Superfrauen 5 - Wissenschaft


Fachbuch, 2001

337 Seiten


Leseprobe


INHALT

Vorwort

Maria Gaetana Agnesi Berühmt durch die „Agnesische Hexe“

Mary Anning Englands frühe Saurierjägerin

Laura Bassi Die erste Professorin Europas

Charlotte Bühler Die Wegbereiterin der humanistischen Psychologie

Emilie du Châtelet Die „Newton-Venus“

Gerty Cori Die erste Medizinnobelpreisträgerin

Marie Curie Die erste Frau mit zwei Nobelpreisen

Helene Deutsch Die Kennerin der Frauenpsyche

Amalie Dietrich Die deutsche Australienforscherin

Gertrude Belle Elion Die Entwicklerin pharmakologischer Klassiker

Cassandra Fedele Die „Zierde Italiens“

Dian Fossey Die berühmteste Gorillaforscherin

Anna Freud Die Begründerin der Kinderpsychoanalyse

Biruté Galdikas Die berühmteste Orang-Utan-Forscherin

Dorothy Garrod

Die Expertin für die Altsteinzeit

Maria Goeppert-Mayer Sie löste das Rätsel der „magischen Zahlen“

Jane Goodall Die berühmteste Schimpansen-Forscherin

Caroline Herschel Die Frau, die Kometen jagte

Shere Hite Die Kennerin der weiblichen Sexualität

Dorothy Hodgkin Die Meisterin der Kristallstruktur-Durchleuchtung

Hypatia Die erste Mathematikerin

Irène Joliot-Curie Die Entdeckerin der künstlichen Radioaktivität

Kathleen Kenyon Die große Ausgräberin im Nahen Osten

Sofja Kowalewskaja Die Pionierin der Mathematik

Elisabeth Kübler-Ross Sie linderte die Furcht vor dem Tod

Mary Leakey Auf den Spuren der Vormenschen

Ruth Levi-Montalcini Die erfolgreichste amerikanische Embryologin

Maria Gräfin von Linden Die erste deutsche „Doktorin der Naturwissenschaften“

Ada Byron Countess of Lovelace Die erste Programmiererin

Barbara McClintock Das „Genie der Genetik“

Margaret Mead Die „große alte Dame der Anthropologie“

Lise Meitner Die Frau, die die Uranspaltung erklärte/

Maria Sibylla Merian Die erste deutsche Insektenforscherin

Johanna Mestorf Die erste deutsche Museumsleiterin

Margarete Mitscherlich Deutschlands renommierteste Psychoanalytikerin

Maria Montessori Die Entdeckerin des „Montessori-Phänomens“

Elisabeth Noelle-Neumann Die erste Meinungsforscherin Deutschlands

Christiane Nüsslein-Volhard Die erste deutsche Medizinnobelpreisträgerin

Annemarie Schimmel Die berühmteste Orientalistin Deutschlands

Anna Maria von Schurmann Die Vorkämpferin für das Studium der Frauen

Rosalyn Sussman Yalow Die Physikerin und Nuklearmedizinerin von Weltrang

WeitereWissenschaftlerinnen /

Hertha MarksAyrton – Martine Baronesse de Beausoleil – Jocelyn Bell-Burnell – Ruth Benedict – Ida Bognár-

Kutzián – Sophia Brahe – Annie Jump Cannon – Margaret Cavendish – Agnes Mary Clerke – Hedwig Conrad-Martius – Anne Conway – Maria Cunitz – Jeanne Dumée – Maria Clara Eimmart – Mileva Ein- stein – Rhoda Erdmann – Williamina Fleming – Rosa- lind Franklin – Sophie Germain – Marija Gimbutas – Marianne Grunberg-Manago – Elisabeth Hevelius – Hildegard von Bingen – Grace Hopper – Margaret Huggins – Marie Jahoda – Maria Kirch – Ilse Knott-Ter Meer – Ilona Kovrig – Marie-Jeanne Lalande – Pia Laviosa-Zambotti – Marie Paulze de Lavoisier – Henrietta Leavitt– Nicole-Reine Lépaute–Anna Morandi Manzolini – Maria die Jüdin – Maria Mitchell – Mary Wortley Montagu – Amália Mozsolics – Margaret Morse Nice– Emmy Noether– Ida Noddack– Eleanor Ormerod – Louise de la Madeleine du Piérry – Elena Piscopia – Agnes Pockels – Ellen Richards – Elisabeth Ruttkay – Dorothea von Schlözer – Mary Fairfaux Somerville – Marjory Stephenson – Rose Stoppel – Tapputi- Belatekallin – Mary Whitney – Margarethe von Wrangell – Chieng-Shiung Wu – Anne Young – Zoe

Literatur

Bildquellen

Der Autor

DANK

Für Auskünfte, kritische Durchsicht von Texten (Anmerkung: Etwaige Fehler gehen zu Lasten des Verfassers), mancherlei Anregung, Diskussion und andere Arten der Hilfe danke ich herzlich:

Rüdiger Articus,

Hamburger Museum für Archäologie und die Geschichte Harburgs, Hamburg

Louis Azzopardi,

National Tourism Organization – Malta, Valetta

Michael Barth,

Lehrer für Mathematik und Physik am Gymnasium Sarstedt

Werner Baumbauer †, Mackenrodt

Rolf-Ingo Behnke,

Diplom-Bibliothekar, Stadtbibliothek Salzgitter

Falk Berger,

Sigmund-Freud-Institut,

Forschungsinstitut für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Frankfurt am Main

Marta Cavazza,

Department of Philosophy, University of Bologna

Centre Georges Pompidou,

Bibliothéque publique d'information, Paris

Roger Clarke,

Admin Secretary, Lyme Regis Philpot Museum,

Lyme Regis

Klaus Peter Creamer,

Beltz Presse, Weinheim

Andreas Dether, Dorum

Deutsches Historisches Institut Rom

Christiane Eichenberg,

Psychologisches Institut der Universität Köln

Dipl.-Ing. Thomas Felte,

Wilhelm-Foester-Sternwarte e. V., Berlin

Edith Fleckenstein-Sternsdorff, M. A.

Kulturanthropologie/ Europäische Ethnologie,

Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main

Professor Dr. Volkmar Fritz,

Fachbereich Evangelische Theologie und deren Didaktik der Justus-Liebig-Universität Gießen,

Institut für Evangelische Theologie

Juergen Franssen,

Universität Heidelberg

Dr. rer. nat. Manfred Gaida,

Extraterrestrik (Space Science),

DLR Bonn-Oberkassel

Matthias Galm GbR, Bruchsal

Professor Dr. Peter Gutjahr,

Universitätskinderklinik, Mainz

Peter Chr. Hammelsbeck,

The Jane Goodall Institute,

Jane Goodall Roots & Shoots e. V., München

Sabine Happ, M. A.,

Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Archiv

Dr. Angelika Heinrich,

Prähistorische Abteilung, Naturhistorisches Museum Wien

Ulrike Hertlein,

Kulturreferat, Deutsche Botschaft Nairobi

Dr. Shere Hite,

Sexualforscherin und Autorin, Hite Research, Paris

Jennifer Kerns,

Development Office, Newnham College, Cambridge

Britta Lohmann, Göttingen

Caroline Lüderssen,

Redaktion Italienisch, Frankfurt am Main

Dr. Margarete Maurer,

Rosa-Luxemburg-Institut, Wien

Dr. med. Margarete Mitscherlich-Nielsen †,

Psychoanalytikerin, Frankfurt am Main

Dr. Michael Müller-Karpe,

Römisch-Germanisches Zentralmuseum Mainz

Professorin Dr. Elisabeth Noelle-Neumann †,

Institut für Demoskopie Allensbach,

Gesellschaft zum Studium der öffentlichen Meinung mbH,

Allensbach am Bodensee

Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Psychologie

Professorin Dr. rer. nat. Christiane Nüsslein-Volhard,

Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, Tübingen

Dr. K. Obermayr,

Europa-Schule, Rhein-Main-Schule Dr. Obermayr,

Wiesbaden

Dr. Onora O’Neill,

Newnham College, Cambridge

Professor Dr. Wolfgang Nellen, Universität Kassel

Bernd Neu, Archivar, Ingelheim

Monika Oehme,

Universitätsbibliothek Marburg, Katalogsaal/Auskunft

Polityka, Warschau

Doris Probst, Mainz-Kostheim

Stefan Probst, Mainz-Kostheim

Alexander Pullen,

Archives Assistant, Central Archives,

The British Museum, London

Dr. Pierre Radvanyi, Paris

Dr. Helmut Rechenberg,

Max-Planck-Institut für Physik, Werner Heisenberg-Institut,

München

Dr. Elisabeth Ruttkay †,

Prähistorische Abteilung, Naturhistorisches Museum Wien

Wolfgang Schibel,

Bibliothek, Universität Mannheim

Professorin Dr. Annemarie Schimmel †,

Islamwissenschaftlerin und Orientalistin, Bonn

Katharina Schmidt-Loske,

Diplom-Biologin, Bonn

Dr. Michael Schönhut,

Fachbereich IV. Ethnologie, Universität Trier

Professor Dr. Friedemann Schrenk,

Hessisches Landesmuseum Darmstadt

Dr. Peter Schröter,

Anthropologische Staatssammlung, München

Dr. Raymond Seltz,

Centre National de la Recherche Scientifique (C.N.R.S.),

Bonn

Barry Shell,

Research Communications Manager,

Centre For Systems Science, Simon Fraser University,

Burnaby

Dr. Wolfgang J. Smolka,

Ludwig-Maximilians-Universität, Universitätsarchiv,

München

Stadtarchiv Zürich

Stadtbücherei Kiel

Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter

Nachrichten, Dokumentation

Anne Thomson,

Newnham College Archives, Cambridge

Dr. Renate Tobies,

Universität Kaiserslautern, Fachbereich Mathematik

Cordula Tollmien, Autorin, Hannoversch Münden

Ullstein, Dokumentation und Bibliothek, Berlin

Dilys MacKinnon Vass,

Executive Director,

The Jane Goodall Institute, Lymington Hants

Annette Vogt,

Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin

Kendall P. Watts,

Staff Assistant, Registrar’s Office,

Massachusetts General Hospital, Boston

Dr. Nancy S. Weitz,

Cavendish Society, England

Dr. Rupert Wild,

Staatliches Museum für Naturkunde, Stuttgart

Zum Zeitpunkt der ersten Recherchen hatten einige der erwähnten Personen noch andere Funktionen als heute

VORWORT

Pionierinnen in Wissenschaft und Technik

Erstaunlich wenig bekannt ist immer noch, welche bedeu-tenden Leistungen tüchtige und kluge Frauen in Wissen-schaft und Technik vollbracht haben. Dies liegt wohl daran, dass dieses Thema in Nachschlagewerken, Handbüchern und Lexika oft nicht gebührend oder gar nicht behandelt wird. Ob die zumeist männlichen Autoren dieser Werke dies unwissentlich oder absichtlich getan haben, lässt sich nicht klären.

Trotzdem hat es immer wieder couragierte und geniale Frauen gegeben, denen es gelungen ist, die Schranken des von Männern beherrschten Systems zu durchbrechen und ihren mathematischen, naturwissenschaftlichen oder techni-schen Interessen nachzugehen. Sei es die erste Mathematike-rin Hypatia in Ägypten, die erste europäische Professorin Laura Bassi in Italien, die erste Programmiererin Ada Byron Countess of Lovelace in England oder die Kometenjägerin Caroline Herschel in Deutschland.

Das vorliegende Taschenbuch „Superfrauen 5“ will die gro-ßen Leistungen, die Frauen in Wissenschaft und Technik zuzuschreiben sind, mehr in das Bewusstsein der Öffentlich-keit rücken. Es präsentiert 41 Lebensläufe in Wort und Bild sowie zahlreiche weitere kurze Hinweise auf verdienstvolle Forscherinnen. Es schildert, wie mühsam sich tapfere Frauen einen Platz in der Wissenschaftsgeschichte erkämpften.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Maria Gaetana Agnesi

Berühmt durch die „Agnesische Hexe“

A ls erste Mathematikerin Italiens ging Maria Gaetana Agnesi (1718–1799) in die Annalen der Wissenschaft ein. Sie verfasste viel beachtete wissenschaftliche Werke und machte eine Formel bekannt, die nach ihr als „Agnesische Hexe“ benannt wurde. Während der letzten Jahrzehnte ihres Lebens widmete sie sich der Religion und der Wohltätigkeit.

Maria Gaetana Agnesi kam am 16. April 1718 in Mailand zur Welt. Sie war das erste von insgesamt 21 Kindern, die ihr Vater Pietro Agnesi mit drei Ehefrauen gezeugt hatte. Ihr Vater erkannte früh ihre große Begabung und förderte sie, indem er für sie angesehene Gelehrte als Privatlehrer engagierte. Maria Gaetana galt als Wunderkind, weil sie bereits als Neunjährige Vorlesungen in Latein hielt und als junges Mädchen sieben Sprachen beherrschte.

Der stolze Vater gründete in seinem Haus einen Salon, in dem Maria Gaetana mit gelehrten Gästen über Philosophie und Naturwissenschaft diskutierte. Seine zweite, musika-lisch sehr talentierte Tochter Maria Teresa (1720–1795) spielte bei „akademischen Abenden“ Cembalo. Die Mutter starb nach der Geburt ihres achten Kindes, als Maria Gaetana erst 14 Jahre alt war.

1738 erschien das Werk „Propositiones Philosophicae“ von Maria Gaetana Agnesi, in dem sie unter anderem das Phänomen des Polarlichts behandelte und merklich von den damals üblichen Erklärungen abwich. Beim Polarlicht handelt es sich um eine nächtlich zu beobachtende Leuchterscheinung in den polaren Gegenden der Nordhalb-kugel (Nordlicht) und Südhalbkugel (Südlicht).

Mit 21 Jahren wollte Maria Gaetano Agnesi ins Kloster gehen, doch ihr Vater konnte ihr diesen Wunsch ausreden. Unter den Bedingungen, sie wolle sich einfach und bescheiden kleiden dürfen sowie nicht ins Theater, zu Bällen oder zu anderen gesellschaftlichen Ereignissen gehen müssen, widmete sie sich weiter der Wissenschaft. 1740 erschien die Publikation eines anderen Autors über das Nordlicht, der sich die zwei Jahre zuvor geäußerten Ansichten von Maria Gaetana Agnesi zu eigen machte. Giovanni Crivelli (1691–1743) nahm in einer neuen Ausgabe seines Werkes „Elementi di Fisica“ die Untersu-chungen Agnesis über das Nordlicht auf. Damit entsprach er einer Bitte der extrem zurückhaltenden Maria Gaetana, die befürchtete, man könne sie bei einer eigenen Publikation des Plagiats bezichtigen.

Der Ruhm von Maria Gaetana Agnesi wurde durch ihr 1748 veröffentlichtes zweibändiges Werk „Instituzioni analiti-che“ („Grundlagen der Analyse“) begründet. Darin behan-delte sie Algebra sowie analytische Geometrie, Integral-und Differentialrechnung. Diese Arbeit widmete sie der österreichischen Herrscherin Maria Theresia (1717–1780), die ihr zum Dank ein Kristallkästchen mit Diamanten und einem Diamantring schenkte. Im Erscheinungsjahr ihrer „Instituzioni analitiche“ wählte man sie in die „Akademie der Wissenschaften“ zu Bologna.

Berühmt wurde Maria Gaetana Agnesis Formel für die „kubische Kurve“, die unter der Bezeichnung „Agnesische Hexe“ Aufsehen erregte. Maria gab dieser Kurve wegen deren geschwungener Gestalt den Namen „Versiera“. Daraus entstand irrtümlich der Ausdruck „Hexe“, weil das Wort „Versiera“ im Italienischen auch diese Bedeutung hat. Der englische Physiker, Mathematiker und Astronom Isaac Newton (1643–1727) behandelte die „Versiera“ schon vor Maria Gaetana Agnesi, doch diese wurde erst durch die gründliche Untersuchung Agnesis allgemein bekannt.

Als man Papst Benedikt XIV. (1675–1758) Kopien der Arbeiten von Maria Gaetana Agnesi schickte, beglück-wünschte er die 30-Jährige und ernannte sie zur Honorar-professorin an der Universität Bologna, an der bereits ihr Vater als Mathematikprofessor gewirkt hatte. Dort lehrte sie allerdings niemals, obwohl die berühmte Physikerin Laura Bassi (1711–1778) sie mehrfach darum bat.

Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Maria Gaetana Agnesi wurden unter der Schirmherrschaft der „Académie Royale des Sciences“ in die französische Sprache übersetzt. Ungeachtet dessen lud man sie jedoch nicht dazu ein, sich dieser renommierten Pariser Akademie anzuschließen.

Nach dem Tod ihres Vaters 1752 zog sich Maria Gaetana Agnesi aus der Öffentlichkeit zurück. Die junge, unverhei-ratete und sehr religiöse Frau gab ihre wissenschaftlichen Ämter ab, studierte Theologie und half armen, kranken und heimatlosen Menschen, vor allem Frauen, und versorgte ihre zahlreichen jüngeren Brüder. Ihr Vater hatte in drei

Ehen insgesamt 21 Kinder gezeugt. Anfangs wohnte sie mit einigen ihrer Schutzbefohlenen im Elternhaus, später zog sie mit vier von ihnen in ein Miethaus.

1771 übernahm Maria Gaetana Agnesi in Mailand die Leitung der Frauenabteilung des „Pio Albergo Trivulzio“, eines Heims für alte und geisteskranke Menschen. Sie verfasste mehrere christliche Werke, die in der „Ambrosia-na-Bibliothek“ von Mailand aufbewahrt werden und unveröffentlicht blieben.

Am 9. Januar 1799 starb Maria Gaetana Agnesi im Alter von 80 Jahren in Mailand. Zu Ehren der berühmten Mathematikerin wurde später ein Krater des Planeten Venus benannt. In manchen Büchern wird sie als „erste Mathematikerin“ bezeichnet. Doch in Wirklichkeit gebührt diese Ehre der griechischen Mathematikerin und Philoso-phin Hypatia (370–415).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Mary Anning

Englands frühe Saurierjägerin

G roßbritanniens erfolgreichste Fossiliensammlerin des 19. Jahrhunderts war Mary Anning (1799–1847). Einmal wurde sie sogar als die „größte Fossiliensammlerin, die die Welt kannte“, bezeichnet. Die rührige Hobby-Palä-ontologin spürte aufsehenerregende Reste von prähistori-schen Fischen, Meeres- und Flugsauriern aus der frühen Jurazeit vor mehr als 200 Millionen Jahren auf, die sie präparierte und an zahlungskräftige Interessenten verkauf-te. Mit vielen Gelehrten ihrer Zeit war sie befreundet.

Mary Anning kam am 21. Mai 1799 als eines von zehn Kindern des Kunsttischlers Richard Anning (1766–1810) und seiner Frau Mary in dem Dorf Lyme Regis an der Küste von Dorset zur Welt. Von diesen Jungen und Mädchen er-reichten nur zwei, nämlich Mary und ihr Bruder Joseph (1796–1849), das Erwachsenenalter. Die Schilderungen über Marys Kindheit sind unvollständig und widersprüch-lich. Manche Darstellungen ihres Lebens wurden erfunden. Eine der unglaublich klingenden Geschichten über Mary Anning handelt davon, 1800 habe ein Blitz mitten im Dorfeingeschlagen und vier Frauen getroffen. Die einzige Überlebende sei die 15 Monate alte Mary gewesen. Mitunter liest man, Mary sei mit ihrem Kindermädchen vom Blitz getroffen worden. Das Kindermädchen kam dabei angeblich ums Leben, die kleine Mary dagegen konnte, nachdem man sie in warmes Wasser getaucht hatte, wiederbelebt werden. Vor dem Unfall soll sie ein teilnahmsloses Kind gewesen, nachher jedoch lebhaft und intelligent geworden sowie prächtig gewachsen sein.

Das Fossiliensammeln an den Klippen der Küste nahe ihres Heimatortes Lyme Regis lernte Mary von ihrem Vater. Dieser barg dort viele Fossilien und verkaufte sie an Touristen. Die Suche nach Resten fossiler Meerestiere in der Gegend von Lyme Regis war ein gefährliches Unterfangen. Dabei musste man unter einsturzgefährdeten Klippen und bei wechselnden Gezeiten – teilweise im Wasser watend – nach Funden Ausschau halten.

Der Vater von Mary starb 1810 im Alter von nur 44 Jahren an Tuberkulose. Dadurch verlor die Familie Anning ihren Ernährer. Mary und ihr Bruder Joseph begannen nun, in großem Stil an der Küste von Lyme Regis nach Fossilien zu suchen, um mit deren Verkauf das Familieneinkommen zu verbessern.

Bereits als elfjähriges Mädchen fand Mary Anning 1811 den größten Teil des Skeletts von einem Fischsaurier (Ichthyosaurier) der Art Temnodontosaurus platydon. Ihr Bruder hatte schon 1810 den Schädel dieses Meerestieres entdeckt, der irgendwie an ein Krokodil erinnerte. Der Rest des Skeletts kam erst zum Vorschein, nachdem ein Sturm Teile der Klippe weggerissen hatte. Erstmals lag nun ein komplettes Skelett eines derartigen Ichthyosauriers vor. Fragmente eines solchen Fischsauriers aus Wales hatte manbereits 1699 beschrieben. Der wissenschaftlich wertvolle Fund eines kompletten Fischsaurier-Skeletts wurde in den „Transactions of the Royal Society“ publiziert, als Mary zwölf Jahre alt war.

Als Glücksfall für die in Armut lebende Familie Anning erwies sich 1817 die Bekanntschaft mit dem professionel-len Fossiliensammler Lieutenant-Colonel Thomas Birch (1769–1829). Gerührt von der Armut der Familie veräußer-te er seine Fossiliensammlung bei einer Auktion und schenkte den bedürftigen Annings den Verkaufserlös von 400 Britischen Pfund.

1823 stieß Mary Anning in den Klippen von Lyme Regis auf einen nahezu kompletten Plesiosaurier (Ruderechse) der Art Plesiosaurus dolichodeirus. Dabei handelte es sich ein räuberisches Meeresreptil aus der frühen Jurazeit. Erstmals wissenschaftlich beschrieben wurde dieser be-deutsame Fund durch den britischen Paläontologen und Geologen William Conybeare (1787–1857). Als der renommierte französische Paläontologe Georges Cuvier (1769–1832) erstmals eine Zeichnung von diesem Fossil sah, bezweifelte er dessen Echtheit.

Nach einem Besuch 1824 in Lyme Regis schrieb Lady Harriet Sivester, die Frau des Stadtrichters von London, über Mary Anning in ihr Tagebuch, es sei außergewöhnlich, wie gründlich diese junge Frau ihre Wissenschaft betreibe. In dem Augenblick, in dem sie irgendeinen Knochen finde, wisse sie sofort, worum es sich handle. Sie fixiere die Knochen in einem Rahmen mit Zement und fertige dann Zeichnungen an.

Ab Mitte der 1820-er Jahre betrieb Mary Anning – statt ihrer Mutter – allein den Fossilienhandel. Ihr Bruder Joseph verdiente damals als Möbelpolsterer seinen Lebensunterhalt. Mary verkaufte die meisten der von ihr entdeckten und präparierten Funde an Museen, Wissenschaftler und reiche Privatsammler. Kenner rühmten ihre Geduld und Sorgfalt bei der Suche, Bergung und Präparation von Fossilien sowie ihre kompetenten Zeichnungen und Beschreibungen ihrer Funde.

1828 barg Mary Anning in den Kliffs von Lyme Regis Skelettreste eines Flugsauriers ohne Schädel. Dieser Fund aus der frühen Jurazeit wird in der Literatur oft als erster englischer Flugsaurier bezeichnet. In Wirklichkeit sind die ersten Flugsaurierreste aus Großbritannien schon 1827 von dem Arzt und Fossiliensammler Gideon Mantell (1790– 1852) aus Lewes beschrieben worden. Allerdings deutete er die im Tilgateforest entdeckten Flugsaurierreste fälschli-cherweise als Vogelknochen.

Marys Annings Flugsaurierfund wurde von dem Oxforder Professor William Buckland (1784–1856) erworben und von ihm 1829 in den Berichten der „Geologischen Gesellschaft“ in London als neue Art der Gattung Pterodactylus („Flugfinger“) beschrieben. Buckland hatte 1824 bereits den ersten Dinosaurier, den Raubdinosaurier Megalosaurus („Großechse“) aus England, publiziert. Wegen der großen Krallen an den kleinen Fingern bezeichnete Buckland die neue Flugsaurierart als Pterodac-tylus macronyx.

Als 1858 dem englischen Paläontologen Richard Owen (1804–1892) weitere Flugsaurierreste derselben Art aus Lyme Regis, darunter auch solche mit Schädeln, vorgelegt wurden, erkannte er rasch, dass sich der Schädel von der bisher nur aus Solnhofen in Bayern bekannten Gattung Pterodactylus merklich unterschied. Daraufhin gab er den Flugsauriern aus Lyme Regis wegen ihrer zwei verschiedenen Zahnformen im Gebiss den Namen Dimorphodon („Zweiformenzahn“). Diese Flugsaurier erreichten zu Lebzeiten eine Länge von etwa einem Meter und eine Flügelspannweite bis zu 1,40 Meter.

Außerdem glückte Mary Anning in Lyme Regis der Fund eines fossilen Fisches der Gattung Squaloraja aus der frühen Jurazeit. Diese Gattung besaß sowohl Merkmale von Haien als auch von Rochen.

Sämtliche damaligen renommierten britischen Paläontolo-gen und Geologen sind mit Mary Anning befreundet gewesen. Viele von ihnen verbrachten ihre Ferien in Lyme Regis, um mit Mary die Klippen zu durchwandern und nach Fossilien Ausschau zu halten.

Gegen Ende ihres Lebens wurden Mary Anning auch wissenschaftliche Ehren zuteil. 1838 nahm man sie in die „British Association for the Advancement of Science“ auf. Zum Dank für ihre wissenschaftlichen Leistungen erhielt sie als Enddreißigerin eine jährliche Pension der „British Association for the Advancement of Science“. Die „Geological Society of London“ ernannte sie 1846 zum ersten Ehrenmitglied des neuen „Dorset County Museums“. Eien normale Mitgliedschaft war damals für Frauen nicht möglich.

Am 9. März 1847 starb Mary Anning im Alter von 47 Jahren in Lyme Regis an Brustkrebs. Ihr Nachruf wurde im „Quarterly Journal of the Geological Society“ veröffent-licht. Diese Gesellschaft hat bis 1904 keine Frauen aufgenommen. Auf Mary Anning soll der bekannte englische Zungenbrecher „She sells sea shells on the sea shore“ („Sie verkauft Meeresmuscheln am Meeresstrand“) gemünzt sein. Die Musikgruppe „Artichoke“ widmete ihr das Lied „Do You Know Mary Anning?“ Tracy Chevalierschilderte in ihrem Roman „Remarkable Creatures“ (2009) die Lebensgeschichte der Fossiliensammlern Mary Anning und Elizabeth Philpot (1780–1857). Die drei lebenslang unverheirateten Schwestern Elizabeth, Mary und Margaret Philpot waren 1805 nach Lyme Regis gezogen und hatten dort in einem Haus gewohnt, das ihr Bruder, der in London als Rechtsanwalt arbeitete, für sie gekauft hatte. Elizabeth freundete sich mit Mary Anning an, als diese noch ein Kind war. Fast täglich gingen sie gemeinsam zum Fossiliensam-meln.

Im Online-Lexikon „Wikipedia“ heißt es über Mary Anning: „Mary Annings Funde waren wichtige Belege für das Aussterben von Tierarten. Bis zu ihrer Zeit war es die allgemeine Annahme, dass Tierarten nicht aussterben; jeder merkwürdige Fund wurde als ein Tier erklärt, das noch irgendwo in einem unentdeckten Teil der Erde lebe. Die bizarre Natur der Fossilien, die Anning fand, unterlief dieses Argument und bereitete den Weg für das Verständnis des Lebens in früheren geologischen Zeitaltern.“

Die Küste von Lyme Regis, an der einst Mary Anning ihre aufsehenerregenden Entdeckungen gelangen, gilt heute als eine der berühmtesten Fundstellen für fossile Meeressaurier weltweit. Ihre geologischen Schichten stammen aus der Triaszeit, Jurazeit und Kreidezeit und sind etwa 250 bis 65 Millionen Jahre alt. Jene Küste bezeichnet man als „Jurassic Coast“. Sie gehört zum Weltkulturerbe der „UNESCO“.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Laura Bassi

Die erste Professorin in Europa

E uropas erste Professorin war die italienische Physikerin Laura Maria Catarina Bassi (1711–1778). Im Alter von 20 Jahren erwarb sie 1732 innerhalb weniger Monate den Doktortitel, habilitierte sich und erhielt den Professorenti-tel. Die ungewöhnlich intelligente Frau heiratete einen Mediziner und Philosophen, brachte acht Kinder zur Welt, von denen drei starben, und zog fünf davon groß, ohne ihre wissenschaftliche Laufbahn zu unterbrechen.

Laura Maria Catarina Bassi wurde am 31. Oktober 1711 als einziges Kind des Juristen Guiseppe Bassi und seiner Frau Rosa Cesarei in Bologna geboren. Der erste, der ihr ungewöhnliches Talent bemerkte, war ein älterer Vetter, der den Priesterberuf ergriffen hatte. Der Geistliche brachte Laura die lateinische Sprache bei. Im Alter von acht Jahren beherrschte sie bereits die gesamte Grammatik.

1725 fiel dem Medizinprofessor Caetano Tacconi (1689– 1782) bei einem Hausbesuch der Familie Bassi die kluge Laura auf. Der Mediziner hatte die Zwölfjährige bei der Behandlung von deren Mutter Rosa Cesarei gebeten, zu notieren, was er ihr über die Krankheit und die vorgesehene Therapie sagen werde. Daraufhin legte Laura ihm sowohl einen in Französisch als auch in Latein verfassten Text vor.

Der tief beeindruckte Arzt unterrichtete – mit Erlaubnis der Eltern – Laura sieben Jahre lang in Logik, Metaphysik und Physik, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfuhr. Professor Tacconi wollte das Ergebnis seiner Ausbildung auch anderen vorführen. Aus diesem Grund lud er 1732 einige Kollegen der Universität in Lauras Elternhaus zu einer Diskussionsrunde ein.

Die Gelehrten, die Laura Bassi zuhause befragten, zeigten sich von ihrem Wissen sehr beeindruckt. Sie baten deren Vater und Mutter, die erstaunlichen Kenntnisse ihrer Tochter in einer öffentlichen Diskussion demonstrieren zu lassen. Nach anfänglichem Zögern stimmten die Eltern diesem Vorhaben zu. Am 12. April 1732 diskutierte Laura im Rathaus von Bologna mit vier Geistlichen und drei Wissenschaftlern zwei Stunden lang gekonnt in fließendem Latein über Metaphysik und Moralphilosophie. Sie musste 49 Thesen verteidigen und alle dazu gestellten Fragen beantworten. Kämpferisch vertrat sie unter anderem die Ansichten des englischen Gelehrten Isaac Newton (1643– 1727), der bewiesen hatte, dass der Schwung des Mondes in seiner Bahn um die Erde und der Fall eines Apfels auf den Boden auf dieselbe Ursache zurückzuführen sind: die Gravitation.

Die Prüfung im Rathaus ging als „Laura Bassis erster Triumph“ in die Annalen der Wissenschaft ein. Sie beeindruckte die Gelehrten von Bologna so sehr, dass sie beschlossen, Laura zur regulären Doktorprüfung zuzulas-sen. Vier Wochen später fand die zweite große Diskussion zur Erlangung der Doktorwürde statt. Danach fuhr Laura in einem 18 Kutschen umfassenden Festzug von der Universi-tät zum Rathaus, wo ihr festlich die Doktorwürde verliehen wurde.

Zwei Monate später folgten nach einer dritten Diskussion die Habilitation und die Berufung von Laura Bassi als Ehrenmitglied auf einen Lehrstuhl für Philosophie an der Unversität von Bologna, der ältesten Hochschule Europas. Damit war sie 1732 die erste Professorin Europas. Kurz danach verfügte die Akademie einen Aufnahmestopp für Frauen.

Francesco Maria Zanotti (1692–1777), der Philosoph und Sekretär der Akademie in Bologna, schrieb seinen Bruder am 14. Juni 1732, die Bologneser seien bei dem übertriebenen Lob für Laura Bassie verrückt worden. Sie könnte die an sie gestellten Erwartungen nicht erfüllen. Reisende, die nach Bologna kamen, besuchten Laura. Die deutsche Theaterleiterin Luise Gottsched (1713–1762) äußerte sich eher abfällig über sie. Dagegen verfasste die deutsche Poetin Christine Ziegler (1695–1760) ein „Lobge-dicht auf Laura Bassi“.

1738 heiratete Laura Bassi den Mediziner und Philosophen Guiseppe Verati (1707–1793). Die Verbindung mit dem weder reichen, noch vornehmen oder berühmten Verati brachte ihr viel Spott ein. Aber Verati war offenbar der richtige Mann für Laura, die mit ihm eine glückliche und kinderreiche Ehe führte.

1745 erhielt Laura Bassi eine von 24 bezahlten Wissen-schaftlerstellen an der Universität von Bologna. Fortan widmete sie sich der Mechanik, Pneumatik, Hydromecha-nik, Optik und Elektrizitätslehre. Außerdem lehrte sie die griechische Sprache, führte in die Dichtkunst ein und suchte auf Reisen sowie in Briefen die Nähe der schöpferischen Geister in Europa.

Ab 1749 gab Laura Bassi in ihrem Haus private Vorlesungen in Physik. In den Berichten der Akademie von Bologna wurden ihre Abhandlungen „De problemate qudodam hydrometrico“ und „De problemate quodam mechanico“ (1757) veröffentlicht. Mit vielen renommierten Wissenschaftlern und Gelehrten ihrer Zeit stand sie im Briefwechsel.

1776 erhielt Laura Bassi den „Lehrstuhl für Experimental-physik“ mit ihrem Gatten als Stellvertreter. Zeitgenossen würdigten sie als gelehrteste Frau des Jahrhunderts und als Wunder des Intellekts. Am 21. November 1778 starb Laura Bassi im Alter von 67 Jahren in Bologna.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Charlotte Bühler

Die Wegbereiterin der humanistischen Psychologie

Z u den bedeutendsten Kinder- und Jugendpsychologin-nen der Welt zählte die aus Deutschland stammende Charlotte Bühler (1893–1974), geborene Malachowski. Sie beschäftigte sich mit dem Lebenslauf und mit den Lebenszielen des Menschen und gilt als Wegbereiterin für die humanistische Psychologie. Nach ihr wurde der von ihr entwickelte „Bühlersche Welt-Spiel-Test“ benannt, mit dem sie das Seelenleben von Kindern und Jugendlichen erforschte.

Charlotte Malachowski kam am 20. Dezember 1893 als ältestes von zwei Kindern des jüdischen Regierungsbau-meisters Hermann Malachowski und seiner Frau Rose, geborene Kristeller, in Berlin zur Welt. Ihre Mutter, die unter ihrer eigenen mangelhaften Ausbildung litt, meldete sie für das Gymnasium an. Nach dem Abitur studierte Charlotte ab 1913 in Freiburg im Breisgau, Berlin, Kiel und München.

Zu Beginn ihres Studiums träumte Charlotte Malachowski von einer Universitätsprofessur. Falls dies nicht möglichsein sollte, wollte sie Gymnasiallehrerin werden. In Kiel besuchte sie das nahe der Universität liegende Lehrerinnen-seminar und verlobte sich mit einem Studienkollegen. Doch nach einem fast nur aus Studenten bestehenden Regiments-einsatz an der Ostfront kehrte der Verlobte psychisch schwer gestört zurück, und es kam zur Trennung.

Im Herbst 1915 reiste Charlotte Malachowski für Studien zu ihrer geplanten Dissertation über „Denkprozesse“ nach München, wo sie der Universitätslehrer Oswald Külpe (1862–1915) mit großem Interesse für ihre Arbeit aufnahm. Fortan befasste sie sich vor allem mit den Arbeiten des aus Meckesheim in Baden stammenden Psychiaters und Neurologen Karl Bühler (1879–1963), auf die sie 1914 in der Berliner Universitätsbibliothek aufmerksam geworden war. Ihrer Freundin Maria Dieckmann sagte sie, dieser Mann wolle genau dasselbe wie sie, und sie wüsste gerne, wo er sei.

Charlotte ahnte zu jener Zeit nicht, dass Karl Bühler der Assistent von Oswald Külpe und außerordentlicher Profes­sor am „Psychologischen Institut“ war, weil Bühler damals als Stabsarzt an der Front diente. Nach dem plötzlichen Tod von Külpe am 30. Dezember 1915 wurde Bühler zurück-berufen, übernahm vorübergehend die Leitung des Instituts und interessierte sich sehr für Charlottes Arbeiten.

Bereits zwei Wochen nach seiner Rückkehr hielt der 37-jährige Professor Karl Bühler auf dem Weg durch den Englischen Garten in München um die Hand der 22 Jahre alten Studentin Charlotte Malachowski an. Er blieb an einem großen Baum stehen, stellte die Milchkannen, die er trug, auf die Erde, und erklärte, sie sei genau jene, auf die er gewartet habe: eine Frau, die mit ihm seine Interessen teilen könne und die ihn als Mensch anzöge.

Am 4. April 1916 feierten Charlotte Malachowski und Karl Bühler ihre Hochzeit. Danach bezogen beide eine Wohnung in Schwabing und stellten dort ihre beiden Schreibtische im Wohnzimmer nebeneinander. 1917 kam die Tochter Ingeborg zur Welt.

1918 promovierte Charlotte Bühler mit „summa cum laude“ („mit höchstem Lob“) zum „Doktor der Philoso-phie“ und wandte sich der Kinder- und Jugendpsychologie zu. Im selben Jahr folgte Karl Bühler einem Ruf an die „Technische Hochschule“ in Dresden, wohin auch seine Familie übersiedelte. 1919 schenkte Charlotte dem Sohn Rolf Dietrich das Leben.

Mit ihrer Arbeit „Entdeckung und Erfindung in Literatur und Kunst“ habilitierte sich Charlotte Bühler 1920 als erste Privatdozentin Sachsens an der „Technischen Hochschule“ in Dresden. Dank der finanziellen Unterstützung ihrer Eltern konnte sie eine Haushaltshilfe, eine Amme und später eine Gouvernante für ihre zwei Kinder beschäfti-gen.

Ab 31. August 1922 wirkte Karl Bühler als ordentlicher „Professor der Philosophie“ an der Universität Wien. In der Folgezeit arbeiteten Karl und Charlotte am „Psychologi-schen Institut“, an der Lehrerakademie der Stadt Wien, wo ihnen ein Laboratium für ihre Forschungen offen stand, und in der Kinderübernahmestelle der Stadt Wien.

Nach ersten Kontakten zu Forschern in den USA wurde Charlotte Bühler 1924/1925 ein einjähriger Forschungsauf-enthalt als Fellow der „Sarah Lawrence Rockefeller Foundation“ an der „Columbia University“ in New York City ermöglicht. Von 1930 bis 1938 wirkte sie als außerordentliche Professorin in Wien. 1935 folgte ein weiterer Forschungsaufenthalt in den USA.

In Wien betrieb Charlotte Bühler mit zahlreichen Schülern durch Auswertung von Tagebüchern Jugendlicher und durch Verhaltensforschung kinder- und jugendpsychologi-sche Studien. Gemeinsam mit den Kinder- und Jugendpsy-chologinnen Hildegard Hetzer (1899–1991) und Lotte Schenk-Danzinger (1905–1992) entwickelte sie „Kleinkin-dertests“ (1932), die bis heute angewendet werden.

Während eines beruflichen Aufenthalts im März 1938 in London hörte Charlotte Bühler die Nachricht vom Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Ihr Mann wurde nach einer Hausdurchsuchung durch die „Geheime Staatspolizei“ („Gestapo“) am 23. März 1938 in „Schutz-haft“ genommen und im April aus politischen und weltanschaulichen Gründen beurlaubt.

Mit Hilfe eines zum Nazi gewordenen Norwegers, der früher in Österreich Generalkonsul gewesen war, erreichte Charlotte Bühler nach sechseinhalb Wochen die Freilas-sung ihres Mannes aus dem Gefängnis. Im Oktober 1938 trafen sich ihr Gatte, ihre Tochter und sie in Oslo wieder. Als eine gemeinsame Berufung an die „Fordham Universi­ty“ in New York City für Herbst 1938 nicht zustande kam, ging Karl Bühler an eine andere Universität in den USA, während Charlotte vorerst in Norwegen blieb.

Noch im Jahre 1938 übernahm Charlotte Bühler eine Professur an der Lehrerakademie Trondheim in Norwegen und zugleich an der Universität Oslo. 1940 bat Karl Bühler seine Frau in einem Telegramm dringend, sie solle möglichst bald zu ihm nachkommen. In den USA befürchtete man damals bereits den Einmarsch der Deutschen in Norwegen. Am 29. März 1940 verließ Charlotte Oslo, bald danach – am 10. April – wurde Norwegen von den Deutschen besetzt.

In den USA erhielt Charlotte Bühler eine Professur am „St. Catherine College“ von St. Paul in Minnesota, wo zuvor ihr Mann eine Stelle bekommen hatte. Das Ehepaar fühlte sich in seiner neuen Heimat nicht wohl. Für Karl Bühler war die erzwungene Emigration und die geistige Trennung von sei-ner früheren Wirkungsstätte unüberwindbar gewe-sen. Charlotte konnte lange von Wien nur mit Tränen sprechen.

1942 übernahm Charlotte Bühler die Leitung der psycholo-gischen Abteilung des Zentralkrankenhauses von Minnea­polis in Minnesota. 1945 wurde sie amerikanische Staatsbürgerin. Von 1945 bis 1953 arbeitete sie als Chefpsychologin des „County General Hospitals“ in Los Angeles (Kalifornien) und von 1950 bis 1958 als „Professorin für Psychiatrie“ an der Universität von Südkalifornien in Los Angeles, an der auch ihr Mann lehrte Charlotte Bühler schrieb zahlreiche Bücher und veröffent-lichte viele Arbeiten über ihr Fachgebiet in wissenschaftli-chen Zeitschriften und Sammelwerken. Das Verzeichnis ihrer Publikationen umfasst 168 Arbeiten, von denen mehrere in 21 Sprachen übersetzt wurden.

Zu Charlotte Bühlers bekanntesten Werken gehören unter anderem „Das Märchen und die Phantasie des Kindes“ (1918), „Das Seelenleben des Jugendalters“ (1922), „Kindheit und Jugend“ (1928), „Der menschliche Lebens-lauf als psychologisches Problem“ (1933), ein Standard-werk der praktischen und experimentellen Psychologie, „From birth to maturity“ (1935), „Praktische Kinderpsy-chologie“ (1937), „Kind und Familie“ (1938), „Entwick-lungsteste“ (1952) sowie „Kindheitsprobleme und der Lehrer“ (1952). Mit ihrem Band „Psychologie im Leben unserer Zeit“ (1962) erreichte sie Bestseller-Auflagen.

Am 24. Oktober 1963 starb Karl Bühler im Alter von 84 Jahren in Los Angeles. Obwohl er immer ein wenig im Schatten seiner Frau stand, war auch er ein bedeutender Psychologe gewesen. Er hatte als einer der ersten die geistige Entwicklung des Kindes mit Hilfe von Testverfah-ren untersucht. Außerdem war er erstmalig zu einer genauen Unterscheidung des durch „Dressur“ Angelernten und dem Lernen des Kindes durch selbstständiges „Sinnerfassen“ gelangt und hatte so Instinktmäßiges und Intellekt in der Entwicklung scharf voneinander abge-grenzt.

Anfang Juli 1964 sprach Charlotte Bühler vor Professoren und Studenten der „Pädagogischen Hochschule“ in Heidel­berg, wo sie die Patenschaft für die psychologische Arbeitsgruppe „Weg zum Kind“ übernahm, die ihren Namen erhielt.

In einem stark beachteten Vortrag über den Ablauf des menschlichen Lebens stellte Charlotte Bühler „vier Grund-tendenzen des Lebens“ heraus: Bedürfnisbefriedigung, selbstbeschränkende Anpassung, schöpferische Expansion und Aufrechterhaltung der „inneren Ordnung“. Letzteren Begriff prägte sie selbst.

Nach ihrer Emeritierung führte Charlotte Bühler bis 1971 eine private Praxis in Beverly Hills (Kalifornien), siedelte im selben Jahr nach Deutschland über und praktizierte bis zu ihrem Tod in Stuttgart, wo ihr Sohn Rolf Dietrich eine Professur an der Technischen Hochschule innehatte. Am 3. Februar 1974 starb sie im Alter von 80 Jahren in Stuttgart.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Emilie du Châtelet

Die „Newton-Venus“

Z u den frühesten und berühmtesten Physikerinnen von Frankreich gehörte Emilie du Châtelet (1706–1749), geborene Gabriele Emilie Le Tonnelier de Breteuil. Ihren Publikationen ist es zu verdanken, dass die Arbeiten des englischen Physikers, Mathematikers und Astronomen Isaac Newton (1643–1727) weit verbreitet wurden. Zu den großen Bewunderern von Emilie zählte der Preußenkönig Friedrich II. der Große (1712–1786), der sie voller Respekt als „Newton-Venus“ verehrte.

Gabriele Emilie Le Tonnelier de Breteuil kam am 17. Dezember 1706 als viertes Kind des Barons Louis-Niclas de Breuteil und seiner Frau Alexandra-Elisabeth, geborene de Froulay, in Paris zur Welt. Ihr Vater diente am Hof des „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. (1638–1715) als Protokoll-chef und später als Erster Sekretär.

Die ungewöhnlich groß gewachsene Emilie beherrschte bereits mit zwölf Jahren fließend Latein, Italienisch, Englisch, Spanisch und Deutsch. Früh interessierte sie sich für Metaphysik, Mathematik und Musik. Außerdem erhielt sie Unterricht im Fechten, Reiten und Turnen, was damals für ein Mädchen unüblich war.

Im Alter von 16 Jahren wurde Emilie am Hof von König Ludwig XV. (1710–1774) eingeführt, wo sie Glücks- und Kartenspiele lernte. Damals machte sie sich auch mit den Werken des französischen Philosophen René Descartes (1596–1650) vertraut.

Am 12. Juni 1725 heiratete die 18-jährige Emilie den zehn Jahre älteren Marquis Florent-Claude du Châtelet, Graf von Lemont und Seigneur de Cirey (1695–1766), der als Generalleutnant in der königlichen Armee diente. 1726 gebar sie eine Tochter, 1727 und 1734 jeweils einen Sohn, von denen der jüngere bald danach starb.

Das Ehepaar Châtelet ging bald getrennte Wege. Emilie wurde die Geliebte von Louis François Armand du Plessis, Herzog von Richelieu (1698–1788), einem Großneffen des Kardinals Armand Jean du Plessis, Herzog von Richelieu (1585–1642), und engem Berater Ludwigs XV.

Von ihrem Liebhaber wurde Emilie zu naturwissenschaftli-chen Studien ermuntert. Sie ließ sich von Professoren der Pariser „Sorbonne“ in Naturphilosophie, Mathematik und Physik unterrichten. Bald zählte sie zum Kreis des Physikers und Astronomen Pierre Louis de Maupertius (1698–1759), der 1736 die Richtigkeit der Hypothese von Isaac Newton über die Abplattung der Erde durch eine Gradmessung in Lappland nachwies.

Treffpunkt der Pariser Naturwissenschaftler, Philosophen und Mathematiker war damals das „Café Gradot“, wo auch die Freunde von Maupertius regelmäßig Diskussionen führten. Obwohl dieses Lokal von Frauen nicht aufgesucht werden durfte, erschien Emilie 1733 zum Treffen von Maupertius und seinen Studenten und wurde prompt des

Hauses verwiesen. Als sie in männlicher Garderobe das „Café Gradot“ besuchte, wurde sie aber akzeptiert.

In dem von Theaterleuten besuchten „Café Procope“ lernte Emilie 1733 den französischen Philosophen Voltaire (1694–1778), der eigentlich François Marie Arouet hieß, kennen und lieben. Da Voltaire wegen seiner kritischen Schriften die Verhaftung drohte, zog Emilie 1734 mit ihm aus Paris in sein Schloss Cirey in der Champagne.

Auf Schloss Cirey richtete das Paar ein Laboratorium und eine Bibliothek mit Zehntausenden von Büchern ein, setzte seine Studien fort und lud Naturwissenschaftler und Philosophen ein. In einem eigens dafür errichteten Theater wurden Voltaires neue Stücke vor einem kleinen Kreis und oft mit Emilie in der weiblichen Hauptrolle uraufgeführt. Durch die Liaison mit Voltaire stieg der Bekanntheitsgrad von Emilie und schaffte sie den Durchbruch als Physikerin. In ihrer Publikation „Institutions de physique“ (1740) erläuterte Emilie du Châtelet anonym die Ideen von Isaac Newton. Außerdem übersetzte sie sein Werk „Philosophiae naturalis principia mathematica“ in die französische Sprache. Es erschien erst zehn Jahre nach ihrem Ableben unter dem Titel „Principes mathématiques de Newton“ (1759).

Voltaire sagte über seine intelligente Lebensgefährtin: „Wahrhaftig, Emilie ist die göttliche Geliebte voller Schönheit, Geist, Mitgefühl und all den anderen weiblichen Tugenden, doch wünschte ich oft, sie wäre weniger gelehrt und ihr Verstand weniger scharf“.

[...]

Ende der Leseprobe aus 337 Seiten

Details

Titel
Superfrauen 5 - Wissenschaft
Veranstaltung
-
Autor
Jahr
2001
Seiten
337
Katalognummer
V133237
ISBN (eBook)
9783640395361
ISBN (Buch)
9783640395187
Dateigröße
8922 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Überarbeitete Neuerscheinung von 2009 (1. Auflage 2001)
Schlagworte
Wissenschaftlerinnen, Forscherinnen, Frauenbiografien, Biografien, Wiss
Arbeit zitieren
Ernst Probst (Autor:in), 2001, Superfrauen 5 - Wissenschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133237

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