literaturverzeichnis
7.1 Quellen
7.2 Hilfsmittel
7.3 Sekundärliteratur

1. Einleitung

Gekreuzigt unter Pontius Pilatus – so heißt es in unserem Glaubensbekenntnis, das allsonntäglich in unzähligen Gottesdiensten auf der ganzen Welt gesprochen wird. Der römische Präfekt Pontius Pilatus ist also stets im Munde der Christenheit. Daraus lässt sich eine herausgehobene Stellung des Pilatus ableiten, die ihn in die Verantwortung hinsichtlich der Passion Jesu rückt. In der vorliegenden Arbeit soll anhand einer narratologischen Analyse im Lukasevangelium Pilatus in der lukanischen Darstellung näher in den Blick genommen werden, um aus neuer Perspektive einen Versuch zu unternehmen, die Bedeutung des Pilatus zu klären.

Da die synchrone Methode der Narratologie noch nicht allzu lange innerhalb der Exegese angewandt wird, soll sie in Grundzügen in einem ersten Schritt vorgestellt werden, bevor wir uns im zweiten Teil der Figur des Pilatus im Lukasevangelium unter narratologischen Gesichtspunkten nähern. Zunächst soll eine kurze Einführung in die Behandlung des Lukasevangeliums als Erzählung in das Thema der synchronen Analyse des Evangeliums einleiten.

2. Das Lukasevangelium als Erzählung

Lukas erzählt. Der Gegenstand der Erzählung einerseits – die Geschichte Jesu, aber vor allem die frohe Botschaft von Gott – und die Erzählweise sowie historischer und sozialer Kontext des Lukas andererseits lassen eine Einordnung seiner Schriften einzig als Erzählung allerdings nicht zu. Seine Schrift ist das Ergebnis historiographischer, theologischer, didaktischer und nicht zuletzt erzählerischer Arbeit. Auf der Grundlage einer Vielzahl von schriftlichen und mündlichen Quellen komponiert er sein Werk. Sein Ziel besteht darin, einen zuverlässigen, ordnungsgemäßen Bericht abzugeben, wie es viele vor ihm bereits unternommen haben (vgl. Lk 1,1-4). So haben das Markus- und das Matthäusevangelium weitgehend den gleichen Inhalt, in ihrer Darstellung weisen sie aber trotz auffälliger Gemeinsamkeiten, deren Aufdeckung und Hintergründe wir der historisch-kritischen Exegese zu verdanken haben, bedeutende Unterschiede auf. Sie zeigen, dass verschiedene Verfasser über den gleichen Gegenstand unterschiedlich schreiben. Pontius Pilatus wird in allen vier kanonisierten Evangelien als höchstrichterliche Instanz bei der Verurteilung und Kreuzigung Jesu dargestellt. Betrachtet man die Darstellungsweisen allerdings etwas genauer, stößt man schnell auf Unterschiede, die auf eine gezielte Nuancierung, die eine bestimmte Wirkung bei den Lesern hervorruft, schließen lassen.[1]

Wir können also zwischen dem Inhalt und der Darstellungsweise einer Erzählung unterscheiden, worin ein wesentlicher Aspekt der narratologischen Analyse besteht. Die Kreativität des Verfassers liegt in der Veränderung der Erzählweise eines weitgehend identischen Inhaltes.[2] Mit verschiedenen erzählerischen Methoden wird erreicht, dass wir als Leser eine Erzählung als spannend, interessant, rasant oder langweilig und wenig unterhaltend charakterisieren. Hier spielt natürlich ein gehöriges Maß an Subjektivität eine Rolle. Allerdings kann die narratologische Analyse mit transparenter Methode erzählerische Mittel identifizieren, die nahezu jeden Leser in die eine oder andere Richtung beeinflussen.[3] Die Reihenfolge, in der Ereignisse wiedergegeben werden, hat Wirkung auf den Leser. Die Erzählung aus der Sicht einer bestimmten Figur geschildert, mag beim Leser eher den Eindruck von Unmittelbarkeit auslösen als der Bericht eines nicht involvierten Erzählers, um nur zwei Beispiele zu geben. Die spezifische Art und Weise, wie der Inhalt einer Erzählung dargestellt wird, ist also wesentlich dafür verantwortlich, ob sie gelesen wird bzw. ob sie auf Dauer von vielen gelesen wird oder nicht.

Auch und gerade biblische Texte unterliegen bestimmten Kompositionsprinzipien: Die dargestellten Ereignisse stehen chronologisch und inhaltslogisch miteinander in Beziehung – ein erster Hinweis darauf, dass es sich um Erzählungen handelt.[4] Darüber hinaus darf auch die Narratologie die Bedeutung biblischer Texte nie außer Acht lassen. Sie sind nicht nur Erbauung, Unterhaltung, Lebenshilfe, Anschauung, nicht nur auf dieses Leben bezogen, sondern sie sind Glaubensgrundlage für viele Millionen Christen, weil sie eben auch und gerade euvagge,lion sind. Mit anderen Worten: Sie sind auch Literatur, aber keine Literatur wie jede andere.[5]

Die Methode der Narratologie soll nun vorgestellt werden, bevor wir uns mit ihnen der Darstellungsweise der Figur des Pontius Pilatus nähern.

3. Das Drei-Ebenen-Modell der Erzählung

Die Narratologie stellt „intellectual tools“[6] zur Beschreibung von narrativen Texten zur Verfügung, deren Anwendung die Interpretation transparenter machen soll, „for reading is an activity of a subjective nature“[7]. Ein gewisses Maß an Subjektivität wird bei der narratologischen Analyse allerdings stets vorhanden sein, eine transparente und möglichst umfangreiche Methodik sollen den Grad an Subjektivität jedoch so gering wie möglich halten.

Grundlegend geht die Narratologie von einer Erzählung als einem kohärenten Ganzen aus und betrachtet zunächst den Endtext einer Erzählung, unabhängig von seiner Entstehung. Das mutet gerade in Bezug auf die Evangelienexegese ungewöhnlich an – zumal angesichts der bahnbrechenden Erkenntnisse, die durch die historisch-kritische Exegese gewonnen wurden. Hieran ist ersichtlich, dass die Narratologie, die sich in der deutschsprachigen Exegese noch in der Erprobungsphase befindet, daher allenfalls als Ergänzung zur historischen Methode herangezogen werden kann – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Alle narratologischen Entwürfe unterscheiden hinsichtlich einer Erzählung zunächst zwischen dem WAS und dem WIE:[8] Was wird dem Leser oder Zuhörer auf welche Weise erzählt? Diesen Ansatz hat vor allem Chatman populär gemacht, weil er das breit rezipierte Zeichenmodell von Ferdinand de Saussure auf die Erzählung übertragen hat. Die Unterscheidung von story und discourse als zwei untrennbar miteinander verbundene Teile einer Erzählung korrespondiert de Saussures Konzept des sprachlichen Zeichens: Der Inhalt entspricht dem signifié, die Form dem signifiant des Saussureschen Zeichens.[9]

Das Konzept Chatmans ist allerdings um eine weitere Ebene der Erzählung zu ergänzen, die maßgeblich auf Genette zurückgeht. Er spaltet die Diskursebene nochmals auf, indem er zwischen récit und narration unterscheidet, worin ihm die narratologische Forschung bis heute weitgehend folgt. Somit können wir von drei Ebenen der Erzählung sprechen, die untrennbar miteinander verbunden sind und zusammen genommen erst eine Erzählung konstituieren:[10] erstens die story, die den Handlungsverlauf, das setting und die Figuren umfasst, zweitens den Erzähldiskurs, der den Erzähltext als Kommunikationssituation beschreibt, sowie drittens den Erzählakt, der Zeit, Modus und Fokalisierung der Erzählung einschließt. Gemäß der vorangegangenen Bemerkung werden im Folgenden die für die vorliegende Arbeit maßgeblichen theoretischen Grundlagen getrennt nach den oben dargestellten drei Ebenen der Erzählung vorgestellt.

4. Die Erzählung

4.1 Story

4.1.1 Vorbemerkung

Die vorliegende Arbeit ist bemüht, mit deutschsprachigen Begriffen zu arbeiten. Die Verwendung von englischsprachigen Ausdrücken lässt sich aber nicht gänzlich vermeiden, was folgendermaßen zu begründen ist: Erstens muss ein Begriff wie story als literaturwissenschaftlicher Fachbegriff angesehen werden, der weit verbreitet ist und wenigstens ein Mindestmaß an einheitlicher inhaltlicher Füllung aufweist, was man von dem von Eisen verwendeten Begriff Geschichte nicht sagen kann,[11] da man hierunter auch eine Erzählung als Ganzes fassen würde, was gerade bei der getrennten Betrachtung der Erzählebenen problematisch ist. Einheitlichkeit hinsichtlich der inhaltlichen Füllung träfe allerdings auch auf den Begriff fabula zu, der vielleicht sogar noch unproblematischer ist.[12] Für die Verwendung des Begriffes story spricht daher noch ein weiterer Aspekt: Er wird nicht zuletzt aufgrund der narratologischen Dominanz des anglo-amerikanischen Sprachraums innerhalb der erzählanalytischen Exegese am häufigsten einheitlich verwendet.

Was ist aber nun unter story zu verstehen?

Qua story it (sc. die Erzählung, JR) can have only one merit: that of making the audience want to know what happens next. And conversely it can have only one fault: that of making the audience not want to know what happens next.”[13]

Diese frühe Einschätzung von Forster ist sicherlich keine gültige Definition einer story, sie illustriert aber recht deutlich den Stellenwert, den die story für die Erzählung insgesamt hat. Denn keine noch so ausgefeilte Erzählweise wird den Leser nachhaltig zum Weiterlesen bewegen, wenn nicht die Handlung interessant ist. Auf der story -Ebene wird also vor allem der Handlungsverlauf,[14] untersucht, der sich wiederum aus verschiedenen Ereignissen zusammensetzt. Hier sind außerdem die Figuren und das sog. setting, die Umgebung der Ereignisse, angesiedelt. Alle drei Elemente der story werden im Folgenden vorgestellt.

4.1.2 Handlungsverlauf

Der Handlungsverlauf besteht aus mit einander in logischer und chronologischer Beziehung stehenden Ereignissen.[15] Die chronologische Beziehung muss unter Umständen im Zuge der Analyse aufgedeckt werden, da eine story oftmals mittels zeitlicher Vorausgriffe oder Rückblenden erzählt wird. Eine story ist allerdings ein lineares Phänomen und umfasst daher den Inhalt der Erzählung, wobei die Art und Weise der Erzählung völlig unterschiedlich ausfallen kann. Was die Logik angeht, so ist hier nicht der Platz für eine umfassende Darstellung dessen, was als logische Beziehung zu werten ist. Folgende Ausführungen Bals mögen zur Verdeutlichung ausreichen:

„Certainly, the fabulas [stories, JR] of most narrative texts do display some form of homology, both with a sentence structure and with ‚real life’. Consequently, most fabulas [stories, JR] can be said to be constructed acording to the demands of human ‚logic of events’, provided that this concept is not too narrowly understood. ‚Logic of events’ may be defined as a course of events that is experienced by the reader as natural and in accordance with some form of understanding the world.”[16]

Dies bedeutet keinesfalls, dass eine story nur dann existiert, wenn sie möglichst realistisch erzählt wurde. Wir legen als Leser vielmehr eine Sichtweise des Textes an den Tag, der die Gesetze der Logik, wie wir sie gemäß unserer Welterfahrung kennen, zugrunde liegen.

4.1.3 Figuren

4.1.3.1 Begriffsbestimmung

Auf der Ebene der story sind auch die handelnden Figuren anzusiedeln, deren Charaktere wir näher zu bestimmen suchen. Die Figuren machen in ihrem Zusammenspiel das Zentrum der story aus. An ihren Handlungen, Schicksalen, Entwicklungen nimmt der Leser Anteil, so dass die Ausgestaltung der Figuren wesentlich dazu beiträgt, dass überhaupt Interesse an der Erzählung entsteht und dauerhaft vorhanden ist, was auf die Evangelien ja in besonderer Weise zutrifft. In Anlehnung an Eisen wird in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht von Personen gesprochen.[17] Das hat zweierlei Gründe: Erstens ist der Begriff der Person philosophisch mit zahlreichen Konnotationen behaftet, so dass in Bezug auf den narratologischen Gebrauch der Bezeichnung schnell Missverständnisse entstehen können. Zweitens wird mit dem Begriff Figur deutlich gemacht, dass es sich bei den dargestellten Charakteren nicht um eigenständige Personen handelt,[18] auch wenn bei der faktualen Erzählung[19] Lukasevangelium historische Personen als Vorbilder dienten, die in der Erzählung möglichst wahrheitsgetreu[20] dargestellt werden sollen. Die Figuren der faktualen Erzählung kommen daher Personen etwas näher als in der rein fiktionalen; die Konstituierung der Erzählung schließt meines Erachtens jedoch die Verwendung des Begriffs Person im Sinne eines autonom handelnden Menschen aus. Die Figuren sind vielmehr fremdgesteuert und unterliegen der Strategie des impliziten Autors,[21] erfüllen also bei der Darstellung der story ganz bestimmte Funktionen.[22] All ihre Handlungen und Äußerungen fügen sich in diese Strategie und sind nicht selbstbestimmt. Innerhalb der Figuren einer Erzählung werden allerdings verschiedene charakterliche Ausprägungen unterschieden, da einige Figuren in ihrer Ausgestaltung mehr an den Status einer Person heranreichen und andere weniger, was wiederum mit ihrer speziellen Funktion für die Erzählung zusammenhängt. Für dieses Verständnis der Figuren der Erzählung ist es zunächst unerheblich, ob es sich bei den dargestellten Charakteren – wie im Lukasevangelium der Fall – um historische Persönlichkeiten handelt. Unter narratologischen Gesichtspunkten werden die Figuren ausschließlich hinsichtlich ihres Status innerhalb der Erzählung ohne Referenz auf die historische Wirklichkeit betrachtet,[23] weil es auch bei der faktualen Erzählung darum geht, auf welche Art eine bestimmte historische Person in der Erzählung dargestellt wird. Daher sprechen wir z.B. vom lukanischen oder markinischen Pilatus. Wie aber bereits einige Male anklang, kann auch die Narratologie nicht ganz auf historische Informationen verzichten, die beim impliziten Leser vorausgesetzt werden; ein sicherlich fruchtbarer Vergleich zwischen historischem Wissen über Pilatus[24] und ihrer spezifischen Ausgestaltung in der lukanischen Darstellung kann allerdings hier nicht geleistet werden.

Bereits an dieser Stelle sei allerdings eine wichtige Besonderheit der biblischen Erzählungen erwähnt, auf die Marguerat/Bourquin aufmerksam machen: Demnach ist den Evangelien immanent, dass die meisten Figuren grundsätzlich nicht autonom sind, da ihre Handlungen, Haltungen, Aussagen stets auf die zentralen figuralen Elemente – Jesus oder Gott – ausgerichtet sind bzw. von diesen beeinflusst werden. Jesus und Gott sind Grund und Ziel (oder anders: Dreh- und Angelpunkt) der übrigen Charaktere. Jeder Charakter konstituiert sich nur in der Beziehung zu diesen übergeordneten Agenten.[25]

Die folgenden Aspekte spielen nun bei der Figurenanalyse eine Rolle.

4.1.3.2 Status

Hinsichtlich des Status können die Figuren als Hauptfigur, Nebenfigur oder Hintergrundfigur klassifiziert werden.[26] Ein erster Indikator zur Feststellung des Status kann die Häufigkeit des Auftretens gelten. Darüber hinaus spielt die Frage eine Rolle, ob eine Figur in irgendeiner Weise die Handlung vorantreibt oder Handlungen anderer Figuren auf sie ausgerichtet sind oder von ihr beeinflusst werden, so dass eine Figur im Zentrum der story steht, was auf einen höheren Status der Figur hindeutet als das bei Figuren der Fall ist, die eher im Hintergrund gehalten sind und den Gang der Handlung minimal bis gar nicht beeinflussen. Um ein gesichertes Urteil über den Status einer Figur treffen zu können, sind außerdem die folgenden Aspekte zu berücksichtigen.

4.1.3.3 Komplexität

Auf William Forster geht die weit verbreitete Unterscheidung zwischen round und flat characters zurück.[27] Diese bipolare Einteilung der Figuren hat seit ihrer Einführung einige Modifikationen und Erweiterungen erfahren, die hier nicht ignoriert werden sollen.[28] Dennoch werden Forsters Begrifflichkeiten beibehalten. Die Bestimmung von round und flat characters, die im Folgenden vorgenommen wird, greift aber Erweiterungen auf und integriert sie in Forsters Konzept.

Dem flat character kann nur eine begrenzte Anzahl an grundlegenden Eigenschaften oder Merkmalen zugeschrieben werden. Er könnte auch als Typ bezeichnet werden, da er in wenig komplex ausgestalteter Form Eigenschaften eines bestimmten Typs von Menschen verkörpert. Der round character zeichnet sich hingegen durch eine Vielzahl an Eigenschaften und Merkmalen aus, sowohl was sein äußeres Erscheinungsbild angeht als auch hinsichtlich seiner Psyche und seiner Emotionen. Außerdem unterscheidet er sich von einem flat character dadurch, dass er meist eine Entwicklung durchläuft,[29] die oftmals in der Entfaltung des Handlungsverlaufes begründet liegt. In anderen Fällen kann die Entwicklung von Figuren die Richtung des Handlungsverlaufes verändern. Der flat character ist also meist eindimensional und eher statisch, wohingegen der round character mehrdimensional und dynamisch ist.[30]

4.1.3.4 Funktion

Hinsichtlich der Funktion von Figuren kann auf das Aktantenmodell von Greimas verwiesen werden,[31] das die Beobachtungen von Vladimir Propp zur allgemeinen Funktion von Figuren in russischen Volksmärchen,[32] mit der These aufgreift, in jeder Erzählung könnten alle Figuren gemäß dieses Aktantenmodells klassifiziert werden. Auch wenn das in dieser Form zunächst als stark vereinfacht erscheint, hat sich das Aktantenmodell in der Narratologie bewährt[33] und wird daher nach wie vor angewandt. Greimas´ Konzept sieht sechs aktantielle Kategorien vor, nach denen die Funktion von Figuren innerhalb der Erzählung bestimmt werden kann. Wir unterscheiden somit das handelnde Subjekt sowie den Adressanten (Sender), der einem Adressaten (Empfänger) ein Objekt übermittelt.[34] Diese Handlung wird von einem Adjuvanten (Helfer) unterstützt und von einem Opponenten (Gegner) gestört. Hierunter fallen nicht ausschließlich Figuren, auch andere abstrakte Komponenten wie Gesellschaft, Glück und Unglück, Normen und Werte etc. können in diese Kategorien eingeordnet, womöglich aber auch gewissen Figuren zugeordnet werden.[35] Bei den Aktanten handelt es sich allerdings um Kategorien, denen konkrete Figuren in einer Erzählung als Akteure zugeordnet werden können. Auf den ersten Blick erscheint dieses Modell in der Tat simpel,[36] wenn wir an den zu untersuchenden Text denken. Aber es gibt doch zumindest in der Tendenz, z.B. bei der Frage, ob wir eine Figur als Adjuvanten oder Opponenten einstufen oder gar als ambivalent, wen wir als Subjekt bezeichnen, was wir als zu erlangendes Objekt identifizieren usw., eine Richtung vor, nach der die Funktion von Figuren untersucht werden kann. Außerdem können mit Hilfe der oben vorgegebenen Struktur recht plastisch eventuelle Entwicklungen der Figuren dargestellt werden.

4.1.3.5 Attribute der Figuren

Schließlich spielen weitere Attribute der Figuren hinsichtlich ihrer Charakterisierung eine Rolle. Es handelt sich dabei um Attribute wie Alter, Geschlecht, sozialer Status, äußere Erscheinung, besondere Kennzeichen der Figur, die als klassische Merkmale der Figurencharakterisierung gelten können.[37]

4.1.4 Setting

Die narratologischen Konzepte vernachlässigen das setting im Gegensatz zu anderen Aspekten der Erzählung.[38][39] Auf diesem Gebiet haben die exegetischen Rezipienten der Literaturwissenschaft weitere Aspekte beigetragen:

Vergleichen wir – wie wir später bei Genette noch sehen werden – die Erzählung mit der Struktur eines Satzes, so können wir mit Powell feststellen:

„Events correspond roughly to verbs, for in them the story´s action is expressed. Characters are like nouns, for they perform these actions or, perhaps, are acted upon. Character traits may be likened to adjectives since they describe the characters involved in the action. And settings? Settings are the adverbs of literary structure: they designate when, where, and how the action occurs.”[40]

Manche Sprachwissenschaftler bezeichnen die Adverbien als freie Angaben, womit deutlich gemacht werden soll, dass sie für die grammatische Vollständigkeit des Satzes nicht zwingend erforderlich sind und im Vergleich zum Verb auch weggelassen werden können. Vor diesem Hintergrund könnte man nun meinen, das setting sei weniger wichtig. Man stelle sich aber Kommunikation ohne Zeit- oder Ortsangaben vor. Schnell entstünde ein Verständigungschaos. Nun geht es bei der Erzählung auch nicht lediglich um Informationsvermittlung, sondern um einiges mehr, woraus sich die Bedeutung der Adverbien der literarischen Struktur ergibt.

Wenn die Figuren das Zentrum der story sind, können wir das setting vereinfacht als Rahmen ansehen, in dem sich die Figuren bewegen. Das setting bildet einen Raum, in den die Figuren gesetzt werden.[41] Dieser Raum kann zunächst örtlich und zeitlich verstanden werden.[42] Bezüglich des örtlichen Raumes kann es bei der Analyse von Bedeutung sein, ob der Raum als Anschauungsraum von einer beobachtenden Figur wahrgenommen wird oder als Aktionsraum fungiert, in der sich die handelnde Figur befindet.[43] Wenn wir mit setting darüber hinaus in allgemeinerem Sinne die Welt bezeichnen, in der die Figuren agieren, so kann innerhalb des Rahmens all das verortet werden, was die Figuren sinnlich – also über akustische, optische, taktile, olfaktorische, haptische sowie emotionale – Kanäle wahrnehmen können.[44] Schließlich liegt dem setting auch eine Ordnung von Normen und Werten zugrunde, die die Erzählung bestimmen und die der Leser als für die Erzählung gegeben nachvollziehen muss, um interpretatorische Urteile zu fällen. Hierunter fällt auch das soziale Umfeld der Figuren, das die Einbeziehung historischer Kenntnisse in die narratologische Analyse erforderlich macht.[45] Um nicht in eine historische Untersuchung abzugleiten, was den Rahmen einer narratologischen Analyse sprengen würde, ist hier Zurückhaltung geboten. Allerdings sind die Kenntnis von der Zusammensetzung der jüdischen Obrigkeit oder der Funktion des Statthalters Pilatus, um nur zwei Beispiele zu geben, Voraussetzung für das Verstehen der Erzählung. Die Anordnung des settings und vor allem Veränderungen von setting -Aspekten sind nicht nur relevant für die Gliederung des Handlungsverlaufes, sondern sie tragen maßgeblich zur Atmosphäre der Erzählung bei.[46]

[...]


[1] Dieser Horizont wird nochmals erweitert bei einem Blick über die kanonisierten Evangelien hinaus, vgl. exemplarisch Omerzu 2007.

[2] Vgl. Marguerat/Bourquin 1999: 18.

[3] Vgl. Bal 1997: 79.

[4] Vgl. Rimmon-Kenan 2002: 2f.

[5] Vgl. Merenlahti/Hakola 1999: 15.

[6] Bal 1997: 4.

[7] Bal 1997: 4, vgl. Bal 1997: 10f.

[8] Vgl. Chatman 1978, Funk 1988: 2, Bal 1997: 8f, Marguerat/Bourquin 1999: 18, Rimmon-Kenan 2002: 2 sowie die interessante Diskussion bei Genette 1998: 199-203.

[9] Vgl. Jahn 1998: 29, Rimmon-Kenan 2002: 8 sowie die Grundlagen der Narratologie beschreibend Sexl 2004: 161-190.

[10] Vgl. Genette 1998: 17, Bal 9f.

[11] Vgl. Eisen 2006: 125-139. Vgl. auch Miglietta (2004: 244) im Zusammenhang mit dem Prozess Jesu: „Für die Evv ist die Geschichte als solche daher nicht der Zweck, sondern das Mittel der Erzählung.“ Wenn man Geschichte hier im Sinne Eisens auffasst, wird der Satz – und mit ihm der Kontext, in dem Miglietta sich bewegt – völlig unverständlich. Migliettas Intention besteht gerade darin, die Evangelien nicht als Geschichtsschreibung, sondern als theologische Erzählungen zu charakterisieren. Geschichte ist also in obigem Zitat im Sinne von history und nicht im Sinne von story zu verstehen.

[12] Vgl. Hawthorn 1996: 303.

[13] Forster 1975: 35.

[14] Im Folgenden wird die Bezeichnung plot gemieden, aber im Sinne von Handlungsverlauf, Gang der Handlung oder Handlungskette verstanden. In der vorliegenden Arbeit kann die früher vielfach verbreitete inhaltliche Unterscheidung von story und plot nicht eingehalten werden, da sie in der narratologischen Konzeption in einem hierarchischen Verhältnis zu einander stehen. Der plot ist hier ein Teil der story. Forster (1975: 93) hatte hingegen zwischen der story, die in chronologischer Folge ablaufende Ereignisse umfasst, und dem plot, auf dessen Ebene diese Ereignisse auch in einen Kausalzusammenhang gebracht werden, unterschieden: „The king died and then the queen died is a story. The king died and then the queen died of grief, is a plot.”

[15] Vgl. Powell 1990: 40, Marguerat/Bourquin 1999: 40; Eisen 2006: 125f, Rimmon-Kenan 2002: 6.

[16] Bal 1997: 177.

[17] Vgl. Eisen 2006: 133f.

[18] Vgl. aber Chatman 1978: 119, der für eine gegenteilige Sichtweise plädiert, um die Komplexität vieler Figuren nicht zu verkennen. Diesem Einwand soll in der vorliegenden Arbeit mit den vorgestellten Aspekten der Figurenanalyse allerdings Rechnung getragen werden. Vgl. außerdem Rimmon-Kenan 2002: 31-34, Bal 1997: 114-118, Tolmie 1999: 39f.

[19] Vgl. Eisen 2006: 61.

[20] Zumindest was das Bekenntnis der Erzählinstanz im Prolog des Lukasevangeliums angeht.

[21] Vgl. die Ausführungen im Abschnitt „Erzähldiskurs“.

[22] Vgl. Powell 1990: 51.

[23] Forster (1975: 63) unterscheidet deshalb „Homo Sapiens and Homo Fictus“, wobei wir über letzteren mehr in Erfahrung bringen als über die historische Person, „because his creator and narrator are one“ (Forster 1975: 63).

[24] Unter Einbeziehung weiterer Quellen neben dem Lukasevangelium, das trotz seines Erzählcharakters weiterhin als historische Quelle gilt. Vgl. mit einer prägnanten Gesamtschau Herzer 2007.

[25] Vgl. Marguerat/Bourquin 1999: 64f.

[26] Vgl. Tolmie 1999: 55f., Marguerat/Bourquin 1999: 60, Eisen 2006: 133f.

[27] Vgl. mit Einbeziehung einiger Beispiele Forster 1975: 75-85 sowie Chatman 1978: 131-133, Powell 1990: 55, Marguerat/Bourquin 1999: 60f.

[28] Vgl. dazu exemplarisch die Übersicht von Bachorz 2004: 54-60.

[29] Vgl. Rimmon-Kenan 2002: 40-42. Er muss das nicht zwangsläufig. Jesus hat hier wiederum einen Sonderstatus. Er entwickelt sich von Anfang bis Ende was seine Charakterzüge angeht überhaupt nicht, vgl. Powell 1990: 55.

[30] Vgl. Bachorz 2004 : 57-59, Eisen 2006: 133f.

[31] Vgl. Greimas 1975: 157-177, bes. 158-170 sowie die Darstellung bei Eisen (2006: 134f).

[32] Propp 1975.

[33] Vgl. Bal 1997: 196-202, Tolmie 1999: 56f, Marguerat/Bourquin 1999: 62f, Rimmon-Kenan 2002: 34f.

[34] Vgl. Bal 1997: 197f.

[35] Vgl. Bal 1997: 198-201.

[36] Vgl. die kritischen Bemerkungen von Chatman 1978: 112. Einige Narratologen, so Bal (1997: 197), vergleichen die Funktionsanalyse der Figuren aber mit denen von Satzgliedern in einem Satz. Es ist allgemein bekannt, dass die Einteilung des Satzes in Satzglieder je nach Art und Komplexität des Satzes zum Teil äußerst schwierig ist, was in vergleichbarer Weise auf die Figurenanalyse zutrifft.

[37] Vgl. Eisen 2006: 135f.

[38] Wie auch schon bei der story -Konzeption wird in der vorliegenden Arbeit der englische Begriff setting beibehalten und nicht etwa durch die im Deutschen auch gebräuchliche Bezeichnung Raum oder Schauplatz ersetzt. Zum einen sind die deutschen Begriffe nicht umfassend genug, zum anderen handelt es sich bei setting ausnahmsweise um einen weitgehend einheitlich gebräuchlichen Fachausdruck. Vgl. die Diskussion von Haupt 2004: 69.

[39] Vgl. Haupt 2004: 69.75-78.

[40] Powell 1990: 69.

[41] Vgl. Chatman 1978: 138 sowie Bal 1997: 132f.

[42] Der örtliche und zeitliche Rahmen kann weiter differenziert werden, wie Marguerat/Bourquin (1999: 79-81) vorschlagen, was aber besser anhand des Textes erfolgt, wenn es erforderlich erscheint.

[43] Vgl. Haupt 2004: 70-72.

[44] Vgl. Bal 1997: 133-135.

[45] Vgl. Powell 1990: 74f sowie Marguerat/Bourquin 1999: 82f.

[46] Vgl. Chatman 1978: 141f., außerdem Bal 1997: 135-140, Marguerat/Bourquin 1999: 77f, Haupt 2004: 73-75, die in Bezug auf den örtlichen Raum die Analyse des „gestimmten Raums“ nahe legt. Damit wird der Frage nachgegangen, welche Stimmung ein Raum bei den verschiedenen Figuren hervorruft.

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Details

Titel
Die Darstellung des Pilatus im Lukasevangelium unter narratologischen Gesichtspunkten
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Neues Testament)
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
42
Katalognummer
V93498
ISBN (eBook)
9783638065450
ISBN (Buch)
9783640430970
Dateigröße
646 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Darstellung, Pilatus, Lukasevangelium, Gesichtspunkten
Arbeit zitieren
Jörg Röder (Autor:in), 2007, Die Darstellung des Pilatus im Lukasevangelium unter narratologischen Gesichtspunkten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93498

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