Anders können und anders sein


Hausarbeit (Hauptseminar), 1999

19 Seiten, Note: befriedige


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Determinismus und die Fähigkeit, anders handeln zu können

2. Anders handeln zu können heißt nicht, einen freien Willen zu haben

3. Ein Beispiel: Verteidigung in einem Strafprozeß

4. Handlungsverläufe in Smoking/No Smoking

5. Der Entscheidungsbaum

6. „Was wäre, wenn ...“ und „hätte anders können“

7. Zwillingsforschung

8. Irreversibilität

9. Der Komparativ

10. Der psychologische Ratschlag

11. Kritik zielt auf Verbesserung

12. Auch Strafe zielt auf die Zukunft

13. Sorge für sich tragen

Anhang: Entscheidungsdiagramm

Medienverzeichnis

Anders können und anders sein

Einleitung

Der folgende Text beschäftigt sich mit der Frage, ob man auch hätte anders handeln können. Ist diese Frage überhaupt sinnvoll gestellt? Ich werde diese Frage mit zwei Einwänden konfrontieren:

I. Ist die Frage, ob man auch anders hätte handeln können, eine für die Rechts- philosophie relevante Frage und wird diese Frage nicht völlig überfrachtet, wenn wir von ihrer Beantwortung es abhängig machen, ob wir eine Person für verantwortlich halten?

II. Die Vergangenheit läßt sich nicht rückgängig machen. Ist es insofern nicht überflüssig, sich die Frage zu stellen, ob eine Person hätte anders handeln kön- nen?

Diesem Einwand werde ich begegnen, in dem ich zeige, dass diese Frage in Wirklichkeit auf die Zukunft abzielt. Doch reicht das immer noch nicht für die Verurteilung eines Delinquenten aus.

Ich werde in diesem Aufsatz eine Lösung vorschlagen. Wir sind nicht für das verantwortlich, was wir getan haben, sondern wir sind für das verant- wortlich, was wir sind. Ein Mensch ist für seinen Charakter verantwortlich, der eben bestimmte Entscheidungen hervorbringt. Und es scheint sehr wohl Möglichkeiten zu geben, seinen Charakter zu verändern, in dem man seine Lebensgeschichte umbewertet.

1. Determinismus und die Fähigkeit, anders handeln zu können

Die präziseste Definition, was denn Determinismus sei, stammt von Peter van Inwagen1. Wir sind durch unsere Vorgeschichte und durch die Na- turgesetze determiniert. Da wir weder die Vergangenheit umkehren, noch die Naturgesetze außer Kraft setzen können, so können wir auch nicht anders han- deln, als so, wie wir es tun. Das Wort „können“ ist hier in einem realistischen Sinne zu verstehen. Wer also die gängige Rechtspraxis zu verteidigen sucht, aber andererseits es für wahrscheinlich hält, dass alles, was in dieser Welt ge- schieht, kausale Vorläufer hat, also determiniert ist, so muß er also nachweisen, dass nicht wirklich der Determinismus der Fähigkeit, anders zu handeln, wider- spricht oder er muß versuchen, die Verantwortlichkeit an etwas anderem fest- zumachen.

2. Anders handeln zu können heißt nicht, einen freien Willen zu haben

Es ist ein gängiges Vorurteil, dass der Wille des Menschen frei sei, wenn er hätte anders handeln können. Das heißt aber, einen problematischen Begriff durch eine ebenso problematische Formulierung zu definieren. Zudem ist es nicht deutlich, wo denn der Zusammenhang zwischen der Willensfreiheit und der Fähigkeit, auch anders handeln zu können, besteht. Diese Gleichset- zung ist für manche intuitiv einsichtig; in meinen Augen stellt es nur ein Dog- ma dar.

Es könnte nämlich Fälle geben, in denen der Handelnde das Gefühl hat, frei zu handeln, aber in denen er gar keine Alternative vor Augen hatte.

Dieser Fall ist ein Beispiel für Willensfreiheit, aber nicht für die Fähigkeit, anders handeln zu können.

Was könnte nun derjenige, der meint, dass Willensfreiheit gleichbe- deutend mit der Fähigkeit, anders zu handeln, ist, zu der Verteidigung seiner Auffassung sagen? Er würde sagen, dass jemand, der hätte anders können, eine Auswahl vor Augen gehabt hätte. Und er könnte anführen, dass die Worte wäh- len und wollen wörtergeschichtlich auf die gleiche indogermanische Wurzel * û el zurückführen.2 Wenn man damals also vom Wollen sprach, meinte man, dass zwischen mehreren Handlungsalternativen eine Wahl getroffen wurde.

Doch diese Argumentation übersieht, dass aus dieser Wurzel zwei un- terschiedliche Wörter entstanden sind. Wenn ich vom Willen spreche, denke ich nicht an Wahl, weil es viele Dinge gibt, die ich einfach will, ohne über eine Alternative nachgedacht zu haben. Das könnte verschiedene Gründe haben. Manche Handlungen vollziehen wir routinemäßig; manchmal wissen wir so- fort, was wir wollen; manchmal sind uns die Alternativen gar nicht bekannt; manchmal handeln wir unter Zeitdruck und manchmal wäre es völlig unange- messen, vor einer völlig banalen Handlung, wie zum Beispiel der Betätigung eines Lichtschalters, vorher lange nachzudenken und Alternativen abzuwägen. Das heißt, wählen heißt längst nicht mehr wollen; der freie Wille ist nicht gleichbedeutend mit der Fähigkeit, anders handeln zu können. Im folgenden Text wird es um die Fähigkeit gehen, anders handeln zu können.

3. Ein Beispiel: Verteidigung in einem Strafprozeß

Als Dagobert alias Arno Funke vor Gericht stand, um sich für seine Erpressung des Karstadt-Konzerns zu verantworten, versuchten seine Verteidi- ger die Tat durch Funkes Lebensgeschichte zu erklären. Also wiesen sie auf die eingeschränkte Erwerbsfähigkeit Funkes hin: weil sein ehemaliger Arbeitgeber nicht für ausreichende gesundheitliche Absicherung seiner Untergebenen ge- sorgt hätte, so hätte Funke als Schildermaler Lackdämpfe einatmen müssen; Funkes Gehirn wäre durch die Lackdämpfe verletzt worden, was zu starken Kopfschmerzen geführt hätte; Funke hätte deswegen nur wenig arbeiten kön- nen, obwohl er eine Familie hätte ernähren müssen; diese Situation hätte ihn depressiv gemacht; diese unglückliche Verkettung von Umständen hätte in Funke kriminelle Energien erweckt und ihn dazu geführt, zunächst den Hertie- konzern (Kaufhaus des Westens) und später den Karstadtkonzern zu erpressen.

Zentral bei Gerichtsprozessen ist die Intention des Angeklagten. Seine Schuldfähigkeit scheint zu einem großen Teil davon abzuhängen, wie deutlich er selbst die Entscheidung zur Tat gefällt hat oder wie stark er selbst zu dieser Entscheidung veranlaßt oder gar genötigt wurde.

Ein Kritiker dieser Auffassung würde entgegnen, dass diese einzelne Entscheidung gar nicht so wichtig ist, sondern der Delinquent sich dafür verantworten muß, dass er nicht dafür gesorgt hat, ein Mensch zu werden, der andere Entscheidungen fällt.

Doch hätte ein Mensch dafür Sorge tragen können, seinen Charakter grundlegend zu verändern? Das hätte einer Entscheidung bedurft, die der Han- delnde aber nicht fällen konnte, weil er determiniert war. Ich möchte in diesem Text absehen von dem infiniten Regress, in den die Argumentation des Schuldbefürworters gerät. Ich möchte einen anderen Aspekt der Argumentation des Schuldbefürworters beleuchten. Wenn die Beurteilung der Schuldfähigkeit eines Handelnden abhängt von der Frage, ob er hätte anders handeln können, so hört es sich an, als ob eine einzelne Entscheidung Grundlage für die Beurteilung der Schuld einer Person ist. Gibt es aber im Leben eines Menschen überhaupt eine Schlüsselsituation, in der er vor mehreren Handlungsalternativen steht und in der er die grundlegende Entscheidung für eine dieser Alternativen fällt, die dann den weiteren Lebensverlauf wesentlich beeinflußt? Kann man die Schuld einer Person an einer einzigen Entscheidung festmachen? Oder muß man sich vor Gericht für eine ganze Anzahl von Entscheidungen verantworten oder gar für seine ganze Person und seinen Charakter?

Müßte also die Frage der Rechtsphilosophie nicht lauten, ob der Handelnde anders hätte handeln können, sondern ob er anders hätte sein können? Möglicherweise wird eine einzelne Entscheidung völlig überfrachtet, wenn man daran die Verantwortung eines Handelnden festmacht. Ich möchte diesen Gedanken an einem Beispiel illustrieren.

4. Handlungsverläufe in Smoking/No Smoking

Im Jahre 1993 kamen zwei sehr ungewöhnliche Filme des französi- schen Regisseurs Alain Resnais in die Kinos, nämlich Smoking und No Smo- king. Der Kinozweiteiler ist eine Adaption des Theaterstück Intimate Ex- changes des britischen Dramatikers Alan Ayckbourn, der vor allen Dingen Boulevardkomödien schreibt. In der Filmversion werden 12 Varianten einer Geschichte durchgespielt. Beide Filme beginnen mit der gleichen Situation. Celia Teasdale, die Gattin des Schuldirektors von Hutton Buscel, kommt am Sommeranfang während eines Hausputzes auf die Terrasse und sieht auf einem Tisch eine Schachtel Zigaretten liegen. Der Film Smoking zeigt, was passiert wäre, wenn Celia sich eine Zigarette angezündet hätte; der Film No Smoking führt vor, was geschehen wäre, wenn Celia sich dafür entschieden hätte, lieber nicht zu rauchen. Wenn sie sich die Zigarette angezündet hätte, dann wäre sie auf der Terrasse stehen geblieben; sie hätte das Schellen des Schulhausmeisters gehört, wäre in Rufweite des Hausmädchens Sylvie Bell gewesen und hätte ihr den Auftrag gegeben, die Tür zu öffnen; der Hausmeister Lionel Hepplewick wäre hereingekommen, Celia hätte mit ihm geflirtet und er hätte sich in sie verliebt. Wenn sich aber Celia keine Zigarette angesteckt hätte, wäre sie zum Schuppen gegangen, hätte das Schellen des Hausmeisters zwar gehört, aber nicht darauf reagiert, hätte im Garten Miles Coombes, den besten Freund ihres Mannes, angetroffen, der sich in Celia verliebt hätte. Bei zehn weiteren Ent- scheidungssituationen splittet sich die Handlung in jeweils zwei Stränge, so dass jedes der beiden Filme sechs Schlüsse hat. Zwei Entscheidungssituationen und vier Schlüsse, die in dem Theaterstück enthalten waren, ließ Resnais in der Filmversion weg. Die Schicksale der Hauptfiguren des Stückes nehmen jeweils einen anderen Verlauf. Mal bleibt Celia bei ihrem Mann Toby, mit dem sie sich nicht versteht; mal trennt sie sich von ihm. Mal nimmt sie eine Halbtags- stelle als Sekretärin in der Schule an, mal macht sie einen Lieferservice auf. Mal gibt Toby das Trinken auf, mal stirbt er an den Folgen seines Alkoholis- mus. Und Sylvie, das Hausmädchen, heiratet mal den Hausmeister und kriegt von ihm 4 Kinder; mal wird sie Journalistin einer feministischen Zeitschrift. Doch eins bleibt immer gleich: fünf Jahre, fünf Monate, fünf Tage und fünf Minuten nach Celias Entscheidung, ob sie eine Zigarette rauchen soll, treffen sich die Hauptfiguren auf dem Friedhof von Hutton Buscel wieder. Anbei habe ich eine Grafik gefügt, die zeigt, in welche Entscheidungssituationen die Figu- ren geraten und zu welchen Konsequenzen die Entscheidungen führen. Sicherlich ist dieser Film ein Kunstprodukt und gibt die Realität etwas vereinfacht wieder. Mit Sicherheit waren es noch viel mehr Entscheidungen, welche den Lebensweg der Figuren beeinflußten. Doch folgendes zeigt uns dieser Film:

I. Es können manchmal völlig banale Entscheidungen sein, die unser Le- ben maßgeblich beeinflussen. Das liegt an den Zufällen, die uns nach diesen banalen Entscheidungen widerfahren und die uns nicht zugestoßen wären, wenn wir eine andere Entscheidung gefällt hätten.

II. Mehrere Entscheidungen bestimmen, was aus uns wird.

III. Entscheidungen verschiedener Personen sind für den weiteren Lebens- verlauf einer Person verantwortlich.

5. Der Entscheidungsbaum

Wenn man sich die beigefügte Grafik, das „Entscheidungsdiagramm“, anschaut, dann hat man einen umgekehrten Baum vor Augen. Angenommen, man würde für jeden einzelnen Menschen solch einen Baum zeichnen, bei dem aber dann nur die Entscheidungen berücksichtigt würden, welche dieser Mensch selber getroffen hat. Dieser Baum würde mit zunehmenden Lebensal- ter immer weitverzweigter, weil auch die nicht wahrgenommenen Möglichkei- ten mit wachsen und sich ebenfalls aufsplitten. Auch verzweigt sich ein Ver- lauf nicht immer nur in zwei Stränge, sondern kann sich in mehrere Stränge aufteilen. Durch diesen Baum gibt es aber nur genau einen realen Weg; in Wirklichkeit führt nur ein Verlauf von der Wurzel bis zum Wipfel. Ich frage mich, ob sich die virtuellen Alternativen vom wirklichen Verlauf sehr stark unterscheiden würden.

Nehmen wir folgendes an: Der Richter meint, dass Arno Funke für sein Verhalten verantwortlich ist, weil jener es früher an seinem Arbeitsplatz unterließ, sich gegenüber seinem Arbeitgeber für den Schutz vor gesundheitli- cher Beeinträchtigung einzusetzen. Nehmen wir nun an, dass sich Arno Funke anders entschieden hätte, der Gewerkschaft und dem Betriebsrat beigetreten wäre, sich einen guten Anwalt gesucht hätte und erfolgreich dafür gekämpft hätte, dass in seinem Betrieb Schutzmasken verteilt werden. Wäre er dadurch nicht zum Kaufhauserpresser geworden? Oder ist es vielmehr wahrscheinlich, dass sein Charakter so beschaffen ist und er in solchen Umständen lebt, so dass er in jedem Fall irgendwann in finanzielle Bredouille geraten wäre und mit seiner Art zu denken nur den Ausweg in einer kriminellen Tat gefunden hätte? Vielleicht hätte er bei anders gefällten Entscheidungen nicht Karstadt erpreßt, sondern einen kleineren Betrieb; vielleicht hätte er nicht Sprengsätze gezündet, sondern nur eine Vase umgeworfen. Aber ist es denkbar, dass eine andere Wei- chenstellung zu einem ganz anderen Leben führt, dass es eine solche Schlüssel- situation gibt, bei der sich entscheidet, ob wir Tellerwäscher oder Millionär werden, ob wir zu den Gewinnern oder zu den Verlierern gehören?

Die Filme No Smoking und Smoking geben zwei Antworten. Die Schicksale können ganz unterschiedlich verlaufen, aber sie können auch sehr ähnlich sein. In 4 von 12 Schlüssen erfahren wir, dass das Hausmädchen Sylvie Bell den Hausmeister Lionel Hepplewick geheiratet hat; der Unterschied ist bloß, ob sie von ihm zwei, drei oder vier Kinder bekommt. Bei einem weiteren Schluß heiratet sie gerade Hepplewick. Das scheint der wahrscheinlichste Ver- lauf für die beiden zu sein; diese beiden Charaktere sind so gestrickt, so dass ihr Leben eben diesen Verlauf annimmt: Heiraten und Kinderkriegen. Die Op- tion, dass ein einfaches Hausmädchen fünf Jahre später Journalistin einer femi- nistischen Zeitschrift wird, ist erfahrungsgemäß eher unwahrscheinlich.

Ich glaube, dieser Film transportiert - neben einigen wahren Einsichten - eine süße Lüge: das den Menschen die Welt offensteht und das es an ihren Entscheidungen alleine liegt, ob sie irgendwann eine große Karriere machen oder bei einer Wanderung im Gebirge in den Abgrund stürzen.

6. „Was wäre, wenn ...“ und „hätte anders können“

In den Filmen Smoking und No Smoking werden Geschichten erzählt, die uns aufzeigen, was geschehen wäre, wenn bestimmte Entscheidungen ge- troffen worden wären. In diesem Film ist von vornherein klar, dass die Figuren dieses Films nicht hätten anders handeln können. Die Handlung wäre nur an- ders verlaufen, wenn eine andere Bedingung vorgelegen hätte. Die Bedingung für einen anderen Verlauf wäre eine andere Entscheidung gewesen. Doch hät- ten die Protagonisten des Films eine andere Entscheidung fällen können? Die- ses philosophische Problem wird in den Filmen ausgespart. Es wird nie darüber reflektiert, inwieweit diese Möglichkeiten überhaupt greifbar waren und ob solch ein Durchbuchstabieren der Konsequenzen von Alternativentscheidungen überhaupt einen Sinn macht.

Jedenfalls ist man sich, wenn man die Frage „was wäre, wenn“ beantwortet, gewiß, dass man nur dann anders hätte handeln könnte, wenn andere Bedingungen vorliegen würden. Der Sinn solcher Explikationen von Alternativentscheidungen ist es, sich darüber im Klaren zu werden, zu was eine bestimmte Entscheidung führen könnte. Die möglichen Zukunftsverläufe zu durchdenken, gibt einen Anhaltspunkte für Entscheidungen.

7. Zwillingsforschung

In seinem Buch So laßt uns jetzt ein Apfelbäumchen pflanzen: es ist soweit 3 führt Hoimar von Ditfurth einige Beispiele aus der Zwillingsforschung an. Er berichtet über den amerikanischen Psychologen Thomas Bouchard, der Testreihen mit eineiigen Zwillingen macht, die kurz nach der Geburt vonein- ander getrennt wurden und an unterschiedlichen Orten in verschiedenen Fami- lien aufgewachsen sind. Das erstaunliche Ergebnis ist, dass eineiige Zwillinge, auch wenn sie an unterschiedlichen Orten aufwachsen, sehr viele Gemeinsam- keiten haben, von der Sprechweise über die geschmacklichen Vorlieben bis hin zu bestimmten Ticks.

Die Ergebnisse der Zwillingsforschung sind nicht unumstritten, aber darauf möchte ich jetzt nicht eingehen. Doch wenn es stimmen sollte, dann würde sich für unsere Diskussion ergeben, dass der Spielraum für Lebensverläufe doch sehr viel kleiner ist, als vermutet. Diese beiden Zwillinge haben sehr viele unterschiedliche Entscheidungen getroffen; und doch sind die Zwillinge bis ins kleinste Detail sehr ähnlich.

Es scheint also, dass bei diesem Entscheidungsbaum die Äste oben auch oft wieder zusammenwachsen können. Zusammenfassend läßt sich also sagen, dass die Entscheidung zur schlechten Tat alleine uns nicht verantwort- lich macht, weil es schwer vorstellbar ist, dass jemand in der Vergangenheit eine Entscheidung gefällt hat, die so einschneidend war, so dass bei einer ande- ren Wahl dadurch sein Leben in eine ganz andere Richtung verlaufen und er dadurch ein ganz anderer Mensch geworden wäre. Entscheidungen sind nicht wirklich von dieser Tragweite, weil die Determinanten auch bei einer anderen Entscheidung in einem Einzelfall zukünftig die gleichen bleiben.

Ich habe also gezeigt, dass die Frage, ob eine Person sich hätte anders entscheiden können, für die rechtsphilosophische Debatte zunächst einmal nicht von Belang ist. Die Verantwortlichkeit des Delinquenten muß in einer anderen Eigenschaft begründet liegen. Doch ich möchte im folgenden prüfen, ob man überhaupt in irgendeinem Lebensbereich sinnvoll die Frage stellen kann: „Hätte man anders handeln können?“

8. Irreversibilität

Noch einmal möchte ich die Frage stellen, ob es überhaupt Sinn macht, sich zu überlegen, ob jemand hätte anders handeln können. Diese Frage scheint sich auf die Vergangenheit zu beziehen, weil sie im Präteritum formu- liert ist. Doch Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen, lassen sich nicht rückgängig machen. Was lohnt es dann, darüber nachzudenken, ob eine andere Handlung als diejenige, die wirklich durchgeführt wurde, hätte vollzogen wer- den können? Doch bezieht sich die Frage, ob man hätte anders handeln hätte können, wirklich auf die Vergangenheit? Im folgenden möchte ich diese Frage etwas genauer unter die Lupe nehmen.

9. Der Komparativ

In drei verschiedenen Weisen hätte man anders handeln können:

I. Man hätte besser handeln können.
II. Man hätte schlechter handeln können.
III. Man hätte in gleichwertiger Qualität anders handeln können.

In den meisten Fällen läßt sich das Wort anders in der Frage „Hätte man anders handeln können?“ durch ein Adjektiv im Komparativ ersetzen. Hätte der Koch die Torte leckerer zubereiten können? Hätte der Ingenieur das Gerät funktionstüchtiger entwerfen können? Hätte die Romanautorin ihr neustes Werk gelenker formulieren können?

Von den besseren, den schlechteren und den gleichwertigen Hand- lungsalternativen interessieren wir uns am meisten für die besseren Handlungs- alternativen. Das liegt daran, dass der Mensch nach Zufriedenheit strebt und eine erfolgreiche Handlung nicht durch eine schlechtere Handlung ersetzt se- hen möchte. Was gebe es aber für ein Motiv, doch darüber nachzudenken, ob man hätte schlechter handeln hätte können? Manchmal ist man sich unsicher, ob man wirklich auf die beste Weise gehandelt hat; man geht dann mehrere Handlungsalternativen, für die man sich nicht entschieden hatte, durch und stellt fest, dass die vollzogene Handlung im Vergleich dazu die beste der möglichen Handlungen war.

Meistens sind die Motive für die Frage, ob man hätte anders handeln können, solche unangenehmen Gefühle wie Scham, Reue, Wut oder Unzufrie- denheit. Solche Gefühle haben meistens einen bohrenden Charakter und lassen uns nicht los. Sie provozieren Überlegungen über nicht vollzogene, bessere Handlungsalternativen, die man lieber hätte ausführen sollen. Daher denken wir, wenn wir über Handlungsalternativen zu vollzogenen Handlungen nach- denken, meist dann nach, wenn wir hätten besser handeln können. Freude oder Erfolgserlebnisse führen hingegen seltener dazu, sich eine Alternative zur voll- zogenen Handlung vorzustellen. Die Frage nach der Alternative stellt sich gar nicht.

10. Der psychologische Ratschlag

Der Psychologe würde demjenigen, der sich sehr darüber ärgert, eine schlechte Handlung vollzogen zu haben, wohl raten, zu akzeptieren, dass es schlecht gelaufen ist. Die vollzogene Handlung läßt sich nicht korrigieren. Der Volksmund sagt, dass man über vergossene Milch nicht klagen kann. Der Är- ger und alle unangenehmen Gefühle ändern nichts an dem negativen Zustand; die Zeit läßt sich nicht zurückdrehen. Die Geschehnisse aus der Vergangenheit sind irreversibel. Der Ärger ändert nichts an den vergangenen Ereignissen; das einzige, was er bewirken könnte, ist eine gesundheiltiche Beeinträchtigung. Die unangenehmen Gefühle sind so gesehen überflüssig, so dass man sie sich also auch sparen kann. Derjenige, der sich geärgert hat und der dem psychologi- schen Ratschlag befolgt hat, erlebt etwas Verblüffendes: die Situation ändert sich nicht im Geringsten, wenn er aufhört, sich zu ärgern. Nur ihm geht es da- durch besser.

Doch das hieße, ein wertvolles Potential von Ärger und anderen negativen Gefühlen außer Acht zu lassen.

11. Kritik zielt auf Verbesserung

Ich habe weiter oben geschrieben, dass die Frage, ob man hätte anders handeln können, sich mit der Vergangenheit beschäftigt. Aber man darf sich von der sprachlichen Form dieser Frage nicht in die Irre führen lassen. Diese Frage zielt nämlich auch auf die Zukunft. Die meisten Handlungen werden nicht nur ein einziges mal vollzogen; dafür, dass wir die gleiche Handlung noch mal vollziehen müssen, lohnt sich eine Analyse und Kritik der bereits vollzogenen Handlungen. Handlungskritik führt auch zu Überlegungen, wie man besser hätte handeln können; und diese Alternativmöglichkeiten können in der Zukunft wahrgenommen werden. Handlungskritik hat meistens einen pä- dagogischen Anspruch. Selbst wenn ein fertiges Produkt kritisiert wird, so zielt die Kritik auch auf den Herstellungsvorgang und auf zahlreiche Entscheidun- gen, die der Schöpfer des Produkts bei der Herstellung gefällt hat. Beispiele für solch eine pädagogische Kritik ist die Literaturkritik oder der Warentest. Si- cherlich haben diese Kritiken auch den Charakter von Warnung und Empfeh- lung an die potentiellen Käufer der betreffenden Produkte; aber diese Kritiken zielen auch auf die Hersteller und sollen sie dazu bringen, in Zukunft besser zu handeln.

Das Ideal, welches der schlecht oder weniger gut vollzogenen Handlung gegenüber gesetzt wird, ist nicht immer aus der Erfahrung geschöpft. Das Ideal kann auch abstrakt gebildet werden. Oft ergibt es sich aus der Kritik; wie könnte man das, was schlecht gelaufen ist, besser machen?

12. Auch Strafe zielt auf die Zukunft

Dieser Aufsatz begann mit der rechtsphilosophischen Frage, ob man hätte anders handeln können; einer anderen Handlung hätte aber eine andere Entscheidung vorausgehen müssen. Ich habe nachgewiesen, dass es nicht aus- reicht, um über die Verantwortlichkeit eines Täters zu entscheiden, in dem man sich auf eine einzelne Entscheidung des Täters bezieht. Bei der Untersuchung der Frage „Hätte man anders handeln können?“ entdeckte ich, dass diese Frage im alltäglichen Leben in den meisten Fällen auf die Zukunft gerichtet ist. Kann man die Frage, ob jemand anders hätte handeln können, doch für die Rechts- philosophie retten, weil sie ja auch in der Justiz auf die Zukunft gerichtet sein könnte? Die Bestrafung vor dem Gericht verfolgt vier Ziele:

I. Verbrechensvorbeugung durch Abschreckung.
II. Schutz der Gesellschaft durch das Wegsperren von Delinquenten.
III. Der Täter soll ein besserer Mensch werden.
IV. Es soll ein Gleichgewicht wiederhergestellt werden.

Diese Ziele sind ausnahmslos auf die Zukunft gerichtet. Man könnte also sagen, dass die Bestrafung eine gesellschaftliche und pädagogische Funktion erfüllt. Doch diese Argumentation reicht nicht aus, einen Übeltäter zu bestrafen. Er könnte sich dagegen verwahren, dass eine gesellschaftliche Funktion auf seine Kosten ausgeführt wird, solange man ihm nicht nachweist, dass er wirklich für seine Tat verantwortlich ist und er nicht durch sein Schicksal zu dieser Handlung genötigt wurde. Wir müssen also dem Täter tatsächlich nachweisen, dass er für die Tat verantwortlich war.

13. Sorge für sich tragen

Die einzelne Entscheidung zur Tat macht den Täter nicht schuldig, weil er sagen könnte, dass diese Entscheidung durch seine Vorgeschichte, seine Umstände und seine Gene vorherbestimmt war. Man könnte nun sagen, dass er zu früherer Zeit eine andere Entscheidung hätte treffen müssen, um ein anderer Mensch zu werden. Doch er könnte einwenden, dass es keine Entscheidung von solcher Tragweite gibt, die aus uns einen ganz anderen Menschen machen kann. Was wäre dadurch gewonnen, wenn wir an einer Stelle des Lebens eine andere Abzweigung genommen hätten? Selbst wenn wir in dieser Situation dem Schicksal noch einmal ein Schnippchen geschlagen hätten, so ist es doch sehr wahrscheinlich, dass unser Leben danach wieder in den alten Bahnen ver- läuft und zwar so oder ähnlich wie das Leben, das wir gelebt hätten, wenn wir uns anders entschieden hätten.

Wenn der Determinismus wahr ist, dann könnte man nicht anders handeln, weil wir nicht die Naturgesetze außer Kraft setzen können und weil wir nicht unsere Vergangenheit ändern können. Doch hier liegt die Lösung unseres Problems: wir können sehr wohl unsere Vergangenheit ändern. Wir können über sie reflektieren; wir können auch über sie in einer Psychotherapie nachdenken. Das könnte dazu führen, dass wir unsere Vergangenheit umbewerten, dass wir bestimmte Dinge anders sehen. Bestimmte Therapieformen arbeiten auch mit Phantasien; dort, wo es Lücken gibt in der Erinnerung oder wo uns etwas fehlt, können wir Vorstellungen bilden, welche diese Löcher schließen. Zum Beispiel könnte sich ein Waisenkind vorstellen, Eltern gehabt zu haben. Die Erfahrung zeigt, dass solche Phantasien auch dann sich emotional auswirken, wenn der Patient weiß, dass er sich alles nur einbildet. In dem wir unsere Vergangenheit ändern, die ja nur in der Erinnerung existiert, so ändern wir auch einen Teil dessen, was uns determiniert. Wir sind vor Gericht als ganze Person verantwortlich. Wir sind verantwortlich dafür, nicht genügend Sorge getragen zu haben, ein anderer Mensch zu werden. Wir sind verantwortlich dafür, inwieweit wir an den uns determinierenden Faktoren gearbeitet haben.

Medienverzeichnis

Dilts, Robert B. Identität, Glaubenssysteme und Gesundheit: höhere Ebenen der NLP-Veränderungsarbeit. Paderborn: Jungfermannsche Verlagsbuchhand- lung, 1991.

Ditfurth, Hoimar v. So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen: es ist so weit. Hamburg/Zürich: Rasch und Röhring Verlag, 1985.

Dennett, Daniel Clement. „`Hätte anders können´“. Ellenbogenfreiheit. Frankfurt am Main: Hain Verlag bei athenäum, 1986, 168-194.

Inwagen, Peter van. „Die Unvereinbarkeit von freiem Willen und Determinismus“. Seminar: Freies Handeln und Determinismus. Hg. Ulrich Pothast. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag: 1978, 247-265.

Resnais, Alain (Regie). Smoking/No Smoking. Zweiteiliger Spielfilm. Frankreich, 1993.

Watson, Gary, Hg. Free Will. Oxford: Oxford University Press, 1982.

[...]


1 Inwagen, Peter van. „Die Unvereinbarkeit von freiem Willen und Determinismus“. Seminar: Freies Handeln und Determinismus. Hg. Ulrich Pothast. Frankfurt am Main: Suhrkamp Ver- lag: 1978, 247-265.

2 „(...) wählen, mhd. wel(l)en, ahd. wellen, got. waljan; zur idg. Wurzel * û el- wollen, identisch mitäwollenWille.“ Mackensen, Lutz. Ursprung der Wörter: etymologisches Wörterbuch d. dt. Sprache. Frankfurt am Main; Berlin: Ullstein, 1988.

3 Ditfurth, Hoimar v. So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen: es ist soweit. Hamburg/Zürich: Rasch und Röhring Verlag, 1985.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Anders können und anders sein
Hochschule
Freie Universität Berlin
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
befriedige
Autor
Jahr
1999
Seiten
19
Katalognummer
V100590
ISBN (eBook)
9783638990158
Dateigröße
375 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der Professor meinte, daß die Arbeit zu plakativ sei. Mag sein, daß ich versucht habe, einige Punkte deutlich herborzuheben. In diesem Text stecken viele Jahre Arbeit. Nicht das Verfassen selbst, sondern das Lesen und Nachdenken über das Thema.
Schlagworte
Anders, Hauptseminar
Arbeit zitieren
Markus Hieber (Autor:in), 1999, Anders können und anders sein, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100590

Kommentare

  • Gast am 20.9.2001

    Unendliche Freiheit?.

    Eine Frage bleibt in der ganzen Abhandlung unberücksichtigt:
    Was ist Determinismus? Diese Frage führt direkt zur Chaosforschung.
    Aus dieser Sicht möchte ich zwei Dinge anmerken:
    1. Entscheidungen von kleiner Reichweite haben meist keinen Einfluß auf die Gesamtrichtung des Handelns. Es sei den sie werden an einem kritischen Punkt des Ablaufes getroffen. Dies wurde im Film Smoking / No Smoking konstruiert, ist aber im "richtigen" Leben eher selten der Fall.
    Wir können allerdings nur schwer Aussagen machen wann es der Fall ist.
    2. Es gibt keineswegs unendlich Viele Entscheidnungsmöglichkeiten. In einem begrenzten Entscheidungsraum werden wir immer wieder auf die selben (oder ähnliche) Entscheidungen stoßen. Daraus läßt sich eine Tendenz des Handelns ableiten. Aus dieser Erfahrungstatsache leiten die Juristen wohl ihre Entscheidungen über Schuld oder nicht Schuld ab.

    Fazit: Der Determinismus begleitet uns über weite Strecken (physikalisch schnelle bis mittlere Vorgänge) aus der Sicht des Menschen haben wir jedoch "fast immer" Entscheidungsfreiheit zumindest für die Vorgabe der groben Richtung (weil wir uns an kritischen Stellen immer wieder gleich entscheiden, physikalisch mittlerne bis langsame Vorgänge) Und nur dafür müssen / können wir wirklich Rechenschaft ablegen.

    Aus meiner Sicht geht daher das ganze Referat am Problem vorbei.

    CIAO
    Steed

  • Gast am 27.7.2001

    Ein wenig konfus.

    Der Ansatz an sich ist in der Tat des Nachdenkens wert. Daß es also nicht allzusehr auf einzelnen Entscheidungen ankommt als vielmehr auf das Gesamtbild unserer Persönlichkeit.
    Inwieweit ich aber an diesem (also meinem Charakter) arbeiten kann - und sei es nur durch eine dürftige Psychotherapie, die die Umwertung meiner Vergangenheit zum Ziele hat, in dem sie die Erinnerungslücken durch positive Phantasien auffüllt - wo ich doch nur ein rein determinsitisch gelenktes Wesen bin, das bleibt mir allerdings schleierhaft. Wie man es auch wendet, ohne Freiheit ist Verantwortung undenkbar.

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