Jugendsprache in Argentinien


Hausarbeit, 2001

44 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Definition und Funktion von Jugendsprache

3. Varietäten des argentinischen Spanisch
3.1 Sprachliche Einflüsse
3.2 Der Cocoliche
3.3 Der Lunfardo

4. Jugendsprache in Argentinien - Eigene Untersuchung von jugendsprachlichen Ausdrücken im Diccionario del español de Argentina
4.1 Vorhaben und Hypothese
4.2 Analyse
4.2.1 Morphologische Merkmale
4.2.1.1 Suffixe
4.2.1.2 Abkürzung am Ende eines Wortes
4.2.1.3 Abkürzung am Anfang eines Wortes
4.2.1.4 Komposition und Silbenvertauschung
4.2.2 Lexikalisch-semantische Merkmale
4.2.2.1 Lehnwörter
4.2.2.2 Metaphern und Phraseologismen
4.2.3 Semantische Felder
4.2.3.1 Begrüßungen/Anreden
4.2.3.2 Zwischenmenschliche Beziehungen
4.2.3.3 Gemütszustand
4.2.3.4 Mode/Aussehen
4.2.3.5 Schule/Universität
4.2.3.6 Drogen/Kriminalität
4.3 Auswertung

5. Ein Vergleich zu jugendsprachlichen Merkmalen Spaniens

6. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Diese Hausarbeit ist im Rahmen der Veranstaltung “Sprache und Jugend in der hispanophonen Welt“ im Sommersemester 2001 entstanden. Sie beschäftigt sich mit Jugendsprache im allgemeinen und insbesondere mit der Sprache der Jugendlichen in Argentinien, da diese als Varietät des argentinischen Spanisch besonderes interessant ist.

Zu Beginn werden einige Definitionen von Jugend und ihrer Sprache vorgestellt. Es wird außerdem aufgezeigt, welche Faktoren den Mythos “Jugendsprache“ prägen, der glauben lässt, es gäbe eine Sprache, die nur den Jugendlichen gehöre.

In Kapitel 3 soll anhand des historischen Hintergrunds ein Überblick über die sprachlichen Einflüsse im argentinischen Spanisch gegeben werden. Nur so kann die Bedeutung des Lunfardos, der ein wichtiger Bestandteil der argentinischen Kultur ist, verstanden werden. Der Lunfardo bezeichnet heute den Argot von Argentinien und ist das Resultat einer Immigration von Millionen Italienern über einen sehr langen Zeitraum in diesem Land. Die Einwanderer kamen aus den untersten sozialen Klassen und hatten enormen Einfluss auf das gesamte argentinische Leben ab Mitte des 19. Jahrhunderts.

Die unterschiedlichen Auffassungen der Literatur über den Ursprung des Lunfardos sollen herausgearbeitet werden. Im Kontext der Jugendsprache Argentiniens ist der Lunfardo von besonderer Bedeutung, da ein Zusammenhang zwischen beiden Varietäten vermutet wird.

Meine Untersuchung der jugendsprachlichen Ausdrücke in Kapitel 4 soll klären, welcher sprachlichen Mittel sich die argentinischen Jugendlichen bedienen, um ihre Sprache zu kreieren. Diese Analyse basiert hauptsächlich auf dem D iccionario del español de Argentina (2000) von G. Haensch/R. Werner.

José Gobellos Nuevo diccionario lunfardo (1994) kann eventuell Auskunft darüber geben, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Lunfardo und der Jugendsprache Argentiniens gibt.

Im letzten Kapitel werde ich meine Ergebnisse zur argentinischen Jugendsprache mit Merkmalen der Jugendsprache Spaniens vergleichen, um herauszufinden, ob es möglicherweise Konstitutionsverfahren gibt, die übertragbar sind auf Jugendsprachen anderer Nationen oder die vielleicht auch allgemeine Kennzeichen von Sprache sind.

2. Definition und Funktion von Jugendsprache

Eine Arbeit, die sich mit dem Thema Jugendsprache beschäftigt, sollte zunächst einmal zu klären versuchen, was eigentlich “Jugendsprache“ bedeutet. Eine Definition liegt nahe: “Jugendsprache“ ist die Sprache der Jugend. Diese Erklärung nährt jedoch den Mythos, es gäbe eine Sprache, die nur von der Gruppe der Jugendlichen gesprochen werde.

Die Definition wirft die Frage auf, wer eigentlich als Jugendlicher identifiziert wird. In der Psychologie wird das Jugendalter als Zeitspanne zwischen dem Beginn der Pubertät, die zwischen 11 und 14 Jahren einsetzt, und der Postadoleszenz eingegrenzt (Schmidbauer 1976: 104).

Außerdem betont diese Wissenschaft, dass Jugendliche häufig in zwei “Wertwelten“ leben, die zum einen durch die Eltern und zum anderen durch die Gleichaltrigen geprägt werden. Diese beiden Umfelder können die Sprache der Jugendlichen stark beeinflussen und abhängig davon, mit wem die Jugendlichen kommunizieren, wechseln sie zwischen verschiedenen Sprachsystemen.

Wenn “Jugend“, unter entwicklungspsychologischem Aspekt, die relativ weit gefasste Phase des Übergangs zwischen Kindheit und Erwachsenenalter meint, so sind die Grenzen zwischen den einzelnen Entwicklungsstufen individuell und fließend. Genauso wie der Übergang von der einen zur anderen Altersstufe nicht genau bestimmt werden kann, sind doch auch die Abgrenzungen zwischen Kinder-, Jugend-, Umgangs- und gehobener Sprache oder zwischen anderen Sprachregistern und Varietäten innerhalb einer Sprache schwer zu definieren. Der Sprachgebrauch geschieht zudem von Mensch zu Mensch unterschiedlich und ist abhängig vom jeweiligen Entwicklungsstand und der Kommunikationssituation des Individuums.

Jugendlichkeit und das Streben nach “ewiger Jugend“ hat in der Gesellschaft der westlichen Industrienationen der 90er Jahre einen besonders hohen Stellenwert erhalten. Die Menschen wollen ihre Schönheit und Jugend erhalten. Sie sind bemüht, diese Entwicklungsphase möglichst weit nach hinten auszudehnen, indem sie versuchen, wie Jugendliche zu wirken. Die nicht mehr zum Jugendalter gehörenden Erwachsenen signalisieren durch Kleidung, und besonders durch den Gebrauch der Sprache der Jugendlichen, ihre Jugendlichkeit. Sie glauben, sie seien Teil der Jugend durch das Erlernen und den Gebrauch dieser Sprache. Dieses Verhalten trägt enorm zum Mythos “Jugendsprache“ bei.

Das Bild der ewigen Jugend wird vor allem durch die Medien idealisiert und geprägt: Die Werbung arbeitet hauptsächlich mit jungen Menschen in Fernsehen und Presse; sie benutzt die Sprache der Jugendlichen für ihr Ziel, genau diese Personengruppe anzusprechen. Vertreter der Medien sowie die nach Jugendlichkeit Strebenden bedienen sich dabei der zahlreichen “Wörterbücher der Jugendsprache“, die einen großen Erfolg verzeichnen und die den Glauben schenken, es gäbe eine Sprache, die nur von Jugendlichen gesprochen werde.

Das Phänomen “Jugendsprache“ ist auch als Gegenstand linguistischer Untersuchungen kein neues Terrain: Nach Henne (1986: 208ff) ist für die Jugendsprache eine spezifische Sprech- und Schreibweise kennzeichnend, mit der Jugendliche ihre Sprachprofilierung und somit auch ihre Identität finden können. Jugendsprache ist nach Auffassung des Autors keine homogene Varietät des Deutschen, sondern ein spielerisches Sekundärgefüge mit bestimmten Merkmalen. Hierzu gehören z.B. Anreden, Grüße, Partnerbezeichnungen, stereotype Floskeln, Sprachspielereien, Wortbildungen, Worterweiterungen oder Lautverkürzungen.

3. Varietäten des argentinischen Spanisch

Das argentinische Spanisch umfasst heute die Varietäten des Spanisch, die auf dem argentinischen Territorium gesprochen und verschriftet werden. Es ist anzunehmen, dass auch in Grenzregionen zu Argentinien, Varietäten des argentinischen Spanisch vorkommen, da auch räumliche Sprachgrenzen fließend sein können. Neben regionaler und sozialer Dialekte, die sich besonders hinsichtlich der Lexik und Phonetik unterscheiden, gilt " la habla porteña" von Buenos Aires als Varietät, die auf dem gesamten Gebiet höchstes Prestige besitzt (Lipski 1996: 183). Eine genaue diastratische Differenzierung der Varietäten lässt sich aufgrund von noch nicht eindeutig erforschter Sprachgrenzen in diesem Bereich nur schwer ausmachen Nach G. Haensch/R. Werner wird aber folgende sprachgeographische Einteilung der Hauptdialekte vorgenommen [Anhang: I.]:

- ArgRpl - Region des Río de la Plata[1]: Buenos Aires, Entre Ríos, südliches Teilgebiet von Santa Fe
- SArg - Litoral und Süden: La Pampa, Neuquén, Río Negro, Chubut, Santa Cruz, argentinischer Teil von Tierra del Fuego
- Cuyo - Westen: Mendoza und San Juan (viele Gemeinsamkeiten mit dem Spanischen Chiles)
- NOArg - Nordwesten: Tucumán, Salta, Jujuy, Catamarca, La Rioja (mit einem Einfluss des Quechua); Santiago del Estero und kleine Gebiete (isolierter Status): Dialekte, die allmählich von der Standardvarietät der Hauptstadt überlagert werden
- NEArg - Nordosten: Misiones, Corrientes, östlicher Teil von Formosa und Chaco, nördliches Teilgebiet von Santa Fe (mit Einfluss des Guaraní)
- ArgCent - Zentralgebiet: San Luis, Córdoba (hat eine Grenze zu allen anderen Sprachzonen)

3.1 Sprachliche Einflüsse

Die sprachliche Entwicklung in Argentinien ist eng mit siedlungs- und kulturgeschichtlichen Faktoren verbunden, die Aufschluss über die in 3. aufgezeigte diatopische Differenzierung der Hauptdialekte geben:

Die Eroberung Argentiniens vollzog sich in vier Etappen aus verschiedenen Richtungen.

Im Jahre 1536 erfolgte mit der ersten Gründung von Buenos Aires durch Pedro de Mendoza die Eroberung über den Atlantik. Aufgrund des verständlichen Widerstands der ansässigen Indios wurden die Eroberer aber 1541 zur Aufgabe der Stadt gezwungen, nachdem viele diesen Kampf nicht überlebten. Daraufhin zogen die Unversehrten nach Asunción in Paraguay, wo ihnen von dort aus eine erneute Gründung von Buenos Aires im Jahre 1580 gelang.

Die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts war zum einen bedeutend für den zweiten Eroberungszug von Peru aus über Bolivien, in dessen Verlauf u.a. die Städte Córdoba, Tucumán, Santa Fe, Jujuy und Salta gegründet wurden. Diese Epoche war zum anderen entscheidend für die dritte Etappe aus nordwestlicher Richtung: Von Santiago de Chile aus wurden die Provinzen Mendoza, San Juan und San Luis erschlossen, die ursprünglich zur chilenischen Provinz Cuyo gehörten.

Nachdem Río Negro schon 1782 erobert wurde, vollzog sich aber erst im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Eroberung und Kolonisierung der Pampa des Südens durch die spanischsprachigen Argentinier und vor allem durch ins Land geholte europäische Siedler anderer Herkunft. So wurden allmählich die Städte Chubut, Santa Cruz, La Pampa und Neuquén gegründet. Tierra del Fuego wurde sowohl von Chilenen als auch von Argentiniern besiedelt. Erst im Jahre 1893 wurde das Gebiet zwischen beiden Ländern aufgeteilt.

Im Gegensatz zu den übrigen lateinamerikanischen Ländern war das Gebiet Argentiniens für die spanischen Eroberer lange Zeit von geringem Interesse, da es politisch und kulturell isoliert war. So siedelten zu Beginn der Eroberung im 16. Jahrhundert nur kleinere indianische Stämme vorwiegend im Süden des Landes.[2] Die spanischen Kolonisatoren traten also in Kontakt mit indianischen Kulturen, von denen für die sprachliche Entwicklung Argentiniens nur drei Sprachgruppen von Bedeutung blieben: Quechua, Guaraní und Araukanisch (Güida 1993: 13f.), weil die anderen ausgerottet wurden.

Das Quechua wurde im Laufe des 16. Jahrhunderts durch Missionare über Bolivien in den Nordwesten getragen. Im Nordwesten Argentiniens (Salta, Jujuy) ist das Spanisch heute noch von dieser Indiosprache geprägt. Die Provinz Santiago del Estero weist dort sogar einzigartige dialektale Merkmale auf, nimmt aber weit entfernt von Peru einen isolierten Status innerhalb des argentinischen Territoriums ein. Die fehlende Aspirierung des finalen /-s/ ist z.B. ein typisches Kennzeichen für das Spanisch in Santiago del Estero (Kubarth 1987: 174); die Aspirierung ist aber ansonsten in ganz Argentinien üblich.

Nach Güida (1993: 15) hatten die Spanier in Asunción ersten Kontakt mit dem Guaraní. Sie trugen diese Indiosprache im Zuge der Eroberung von Paraguay[3] nach Argentinien, wo sie heute noch im nordöstlichen Gebiet (Corrientes, Misiones, Formosa, Chaco) vorhanden ist und das Spanisch beeinflusst. Ein besonderes Kennzeichen dieser Varietät ist z.B. die Realisierung von /f/ am Wortanfang als stimmlosen velaren Reibelaut, wie in jotografía (=fotografía). Heute finden sich noch ca. 150.000 quechua- und guaranísprechende Indios in Argentinien. (Kubarth 1987: 174f)

Das Araukanisch, das vor allem in den südlichen Provinzen Argentiniens gesprochen wurde, ist noch vereinzelt an der Grenze zu Chile vorhanden, hat aber nur geringen Einfluss auf das Spanische.

Während Argentinien im 19. Jahrhundert noch sehr rural geprägt und somit das Spanische von einer ländlichen Ausdrucksweise geprägt ist, gewinnt das Spanisch der Hauptstadt im 20. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung. Die historische Entwicklung des Landes ab Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts ist hierbei besonders entscheidend, denn diese Epoche markiert einen Einschnitt sowohl in der demographischen[4] und wirtschaftlichen als auch in der sprachlichen Entwicklung des Landes: Ab 1857 kam es zu einer ersten Einwanderungswelle von Europäern, die als Handwerker und landwirtschaftliche Arbeitskräfte ins Land kamen und vorwiegend in noch unerschlossenen Gebieten siedelten. Das Einwanderungsgesetz von 1876, das unter Präsident Avellaneda erlassen wurde, begünstigte eine europäische Masseneinwanderung, zum einen von spanischen, zum anderen von nicht hispanophonen Emigranten u.a. englischer, russischer, französischer, deutscher, portugiesischer und besonders italienischer Nationalität. “Entre 1857 y 1924 entraron en el país 2.604.000 inmigrantes italianos, de los cuales 1.311.000 se instalaron de manera definitiva.” (Golluscio de Montoya 1990: 60)

Die Einwanderer sollten eigentlich die Entwicklung der ländlichen Regionen Argentiniens fördern. Sie ließen sich aber in den Städten des Küstengebietes und in Buenos Aires[5] nieder, weil die Aussicht auf einen Arbeitsplatz und die damit verbundene finanzielle Sicherheit in den Städten weitaus größer war als in der Provinz. Ein ökonomisches Wachstum und der Ausbau der Infrastruktur der Städte des Río de la Plata ging mit der demographischen Entwicklung des Landes einher und neue Arbeitsplätze entstanden vor allem im Dienstleistungsbereich. Eine hohe soziale Mobilität, die durch die Entwicklung des sekundären und universitären Bildungssektors ermöglicht wurde, führte zu einer Veränderung der sozialen Schichtung des Landes und ließ eine Mittelklasse entstehen, der vor allem Italiener angehörten.

“[...] se adivina su presencia en los hábitos de alimentación, en el estilo culinario de los hogares, [...] en el tipo de negocios destinados a la venta de alimentos [...], en el sentido de la fiesta y de la reunión de familia, en los gustos relacionados con el cine, el teatro, las audiciones de radio, la música, en cierto estilo de chistes, en una cierta forma de hablar el castellano, especialmente en las ciudades rioplatenses [...].”(Golluscio de Montoya 1990: 62f)

Der Einfluss auf das kulturelle Leben der Argentinier war enorm, und das Alltagsleben wurde zunehmend von einer italienischen Lebensart geprägt, die sich auch im sprachlichen Bereich deutlich abzeichnete.

Die italienischen Einwanderer, überwiegend von niederer Herkunft, sprachen nur den Dialekt ihrer Heimat, also nicht ein “Standarditalienisch“, das es damals noch nicht gab:

“[...] llegadas masivas, formadas sobre todo por centenas de miles de campesinos y artesanos italianos, en su mayoría analfabetos, hablantes de dialectos itálicos diferentes, provenientes en general de las regiones más pobres de Italia [...]” (Golluscio de Montoya 1990: 60)

Diese Regionaldialekte wurden von den Italienern untereinander kaum verstanden, so dass sie gezwungenermaßen auf die spanische Sprache zurückgreifen mussten, um miteinander kommunizieren zu können. Es ist anzunehmen, dass auch die Einwanderer anderer Nationalitäten auf das Spanisch als Verkehrssprache rekurrierten. Aber nur die massive Zuwanderung von Italienern, über einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert, ermöglichte ein Konkurrieren der italienischen Dialekte mit dem argentinischen Spanisch, so dass es hier zu bemerkenswerten Interferenzen kam.

3.2 Der Cocoliche

Eine Folge des Sprachkontakts war der “Cocoliche“. Es handelt sich hierbei um eine Mischsprache, deren Gebrauch ausschließlich auf die erste Generation der italienischen Einwanderer in Buenos Aires und Montevideo in Uruguay begrenzt war. Die Nachkommen der Italiener lernten dagegen die Sprache des Gastlandes als erste Sprache im Pflichtschulbereich. Zudem hatte das argentinische Spanisch einen weitaus höheren Stellenwert als der Cocoliche, der nur wenig Prestige besaß und dessen Beherrschung keinen sozialen Aufstieg bedeutete.

Auf lexikalischer Ebene kam es zu Kreationen wie z.B. aschidente (=accidente), cumpá (=compare) oder posíbile (= posible). Auf phonetischem Niveau ist das Auslassen des finalen /-s/ im Plural charakteristisch für den Cocoliche: z.B. Carlito (=Carlitos), tifu (=tifus) oder die Vertauschung der Vokale e mit i und o mit u: z.B. camenare (=caminare), chicu (=chico), orgolloso (=orgulloso) oder quisto (=questo). Im morphosyntaktischen Bereich sind Verkürzungen wie z.B. col (=con el), nel (=en el) oder der Gebrauch von Präpositionen, wie in estar a la casa (=estar en casa) oder ir en la escuela (=ir a la escuela), typisch für diese Mischsprache. (Golluscio de Montoya 1990: 66f)

Der Cocoliche, dem sogar der Wert einer Pidginsprache[6] beigemessen werden kann, wurde im Laufe des Hispanisierungsprozesses der Einwanderer vom Spanisch abgelöst:

“Razones históricas y sociales hicieron que frente a la necesidad de intercomprensión, una de las dos lenguas, el castellano del Río de la Plata – lengua del país receptor, del mercado de trabajo y de la administración – desalojara a la otra, los dialectos italianos – lengua del inmigrante proveedor de la mano de obra.” (Golluscio de Montoya 1990: 65)

Heute erscheint der Cocoliche noch gelegentlich in Zeitungen, Romanen, Gedichten und Theaterstücken mit humoristischem Charakter. Ihre Bezeichnung verdankt die Sprache übrigens der Zirkusfigur Antonio Cocoliche, die von einem Italiener dargestellt wurde. Dieser hinterlies bei dem Versuch argentinisches Spanisch zu sprechen, einen amüsanten Eindruck beim Publikum.

3.3 Der Lunfardo

Eine weitere Varietät entstand aus der Kontaktsituation des Italienisch mit dem Spanisch in Argentinien: der Lunfardo. Er entwickelte sich, wie der Cocoliche, in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aus den untersten sozialen Klassen von Buenos Aires und bezeichnet heute den Argot dieser Stadt, der Vorstädte und der Großstädte des Río de la Plata.

Der Lunfardo wurde sehr stark vom Italienischen geprägt und zeichnet sich in dieser Hinsicht vor allem durch seine Lexik aus. Es finden sich Ausdrücke wie z.B. batidora / batir (= delatar) von battere, bulín (=habitación) von bulín/bolín, chicato / checato (=cegato) von accecato, estrilar (=rabiar) von strillare, fiaca (=pereza) von fiacca, lunga (=larga) von lungo, yirar (= dar vueltas; vagar) von girare, manyar (fam.=comer, argot.=entender, comprender) von mangiare, pianye (=llorar) von piangere und topián (=escapar) (Silbenvertauschung von (es)piantar und Verschmelzung von piantare und spiantare).

Auch aus den italienischen Dialekten kommen Begriffe vor: z.B. aus dem Genuesischen bacán (=hombre, hombre que mantiene a una mujer, individuo adinerado) von baccan, cafisho/cafishio/caficho (=proxeneta) von stocchefisce, mishiadura, misho (=extrema pobreza, pobre) von miscio, pibe (=niño, muchacho) von pivetto, shacar (=robar) von sciaccâ; aus dem Piemontesischen linyera (=vagabundo) von lingèra oder aus dem Venezianischen encanado / encanar / cana (=prisión, apresar) von incaenar, faso (=cigarrillo) von fasso (Golluscio de Montoya 1990: 73ff).

Ausdrücke aus anderen Einwandersprachen und den Indiosprachen finden sich ebenfalls im Lunfardo wieder: z.B. aus dem Englischen dribleo / driblear (=gambetear en el fútbol) von dribbling, naife (=cuchillo) von knife, aus dem Französischen ragú (=hambre) von ragout, aus dem Brasilianischen vichar / bichar (=observar, espiar, vigilar), cacho (=racimo de bananas), aus dem Quechua che (=gente), chiche (=cosa primorosa o elegante) oder aus dem Guaraní bataraz (=matizado en color) von mbatará (Teruggi 1978: 131ff).

Der Lunfardo vereinigt also die unterschiedlichsten Wendungen aus verschiedenen Sprachen und Varietäten innerhalb eines in sich geschlossenen sprachlichen Systems – dem argentinischen Spanisch. Das bedeutet: Der Lunfardo ist keine eigenständige Sprache mit eigenen grammatischen Regeln und Normen, sondern er ist vielmehr Argot. Die Entstehung und der Gebrauch von Lunfardismen findet nämlich im üblichen phonetischen, syntaktischen und morphologischen Rahmen des argentinischen Spanisch statt. Der enorme Einfluss der italienischen Dialekte auf diese Varietät wird besonders in den oben aufgeführten Beispielen deutlich. So trägt auf phonetischer Ebene das Italienisch vor allem zu einem verstärkten Yeísmo und zum Auslassen des finalen /-s/ bei. Ebenfalls typisch für das argentinische Spanisch ist auf morphosyntaktischer Ebene der universale Gebrauch von vos statt (=voseo) (Golluscio de Montoya 1990: 65). Außerdem finden sich Realisierungen, die im peninsularen Spanisch nicht existieren,

z.B. /ny/ in den Ausdrücken manyar, pianye und linyera oder /sh/ in cafisho, misho und shacar.

Als Hauptcharakteristikum des Lunfardos gilt der Reichtum an Synonymen u. die ständige Erneuerung von Ausdrücken:

“Como procedimiento idiomático de acuñar neologismos, nuestro lunfardo no difiere en nada de los restantes argots. [...] El lunfardo es uno de ellos, con los cuales comparte, entre otras cosas, los mecanismos de formación de su vocabulario [...]. El espíritu nacional, el alma popular y las idiosincrasias locales se reflejan en las palabras y frases que se crean, adaptan o adoptan, no en los procedimientos con que se las genera.” (Teruggi 1978: 34ff)

Teruggi betont hier, der Lunfardo besitze zwar alle Merkmale von Argot und kann als der spezifische Argot von Argentinien verstanden werden. Denn er ist Ausdruck des Lebensgefühls der Menschen einer Gesellschaft, die sich in einem großen strukturellen Wandel befand und der nationalen Identität eines Landes, das Millionen von Emigranten aufnahm und viele Kulturen vereinte.

In der Literatur finden sich allerdings divergierende Aussagen über die Bedeutung des Lunfardos und seinen Ursprung:

Lipski hebt hervor, dass nach allgemeiner Auffassung der Lunfardo aus dem Jargon der Kriminellen entstanden sein soll, zur Bezeichnung von Ausdrücken, die nicht von Außenstehenden verstanden werden sollten:

“Como el pachuco mexicano, algunos creen que el lunfardo nació como jerga de criminales. Lo normal en ese tipo de jergas es que se sustituyan las palabras para impedir la comprensión a los no iniciados. El uso del término lunfardo para designar a los criminales y a su lengua apoya esta teoría.” (Lipski 1996: 197)

Ein Vertreter dieser These ist Guarnieri (1978: 52ff), der sich auf folgende Autoren stützt: Benigno Lugones (Los beduinos urbanos, Los caballeros de industria, 1879), José S. Alvarez, der unter dem Pseudonym Fray Mocho bekannt ist, (Historia de un vigilante, 1897) und Dr. Antonio Dellepiane (Contribución al estudio de la psicología criminal. El idioma del delito, 1894). Die Werke dieser Autoren umfassen delinquente Ausdrücke des kriminellen Milieus von Buenos Aires.

Teruggi kritisiert diese ersten Kompilationen des Lunfardos, denn sie vermitteln den Eindruck, der Lunfardo sei eine eigene Sprache der Kriminellen. In den Werken finden sich aber neben Lunfardismen auch ländliche Ausdrucksweisen, Vulgarismen und Barbarismen, die sich nicht auf das kriminelle Milieu beziehen. Die Informationen der Autoren stammen zwar aus erster Hand, da es sich bei den Verfassern um Kriminalisten oder Angehörige des Polizeiapparates der Hauptstadt handelt. Nach Teruggi (1978: 24) wurde aber eine fundierte wissenschaftliche Analyse der Ausdrücke und eine Einteilung in verschiedene sprachliche Register von diesen ersten Lexikographen des Lunfardos außer acht gelassen.

“Desde hace varias décadas ha caído en total desuso el término lunfardo como sinónimo de ladrón y sólo se lo emplea como nombre del argot primitivamente porteño. [...] La atribución de origen y naturaleza delictivos al lunfardo configura un prejuicio que, de ninguna manera, es exclusivo de la Argentina.“ (Teruggi 1978: 21f)

[...]


[1] Flussmündung des Paraná und Uruguay.

[2] Güida (1993, 12f.) spricht von insgesamt ca. 300.000 Indios auf dem eroberten Gebiet.

[3] In Paraguay, wo Guaraní neben Spanisch gleichwertig existiert und offiziellen Status besitzt, sind heute 50% der Einwohner bilingual in Spanisch und Guaraní, 90% sprechen Guaraní. Es handelt sich hierbei um den höchsten Grad nationaler Zweisprachigkeit weltweit.

[4] Es kann zum Ende des 18. Jahrhunderts von folgender demographischer Situation in Argentinien ausgegangen werden: Weiße, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung 38% ausmacht, leben vorwiegend in Städten genauso wie die Mestizen, deren Anteil 8% beträgt. Schwarze, die als Sklaven ins Land kamen, sind mit 32% vertreten und finden sich hauptsächlich, wie die Indianer mit einem Anteil von 22%, in ländlichen Gebieten. (Güida 1993: 20)

[5] Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren mehr als die Hälfte der Einwohner Buenos Aires von italienischer Nationalität. (Lipski 1996: 188)

[6] “[...] bezeichnet eine aus einer sprachlichen Notsituation entstandene Mischsprache: Beim Aufeinandertreffen von Sprechern unterschiedlicher Sprachen ohne gegenseitiges Sprachverständnis werden Struktur und Vokabular der einzelnen muttersprachlichen Systeme nachhaltig reduziert, um eine Verständigung herbeizuführen; allmählich bildet sich aus diesem Kontaktidiom eine funktionsfähige Mischsprache, die neben der jeweiligen Muttersprache erlernt wird.[...]“ (Bussmann 1990: 587)

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Jugendsprache in Argentinien
Hochschule
Universität Bremen  (Sprach- und Literaturwissenschaften)
Veranstaltung
Sprache und Jugend in der hispanophonen Welt
Note
1
Autor
Jahr
2001
Seiten
44
Katalognummer
V9469
ISBN (eBook)
9783638161664
Dateigröße
808 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jugendsprache, Argentinien, argentinisch, Spanien, spanisch, Lebenswelt von Jugendlichen, Merkmale von Jugendsprache, Lunfardo, Cocoliche, Varität, Varitäten, Diccionario del espanol de Argentina
Arbeit zitieren
Melanie Meirich (Autor:in), 2001, Jugendsprache in Argentinien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/9469

Kommentare

  • Gast am 1.2.2008

    Fehlerteufel.

    In der Einleitung des Textes (ich habe ihn nicht komplett), spricht die Autorin davon, dass der Lunfardo ein Produkt der italienischen Immigranten ist. Das stimmt nicht. Die Varietät, die durch die italienisch stämmigen Einwanderer entstanden ist, ist der Cocoliche.
    Der Lunfardo ist durch die Wechselbeziehungen der europäischen Einwanderer, Gauchos, Afrikaner und Indios in der unteren Schicht in Argentinien entstanden.

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